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www.ssoar.info Globaler Militarisierungsindex: Vorstellung, Codebook und Reflexion Bayer, Markus; Alberth, Rolf; Hauk, Stella; Mutschler, Max M. Veröffentlichungsversion / Published Version Arbeitspapier / working paper Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Bayer, M., Alberth, R., Hauk, S., & Mutschler, M. M. (2021). Globaler Militarisierungsindex: Vorstellung, Codebook und Reflexion. (BICC Working Paper, 3/2021). Bonn: Bonn International Center for Conversion (BICC). https://nbn- resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-74498-0 Nutzungsbedingungen: Terms of use: Dieser Text wird unter einer CC BY-NC-ND Lizenz This document is made available under a CC BY-NC-ND Licence (Namensnennung-Nicht-kommerziell-Keine Bearbeitung) zur (Attribution-Non Comercial-NoDerivatives). For more Information Verfügung gestellt. Nähere Auskünfte zu den CC-Lizenzen finden see: Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de
\ WORKING PAPER 3\ 2021 Globaler Militarisierungsindex: Vorstellung, Codebook und Reflexion Markus Bayer, Rolf Alberth, Stella Hauk und Max Mutschler \ BICC \ WORKING PAPER 3 \ 2021
GLOBALER MILITARISIERUNGSINDEX: VORSTELLUNG, CODEBOOK UND REFLEXION \ BAYER, ALBERT, HAUK & MUTSCHLER ZUSAMMENFASSUNG Die Messung von Militarisierung ist ein komplexes Unterfangen. Seit 2003 und rückwirkend bis 1990 misst das BICC über den Globalen Militarisierungs- index (GMI) Militarisierung weltweit. Der GMI verfolgt einen ressourcen- zentrierten Ansatz, der den Militarisierungsgrad einer Gesellschaft über die Ressourcenzuweisung von Seiten des Staates an das Militär relational zu anderen Gesellschaftsbereichen misst. Über die jährliche Messung des Militarisierungsgrades und die dadurch entstehenden Zeitreihen lassen sich Prozesse der Militarisierung bzw. Demilitarisierung von Gesellschaften und Regionen abbilden.Das vorliegende Working Paper stellt den Index anhand seines Codebooks erstmals vor und diskutiert sowohl die aktuelle Methodik als auch mögliche Ergänzungen angesichts sich verändernder Rahmen- bedingungen und neuer Datenquellen. Dabei wird insbesondere die Aufnahme neuer Waffensysteme, aber auch die Entwicklung eines multidimensionalen Konzeptes von Militarisierung diskutiert. 2\ \ WORKING PAPER 3 \ 2021
GLOBALER MILITARISIERUNGSINDEX: VORSTELLUNG, CODEBOOK UND REFLEXION \ BAYER, ALBERT, HAUK & MUTSCHLER INHALTSVERZEICHNIS Zentrale Ergebnisse 5 Einleitung 8 Einführung in den Globalen Militarisierungsindex und Abgrenzung zu anderen Indizes 9 Erhebungseinheit und Ein- bzw. Ausschlusskriterien 10 Abdeckung 10 Veröffentlichung 10 Wie Militarisierung messen? 11 Das Konzept von Militarisierung 11 Operationalisierung 11 Anmerkung zu fehlenden Daten 13 Methodik 14 Modellrechnung 16 Ausgabenindex (AI) 16 Personalindex (PI) 16 Schwere Waffen-Index (SWI) 17 Datensatz 17 Diskussion und zukünftige Entwicklung 18 Staatszentrierung 18 Klein-und Leichtwaffen sowie neue Waffensysteme 19 Militarisierung und organisierte Gewalt: In Richtung eines mehrdimensionalen Ansatzes 21 Literaturverzeichnis 23 \ WORKING PAPER 3 \ 2021 3\
GLOBALER MILITARISIERUNGSINDEX: VORSTELLUNG, CODEBOOK UND REFLEXION \ BAYER, ALBERT, HAUK & MUTSCHLER 4\ \ WORKING PAPER 3 \ 2021
GLOBALER MILITARISIERUNGSINDEX: VORSTELLUNG, CODEBOOK UND REFLEXION \ BAYER, ALBERT, HAUK & MUTSCHLER Zentrale Ergebnisse Das Alleinstellungsmerkmal des GMI ist Der GMI hat Raum für Entwicklung sein Ressourcenansatz Neue Entwicklungen in der Kriegsführung (z. B. Um Militarisierung weltweit messen und vergleichen Drohneneinsätze, Cyberwar) legen nahe, die Teilindizes zu können, gibt das BICC seit 2003 den Globalen des GMI zu überdenken. Zudem bieten neue Daten- Militarisierungsindex (GMI) heraus. Einem staats- quellen die Möglichkeit zur Weiterentwicklung des zentrierten, relationalen Ressourcenansatz folgend, Indexes bzw. seiner Teilindizes. In der Diskussion versteht der GMI Militarisierung zum einen als Zu- stehen die folgenden Punkte: stand, der das relative Gewicht und die Bedeutung des staatlichen Militärapparats in Bezug auf die Ge- Neben Staatszentrierung auch private Militarisierung in sellschaft als Ganzes beschreibt. Zum anderen erfasst den Blick nehmen er den Prozess der Zu- bzw. Abnahme des Militarisie- Das Feld der Militarisierungsforschung über die rungsgrades eines Landes.Dies unterscheidet ihn von Streitkräfte als zentralen Akteur hat sich ausgeweitet anderen Indizes, etwa der SIPRI-Military Expenditure (z. B. Privatisierung von Sicherheitsdiensten, Militari- Database. Über seine drei Teilindizes, dem Ausgaben-, sierung von Polizeikräften). Nichtsdestotrotz bleiben dem Personal- und dem Schwere Waffen-Index, staatliche Militärs weiterhin die bedeutendsten welche die dem Militär zugewiesenen finanziellen, Akteure für Prozesse von Militarisierung. Obwohl personellen und materiellen Ressourcen in Verhält- eine konzeptionelle Ausdifferenzierung und Messung nis zu den anderen gesellschaftlichen Bereichen und von unterschiedlichen Militarisierungsprozessen dort eingesetzten Ressourcen setzen, erlaubt er eine anzustreben sind, sollten diese aus analytischen wertfreie, umfassende und differenzierte Betrach- Gründen getrennt voneinander umgesetzt werden. tung des Konzeptes von Militarisierung. Der GMI wird daher weiterhin Militarisierung mittels eines staats- und militärzentrierten Ansatzes messen. Die GMI-Methodik basiert auf der Gewichtung von Indikatoren Klein- und Leichtwaffen einbeziehen, wenn zuverlässige Daten vorhanden sind Der Gesamt-GMI repräsentiert die Summe von sechs Trotz ihrer weitreichenden Bedeutung als Mittel zur gewichteten Indikatoren. Diese sind in drei Teilindizes Umsetzung organisierter Gewalt, werden Klein- und unterteilt: Den Ausgaben-, den Personal- und den Leichtwaffen bisher nicht durch den GMI erfasst. Im Schwere Waffen-Index. Wir betrachten die Ausgaben Gegensatz zu Großwaffensystemen werden Klein- und das Personal als die beiden wichtigsten Faktoren und Leichtwaffen häufiger illegal gehandelt. Gleich- für Militarisierung. Daher werden sowohl der Ausgaben- zeitig werden sie oft einfach lokal produziert, so dass als auch der Personalindex mit einem Faktor zwei ein weiterer Transfer wegfällt. Es mangelt daher an gegen den dritten Index gewichtet, der die schweren verlässlichen Daten darüber wie viele Waffen sich in Waffen in den Arsenalen des Landes abbildet. Diese den Arsenalen der Armeen weltweit befinden. Das Gewichtung ergibt sich indirekt aus der Wertung der Small Arms Survey erreicht über ihre Schätzmethode zum jeweiligen Teilindex gehörenden Indikatoren. derzeit recht zuverlässige Zahlen. Vor ihrer Anwen- dung und der Aufnahme von Klein- und Leichtwaffen in den GMI jedoch müsste überprüft werden, inwie- weit sie sich retrospektiv anwenden ließe. \ WORKING PAPER 3 \ 2021 5\
