Zur gegenwärtigen Lage der Aleviten in der Türkei Burak Gümüş - Semantic Scholar

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Zur gegenwärtigen Lage der Aleviten in der Türkei

Burak Gümüş

   Die Angehörigen des mit dem Islam zumindest bekenntnisverwandten Ale-
vitentums bilden nach den Sunniten die größte muslimische Glaubensgemein-
schaft in der Türkei.1 Im Gegensatz zu Sunniten lehnen Aleviten das enthaltsam-
keitsrituelle Fasten im Monat Ramadan, das muslimische Reihengebet in der
Moschee, die Scharia und die zeremonielle Pilgerfahrfahrt nach Mekka ebenso
ab wie das Verschleierungsgebot für Frauen, das allgemeine Alkoholtabu und die
religiös legitimierte Geschlechtertrennung. Stattdessen nehmen Männer und
Frauen gemeinsam an den von Tanz und mystischen Liedern begleiteten Cem-
Riten in eigens dafür bereitgestellten Gebets- und Versammlungsorten (Cem-
Häusern, cemevleri) teil. Aufgrund ihrer mehrheitlichen Missachtung der Fünf
Säulen des Islams, ihrer liberaleren Auslegung der islamischen Lehre und „heid-
nisch anmutenden“ Ritualen scheint ihnen laut Kehl-Bodrogi der Zutritt zu ge-
sellschaftlichen Ressourcen nur über die Verbergung der eigenen Herkunft vor

1   Selbst der erste Satz ist sowohl in der Wissenschaft als auch bei den Aleviten nicht ganz
    unumstritten. Denn es gibt verschiedene, miteinander um Einfluss ringende rivalisierende
    Strömungen, wonach alevilik mal eine Konfession innerhalb des Islams, mal eine mysti-
    sche Auslegung des Islam, mal eine eigene Religion, mal ein sunnitische Untergruppe,
    mal die „türkische“ Auslegung des Muslimentums, mal ein wieder zum Schiitentum zu-
    rück zu überführende Irrlehre, mal der „wahre“ Islam, mal eine „kurdisch patentierte
    Glaubensphilosophie“, mal eine „anatolische“ Kultur- und Lebensweise außerhalb des Is-
    lams darstellt. Ethnische, regionale und generationsspezifische Unterschiede sowie politi-
    sche Rivalitäten unter den Angehörigen bzw. Vereinigungen erschweren neben der bis in
    die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts hineinreichenden Tradition der Mündlichkeit und
    Geheimzucht die „theologisch“ eindeutige Verortung dieser Glaubenslehre. Erschwerend
    kommt der von der sunnitischen Außenwelt auferlegte Anpassungsdruck hinzu, sodass
    eindeutige und öffentlich gültige Aussagen über das eigentliche Wesen des Alevitentums
    neben einigen zentralen Lehren und Riten kaum möglich sind. Vielmehr scheinen Ein-
    und Widersprüche geistlicher Spezialisten und Vereinsfunktionäre bei Tatsachenbehaup-
    tungen über die Definition des Alevitentums eher die Regel als die Ausnahme zu sein;
    vgl. İsmail Engin: Thesen zur ethnischen und religiösen Standortbestimmung des Ale-
    witentums. Türkischsprachige Publikationen der Jahre 1983-1995, in: Orient, Vol. 37,
    1996, S. 691-706; Tahire Erman und Emrah Göker: Alevi Politics in Contemporary Tur-
    key, in: Middle Eastern Studies, Vol. 36, 2000, 4, S. 99-118; Andreas Gorzewski: Das
    Alevitentum in seinen divergierenden Verhältnisbestimmungen zum Islam, Bonn 2010,
    S. 176-254.

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der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft möglich zu sein.2 Dieser Beitrag folgt der
These, dass die Geschichte der Aleviten mit der Islamisierungs-, Säkularisie-
rungs- und Re-Islamisierungsgeschichte der sunnitischen (Mehrheits-) Gesell-
schaft der Türkei untrennbar verbunden ist und die Zunahme der Religiosität der
Mehrheitsmuslime Benachteiligungen für die Aleviten bzw. die Verweltlichung
der Sunniten eine graduelle Entdiskriminierung mit sich bringt. Es wird daher
davon ausgegangen, dass es unter der gemäßigt-islamististischen AKP-
Regierung zu einer „Verschlimmbesserung“ der Lage der Aleviten kommt.

1.    Kurze Skizze der Entwicklungsgeschichte des Alevitentums als Lei-
      densweg der Aleviten

   Im Osmanischen Reich wurden die Aleviten durch die Etablierung der Scharia
an den Rand gedrängt und gerieten unter massive Repression.3 Für Ihre Verfol-
gung und Vernichtung wurde ein religiöses Rechtsgutachten erstellt.4 Daher
wurden die Kemalisten von den Aleviten als Revisionisten der bisherigen Ord-
nung unterstützt. Im republikanischen Einparteienstaat Atatürks wurde zur Kon-
struktion der Nation der westlichen Türken die Scharia abgeschafft. Ziel der pro-
pagierten und an die Stelle der Fünf Säulen des Islams getretenen „Sechs Pfeile“
der Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP) war die Her-

2     Krisztina Kehl-Bodrogi: Vom revolutionären Klassenkampf zum „wahren“ Islam. Trans-
      formationsprozesse im Alevitentum der Türkei nach 1980, Sozialanthropologische Ar-
      beitspapiere 49, Berlin 1992, S. 1-2.
3     Baki Öz: Osmanlı'da Alevi Ayaklanmaları, İstanbul 1992; İsmail Metin: Aleviliğinin
      Anayasası, İstanbul 1998.
4     Erdoğan Aydın: Osmanlı Gerçeği İstanbul, Cumhuriyet Kitapları 2000, S. 165-166; Tur-
      gut Akpınar: Türk Tarihinde Alevilik, in: İsmail Engin; Erhard Franz (Hrsg.): Alevi-
      ler/Alewiten. Kimlik ve Tarih/ Identität und Geschichte, Cilt 1/Band 1, (Band 59 aus der
      Reihe Mitteilungen/ Deutsches Orient-Institut), Hamburg 2000, S. 242-243. Bereits unter
      Selim I. wurde eine Liste von allen registrierten Aleviten angefertigt (John Kingsley Bir-
      ge: The Bektashi Order of Dervishes, London 1937, S. 66). Dabei wurden 40.000 Men-
      schen getötet oder vertrieben (Fuat Bozkurt: Aleviliğin Toplumsal Boyutlar, İstanbul
      1993, S. 59, Turgut Akpınar: Türk Tarihinde Alevilik, a.a.O., S. 243). Auch später war in
      der Ära von Sultan Süleyman I. im Reich nach einem anderen wirksamen Gutachten „die
      massenweise Tötung der Rotköpfe nach unserer Religion erlaubt. Das ist der größte, hei-
      ligste Krieg ... Das Sterben bei dieser Tätigkeit ist das Heiligste des Märtyrertums. … [Es
      war (BG)] notwendig, alle Rotköpfe ohne Unterschied in Bezug auf das Alter mit ihren
      Städten und Werken zu vernichten. Diejenigen, die an deren Gottlosigkeit Zweifel hegen,
      werden selbst zu Ungläubigen.“ (Sadık Eral: Çaldıran'dan Çorum'a. Anadolu'da Alevi
      Katliamları, 2.Aufl., İstanbul 1995, S. 26-35).