GLOBALER MILITARISIERUNGSINDEX: VORSTELLUNG, CODEBOOK UND REFLEXION \ BAYER, ALBERT, HAUK & MUTSCHLER Neue Waffensysteme einbeziehen Eine hybride, netzwerkzentrierte bzw. liquide Kriegs- führung und die revolution in military affairs haben sowohl die Kriegstechnik als auch die Kriegsführung grundlegend geändert. Neue Waffensysteme und Militärtechnologien (z. B. militärische Satelliten, un- bemannte Drohnen) sowie der Cyberraum als neues Schlachtfeld spielen eine zunehmend wichtige Rolle. In allen angesprochenen Bereichen besteht die Prob- lematik darin, verlässliche und jährliche Daten zu identifizieren. Allein die USC Satellite Database stellt eine Ausnahme dar, die es erlaubt mit dem nächsten Update wahrscheinlich auch militärische Satelliten in den GMI aufzunehmen. Wenn es gelingt, die Daten des Drone Databook mit den jährlichen SIPRI-Daten zu Drohnenexporten und eigenen Recherchen zur Produktion zu ergänzen, soll auch die Fähigkeit bewaffnete Drohnen einzuset- zen ab 2022 in den GMI eingehen. Einen mehrdimensionalen Ansatz zu Militarisierung und organisierter Gewalt entwickeln Um sowohl Militarisierung in ihrer Gesamtheit als auch ihre komplexen Auswirkungen auf zivilmilitärische Beziehungen und organisierte Gewalt in Gänze nach- vollziehen zu können, ist ein dreidimensionales Konzept von Militarisierung vonnöten, welches durch drei unabhängige Indizes abgedeckt werden könnte. Während der GMI weiterhin die materielle/ militärische Dimension erfasst, deckt der Political Roles of the Military (PRM)-Datensatz die politische Dimension ab und erhebt den Einfluss des Militärs bzw. die politische Kontrolle des Militärs. Die Schaffung eines neuen Military-Social-Relations (MSR)-Index würde das Konzept komplett machen: Die Trias aus GMI, PRM und MSR würde es nicht nur erlauben, unterschiedliche Typen der Militarisierung zu identi- fizieren, sondern auch die komplexen Interaktionen zwischen den Dimensionen und ihre Auswirkungen auf Gewalt und Regimestabilität genauer zu studieren. 6\ \ WORKING PAPER 3 \ 2021
GLOBALER MILITARISIERUNGSINDEX: VORSTELLUNG, CODEBOOK UND REFLEXION \ BAYER, ALBERT, HAUK & MUTSCHLER \ WORKING PAPER 3 \ 2021 7\
GLOBALER MILITARISIERUNGSINDEX: VORSTELLUNG, CODEBOOK UND REFLEXION \ BAYER, ALBERT, HAUK & MUTSCHLER Einleitung Das 20. Jahrhundert wird zuweilen nicht nur ange- sichts der zwei Weltkriege, sondern auch des jahrzehnte- langen Kalten Krieges, welcher durch ein globales Wettrüsten und eine sehr hohe Militarisierung auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs gekennzeichnet war, als „Zeitalter der Militarisierung“ bezeichnet (Wallersteen et al. 2019: XI). Seit dem Ende der Block- konfrontation schien das Konzept der Militarisierung hingegen an Bedeutung verloren zu haben. Gegenwär- tig erlebt dieser Begriff jedoch vor dem Hintergrund zunehmender geopolitischer Spannungen und stei- gender Militärausgaben sowohl eine Renaissance als auch eine konzeptuelle Umdeutung bzw. Ausweitung. So wird „Militarisierung“ einerseits vermehrt in einem räumlichen Sinne genutzt, um eine militärische Auf- rüstung an Grenzen und in Grenzregionen (Gohain, 2018; Slack et al., 2016), in der Arktis (Kickert & Lacken- bauer, 2020; Exner-Pirot, 2020) oder dem Weltraum (Mowthorpe, 2004) zu beschreiben. Andererseits taucht der Begriff verstärkt im Kontext von Polizei und staatlichen Sicherheitskräften auf, um auf eine zunehmende Übernahme militärischen Denkens sowie militärischer Taktiken und Ausrüstung durch diese zu verweisen (z. B. Flores-Macías & Zarkin, 2019; Bieler, 2016). Um Militarisierung weltweit messen und verglei- chen zu können, gibt das BICC seit 2003 den Globalen Militarisierungsindex (GMI) heraus. Mit diesem BICC Working Paper wollen wir den GMI anhand seines aktuellen Codebooks (V 1.0) genauer erklären. Das Codebook stellt gewissermaßen die akademische Betriebsanleitung zum GMI dar. In seiner jeweils aktuellen Fassung bildet es den Stand der Dinge in Bezug auf die Konzeption des GMI sowie die Methodik und die Datenquellen hinter dem Index ab. In diesem Sinne ist das Codebook ein „lebendes Dokument“. Ände- rungen werden dort in regelmäßigen Updates festge- halten. Da sich die Debatten um die Konzeptualisierung von Militarisierung seit der ersten Publikation des Indexes weiterentwickelt haben und heute zudem andere Datenquellen zu Verfügung stehen, wollen wir dieses Working Paper darüber hinaus dazu nutzen, um den Stand des Indexes kritisch zu reflektieren und mög- liche Verbesserungen aufzuzeigen. 8\ \ WORKING PAPER 3 \ 2021
GLOBALER MILITARISIERUNGSINDEX: VORSTELLUNG, CODEBOOK UND REFLEXION \ BAYER, ALBERT, HAUK & MUTSCHLER Einführung in den Globalen Militarisierungsindex und Abgrenzung zu anderen Indizes In den meisten Ländern der Welt ist das Militär Gesundheitssektor, fehlen. Ein Militär, das einen gro- die zentrale staatliche Institution organisierter ßen Teil der Ressourcen einer Gesellschaft verbraucht, Gewalt.1 Seine Hauptaufgabe ist es, Aggressionen könnte einen notwendigen Strukturwandel im wirt- abzuwehren sowie den Staat und seine Bevölkerung schaftlichen und sozialen Rahmen behindern und gegen Feinde zu verteidigen und damit Sicherheit zu Entwicklungsdefizite in Industrie und Landwirt- gewährleisten. Dementsprechend kann ein starkes schaft bedingen. Militär ein Indikator für eine angespannte Sicher- Der GMI soll Daten für eine differenziertere heitslage in einem Staat bzw. einer Region sein. In Debatte über die Rolle von Militarisierung liefern, die einer solchen Situation bringt eine hohe Militarisie- über die herkömmlichen, normativ geführten Debatten rung jedoch das Problem mit sich, dass sie das beste- hinausgeht. Einem Ressourcenansatz folgend, ver- hende Sicherheitsdilemma eher noch verstärkt und steht der GMI Militarisierung als das relative Gewicht regionale Rüstungsdynamiken antreiben kann. In und die Bedeutung des staatlichen Militärapparats in einigen Fällen besteht die Hauptaufgabe des Militärs Bezug auf die Gesellschaft als Ganzes. Daher setzt der jedoch darin, die Macht herrschender Eliten zu sichern GMI die Ausgaben für Militär und Rüstung in Relation und Opposition zu unterdrücken. In diesen Fällen ist zu anderen gesellschaftlichen Bereichen und erlaubt ein starkes Militär ohne Frage als problematisch an- so Aussagen über die gesellschaftliche Gewichtung zusehen. Ein schwaches oder dysfunktionales Militär des Militärischen. Zudem komplementiert der GMI ist hingegen oftmals nicht in der Lage, Gewalt und die gesellschaftlichen Ausgaben für Rüstungsgüter Konflikteskalationen zu verhindern, da es das Gewalt- und Militär mit Informationen zur personellen und monopol nicht durchsetzen und aufrechterhalten materiellen Ressourcenzuteilung zum Militär. Diese kann. Dies wiederum kann negative Auswirkungen werden ebenso in Relation zu den Ressourcenaufwen- auf die Bevölkerung und die wirtschaftliche und sozi- dungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen ale Entwicklung des Landes haben. Um seinen Auf- (etwa dem Gesundheitssektor) gesetzt. Über seine trag effektiv ausführen zu können, braucht ein Mili- Teilindizes erlaubt er so eine umfassendere und tär daher eine angemessene Ressourcenausstattung differenziertere Betrachtung des Konzeptes von in Form von Personal, Finanzen und angemessener Militarisierung. Bewaffnung.2 Solche Investitionen in die Streitkräfte Dadurch unterscheidet er sich konzeptionell von können sich zwar in Form einer Entwicklungsdivi- anderen existierenden Indizes, etwa der vom Stock- dende auszahlen, stellen jedoch auch immer eine holmer Friedensforschungsinstitut SIPRI herausge- mehr oder weniger hohe Belastung dar, da diese gebenen Military Expenditure Database. Diese Daten- Ressourcen in anderen Bereichen, wie etwa dem bank deckt die Militärausgaben von 1949 bis 2020 ab und wird jährlich ergänzt. Auf diese Daten greift auch der GMI für seine Berechnungen zurück. Das dem 1 \ Unter organisierter Gewalt verstehen wir alle jene Maßnahmen, die GMI zu Grunde liegende Konzept beschränkt sich ein gesellschaftliches Kollektiv nutzt, um dem Problem der innerge- sellschaftlichen Gewalt zu begegnen. Da soziale Ordnungen jedoch jedoch, wie oben beschrieben, weder auf Militäraus- immer ein Mindestmaß zu ihrer Aufrechterhaltung erfordern, umfasst gaben, noch basiert es darauf, militärische Macht organisierte Gewalt immer beides: Maßnahmen zu ihrer Einhegung (wie etwa durch den Global Firepower Index erhoben) und Maßnahmen zu ihrer Anwendung. So erzeugt jede Gesellschafts- ordnung Normen, welche innergesellschaftliche Gewalt sanktioniert oder geopolitischen Einfluss bzw. Interventions- (Tötungstabu) und solche, die bestimmte Gewaltformen unter be- kapazität (wie z. B. durch den Elcano Global Presence stimmten Bedingungen legitimiert. Auf institutioneller Ebene bedeutet organisierte Gewalt die Einrichtung von Institutionen der Gewalt (z. B. Index) zu messen. Polizei, Armee), die unter bestimmten Umständen Gewalt anwenden dürfen, um nicht legitime private Gewalt zu verhindern bzw. einzu- grenzen (siehe Schetter & Müller-Koné, 2021). 2 \ Wir nehmen an, dass andere Aspekte, wie eine effektive Kontrolle durch eine legitime Regierung und militärisch-gesellschaftliche Beziehungen, welche die Ausübung von (militärischer) Gewalt gegen die eigene Bevölkerung verhindern, ebenso eine wichtige Rolle für die Funktionalität des Militärs spielen. \ WORKING PAPER 3 \ 2021 9\
GLOBALER MILITARISIERUNGSINDEX: VORSTELLUNG, CODEBOOK UND REFLEXION \ BAYER, ALBERT, HAUK & MUTSCHLER Im Gegensatz zum World Military Expenditures Veröffentlichung and Arms Transfers (WMEAT) Datensatz des US State Department erhebt der GMI jährliche Daten und Da der GMI auf extern bereitgestellten Daten deckt nicht längere Zeiträume in unregelmäßigen beruht, wird er retrospektiv zum Ende des jeweiligen Abständen ab. Daraus ergeben sich durchgehende Jahres veröffentlicht. Der GMI 2020 wurde beispiels- Zeitreihen, mit denen die Entwicklung von Militari- weise im Dezember des Jahres 2020 veröffentlicht sierung aktuell global oder in bestimmten Regionen und basierte auf Daten aus dem Jahr 2019. betrachtet bzw. analysiert werden kann. Insbesondere zur Abbildung von Rüstungs- und Eskalationsdyna- miken ist dies ein wichtiger Vorteil. Hervorzuheben ist jedoch, dass der GMI gerade in Korrelation mit anderen Indizes die Möglichkeit bietet, die innerstaatlichen oder regionalen Auswir- kungen von Militarisierung, etwa auf Sicherheit, Wohlstand oder menschliche Entwicklung zu erfor- schen. Der GMI wendet sich damit insbesondere an Personen aus Forschung, Beratung und Politik, die regionale und innergesellschaftliche Folgen von Mili- tarisierung untersuchen sowie sich mit Rüstungs- exporten und globalen oder regionalen Rüstungs- und Konfliktdynamiken beschäftigen. Erhebungseinheit und Ein- bzw. Ausschlusskriterien Der GMI ist ein globaler Index, was bedeutet, dass er den Anspruch hat, den Status von Militarisierung auf jährlicher Basis in jedem Staat zu erfassen. Krite- rien wie die Größe oder Einwohnerzahl spielen dabei keine Rolle. So enthält das aktuelle GMI Ranking auch die Fidschi-Inseln oder Island; beides Staaten mit ei- ner Bevölkerungszahl unter einer Million. Allein eine unzureichende Verfügbarkeit von (aktuellen) Daten schränkt die Aufnahme in den Index ein, was allein der Sicherung der Qualität des Indexes dient (siehe auch „Anmerkung zu fehlenden Daten auf S. 13“). Abdeckung Der GMI deckt die Zeitspanne von 1990 bis 2019 ab und umfasst derzeit 151 Staaten. Er wird jährlich aktualisiert. Bedingt durch die Verfügbarkeit von Da- ten kann die Abdeckung in Bezug auf die Anzahl der aufgenommenen Staaten leicht schwanken. 10 \ \ WORKING PAPER 3 \ 2021
GLOBALER MILITARISIERUNGSINDEX: VORSTELLUNG, CODEBOOK UND REFLEXION \ BAYER, ALBERT, HAUK & MUTSCHLER Wie Militarisierung messen? Das Konzept von Militarisierung auch personelle Ressourcen und erfassen damit neben materieller auch den Aspekt der sozialen Militarisie- Militarisierung ist konzeptionell einerseits mit rung. Erstere misst die Machtressourcen in den Hän- dem Begriff des Militärs und andererseits mit dem den des Militärs (Kühn & Levy, 2020) in Form schwerer Begriff des Militarismus verbunden. In engerer Ausle- Waffen. Letztere setzt die Größe des Militärs in ein Ver- gung wird Militarisierung als Steigerung der militäri- hältnis zur Gesamtbevölkerung (Bullock & Firebaugh, schen Kapazität (Lind, 2004) verstanden; sei es in Form 1990). Da wir einen relationalen Ansatz verwenden, be- einer Erhöhung der „Bewaffnung, eines Fortschritts ziehen wir die dem Militär zugewiesenen Ressourcen der zerstörerischen Kapazität von Waffen, einer auf die Gesamtheit der Gesellschaft (siehe unten). So wachsenden Anzahl von Soldaten und Soldatinnen betrachten wir beispielsweise die dem Gesundheits- unter Waffen“ und/ oder einer „dramatischen Erhö- sektor zugewiesenen Ressourcen als Indikator für die hung der Militärausgaben“ (Eide & Thee, 1980, S. 9; menschliche Entwicklung. eigene Übersetzung). Eine breitere Lesart betrachtet In der Vergangenheit erfuhr das Konzept der Mili- Militarisierung als prozessuale Entwicklung hin zum tarisierung immer wieder