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beiführung transethnischer Binnenintegration der Bevölkerung zum Schutz vor
Abspaltung, die Erschaffung eines türkischen Bürgertums und die Herstellung
internationaler Souveränität der Türkei zur Sicherung der internationalen Zu-
kunftsfähigkeit der Türkei. Die Abschaffung der Scharia, der religiösen Gerichte,
religiöser Schulen, die Entmachtung der muslimischen Geistlichen zählen neben
der Loslösung der Türken vom islamischen Kulturverbund zu den wichtigsten
Maßnahmen. Letzteres geschah durch die rechtliche Einführung westlicher Klei-
dung, Gesetze, Lateinschrift und säkulare Indoktrination in kemalistischen In-
stanzen (Volkshäuser; Dorfinstitute, Armee, einheitliche weltliche Schulen), im
offiziellen Geschichtsunterricht, bei zahlreichen Riten in der Schule und an den
eigens dafür neu eingeführten offiziellen Feiertagen in der Öffentlichkeit.5 Mit
der kemalistischen De-Sunnitisierung und Verweltlichung der Gesellschaft der
Türkei kam es zur Abschwächung konfessioneller Abgrenzungsmerkmale und
damit zwangsläufig auch zur partiellen Entdiskriminierung der Aleviten.6
    Die Ersetzung der Staatspartei durch konservative Parteien nach der Einfüh-
rung des Mehrparteiensystems 1946 setzte einen bis heute andauernden Prozess
der sunnitischen Re-Islamisierung in Gang. Mit der Re-Politisierung der Religi-
on wurde über die Wiederkehr muslimischer Bezugs- und Diskriminierungs-
merkmale (Fünf Grundpfeiler, Schleier, Alkoholverbot, Geschlechtertrennung)
eine Rekonfessionalisierung der Politik eingeleitet: Mit der verstärkten sozialen
Geltung orthodox-islamischer Werte und Normen wurden die Aleviten immer
mehr zu Außenseitern und hielten entweder am Kemalismus fest oder wandten
sich sozialistischen Bewegungen zu. In den 1970er Jahren gab es bürgerkriegs-
ähnliche Auseinandersetzungen zwischen rechten Sunniten und linken Aleviten.7
Dabei kam es zu Massakern an der als kommunistisch und atheistisch betrachte-
ten alevitischen Zivilbevölkerung in Kahramanmaraş und Çorum. Nach dem Mi-
litärputsch von 1980 wurde die nationalreligiöse Türkisch-Islamische Synthese
zur halboffiziellen Staatsideologie erhoben. Diese wurde mit dem Moscheebau,
mit der Eröffnung von islamischen Predigerschulen, mit der Einführung des sun-
nitischen Religionsunterrichts als Pflichtfach, mit der geförderten Allgegenwart

5   Burak Gümüş: Werte und Normen im Kemalismus, in: Wolfgang Gieler; Christian Jo-
    hannes Henrich (Hrsg.): Politik und Gesellschaft in der Türkei, Wiesbaden 2010, S. 23-
    52.
6   Markus Dressler: Die civil religion der Türkei. Kemalistische und alewitische Atatürk-
    Rezeption im Vergleich, Würzburg 1999, S. 84, Martin van Bruinessen: Kurds, Turks
    and the Alevi Revival of Turkey, in: Middle East Report, Minorities in the Middle East:
    Power and the Politics of Difference, 1996, Nr. 200, S. 7-10, hier S. 8.
7   Günter Seufert: Café Istanbul. Alltag, Religion und Politik in der modernen Türkei, Mün-
    chen 1997, S. 75.

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des Islam in den Medien und der Förderung der Religionsbehörde durchgesetzt.
Das Alevitentum wurde im Gegensatz dazu weder im Religionsunterricht be-
rücksichtigt, noch in der Religionsbehörde repräsentiert. Stattdessen wurden Mo-
scheen auch in alevitischen Dörfern gebaut. Seit Mitte der 80er Jahre hat sich das
politische Gewicht zugunsten der sunnitisch-islamistischen Kräfte auf Kosten
der Linken verschoben. Diese Kräfte wurden von der Mutterlandspartei von Tur-
gut Özal (Anavatan Partisi, ANAP), Süleyman Demirels Partei des Rechten
Weges (Doğru Yol Partisi, DYP), Necmettin Erbakans Wohlfahrtspartei (Refah
Partisi; RP), Alparslan Türkeş Nationalistischen Bewegungspartei (Milliyetçi
Hareket Partisi; MHP) repräsentiert und werden seit 2002 vor allem von Recep
Tayyip Erdoğans Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (Adalet ve Kalkınma
Partisi, AKP) vertreten.
   Mit der Wiederkehr der mit der Religiosität einhergehenden sunnitischen Ab-
grenzungsmerkmale in die Öffentlichkeit Anfang der neunziger Jahre des letzten
Jahrhunderts wurden auch wieder Vorurteile den Aleviten gegenüber verbreitet
(Inzestvorwurf etc.). Fünfundreißig Intellektuelle, vorwiegend Aleviten, starben
bei einem Brandanschlag auf einem Kulturfestival in Sivas in 1993 live vor lau-
fenden Kameras und vor den Augen der Sicherheitskräfte.

2.    Exkurs über das Gewaltereignis von Sivas (2.7.1993)

   Die Opfer von Sivas waren vornehmlich alevitisch-stämmige Intellektuelle
und Künstler, die nach stundenlanger Belagerung durch Tausende vom Freitags-
gebet aus den Moscheen kommender, aufgebrachter religiöser Sunniten vor den
Augen polizeilicher und militärischer Sicherheitskräfte live vor laufenden Kame-
ras umgebracht wurden. Sie wurden von Angehörigen der örtlichen Zentrale der
islamistischen Wohlfahrtspartei (Refah Partisi, RP) angeführt.8 Zwar waren zu-
vor örtliche Sicherheitskräfte über islamistische Angriffe gegen Aziz Nesin und
der lokale Gouverneur vom Nachrichtendienst informiert worden9, aber es wur-
den keine Sicherheitsvorkehrungen in Sivas getroffen. Vor dem Festival wurden
in der Stadt Hetzschriften gegen die Veranstaltung von Unbekannten an die
„Muslimische Öffentlichkeit“ verteilt. Die Teilnahme des bekennenden atheisti-
schen Romanciers Aziz Nesin, der kurz zuvor Teile des von Salman Rushdie

8     Sadık Eral: Çaldıran'dan Çorum'a, a.a.O., S. 219ff.; Zeki Çoskun: Aleviler, Sünniler ve ...
      Öteki Sivas, Istanbul 1995, S. 354; Emre Kongar: 21. Yüzyılda Türkiye'nin toplumsal
      yapısı, 11. Aufl., İstanbul 1998, S. 254-263.
9     Lütfi Kaleli: Sivas Katliamı ve Şeriat. İstanbul 1994, S. 331.