Ausweitungen. So wird das Zustand des Militarismus (z. B. Levy, 2015; Shaw, 1991). Konzept von Militarisierung zuweilen verwendet, um In diesem Sinne kann Militarisierung bzw. Demilita- die Ausrüstung von Polizeieinheiten mit militärischen risierung als Prozess der Stärkung bzw. der Schwä- Geräten, oder die Übernahme militärischer Taktiken chung der „Rolle des Militärs im politischen und so- und Einstellungen durch eben jene zu beschreiben zialen Leben“ (Stearn, 2013, S. 2-3; eigene Übersetzung) (z. B. Flores-Macías & Zarkin, 2019; Bieler, 2016). Zudem verstanden werden – unabhängig davon, ob das Mili- wird der Begriff der privaten Militarisierung (Hutchful tär wächst oder schrumpft. Durch die Kombination & Aning, 2001) genutzt, um die Proliferation kommerzi- beider Verständnisse kann Militarisierung als mehr- eller Militärunternehmen (Kinsey, 2006) zu analysieren. dimensionales Phänomen angesehen werden, das Im Gegensatz dazu fokussieren wir uns in der Betrach- aus einer materiellen, einer politischen und einer tung von Militarisierung auf den Staat und das Militär sozialen Dimension besteht (Bowman 2002). Eine sol- als Kerninstitution organisierter Gewalt. Wir nehmen che Lesart schließt auch eine diskursive Dimension hierbei paramilitärische Einheiten in unsere Definition mit ein, welche gesellschaftliche Überzeugungen und des Militärs auf, da das reguläre Militär allein die Ge- Werte dergestalt verändert, dass sie die Anwendung samtgröße der Streitkräfte in vielen Ländern nicht an- von Gewalt, die Organisation und Finanzierung großer gemessen widerspiegelt (siehe auch Personalindex). stehender Armeen sowie das damit einhergehende hö- here Steueraufkommen legitimieren (Lutz, 2002, S. 723). Operationalisierung Der GMI verfolgt einen ressourcenzentrierten Ansatz, der den Militarisierungsgrad einer Gesellschaft Der GMI gibt Auskunft über den Grad von Militari- über die Ressourcenzuweisung von Seiten des Staates sierung. Die Analyse des Militarisierungsgrades er- an das Militär relational zu anderen Gesellschaftsbe- möglicht es, Tendenzen eines militärischen Auf- oder reichen misst. Über die jährliche Messung des Milita- Abbaus zu beobachten. Sie kann verwendet werden, um risierungsgrades und die dadurch entstehenden Zeit- spezifische entwicklungs- oder gesellschaftspolitische reihen lassen sich Prozesse der Militarisierung bzw. Fragen zu analysieren. Unser Index stuft die Länder Demilitarisierung (siehe Wolpin, 1983, S. 130) von entsprechend ihres Militarisierungsgrades auf einer Gesellschaften und Regionen abbilden.Dies bedeutet Skala von 0 bis 1.000 ein (wobei 1.000 den höchsten unter anderem, dass der GMI kein oder nur ein indi- Militarisierungsgrad darstellt). Der GMI besteht dabei rekter Indikator für die militärische Schlagkraft ist. aus drei Teilindizes, die verschiedene Aspekte der Mili- Mit anderen Worten: Das am höchsten militarisierte tarisierung bewerten, nämlich Ausgaben Ausgaben, Personal und Land ist damit in militärischer Hinsicht nicht auto- schwere Waffen Waffen. Diese drei Teilindizes bestehen aus matisch auch das mächtigste. Wir berücksichtigen insgesamt sechs Indikatoren. neben materiellen (schwere Waffen) Ressourcen \ WORKING PAPER 3 \ 2021 11 \
GLOBALER MILITARISIERUNGSINDEX: VORSTELLUNG, CODEBOOK UND REFLEXION \ BAYER, ALBERT, HAUK & MUTSCHLER Ausgabenindex (AI) Personalindex (PI) Militärausgaben wurden lange als “Standard- Neben den Militärausgaben verwenden wir den maßeinheit” (Gifford, 2006, S. 473) für Militarisierung Personalindex (PI), um Militarisierung zu messen. erachtet. Finanzielle Ressourcen, die von einer Regie- Der PI misst den Grad der „sozialen Militarisierung“ rung bereitgestellt werden, sind ein gewichtiger Fak- anhand der Größe des Militärs. Er besteht aus drei tor, welcher die Bewaffnung, die Fähigkeiten und die Indikatoren: Größe der Streitkräfte maßgeblich bestimmt. Gemäß Der erste und wichtigste Indikator in dieser Kate- unserem relationalen Ansatz setzt der Aufgabenindex gorie ist das aktive (para-)militärische Personal, das (AI) das Budget der Streitkräfte in Relation zu zwei ins Verhältnis zur Gesamtbevölkerung gesetzt wird. wichtigen Indikatoren: erstens der Wirtschaftsleis- Wie oben erwähnt (siehe Das Konzept von Militari- tung des jeweiligen Staates und seiner Gesellschaft sierung), wird hier paramilitärisches Personal einbe- (gemessen in Form des Bruttoinlandsproduktes - BIP) zogen, um die Gesamtgröße der Streitkräfte angemessen und zweitens seiner staatlichen Gesundheitsausgaben. widerzuspiegeln. Das Hauptkriterium für die Kodie- Die Daten für Militärausgaben stammen von der rung einer Organisationseinheit als militärisch oder Military Expenditure Database des Stockholmer paramilitärisch ist, dass die betreffenden Streitkräfte Friedensforschungsinstituts SIPRI. Es ist wichtig nicht nur bewaffnet, uniformiert und kaserniert sind, anzumerken, dass SIPRI eine weit gefasste Definition sondern auch der direkten Kontrolle der Regierung der Militärausgaben nutzt, die über die Verteidigungs- unterliegen. Basierend auf Daten des Internationalen budgets der Länder hinausgeht. So werden auch Instituts für Strategische Studien (IISS) zählen wir andere Ausgaben wie beispielsweise die Altersrente Heeres-, Marine-, Luftwaffen-, zusätzliches (falls vor- von Militärpersonal oder Ausgaben für militärische handen, z. B. von der Küstenwache, der Nationalgarde Forschung und Entwicklung mit eingerechnet. oder Ausbildungskommandos) und paramilitärisches Obwohl SIPRI derzeit als die zuverlässigste Quelle an- Personal. gesehen werden kann, müssen Daten zu Militär- Für eine umfassende Darstellung des verfügbaren ausgaben mit äußerster Vorsicht behandelt werden. Personals und eine angemessene Darstellung des Für viele Länder, insbesondere Entwicklungsländer relativen gesellschaftlichen Militarisierungsgrades und autokratische Staaten, sind die Zahlen nur grobe berücksichtigt ein zweiter Indikator den Prozentsatz Schätzungen. In Fällen, in denen SIPRI keine aktuellen der Reservekräfte gemessen an der Gesamtbevölke- Informationen liefert, übernehmen wir die neuesten rung. Dieser Faktor ist besonders relevant für einige verfügbaren Zahlen, sofern diese nicht älter als drei Länder wie etwa die Schweiz, die eine vergleichsweise Jahre sind. Daten zu den Gesundheitsausgaben stam- kleine stehende Armee haben, aber eine größere men aus dem Global Health Observatory Data Reposi- Menge verfügbarer Reserven innerhalb der Gesell- tory der Weltgesundheitsorganisation (WHO). schaft. Wir stützen uns erneut auf Daten des IISS Beide AI-Indikatoren werden wie folgt berechnet: über militärische und paramilitärische Reservekräfte. Der dritte Indikator vergleicht die Gesamtzahl milex_health_norm := norm(log((milex_gdp / health_gdp) + 1)) der militärischen und paramilitärischen Kräfte mit und: der Anzahl von Ärztinnen und Ärzten in einem Land, norm(x) := (x – min(x)) / (max(x) - min(x)) um das Verhältnis zwischen militärischem und nichtmilitärischem Fachwissen in einer Gesellschaft auszudrücken. Alle Daten bezüglich des militärischen Personals entstammen der Military Balance des Internationalen Instituts für Strategische Studien (IISS). 12 \ \ WORKING PAPER 3 \ 2021