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verfassten, weltweit durch Islamisten diffamierten Romans „Satanischen Verse“
übersetzt hatte, wurde in dem Schreiben verketzert und dämonisiert.10 Vor dem
Festspiel hatte die religiöse Stadtregierung aus den umliegenden Provinzen Tau-
sende Auswärtige in den wegen der Ferien leeren Internats- und (Koran- und
Ober-) Schulunterkünften unter dem Vorwand der angeblich zeitgleich mit dem
Alevitenfestival stattfindenden „Marathons zu Ehren der Auswanderung Mo-
hammeds“ („Hicret Koşusu“) untergebracht, aus denen sich die späteren Teil-
nehmer des Pogroms rekrutierten.11
   Es kam nach den Freitagsgebeten zu stundenlang dauernden und von Auswär-
tigen geleiteten Demonstrationszügen mit bis zu 15.000 Teilnehmern.12 Das Ho-
tel Madımak wurde stundenlang belagert und mit zuvor von der Stadtverwaltung
auf der Straße aufgetürmten Steinen beworfen sowie später angezündet. Die
Stadtverwaltung der Wohlfahrtspartei hatte laut Rechtsanwältin Sarıhan vor der
Veranstaltung Steine wegen angeblicher Bauarbeiten vor dem Hotel aufge-
türmt.13 Diese wurden aber später zum Bewerfen des Hotels benutzt. Das Hotel
wurde nach stundenlanger Belagerung vor den Augen der zum Teil Beifall klat-
schenden Polizisten angezündet.14 Die Feuerwehr wurde auf dem Weg zum
brennenden Hotel blockiert15, ankommende Fahrzeuge haben es unterlassen,
Löschwasser einzusetzen.16 Während der stundenlangen Demonstrationszüge
und Ausschreitungen sowie der Belagerung des Hotels bat der Gouverneur Ah-
met Karabilgin vergeblich den damaligen Innenminister Gazioğlu von der Partei
des Rechten Weges, Ministerpräsidentin Tansu Çiller und Staatspräsident
Süleyman Demirel um den Einsatz von Sicherheitskräften. Der Innenminister
gab aber den Befehl, nicht gegen die 15.000 Islamisten vorzugehen.17 Erst als
lokale Polizeikräfte kurz vor und während des Hotelbrands Verstärkung angefor-
dert und die Feuerwehr zum Brandlöschen aufgefordert hatten, wurde ihnen der
Befehl erteilt, Gewalt anzuwenden. Sie haben aber den Befehl größtenteils miss-

10   Sadık Eral: Çaldıran'dan Çorum'a, a.a.O., S. 228-229; Şenal Sarıhan: Sivas Katliamı Da-
     vası, Cilt 1, Ankara 2002, S. 97-98; Haydar Gölbaşı: Aleviler ve Sivas Olayları, İstanbul
     1997, S. 15-16.
11   Lütfi Kaleli: Sivas Katliamı ve Şeriat, a.a.O., S. 338-339.
12   Şenal Sarıhan: Sivas Katliamı Davası, Cilt 2, Ankara 2002, S. 47.
13   Ebd., S. 56.
14   Haydar Gölbaşı: Aleviler ve Sivas Olayları, a.a.O., S. 35.
15   Zeki Çoşkun: Aleviler, Sünniler, a.a.O., S. 371.
16   Sadık Eral: Çaldıran'dan Çorum'a, a.a.O., S. 236, 240.
17   Ali Yıldırım: Ateşte Semah Durmak. Sivas Katliamı, İstanbul 1994, S. 92.

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achtet.18 Der Demonstrationszug wurde schließlich durch Schüsse in die Luft
aufgelöst.19
   Es wurde zwar eine parlamentarische Kommission der Nationalversammlung
zur Untersuchung des Vorfalls gegründet, die aber aufgrund ihrer Zusammenset-
zung auch mit islamistischen und konservativen Abgeordneten die Vorbereitun-
gen der RP-Stadtregierung wie das Auftürmen der Steine vor dem Hotel und den
zur Unterbringung der auswärtigen Militanten rechtfertigenden „Marathon der
Auswanderung Mohammeds“ („Hicret Koşusu“) ignoriert und Aziz Nesin die
offizielle Alleinschuld am Massaker gegeben hatte. Nicht nur die Untersu-
chungskommission und Medien, sondern auch die Organe der Rechtsdurchset-
zung und –findung handelten im Sinne der islamistischen Täter. Sowohl Ermitt-
lungsschlamperei als auch Verfahrensunregelmäßigkeiten begünstigten die An-
geklagten, wie die Anwältin des Nebenklägers Senal Sarıhan feststellt: Das Aus-
gehverbot des Gouverneurs wurde nicht wirksam durchgesetzt, sodass die meis-
ten Täter Fluchtmöglichkeiten wahrgenommen haben. Es wurde keine gründli-
che Spurensicherung am Tatort durchgeführt. Polizisten und Soldaten, die den
Anschlag beobachtet hatten, wurden kaum befragt, andere Zeugen nicht ver-
nommen. Es wurden keine Ermittlungen gegen das von den Islamisten kontrol-
lierte Rathaus und andere lokale Behörden eingeleitet. Sowohl die Suche nach
Fotoquellen als auch die Umwandlung und Benutzung der später gekürzten Vi-
deoaufzeichnungen als öffentliche Fahndungsfotos wurde unterlassen. Erst zwei
Tage nach der Tat wurde die Fahndung nach den auf dem Tatvideo zu sehenden
Personen begonnen. Es wurden von den rund 15.000 teilnehmenden Islamisten
nur 156 Verdächtige festgenommen und später angeklagt.20 Der Staatsanwalt
hatte zuvor die frühzeitig beendeten Ermittlungen als ausreichend betrachtet und
die Klageschrift ohne weitere Recherchen schon drei Tage nach der Tat aufge-
setzt.21 Der Prozess wurde zur Begünstigung der Angeklagten unter Ausschluss
der Öffentlichkeit geführt und in drei Unterverhandlungen aufgeteilt.22 Noch vor
Ende der Spurensicherung wurden Verdächtige ohne Überprüfung ihrer Daten
entlassen.23
   Knapp zwei Jahre nach diesem Ereignis kam es zu Zwischenfällen zwischen
alevitischen Demonstranten und der Istanbuler Polizei im Gazi-Viertel in dem

18    Lütfi Kaleli: Sivas Katliamı, a.a.O., S. 347-349.
19    Ebd., S. 342.
20    Sarıhan: Sivas Katliamı Davası, a.a.O., S. 118-120.
21    Ebd., S. 120.
22    Ebd., S. 122-123.
23    Şenal Sarıhan: Sivas Katliamı Davası, in: Atilla Aşut (Hrsg.): Sivas Kitabı. Bir
      Topluöldürümün Öyküsü, Ankara 1994.

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Bezirk Gaziosmanpaşa (Gewaltereignis von Gazi, 12.03.1995), bei denen mehre-
re Zivilisten durch gezielte tödliche Polizeischüsse gewaltsam ums Leben ka-
men24. Ausgelöst wurden die Ausschreitungen nach dem stundenlangen Ausblei-
ben des Eintreffens von Polizei und Spurensicherung an den Tatort nach einem
Mord an einem alevitischen Dede in einer Kaffehausstube durch Unbekannte,
obwohl die Polizeiwache sich ganz in der Nähe befand. Nachdem alevitische
Demonstranten gegen das Verhalten der Sicherheitskräfte demonstriert und mit
Steinen und Molotowcocktails bewaffnet in Richtung der Polizeistation mar-
schiert hatten, kam es zu Tage lang andauernden Ausschreitungen.25 Erst das
Eintreffen der Armee, die eine Mauer zwischen Demonstranten und Polizisten
bildete, beendete laut Tamaşa Dural die Unruhen26.

3.   Wiederbelebung des Alevitentums

   Neben anderen Faktoren wie z.B. Urbanisierung und Sinnkrise sozialistischer
Intellektueller alevitischer Herkunft, öffentlicher Infragestellung der staatsoffizi-
ös proklamierten türkischen Nationalidentität aufgrund der Kurdenfrage und der
rechtlichen Liberalisierung sowie dem medien-technologischen Fortschritt führ-
ten die in das kollektive Gedächtnis der Aleviten eingedrungene Gewaltereignis-
se von Sivas und Gazi zur sozialen und politischen Revitalisierung des Aleviten-
tums. Dies wurde durch vermehrte Vereins- und Cem-Haus-Gründungen mani-
fest wurde.27
   Mit dem ab 1999 einsetzenden EU-Beitrittsprozess der Türkei und nachdem
die islamistische Erbakan-Regierung von den Militärs zum Rücktritt gezwungen
worden ist (Armeememorandum vom 28. Februar 1997), ist mit der an die Macht

24   Tamaşa F. Dural: Aleviler, Ve Gazi Olayları, Ant Yayınevi, İstanbul 1995, S. 155ff.
25   Laut Pamphleten der linksextremistischen und als terroristisch eingestuften Revolutionä-
     ren Volksbefreiungspartei/-front (Devrmimci Halk Kurtuluş Cephesi/Partisi, DHKP/C)
     soll ein Teil der Toten Mitglied der Organisation gewesen sein. Dies kann auch eine legi-
     timatorische Strategie der Vereinigung sein, um über die von ihr eingemeindeten Opfer
     eine Aufwertung innerhalb der alevitischen Gesellschaft erreichen zu wollen. Darüber
     hinaus sollen Aleviten gezielt sunnitische Geschäfte in dem Viertel geplündert und zer-
     stört haben; Haziran Yayınevi: Gazi. Gecekondulardan geliyor Halk, İstanbul o.J., S.
     85,93.
26   Tamaşa F. Dural: Aleviler, a.a.O., S. 59, 64.
27   Burak Gümüş: Die Wiederkehr des Alevitentums in der Türkei und in Deutschland, Kon-
     stanz 2007.

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gekommenen laizistisch orientierten und den Aleviten gegenüber offeneren28
Dreier-Koalitionsregierung aus Bülent Ecevits linksnationalistischer Demokrati-
scher Linkspartei (Demokratik Sol Parti, DSP), Devlet Bahçelis rechtsgerichteter
Nationalistischer Bewegungspartei MHP und Mesut Yılmaz liberal-
konservativer Mutterlandspartei ANAP eine schrittweise Liberalisierung und
Demokratisierung sowie auch eine Europäisierung der Alevitenfrage insofern
eingetreten, als in den regelmäßigen Berichten der Europäischen Union „über die
Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt“ die Lage und die von der Re-
gierung nicht berücksichtigten Belange der alevitischen Glaubensgemeinschaft
als Mängel und Hindernis für eine Integration des Landes in die Europäische
Union ausdrücklich erwähnt werden. Moniert werden die fehlende offizielle An-
erkennung als „Gemeinschaft“ (bzw. bis 2004 als „Minderheit“), die mangelhaf-
te Berücksichtigung der Aleviten in der Religionsbehörde und im Religionsun-
terricht sowie die oft fehlende staatliche Förderung der Cem-Häuser. Damit die
Türkei den Beitrittsprozess nicht gefährdet, muss sie die Forderungen der EU
erfüllen und der europäisch erwünschten Wiederbelebung des Alevitentums Fol-
ge leisten.29 Ohne die europäische Tätigkeit der Alevitenverbände wäre dies
nicht möglich gewesen. So hat die Alevitische Gemeinde in Deutschland
(AABF) auf EU-Ebene eine Interessensorganisation gegründet, um die Aleviten-
frage zu europäisieren.30 Die mit der Europäisierung der Türkei und der Alevi-
tenfrage einhergehende Demokratisierung wirft Fragen über die Veränderung
des unitaristischen türkischen Verständnisses von einer Nation und einem Staat
zugunsten ethnischer oder religiöser Minderheiten auf.

4.    Aleviten in der AKP-Ära

  Der Erdrutschsieg des führungscharismatischen Reform-Islamisten Recep
Tayyip Erdoğan über die Dreier-Koalition im Jahr 2002 führte mit der Übernah-

28    „The first government to recognize Alevi identity was the DSP–ANAP–MHP. The state-
      ment in the government programme that ‘our government will try to consolidate the
      brotherhood of Alevi and Sunni’31 places Alevi and Sunni on equal footing.“ So Bedriye
      Poyraz: The Turkish State and Alevis: Changing Parameters of an Uneasy Relationship,
      in: Middle Eastern Studies, Jg. 2005, Nr. 41/4, S. 503-516, hier S. 515.
29    Ali Çarkoğlu und Nazlı Çağın Bilgili: A Precarious Relationship: The Alevi Minority, the
      Turkish State and the EU, in: South European Society and Politics, Jg. 16, Nr. 2, 2011,
      S. 351-364, hier S. 352, 355-360.
30    Andreas Gorzewski: Das Alevitentum, a.a.O., S. 63.

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                 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
me der Regierungsgewalt durch die AKP zur sunnitischen Revision der von den
Militärs erzwungenen Eindämmungspolitik gegenüber dem sunnitischen Islam.
   In der eine Vollmitgliedschaft in der EU anstrebenden Türkei wurde die AKP-
Regierung zunehmend als ein Reformakteur, wenn es um binnenstrukturelle
Umbrüche in der Verfassung, Politik, Gesellschaft, Rolle der Armee in der Poli-
tik, Identität und Selbstkonzept geht. Die kemalistische Staatsideologie wurde
aus westlicher Sicht als „not very democratic and in need of reform“ betrachtet.31
AKP-Vorsitzender und Premierminister Recep Tayyip Erdoğan musste die ke-
malistischen Hindernisse im Staat, in der Bürokratie und in der Gesellschaft zur
Emanzipation der Pluralität der Identitäten überwinden. Nach einigen Erdrutsch-
siegen bei den Parlamentswahlen und Volksabstimmungen (2002, 2007, 2010,
2011) konnte die AKP-Einparteienregierung ihren Einfluss in Judikative und Bü-
rokratie zur Förderung der De-Kemalisierung des Landes ausweiten. Mit ihrem
zunehmenden Einfluss konnte die Regierung Erdoğan das nationalistische und
säkulare Konzept der kemalistischen Einheits- und Staatsnation aufbrechen, was
sich in der Kurdenfrage und der Re-Privilegierung der sunnitischen Muslime
(Kopftuch, Alkoholverbot) bemerkbar macht.32