GLOBALER MILITARISIERUNGSINDEX: VORSTELLUNG, CODEBOOK UND REFLEXION \ BAYER, ALBERT, HAUK & MUTSCHLER Bevölkerungszahlen werden Quellen der World Der SWI wird über die folgende Formel Bank entnommen. berechnet: Die Anzahl der Ärztinnen und Ärzte eines Landes stammt aus Daten der Weltgesundheitsorganisation weapons_pop_norm := norm(log(weapons_pop +1)) (WHO). weapons_pop := weapons * 100.000 / population (Number of heavy Die drei Indikatoren des PI werden entsprechend weapons per 100.000 inhabitants) der nachfolgenden Formeln berechnet: 1. milpara_pop_norm := norm(log(milpara_pop + 1)) Anmerkung zu fehlenden Daten 2. reserve_pop_norm := norm(log(reserve_pop + 1)) Um die Gesamtqualität des Indexes zu gewähr- 3. milpara_phy_norm := norm(log(milpara_phy + 1)) leisten, verwenden wir nur Originaldaten aus den mit Quellen, die wir im Abschnitt “Operationalisierung” 1. milpara_pop := milpara / population angeben. Daher enthält der Index keine Daten, die 2. milpara_phy := milpara / physicians auf Bewertungen von Expertinnen und Experten, auf 3. reserve_pop := reserve / population Extrapolation oder anderen Methoden der Datenpro- und jektion basieren. Darüber hinaus bemühen wir uns, milpara := military + paramilitary möglichst aktuelle Daten zu verwenden. Aus diversen Gründen ist dies jedoch nicht immer möglich: Einer- Schwere Waffen-Index (SWI) seits sind solche Daten (insbesondere für fragile Um den Grad der „materiellen Militarisierung“ Staaten) nicht immer verfügbar bzw. verlässlich. So eines Landes zu bestimmen, berücksichtigt der GMI existiert etwa die Praxis, Schattenarmeen, die nur auf schließlich bestimmte Arten schwerer Waffen. Der dem Papier existieren, zu nutzen, um deren Sold zu Schwere Waffen-Index (SWI) gibt die Anzahl der veruntreuen. Andererseits sind Militärausgaben und schweren Waffen in den Arsenalen der Streitkräfte Truppenstärken heikle Themen, die Staaten zuweilen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung an. geheim halten. Um solche Datenlücken zu schließen, Schwere Waffen werden hier als jede militärische nutzen wir auch Daten aus früheren Jahren. Andern- Ausrüstung definiert, die in eine von vier Kategorien falls wäre die Abdeckung des Indexes äußerst begrenzt. passt: Gepanzerte Fahrzeuge (gepanzerte Personal- Um sicherzustellen, dass er dennoch die tatsächlichen transporter3 , leichte Panzer, Hauptkampfpanzer), Entwicklungen in der Militarisierung reflektiert, be- Artillerie (Mehrfachraketenwerfer, selbstfahrende schränken wir die Verwendung nicht aktueller Daten. Artillerie, gezogene Artillerie) über 100 mm Kaliber, Wir verwenden dabei zwei Grenzwerte: Da Militäraus- Kampfflugzeuge (Kampfhubschrauber, Starrflügel- gaben und Personaldaten sowie die Anzahl schwerer kampfflugzeuge) und große Kampfschiffe (U-Boote, Waffen im Mittelpunkt des Indexes stehen, dürfen große Überseekampfschiffe über Korvettengröße). diese Daten nicht älter als drei Jahre sein. Andere Wir zählen auch gelagerte Waffen, da diese Teil des Daten (etwa zu Gesundheitsausgaben und der Anzahl militärischen Potenzials eines Landes sind. Daten an Ärztinnen und Ärzten) dürfen nicht älter als fünf über Waffenbestände werden aus der vom IISS bereit- Jahre sein. gestellten Military Balance zusammengestellt. Daten Dies bedeutet, dass die im GMI 2020 enthaltenen zu Kleinwaffen und leichten Waffen (SALW) sind Militärausgaben und Personaldaten sowie die Daten nicht nur äußerst schwer zu erhalten, sondern auch zu schweren Waffen ggf. auf das Jahr 2016, die Anga- unzuverlässig und wurden daher nicht in den GMI ben zu den Gesundheitsausgaben sowie zur Anzahl aufgenommen. der Ärztinnen und Ärzte bis ins Jahr 2014 zurückrei- chen können. Wenn keine aktuellen Angaben 3 \ Einschließlich autonomer Unterwasserfahrzeuge, Infanteriekampf- fahrzeuge, Luftkampffahrzeuge und geschützter Patrouillenfahrzeuge. \ WORKING PAPER 3 \ 2021 13 \
GLOBALER MILITARISIERUNGSINDEX: VORSTELLUNG, CODEBOOK UND REFLEXION \ BAYER, ALBERT, HAUK & MUTSCHLER verfügbar sind, kodieren wir dies als fehlende Daten. Methodik Solche fehlenden Daten führen zu einer „0“-Bewertung für den jeweiligen Indikator in der GMI-Rangliste. Der Gesamt-GMI repräsentiert die Summe seiner Darüber hinaus wenden wir eine allgemeine sechs gewichteten Indikatoren. Diese sind in drei Qualitätspolitik auf die Daten zu jedem Land an. Wie Teilindizes unterteilt: Den Ausgaben-, den Personal- im nächsten Abschnitt zur Methodik näher erläutert, und den Schwere Waffen-Index. Wir betrachten die ergibt sich der GMI-Score aus drei Teilindizes und Ausgaben und das Personal als die beiden wichtigsten sechs Indikatoren. Jeder der Indikatoren (z. B. die Faktoren für Militarisierung. Daher werden sowohl Militärausgaben in Prozent des BIP) wird unterschied- der Ausgaben- als auch der Personalindex mit einem lich gewichtet und dann in die GMI-Gesamtbewertung Faktor zwei gegen den dritten Index gewichtet, der einbezogen. Der bereits erwähnte Indikator „Militär- die schweren Waffen in den Arsenalen des Landes ab- ausgaben als Prozentsatz des BIP“ ist beispielsweise bildet. Diese Gewichtung ergibt sich indirekt aus der einer der wichtigsten und wird daher mit einem Wertung der zum jeweiligen Teilindex gehörenden Faktor fünf gewichtet. Wie in Tabelle 1 dargestellt, Indikatoren. Wie Tabelle 1 unten zeigt, besteht der beträgt die Summe aller Gewichtungsfaktoren für Ausgabenindex beispielsweise aus zwei Indikatoren alle sechs Indikatoren 20. Wenn fehlende Daten zu („Militärausgaben als Prozentsatz des BIP“ und „Mili- einer „0“-Bewertung von Indikatoren mit einem tärausgaben im Verhältnis zu Ausgaben für den Ge- Gesamtgewichtungsfaktor von 10 oder weniger führen, sundheitsbereich“), die mit den Faktoren fünf und wird das entsprechende Land aus dem GMI-Ranking drei versehen sind. Dies ergibt einen Gesamtgewich- ausgeschlossen. Wenn die Datenabdeckung ausrei- tungsfaktor von acht. In ähnlicher Weise beträgt der chend ist, listen wir diese Länder jedoch in der Rang- Gesamtgewichtungsfaktor des Personalindex acht liste der Teilindizes auf. und der des Schwere Waffen-Indexes vier. Ein solcher ausgeschlossener Fall ist die