31   Cemal Karakaş: Promoting or Demoting Democracy Abroad? US and German reactions
     to the rise of political Islam in Turkey, Frankfurt, Hessische Stiftung Friedens- und Kon-
     fliktforschung PRIF Nr. 106, 2011, http://www.hsfk.de/fileadmin/downloads/PRIF_No_
     106.pdf, S. II.
32   Verschleierte sunnitische Studentinnen erlangen Zutritt zu den Universitäten, kurdisches
     Fernsehen und Schulen werden eröffnet. Erste informelle Gespräche zwischen der Arbei-
     terpartei Kurdistans PKK und der Regierung finden statt (Cumhuriyet: Oslo görüşmesi
     internete düştü, 14.09. 2011, S. 1), während immer mehr kemalistische Nationalriten und
     Feierlichkeiten zu Gunsten von „freiwilligen“ sunnitischen Ritualen wie Wallfahrtsreisen
     für junge Schulklassen abgeschafft werden (Hürriyet-Online: Diyanet'ten öğrenciye umre
     eleştirilerine cevap, 11.01. 2012, http://www.hurriyet.com.tr/gundem/19657884.asp. Vie-
     le dieser kritischen Schritte waren zuvor unmöglich und teilweise auch verboten und ern-
     teten Kritik seitens der Kemalisten und der türkischen Nationalisten. Der „Power Strugg-
     le of Turkey's Elites“ führte aber zur Zunahme der Repressionen durch die AKP (Michael
     Thumann: A Very Secular Affair: The Power Struggle of Turkey's Elites, Washington,
     D.C., Transatlantic Academy, 2010, http://www.gmfus.org/galleries/ct_publication_
     attachments/Turkey_Paper_web.pdf;jsessionid=aAsYtnDxeyRh1nRkN1), was sich seit
     den 2007 statt findenden Massenverhaftungswellen gegenüber „Obstruktionisten“ in der
     Armee, Jurisprudenz, Bürokratie, Politik, Medien und Wirtschaft bei den so genannten
     Ergenekon-Ermittlungen niederschlug. Dabei werden Kemalisten und türkische Nationa-
     listen beschuldigt, geplant zu haben, die AKP-Regierung aus dem Amt zu putschen. Dass
     diese sich in U-Haft befindenden Personen lediglich nur gemein haben, politische Gegner
     der AKP-Regierung und des Netzwerks des sich im US-amerikanischen Exil befindenden
     gemäßigt-islamistischen Predigers Fethullah Gülen zu sein, weist auf die politischen Mo-
     tive der Verhaftungen hin (Gareth H. Jenkins: „Between Fact And Fantasy: Turkey’s
     Ergenekon Investigation,Washington D.C., Central Asia-Caucasus Institute & Silk Road

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                Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Unter der AKP-Regierung findet somit auch eine sunnitische Re-
Islamisierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft statt. So hat die Regierung
Erdoğan nach der Abschaffung nationaler Riten und der Ausschaltung der Ke-
malisten in Armee, Bürokratie und Justiz im Rahmen „demokratischer Refor-
men“ eine Bildungsreform beschlossen, wonach Fernunterricht anstelle einer
Anwesenheitspflicht, weitere muslimische Wahlkurse wie „Koranlesung“ und
das „Leben des Propheten“ sowie der zwangsweise sunnitische Religionsunter-
richt auch für Aleviten eingeführt wurden.33 Dies wird bei Aleviten, Laizisten
und Kemalisten mit großer Skepsis betrachtet.

      Studies Program 2009, http://www.silkroadstudies.org/new/docs/silkroadpapers/0908
      Ergenekon.pdf; Merdan Yanardağ: Bir ABD-AKP-Cemaat Projesi: Ergenekon Darbesi. I.
      Cumhuriyetin Sonbaharı, 4. Aufl., İstanbul 2011). Die Verhaftung des ehemaligen Gene-
      ralstabschefs İlker Başbuğ als Leiter einer terroristischen Vereinigung im Rahmen des
      Ergenekon-Netzwerks und der Rücktritt der bisherigen Armeeführung in August 2011
      sprechen für die Niederlage der Kemalisten und Nationalisten (Dietrich Jung: Auf dem
      Weg in eine neue Republik? Die Türkei nach dem Rücktritt des Generalstabs“, GIGA
      Papers Vol. 8, 2011, S. 1-8, http://www.giga-hamburg.de/dl/download.php?d=/
      content/publikationen/pdf/gf_nahost_1108.pdf; Cumhuriyet: Ağırlaştırılmış müebbet
      hapsi istendi, 03.02. 2012, S. 8). Mit zeitgleich statt findenden Massenverhaftungswellen
      gegen über kurdischen Nationalisten der PKK („KCK-Ermittlungen“) und Sozialisten
      („Devrimci-Karargâh“-Ermittlungen) sicherte die AKP ihre politische Vormachtstellung
      in der Türkei (NTVMSNBC Online: 17 Kentte 123 adrese KCK baskını, 13.01.2012,
      http://www.ntvmsnbc.com/id/25313688/; CNN Turk Online: İstanbul ve Antalya'da De-
      vrimci Karargâh Operasyonu, 6.12.2011, http://www.cnnturk.com/2011/turkiye/12/06/
      istanbul.ve.antalyada.devrimci.karargah.operasyonu/639387.0/index.html). Ergebnis ist
      die politische Schwächung der AKP-Gegner in den Reihen der Kemalisten, Sozialisten,
      kurdischen und türkischen Nationalisten zugunsten der Regierung und des Gülen-
      Netzwerks.
33    Somit entsteht die Möglichkeit für religiöse Eltern in den ländlichen Gebieten, ihre Töch-
      ter nicht mehr in die Schule zu schicken und sie somit durch Fernunterricht zu Hause
      ausbilden zu lassen. Darüber hinaus wird über die in den ländlichen Gebieten mit sunniti-
      scher Bevölkerungsmehrheit die stärker ausgeübte soziale Kontrolle dazu führen, dass El-
      tern ihre Kinder aus Furcht vor negativen Sanktionen durch Lehrer und Gesellschaft ihre
      Kinder in die schulischen Korankurse und das Fach über das Leben Mohammeds schi-
      cken werden, wo es den Mädchen und deren Eltern überlassen wird, im frühen Kindesal-
      ter Kopftuch zu tragen. Damit kann die religiös legitimierte Geschlechtertrennung, Frau-
      enverschleierung und die Erziehung von sunnitisch-islamischen Werten und Normen we-
      sentlich früher als die Pubertät begonnen werden. Premier Erdoğan hatte schon verdeut-
      licht, dass das Heranwachsen einer „religiösen Jugend“ („dindar gençlik“) sein Ziel sei
      (Mehmet Ali Birand: Let us not replace militarist youth with religious youth, Hürriyet
      Daily News Online, 03.02.2012, http://www.hurriyetdailynews.com/lets-not-replace-
      militarist-youth-with-religionist-youth--
      .aspx?pageID=449&nID=12888&NewsCatID=405). Alevitische Familien und Laizisten
      kritisieren dieses Vorhaben, weil sie eine Nötigung durch die sunnitische Mehrheitsge-
      sellschaft zu Lasten von Mädchen und Säkularen sowie Nicht-Sunniten befürchten; Bir-

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Die gemäßigt-islamistische AKP-Regierung genießt bei Islamismus-
skeptischen Aleviten keinen besonders guten Ruf, zumal Premierminister
Erdoğan als Istanbuler Oberbürgermeister das Istanbuler Karacaahmet-Cem-
Haus als illegalen Bau abreißen lassen wollte34.
  Dennoch versucht die Regierung über symbolträchtige Gesten sich als tolerant
und reformfreudig sowie kritikfähig für die Außenwelt darzustellen. Dazu zählen
der symbolträchtige Besuch Erdoğans bei einem alevitischen Fastenbrechen im

     Gün: Seçmeli Din Dersi Toplumu Ayrıştırır, 15.04.2012, S.1; Cumhuriyet: Seçmeli ders
     oyunu, 2.03.2012, S. 5. Diese Befürchtungen haben sich bewahrheitet. So wurden bei-
     spielsweise in der Provinz Kocaeli laizistische Eltern entgegen ihren Wünschen und Vor-
     stellungen dazu angeleitet, sich doch für die Wahl der offiziell freiwilligen Koran-Kurse
     für ihre Kinder zu entscheiden, da es nach Auskunft der örtlichen Schulleitung keine
     Lehrkräfte für die auch zur Wahl stehenden anderen weltlichen Fächer gibt. Kinder aus
     laizistischen oder/und alevitischen Aleviten werden dadurch indirekt auch in die sunni-
     tisch-dominierten schulischen Koran-Kurse gezwungen; Cemalettin Öztürk: 4+4+4
     Sisteminde Seçmeli Ders Oyunu, Bizim Kocaeli, 14.09.2012, http://www.bizimkocaeli
     .com/egitim/65184-dortdortdort-sisteminde-secmeli-ders-oyunu.html. Mit der Aufhebung
     der schulischen Anwesenheitspflicht müssen religiös-sunnitische Eltern nicht mehr mit
     staatlichen Sanktionen rechnen, wenn sie ihre Töchter nicht mehr zum gemischten Unter-
     richt in der öffentlichen Schule schicken wollen oder der Ausbildung von Frauen und
     Mädchen kritisch distanziert gegenüber stehen. Somit erweist sich diese Bildungsreform
     auch als eine Bildungsbarriere für sunnitische Schülerinnen aus konservativen Familien.
     Laut offiziellen Statistiken haben rund 136.000 Schülerinnen und Schüler den Unterricht
     nicht mehr besucht. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass unter den Abwesenden
     Mädchen überrepräsentiert sind; OdaTv: 136 Bin Öğrenci Örgün Eğitimi Bıraktı,
     05.01.2013,        http://www.odatv.com/n.php?n=136-bin-ogrenci-orgun-egitimi-birakti-
     0501131200. Diese Reformen werden zwar von Laizisten und Aleviten mit Argwohn be-
     obachtet, aber von Teilen von frommen sunnitischen Familien begrüßt, was die interkon-
     fessionelle Polarisierung in der türkischen Gesellschaft verstärkt. Durch die sunnitische
     Re-Islamisierung des Bildungsbereichs nimmt auch die Anzeigeneigung gegenüber der
     weltlichen Lehrerschaft zu, die sich aus muslimischer Sicht abweichend verhält, aber bis
     zur Übernahme der Regierungsgewalt durch die AKP als eine normative Selbstverständ-
     lichkeit des früheren kemalistisch-laizistischen Establishments galt. So mehren sich z.B.
     auch Nachrichten über die Einleitung von schulbehördlichen Ermittlungen gegenüber je-
     nen Lehrern, die bisher als pädagogisch wertvoll geltende Kinderromane im schulischen
     Unterricht verwenden, die evolutionstheoretische Elemente enthalten und somit Be-
     schwerden von religiös-muslimischen Eltern provozieren. Diese behördlichen Ermittlun-
     gen basieren auf fernmündliche Beschwerden von religiösen Familien, die die säkulare
     Lehrerschaft bei den behördlichen Telefon-Hotlines melden können; Cumhuriyet: Kitap
     skandalı bitmiyor, 9.01.2013, S. 7. Wegen dem gesellschaftlichen Klima werden zuneh-
     mend auch inoffizielle Korankurse in privaten Kindergärten gedultet, wo drei- bis fünf-
     jährige Kleinkinder arabische Koransuren auswendig lernen müssen; Faruk Çidem:
     Anaokulunda kaçak din eğitimi, SoL, 20.01.2013, S. 6.
34   Cemal Şener: AKP'nin Alevi 'Açılımı“, 10.02.2011, http://www.sahkulu.com/
     index.php?option=com_content&view=article&id=21:akpnin-alevi-aclm&catid=20:
     cemalsener&Itemid=31.

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Trauermonat Muharrem, eine rituelle Andacht für den „im Kampf gegen die Un-
gerechtigkeit“ gefallenen Prophetenenkel Imam Hüseyin im Jahr 200735 sowie
ein offizieller Besuch des Vorsitzenden des regierungsabhängigen sunnitisch-
dominierten türkischen Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet İşleri
Başkanlığı), Prof. Dr. Mehmet Görmez, in einem alevitischen Cem-Haus in Zey-
tinburnu/Istanbul.36 Ein weiteres aktuelles Beispiel ist die Einladung des Staats-
präsidenten Abdullah Gül zum sunnitisch-muslimischen Fastenbrechen durch
eine von AKP-nahen Aleviten gegründeten Vereinigung namens „Anadolu Alevi
Bektaşi Federasyonu“. Deren Namensähnlichkeit mit der regierungskritischen
und einflussreichen „Alevi Bektaşi Federsyonu“ (ABF) ist wohl beabsichtigt und
suggeriert dadurch, dass die Mehrheit der Aleviten sowohl im Ramadan fastet als
auch dem AKP-nahen Präsidenten Abdullah Gül so sehr nahe steht, dass dieser
auch von ihr eingeladen wird. Diese „Anadolu Alevi Bektaşi Federasyonu“ führt
am eigenen Beispiel vor, wie sich Aleviten aus der Sicht der AKP zu verhalten
haben.37
   Der Umstand der sich abzeichnenden Entfernung von alevitischen Bürokraten
und Richtern nach der Übernahme der Regierungsgewalt durch die AKP und der
Verhaftung eines Generals mit engen Kontakten zu einem alevitischen Dorf an
seinem Dienstort sind zwar keine Beweise, aber einige Hinweise auf das Vorlie-
gen konfessioneller Diskriminierung.38

5.    Die Öffnungsinitiative

   Unter dem Eindruck der alevitischen Klageflut bei türkischen Gerichten und
beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EuGMR) hat die AKP eine
so genannte Öffnungsinitiative für Aleviten gestartet und organisierte zwischen
Juni 2009 und Januar 2010 sieben interkonfessionelle Konferenzen mit aleviti-
schen, sunnitischen und Regierungsvertretern zur Lösung der Alevitenfrage.39

35    Im Alevitentum ist ein öffentliches Fastenbrechen im Trauermonat Muharrem im Gegen-
      satz zum sunnitischen Fastenmonat Ramadan jedoch nicht vorgesehen.
36    Aynur Ekiz: Diyanet'in Alevi Açılımı, 27.05.2011, http://yenisafak.com.tr/Gundem/
      ?i=321184; Burak Gümüş: Aleviten reagieren zurückhaltend auf Erdoğans Öffnungsvor-
      stoß, 13.12.2007, http://www.istanbulpost.net/07/12/02/gumus.htm.
37    BirGün: Alevi İftarı'nda Alevilerin adı yok, 28.07.2012, S. 7.
38    Cumhuriyet: Alevileri yok etmek istiyorlar, 07.03.2010, S. 8; Faruk Keskin: Kamuda
      Alevi kıyımı, Cumhuriyet, 14.03.2010, S. 6.
39    Liberale und regierungsnahe Akademiker sehen neuerdings hinter dem Abdrängen der
      Aleviten die sich allgemein gegen jegliche volksislamische Praktiken richtende kemalis-