Demo- Um die Kompatibilität zwischen verschiedenen kratische Volksrepublik Korea. Sie ist höchstwahr- Indikatoren zu erhöhen und zu verhindern, dass scheinlich das am meisten militarisierte Land der Extremwerte beim Normalisieren von Daten zu Ver- Welt. Sie ist jedoch ein autokratischer Staat, der seine zerrungen führen, wird in einem ersten Schritt jeder Daten, insbesondere zu Militärausgaben, Personal Indikator in einem Logarithmus mit dem Faktor 10 und der Anzahl schwerer Waffen, streng geheim hält. dargestellt. In einem zweiten werden alle Daten mit Auch zu Jemen, Syrien, Katar oder Myanmar fehlen der Formel x = (y-min) / (max-min) normalisiert, derzeit verlässliche Daten, weshalb wir sie nicht in wobei „min“ und „max“ jeweils den niedrigsten und den GMI aufnehmen können. den höchsten Wert des Logarithmus darstellen. In Tabelle 1 Indikatoren und Gewichtungsfaktoren Kategorie Indikator Faktor Ausgaben Militärausgaben als Prozentsatz des BIP 5 Militärausgaben im Verhältnis zu Ausgaben für den Gesundheitsbereich 3 Personal Militärisches und paramilitärisches Personal im Verhältnis zur Bevölkerungszahl 4 Reservistinnen und Reservisten im Verhältnis zur Bevölkerungszahl 2 Militärisches und paramilitärisches Personal im Verhältnis zur Zahl der Ärztinnen und Ärzte 2 Waffen Schwere Waffen im Verhältnis zur Bevölkerungszahl 4 14 \ \ WORKING PAPER 3 \ 2021
GLOBALER MILITARISIERUNGSINDEX: VORSTELLUNG, CODEBOOK UND REFLEXION \ BAYER, ALBERT, HAUK & MUTSCHLER einem dritten Schritt wird jeder Indikator nach einem subjektiven Faktor gewichtet, der die relative Bedeu- tung widerspiegelt, die ihm die BICC-Forschenden beimessen. Um die endgültige Punktzahl zu berechnen, werden die gewichteten Indikatoren addiert und dann ein letztes Mal auf einer Skala von 0 bis 1.000 normalisiert. Im GMI-Ranking werden die Länder nach ihrem gesamten GMI-Wert eingestuft. Der Ausgaben-, der Personal- und der Schwere Waffen-Index können auch getrennt eingestuft werden. Diese Ranglisten ermöglichen es auch Länder zu umfassen, die auf- grund fehlender Daten nicht in der GMI-Gesamtrang- liste aufgeführt sind. Tabelle 2 GMI Rangliste 2020 Land AI Wert PI Wert SWI Wert GMI Wert Platz Israel 2,4 1,7 3,1 363,2 1 Armenien 2,2 1,7 2,3 310,1 2 Oman 3,4 0,9 1,8 305,6 3 Bahrain 2,1 1,3 2,6 300,8 4 Singapur 2,0 1,3 2,7 297,2 5 Saudia-Arabien 3,1 0,7 2,1 293,6 6 Brunei 2,3 1,5 1,9 286,7 7 Russland 2,1 0,9 2,7 285,1 8 Kuwait 2,6 0,6 2,4 284,2 9 Jordanien 2,2 1,1 2,3 279,3 10 AI=Ausgabenindex; PI=Personalindex; SWI=Schwere Waffen-Index \ WORKING PAPER 3 \ 2021 15 \
GLOBALER MILITARISIERUNGSINDEX: VORSTELLUNG, CODEBOOK UND REFLEXION \ BAYER, ALBERT, HAUK & MUTSCHLER Modellrechnung Um dieses Codebook ein wenig verständlicher zu Personalindex (PI) machen, verfolgen wir Deutschlands GMI Ranking für das Jahr 2019 inklusive der Teilindizes im Detail Für den Personalindex nutzen wir die folgenden nach. Mit einer Gesamtpunktzahl von 114 wurde Datenquellen: Deutschland im GMI 2020, also für das Jahr 2019, auf mil = 181.400 (Anzahl des militärischen Personals - IISS) Platz 106 des GMI eingestuft. Auf den jeweiligen Teil-para = 0 (Anzahl des paramilitärischen Personals - IISS) indizes ist Deutschland für das Jahr 2019 wie folgt Reserve = 29.200 (Anzahl an Reservistinnen und bewertet: Reservisten - IISS) 1\ Ausgabenindex: 0,96 pop = 8.3132.799 (Bevölkerungszahl – Weltbank) 2\ Personalindex: 0,22 phy = 351.195 (Anzahl an Ärztinnen und Ärzten – WHO) 3\ Schwere Waffen-Index: 1,12 milpara_pop = (mil + para) / pop = o,002182051 milpara_phy = (mil + para) / phy = 0,5165222 Um den GMI für Deutschland für 2019 zu berechnen, reserve_pop = reserve / pop = 0,0003512452 berechnen wir die Teilindizes separat und aggregieren Nun berechnen wir den verschobenen Logarithmus dann die Zwischenergebnisse. (zur Basis 10): log(milpara_pop + 1) = 0,0009466203 Ausgabenindex (AI) log(milpara_phy + 1) = 0,1808488 log(reserve_pop + 1) = 0,0001525171 Die Angaben der jeweiligen Datenquellen ergeben Anschließend machen wir dasselbe für alle Länder folgenden Werte: und Jahre und errechnen die Maximal- und milex_gdp = 1,2795 (Militärausgaben als Prozentanteil Minimalwerte: des BIP - SIPRI) min max health_gdp = 11,2 (Gesundheitsausgaben als Prozent- anteil des BIP - WHO) log(milpara_pop + 1) 0 0,03632710 Zunächst berechnen wir deren Verhältnis: log(milpara_phy + 1) 0 3,310017 milex_health = milex_gdp / health_gdp = 0,114241071 log(reserve_pop + 1) 0 0,11805287 In einem zweiten Schritt berechnen wir den ver- schobenen Logarithmus (zur Basis 10): log(milex_gdp + 1) = 0,3578 Als letzten Schritt wenden wir die Normalisie- log(milex_health + 1) = 0,0470 rungsfunktion (norm(x) = (x – min) / (max – min)) an: Jetzt machen wir dasselbe für alle Länder und PI1 = milpara_pop_norm = 0,02605824 Jahre und bestimmen die Maximal- und PI2 = milpara_phy_norm = 0,05463681 Minimalwerte: PI3 = reserve_pop_norm = 0,001291939 min max log(milex_gdp + 1) 0 117,349 log(milex_health + 1 0 799,1 In einem letzten Schritt wenden wir die Normalisie- rungsfunktion (norm(x) = (x – min) / (max – min)) an: AI1 = milex_gdp_norm = 0,1726053 AI2 = milex_health_norm = 0,03077972 16 \ \ WORKING PAPER 3 \ 2021
GLOBALER MILITARISIERUNGSINDEX: VORSTELLUNG, CODEBOOK UND REFLEXION \ BAYER, ALBERT, HAUK & MUTSCHLER Schwere Waffen-Index (SWI) Für den Schwere Waffen-Index nutzen wir folgende Datenquellen: weapons = 3.485 (Anzahl an schweren Waffen - IISS) pop = 83.132.799 (Bevölkerungszahl – Weltbank) weapons_pop = 100.000 * weapons / pop = 4.192.088 Zunächst berechnen wir den verschobenen Loga- rithmus (zur Basis 10): log(weapons_pop + 1) = 0,7153420 Nun wiederholen wir den Schritt für alle Länder und Jahre und errechnen die Maximal- und Minimalwerte: min max log(weapons_pop + 1 0 2,560594 Im letzten Schritt wenden wir die Normalisie- rungsfunktion (norm(x) = (x – min) / (max – min)) an: SWI1 = weapons_pop_norm = 0,2793656 Aggregation Abschließend multiplizieren wir die Zwischen- ergebnisse mit den jeweiligen Gewichtungsfaktoren, summieren die Ergebnisse auf und dividieren das Ergebnis durch den Gesamtgewichtungsfaktor 20: ALL = (5*AI1 AI1 + 3*AI2 AI2 + 4*PI1 PI1 + 2*PI2 PI2 + 2*PI3 PI3 + 4*SWI1 SWI1) / 20 = 0,1144459 Zuletzt multiplizieren wir das Ergebnis mit dem Faktor 1.000: GMI = ALL * 1.000 = 114,4459 Datensatz Das BICC stellt den GMI in einer reduzierten Form (die GMI-Bewertung inklusive der Teilindex- ebene) unter diesem Link als Datensatz im csv-Format zum Download zur Verfügung. Das Codebook in seiner jeweils aktuellen Version findet sich auf der webseite https://gmi.bicc.de/#rank@2019 \ WORKING PAPER 3 \ 2021 17 \