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                Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
tischen Säkualarismuspolitik anstelle der besonders im Osmanischen Reich wirkungsvoll
geltenden sunnitischen Werte und Normen (wie Scharia, Alkoholverbot, Fastengebot im
Ramadan, Reihengebetsgebot in Moscheen, Geschlechtersegregation und Schleier-
zwang), deren alevitische Nichteinhaltung zur staatlichen und sozialen Stigmatisierung
und Diskriminierung führte. Gleichzeitig wird die religiös legitimierte Verfolgung der
Aleviten im Osmanischen Reich geleugnet. Diese auch als „post-islamistische Intellektu-
elle“ bezeichneten Zirkel „thus located the Alevi question within the broader framework
of emancipation of religion from the pressures of the state. According to them, the prob-
lems were the consequences of the Republican version of an authoritarian secularism that
led to ... the non-recognition of cem houses, and compulsory religion courses. That is, it
was neither the Sunni community nor its understanding of Islam, but rather the Republi-
can version of secularism that was obstructing Alevism and creating barriers against the
Alevi community.“ Bayram Ali Soner und Şule Toktaş: Alevis and Alevism in the Chan-
ging Context of Turkish Politics: The Justice and Development Party's Alevi Opening, in:
Turkish Studies, 2011, Vol. 12/3, S. 419-434, hier S. 428. Nach dieser Lesart liegt sowohl
für die fehlende Anerkennung als auch Diskriminierung der alevitischen Glaubensge-
meinschaft die Hauptschuld am auch von nicht wenigen Aleviten gutgeheißenen Kema-
lismus, den es zu überwinden gilt. Diese Auffassung wird inzwischen auch im deutschen
Diskurs vertreten, wonach der Kemalismus die Erwartungen der Aleviten „im Hinblick
auf Freiheit und Anerkennung als religiöse Gemeinschaft“ wegen des kemalistischen Pro-
jekts „einer säkularen und Staats- und Nationenwerdung der Türkei“ offiziell nicht aner-
kannt wurden (Handan Aksünger und Rüdiger Robert: Inklusion statt Exklusion? Die
Aleviten in der Türkei, in: Rüdiger Robert, Daniela Schlicht, Shazia Saleem (Hrsg.): Kol-
lektive Identitäten im Nahen und Mittleren Osten. Studien im Verhältnis Staat und Reli-
gion, Münster 2010, S. 479-500, S. 479). Dass aufgrund dieses Projekts die anti-
alevitische sunnitische Scharia auch eingedämmt wurde, ist aus türkisch-alevitischer
Sicht bedeutsam. Dies äußert sich durch ihre kritische Distanz gegenüber gewissen Zuge-
ständnissen der AKP aufgrund ihrer Skepsis gegenüber der Liberalisierung des staatli-
chen Umgangs mit Islamisten. Laut Berat Bekir Özipek müssen Aleviten jedoch gerade
gemeinsam mit der als Reformakteur dargestellten AKP-Regierung anstelle der als kema-
listisch-autoritär verstandenen sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei CHP
zur Demokratisierung der Türkei und Verbesserung ihrer Lage handeln und deswegen für
die Aufhebung des kemalistischen Verbots der Klöster und Konvente (Tekke ve Zaviye-
ler Yasası) stimmen. Özipek kritisiert dabei die als „kemalistisch“ betrachtete Skepsis der
Aleviten gegen die Aufhebung des (anti-sunnitischen) Konventsverbots (Bekir Berat
Özipek: Alevî Sorunu: İmkânlar ve Engeller, in: Liberal Düşünce, Jg. 16, Nr. 63, 2011, S.
73-85, hier S. 81, Fußnote 8). Mit der Aufhebung des Verbots würden auch die unter Ata-
türk kriminalisierten islamistischen sunnitischen Bruderschaften rechtlich profitieren, was
aus der Sicht Özipeks dem Gleichheitsgrundsatz entspricht (Bekir Berat Özipek: Alevî
Sorunu, a.a.O., S. 83). Abgesehen davon, dass Aleviten ihren Glauben weniger als „mys-
tischen Pfad“ oder „Bruderschaft“ begreifen und somit die Gleichsetzung mit muslimi-
schen Bruderschaften durch regierungsnahe Kreise willkürlich ist, kann dieser Sichtweise
vorgeworfen werden, dass die offiziell verbotenen Bruderschaften schon seit der Ent-
machtung der kemalistischen Staatspartei von den konservativen türkischen Regierungen
faktisch entdiskriminiert und auch privilegiert wurden und werden. Deshalb dient der
Hinweis auf den kemalistischen Verbotsparagrafen bei der von der AKP unterlassenen
Anerkennung der cemevleri sowohl als Vorwand zur Entlastung der Islamisten als auch
zur Schwächung der alevitischen Unterstützung für den Kemalismus, zumal nach sunniti-

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Beobachter gehen davon aus, dass die Regierung den „alevitischen Öffnungsvor-
stoß“ („Alevi Açılımı“) zum Abfangen von weiterer Kritik durch den demonstra-
tiven Verweis auf die eigene Offenheit, konstruktive Haltung und Dialogbereit-
schaft strategisch ausnutzte. Substanzielle Zugeständnisse der AKP unterblieben
aber, da tiefgreifende Reformen in der türkischen Alevitenfrage, wie die offiziel-
le Anerkennung ihrer Gebetshäuser, nicht mit der sunnitischen Deutung des Is-
lams zu vereinbaren sind.40
   Auf den Konferenzen trugen alevitische Geistliche, Politiker, Akademiker und
Verbandsfunktionäre sowie Rechtsanwälte verschiedener Strömungen die Be-
lange ihrer Glaubensgemeinschaft vor. Diese Konferenzen waren Diskursforen,
auf denen Empfehlungen an die AKP-Regierung gemacht werden sollten.
   Trotz eineindeutig zur Sprache gebrachter alevitischer Beschwerden und For-
derungen nach ihrer bisher fehlenden offiziellen Anerkennung und nach der
Aufwertung der Cem-Häuser als mit den Moscheen ebenbürtigen Gebetsorte, der
Statusveränderung des als „Religionskultur und Sittenlehre“ (Din Kültürü ve
Ahlak Bilgisi) verschleierten und auch für Aleviten geltenden zwangsweisen
sunnitischen Religionsunterrichts und nach einer Umwandlung des Tatorts des
Massakers in Sivas (Hotel Madımak) in ein Gedenkmuseum hat sich jedoch nicht
viel geändert, wie weiter unten erläutert wird. Vielmehr scheint eher das Gegen-
teil der Fall zu sein.

6.    Die Cem-Häuser

  Die besonders seit den 1990er Jahren des letzten Jahrhunderts errichteten
Cem-Häuser erhalten auf nationaler Ebene keinen legalen Status, sodass sie von
den für Moscheen, Kirchen und Synagogen gewährten (Religions-)Privilegien,
wie die staatliche Übernahme von Strom- und Wasserkosten, weiterhin ausge-

      scher Auffassung jegliche Anerkennung der Cem-Häuser zur Spaltung des Islams führen
      kann.
40    Beleidigende Aussprüche Erdoğans über nicht-sunnitische Glaubensgemeinschaften wei-
      sen auf die Existenz konfessionell-begründeter Vorurteile hin. Seine auf einer Kundge-
      bung getätigte Äußerung, dass er Menschen als Menschen bewerte, auch wenn es sich
      sogar dabei um Jesiden handelt, solange diese sich nicht auf den Terrorismus einlassen,
      weist darauf hin, dass Angehörige dieser heterodoxen kurdischsprachigen Glaubensge-
      meinschaft kein besonders gutes Ansehen genießen und löste Proteste aus; Şengül Mor:
      Erdoğan'a Yezidilerden tepki var, BirGün, 23.10.2012, S. 9.