GLOBALER MILITARISIERUNGSINDEX: VORSTELLUNG, CODEBOOK UND REFLEXION \ BAYER, ALBERT, HAUK & MUTSCHLER Diskussion und zukünftige Entwicklung Mit dem aktuellen Codebook des GMI haben wir Staatszentrierung unseren staatszentrierten, relationalen Ressourcen- ansatz zur Messung von Militarisierung vorgestellt. Mit dem Westfälischen Frieden, der 1648 dem Das Codebook beschreibt dabei sowohl das aktuelle 30-jährigen Krieg ein Ende setzte, wurde der Staat mit Konzept von Militarisierung als auch seine Operatio- seinen stehenden Heeren zum Hauptakteur in der nalisierung durch den GMI. Beide, die Konzeptionali- Kriegsführung und damit zum zentralen Faktor im sierung als auch die Operationalisierung, werden Bereich der Militarisierung. Trotz dieser herausgeho- jedoch durch neue Entwicklungen in der Kriegsfüh- benen Stellung war er jedoch selbst zu Hochzeiten rung herausgefordert. So bietet der Einsatz bewaffneter des staatlichen Militarismus und Imperialismus nie und mit moderner Aufklärungs- bzw. Überwachungs- der einzige Akteur, welcher militärische Truppen ins technik ausgestatteter Drohnen die Möglichkeit zu Feld führte. Mit anderen Worten: Der Staat war nie sog. targeted killings – der gezielten Tötung von Personen, der unumstrittene Monopolist militärischer Gewalt. die als Bedrohung für die Sicherheit eines Staates So unterstützten und ersetzten private Akteure wie oder seiner Bevölkerung angesehen werden. Ähnlich die East India Trading Company (Clegg, 2017) etwa die wie Cyber-Attacken auf wichtige Infrastruktur wie nationalen bzw. staatlichen Streitkräfte bei der Erobe- Atomanlagen, Energieversorgung oder Kommunikati- rung und Absicherung kolonialer Gebiete mit eigenen onseinrichtung sind solche Taktiken im Bereich der militärischen Truppen. Ähnlich setzte nach dem sogenannten hybriden Kriegsführung verortet und Ende des Ost-West-Konfliktes eine Liberalisierungs- befinden sich damit in der Grauzone zwischen klassi- welle ein, die auch den militärischen Sektor erfasste schen Definitionen von Krieg und Frieden. und zu einer Proliferation von sogenannten Private Zudem bieten neue Datenquellen die Möglichkeit Security (PSC) und Private Military Companies (PMC) zur Weiterentwicklung des Indexes. In diesem Ab- führte (Singer, 2007). Dies stellte erneut die zentrale schnitt möchten wir die Vor- und Nachteile unseres Rolle des Staates im Bereich militärischer Gewalt- Ansatzes darlegen und mögliche Anpassungsoptionen anwendung und für Prozesse der Militarisierung in diskutieren. Wir werden dabei insbesondere auf drei Frage. Seit einigen Jahren wird zudem über eine zu- Punkte näher eingehen: nehmende Militarisierung von Polizeikräften disku- 1\ die Frage der Staatszentrierung und eine mögliche tiert, welche vermehrt militärische Taktiken und Aus- Ausweitung auf private Militarisierung; rüstung übernehmen und somit dem Militär immer 2\ die Ausweitung des Schwere Waffen-Indexes und ähnlicher werden (Flores-Macías & Zarkin, 2019; die mögliche Aufnahme kleiner und leichter Bieler, 2016). Diese stellt die Staatszentrierung zwar Waffen sowie neuer Waffensysteme wie Drohnen nicht in Frage, weitet aber das Feld der Militarisie- und militärischer Satelliten; rungsforschung über die Streitkräfte als zentralen 3\ und wir möchten erste Gedanken anstellen, wie Akteur hinaus aus. Zwar betrachten wir diese Auswei- der Nexus zwischen Militarisierung und organi- tung des Feldes als angemessen, halten jedoch die sierter Gewalt verstanden und Militarisierung konzeptuelle Engführung mit einem Fokus auf den mehrdimensional gemessen werden kann. Staat und sein Militär für den GMI aus analytischen Gründen weiterhin für sinnvoll: Erstens sind Staaten und ihre Armeen mit welt- weit rund 19,8 Millionen Menschen unter Waffen, ca. 23,8 Millionen Personen in Reserve (IISS, 2021) und Rüstungsausgaben von 1.981 Milliarden US-Dollar im Jahr (SIPRI, 2020) nach wie vor die bei weitem ge- wichtigsten Institutionen militärischer Gewalt und werden dies auf absehbare Zukunft auch bleiben. 18 \ \ WORKING PAPER 3 \ 2021
GLOBALER MILITARISIERUNGSINDEX: VORSTELLUNG, CODEBOOK UND REFLEXION \ BAYER, ALBERT, HAUK & MUTSCHLER Staatliche Armeen unterscheiden sich dabei hat sich dieses Vorgehen bewährt. Wir wollen jedoch zweitens durch Auftrag, Rekrutierungsmethoden auf zwei Probleme dieser Beschränkung und ggf. und Einbettung in die Gesellschaft wesentlich von Lösungsmöglichkeiten aufmerksam machen. anderen bewaffneten Akteuren wie etwa privaten Milizen, bewaffneten Parteien oder Bewegungen, Klein- und Leichtwaffen Rebellengruppen oder auch der staatlichen Polizei. Erstens werden viele – insbesondere innerstaatliche Der GMI wird sich daher nach wie vor auf das – Kriege vor allem mit Klein- und Leichtwaffen5 staatliche Militär als Ausgangspunkt von Militarisie- geführt. Diese Waffen sind zudem auch das gängigste rungsdynamiken konzentrieren. Dabei gehen wir Repressionsorgan gegen die eigene Bevölkerung und davon aus, dass das Militär über zivilmilitärische vor diesem Hintergrund die wohl wichtigste Ressource Beziehungen (civil–military relations)4 in ein politi- des Militärs in Bezug auf organisierte Gewalt (zum sches Regime bzw. eine Gesellschaft eingebettet ist. BICC-Konzept der organisierten Gewalt siehe „Milita- Militarisierung im engeren Sinne des GMI – verstanden risierung und organisierte Gewalt: In Richtung eines als relationale Ressourcenzuweisung an das Militär mehrdimensionalen Ansatzes“). Trotz ihrer weitrei- – hat in diesem Sinne immer auch Einflüsse auf andere chenden Bedeutung als Mittel zur Umsetzung orga- gesellschaftliche Teilbereiche oder Institutionen (wie nisierter Gewalt werden Klein- und Leichtwaffen etwa die Polizei) und deren Beziehungen untereinander. jedoch bisher nicht durch den GMI erfasst. Grund So bedeutet eine Änderung in der Ressourcenausstat- hierfür ist ein Mangel an verlässlichen Daten. Im Ge- tung, etwa über die Einführung oder Aussetzung einer gensatz zu Großwaffensystemen werden Klein- und Wehrpflicht und damit einhergehenden Verkleinerung Leichtwaffen häufiger illegal gehandelt. Gleichzeitig oder Vergrößerung der Personalstärke, zwangsläufig werden sie oft einfach lokal produziert, so dass ein Rückkopplungen auf Regime und Gesellschaft (Mili- weiterer Transfer wegfällt. Dies führt dazu, dass etwa tarisierung im weiteren Sinne). Wir halten die kon- die Hauptinformationsquelle des GMI, die Military zeptionelle Ausdifferenzierung und Messung dieser Balance, keinerlei Daten zu Klein- und Leichtwaffen verschiedenen Dimensionen von Militarisierung für vorhält. Eine der wenigen globalen Datenquellen zu sehr wichtig und streben diese an (siehe Punkt Mili- Kleinwaffen im Besitz des Militärs ist der Small Arms tarisierung und organisierte Gewalt: In Richtung Survey (SAS) des Graduate Institute of International eines mehrdimensionalen Ansatzes). Aus analytischen and Development Studies in Genf. Dieser erhebt die Gründen werden wir diese aber getrennt angehen, Kleinwaffenbestände in den Arsenalen des Militärs während der GMI weiter Militarisierung mittels eines für derzeit 177 Länder. Als Datenquellen dienen hier- staats- und militärzentrierten Ansatzes messen wird. bei Selbstauskünfte der Staaten gegenüber dem Small Arms Survey, Berichte von Staaten an das UN-Register Klein- und Leichtwaffen sowie neue of Conventional Arms (UNROCA) sowie Schätzungen.6 Waffensysteme 5 \ Die Definition der Vereinten Nationen von Kleinwaffen/SALW unter- In seiner aktuellen Konzeption erfasst der GMI scheidet zwischen Kleinwaffen und leichten Waffen. Zu den Kleinwaffen gehören Revolver und Selbstladepistolen, Karabiner und Gewehre, die materielle Dimension von Militarisierung über Sturmgewehre, Maschinenpistolen und leichte Maschinengewehre das Verhältnis schwerer Waffen in Bezug auf die Ge- (alle bedienbar durch eine Person). Leichte Waffen sind schwere Maschi- samtbevölkerung. In Hinblick auf Rüstungsdynami- nengewehre, Granatwerfer, tragbare Panzer- und Luftabwehrwaffen, rückstoßfreie Gewehre, tragbare Raketenwerfer und Mörser bis zu ken und konventionelle zwischenstaatliche Kriege einem Kaliber von 100mm. Sie können von zwei Personen oder einem Team getragen, einem kleinen Fahrzeug oder einem Packtier transpor- tiert und von einer Mannschaft bedient werden. Mit Ausnahme von Granaten, die Waffe und Munition in einem sind, brauchen alle Klein- 4 \ Unter dem Schlagwort civil-military relations (CMR) werden im weiteren waffen Munition (UNODA, 2000). Sinne die Beziehungen zwischen Militär auf der einen Seite und den 6 \ Hierbei wird die Truppenstärke mit einem Modifikator für unter- zivilen Teilen der Gesellschaft auf der anderen Seite verstanden. CMR schiedliche Armeetypen (people’s war militaries, trinitarian militaries, umfassen dabei in ihrer weiteren Konzeption auf der zivilen Seite so- Constabulary militaries, reserve militaries) multipliziert und so die wohl politische Eliten als auch die breitere Bevölkerung (Shields, 2015). geschätzte Zahl an Kleinwaffen errechnet (vgl. Karp, 2018). \ WORKING PAPER 3 \ 2021 19 \
GLOBALER MILITARISIERUNGSINDEX: VORSTELLUNG, CODEBOOK UND REFLEXION \ BAYER, ALBERT, HAUK & MUTSCHLER Letztere machen den bei weitem größten Teil der Im Bereich der militärischen Drohnen ist die SAS-Daten aus. Auch wenn die Schätzmethodik an- Lage jedoch komplizierter. Zwar existiert mit dem hand einiger Beispiele überprüft wurde und sich da- von Dan Gettinger und dem Center for the Study of bei als relativ zuverlässig erwiesen hat, bliebe vor the Drone des Bard College herausgegebenen Drone einer Übernahme der Methodik zu prüfen, inwieweit Databook ein aufwändig recherchiertes und recht sich diese Methodik auch retrospektiv auf den GMI umfassendes Datenreservoire, welches aktuell 170 anwenden lässt. Drohnentypen in 101 Ländern erfasst. Allerdings wurde die Arbeit des Instituts im Jahr 2021 eingestellt. Neue Waffensysteme Gegenüber den Angaben des Drone Databook sind die Zweitens hat sich im Zuge der hybriden (McCulloh Angaben in der Military Balance des IISS deutlich we- & Johnson, 2013), netzwerkzentrierten (von Boemcken, niger umfassend. Auch die britische NGO Drone Wars 2008) bzw. liquiden (Mutschler, 2016) Kriegsführung sammelt Daten zu Betreiberländern von bewaffneten und der revolution in military affairs sowohl die Kriegs- Drohnen, jedoch verzeichnet diese Liste derzeit nur technik als auch die Kriegsführung grundlegend 20 Länder und weicht damit deutlich von den Daten geändert. In Anbetracht dessen spielen etwa „neue“ des Drone Databook ab. Zudem veröffentlicht Drone Waffensysteme bzw. Militärtechnologien eine zuneh- Wars zwar einzelne Typen, nicht aber die Anzahl, die mend wichtige Rolle. Militärische Satelliten sind zur vom jeweiligen Land genutzt werden. Die Daten aus globalen Navigation, zur Aufklärung, zur Kommuni- SIPRIs Arms Transfers Database wiederum decken kation und Vernetzung mit unterschiedlichen Trup- lediglich die Exporte, nicht jedoch die Eigenproduk- penteilen sowie zur Steuerung von Präzisionswaffen tion ab. Vor diesem Hintergrund ist die Aufnahme unerlässlich geworden. Unbemannte Drohnen, sog. unbemannter Drohnen mit einem hohen Recherche- UAVs (unmanned aerial vehicles) spielen nicht nur für aufwand verbunden. Als Ausgangspunkt könnte das die Aufklärung eine wichtige Rolle, sondern werden Drone Databook dienen, welches jedoch jährlich vermehrt auch für Luftschläge und zur Überwachung durch SIPRIs Daten zu Drohnenexporten und eigenen großer (See-)Räume eingesetzt. Darüber hinaus ist Recherchen zur Produktion ergänzt werden müsste. der Cyberraum zu einem neuen Schlachtfeld gewor- Dennoch soll die Fähigkeit, bewaffnete Drohnen ein- den. Militarisierung erstreckt sich damit auch in den zusetzen ab 2022 in den GMI eingehen. eingehen Angesichts der digitalen Raum und umfasst auch dort eine entspre- Datenlage wird diese Fähigkeit in vier Kategorien chende Infrastruktur. erhoben werden, nämlich keine, geringe, mittlere In allen angesprochenen Bereichen besteht die und große Kapazitäten. Anders als bei den übrigen Problematik darin, verlässliche und jährliche Daten schweren Waffen, wird also nicht die genaue Anzahl zu identifizieren, um die entsprechenden Waffensys- an Waffensystemen, sondern nur eine gewichtete teme in den GMI mit aufnehmen zu können. Am Kapazitätsschätzung in den Index eingehen. einfachsten gestaltet sich die Situation in Bezug auf Ebenfalls nicht unproblematisch ist die Erweite- Satelliten. Hier stellt USC Satellite Database eine rung um Cyberwar-Kapazitäten. Diese sind insbeson- Übersicht über derzeit 2.787 Satelliten (Stand August dere vor dem Hintergrund der sogenannten hybriden 2020) aller Art zur Verfügung und unterscheidet diese Kriegsführung relevant. Grundsätzlich existieren nach zivil, militärisch und jeweiligen Betreibern. zwei Ansätze zur Abschätzung/Messung von Cyberwar- Diese Daten werden jährlich mehrfach ergänzt und Kapazitäten eines Landes: Erstens über existierende stellen sowohl die umfassendste wie auch verläss- Strukturen bzw. Infrastrukturen zur elektronischen lichste Quelle in Bezug auf Satelliten dar. Auf Grund Kriegsführung, zweitens über konkrete Vorfälle, die dieser Datenlage werden wir militärische Satelliten einem bestimmten Akteur zugeschrieben werden. sehr wahrscheinlich mit dem nächsten Update in den GMI aufnehmen können. 20 \ \ WORKING PAPER 3 \ 2021
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