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                Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
schlossen werden41. Denn die gemäßigt-islamische Regierung verweigert aus
sunnitischer Sorge um die Gefährdung der gesamtkonfessionellen innerislami-
schen Einheit ihre Anerkennung als Gebetshäuser.42 Die sich aus „EU-
europäischer“ Perspektive bezüglich des Kurden-, Armenier- und Zypernprob-
lems und anderer Minderheitenfragen sowie der Rolle der Militärs als Reformak-
teur profilierende AKP ist weder willens noch im Stande, den vom Sunnitentum
festgesteckten Rahmen zur Betrachtung anderer mit dem Islam bekenntnisver-
wandter Glaubensrichtungen auszuweiten und teilt die religiöse Sorge, dass eine
Anerkennung der Cem-Häuser der Anerkennung des Alevitentums als muslimi-
sche Konfession oder gar außerislamische Religion gleichkommen würde, da
laut sunnitischer Leseart nur Moscheen Gebetshäuser des Islams sein dürfen.
   Premierminister Erdoğans kritische Entgegnung auf Forderungen von aleviti-
schen Vereinsvertretern in Deutschland nach Anerkennung der cemevleri macht
dessen „innere“, vom Sunnitentum geprägten Überzeugungen für den Beobach-
ter sichtbar: „Jeder Alevit, den ich treffe, sagt: Wir sind Muslime. Das Gebets-
haus der Muslime ist die Moschee. … Wenn wir diese Entscheidung machen
würden, warum sollten wir die Türkei spalten. Das eine ist ein Gebetshaus, das
andere ist ein Kulturhaus. Cem-Häuser können nicht dieselbe Unterstützung be-
kommen wie Moscheen. … Sie sind auch ein Muslim, Sie sollten auch in die
Moschee gehen.“43
   Diese sunnitische Befindlichkeit und konfessionelle Sorge um ein Schisma
gilt es nach dem offiziellen Abschlussbericht des Alevitentum-Workshops zu
berücksichtigen.44 Somit ist der Bericht für die Aleviten-Gipfel der türkischen
Regierung, die sich offiziell dem Laizismus verpflichtet hatte, konfessionell ein-
seitig, da die türkische Regierung gegenüber den verschiedenen Glaubensrich-
tungen innerhalb oder außerhalb des Islams eben nicht neutral auftritt, sondern in
Glaubensfragen voreingenommen handelt. Darüber hinaus wird auch die Aner-

41   Laut Ali Çarkoğlu und Nazlı Çağın Bilgili wurden sie in Aydın (Kuşadası, Didim),
     Tunceli und Antalya auf kommunaler Ebene von jeweiligen Gemeinderäten anerkannt
     und von den Nutzungskosten für Strom und Wasser befreit. Auf nationaler Ebene hat die
     Anerkennung der Cem-Häuser durch die von der AKP dominierten türkische National-
     versammlung bisher noch nicht stattgefunden (Ali Çarkoğlu; Nazlı Çağın Bilgili: A Pre-
     carious Relationship, a.a.O., S. 356-357).
42   T.C. Başbakanlık T.C. Devlet Bakanlığı: Alevi Çalıştayları Nihai Rapor, Ankara 2010,
     S. 172.
43   Charlotte Joppien: Die türkische Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP). Eine Untersuchung
     des Programms „Muhafazakâr Demokrasi“, Berlin 2011, S. 100; zitiert nach Martin Sö-
     kefeld (Hrsg.): Aleviten in Deutschland. Identitätsprozesse einer Religionsgemeinschaft
     in der Diaspora, Bielefeld 2008, S. 213.
44   T.C. Başbakanlık, a.a.O., S. 172.

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kennung als nachrangiges Kulturzentrum mit dem Hinweis auf das offiziell be-
stehende und faktisch aber von den sunnitischen Bruderschaften mit der Hilfe
der konservativen Regierung längst umgangene kemalistische Verbot der Kon-
vente und Klöster verweigert und von der alevitischen Zustimmung zur Aufhe-
bung des kemalistischen Konventsverbots abhängig gemacht.45 Die rechtliche
Aufhebung des ohnehin nicht mehr geltenden Gesetzes ist eine indirekte Forde-
rung an die Aleviten, sich von dem säkularen und somit anti-islamistischen ke-
malistischen Werte- und Normensystem zu distanzieren und damit eine Auffor-
derung zur symbolischen Überwindung des Kemalismus.
   Für nicht wenige säkularisierte Aleviten ist vor dem Hintergrund der für sie
kollektiv traumatischen Gewaltereignisse seit dem Osmanischen Reich bis in die
heutige Türkei die Eindämmung des sunnitischen Islams und der sie unterdrü-
ckenden Scharia wichtiger als die Berücksichtigung ihrer „eigenen“ Belange als
Glaubensgemeinschaft. Nach dieser Deutung führt jegliche Liberalisierung und
Beschwichtigungspolitik gegenüber dem sunnitischen Islam zur Förderung der
Geltung sunnitischer Werte und Normen und der damit verbundenen konfessio-
nellen Ungleichbehandlung der als häretisch betrachteten Aleviten. Dass unter
den Aleviten die mit der Abnahme der Rolle der Militärs verbundene Demokrati-
sierung der Türkei durch die AKP eine Erweiterung der Einflussmöglichkeiten
des sunnitischen Islams verstanden wird ist, lässt bei Aleviten Skepsis gegenüber
der Regierung Erdoğan aufkommen und verstärkt ihre Affinität gegenüber den
als kemalistisch geltenden Institutionen, Medien und Parteien. Dieser Umstand
wiederum wird daher auch von regierungsnahen liberal-konservativen Zirkeln
zur Sprache gebracht, die die Aleviten als status-quo-orientierte Fortschritts-
bremser oder gar als Anhänger von Putschisten kritisieren. Bekir Berat Özipek
bemängelt, die alevitische Affinität gegenüber der (post-)kemalistischen CHP
erschwere die Überwindung des Kemalismus und somit den Übergang zur De-
mokratie.46 So habe das Massaker von Sivas dazu geführt, dass Aleviten „Zu-
flucht beim kemalistischen Autoritarismus“ („Kemalist otoriteryenizme sığın-
mak“) suchen.47 Aus alevitischer Perspektive erfährt der bei regierungsnahen li-
beral-konservativen Zirkeln gebrauchte Begriff der „Demokratie“ eine Bedeu-
tungsverschiebung in Richtung Tyrannei der demografischen sunnitischen
Mehrheit.
   Die Vorurteile gegenüber den Cem-Häusern manifestieren sich auch in der
Ungleichbehandlung dieser Gebetsorte. Während aus psycho-sozialen und politi-

45    Bekir Berat Özipek: Alevî Sorunu, a.a.O., S. 81, besonders Fußnote 8, S. 83.
46    Ebd., S. 79.
47    Ebd., S. 77.

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schen Gründen baurechtlich nicht-genehmigte Moscheen durch örtliche Behör-
den verschont werden, müssen Aleviten in Kauf nehmen, dass ihre Gebetshäuser
im Falle der absichtlich vorenthaltenen Genehmigung als „illegale Bauten“ in
Gefahr sind, abgerissen zu werden. Darüber hinaus gibt es auch Einzelfälle von
Angriffen mit Geräuschbomben auf Cem-Häuser, wie z.B. am 11.11.2011 in
Yeni Mahalle bei Ankara.48
   Darüber hinaus gab es auch ein Verbotsverfahren gegen den Verein zur För-
derung des Cem-Hausbaus in Çankaya (Çankaya Cemevi Yaptırma Derneği).
Die 16. Zivilkammer in Ankara definierte jedoch die cemevleri als Jahrhunderte
alte Gebetshäuser der Aleviten und stellte das Verfahren gegen diesen Verband
mit dem Hinweis auf das Nichtvorliegen einer Verfassungsfeindschaft ein.49 Der
Berufungs- und Kassationshof Yargıtay focht im Juli 2012 dieses alevitenfreund-
liche Urteil der Zivilkammer an und sprach sich für das juristische Verbot des
Cem-Haus-Gründungsvereins aus mit dem Hinweis auf die sunnitische Moschee
als alleinigen Gebetsort für Muslime und auch mit dem Verweis auf die kemalis-
tischen Verbotsgesetze für Konvente und Klöster aus.50 Der Verweis auf das ke-
malistische Verbot von Klöstern und Konventen zielt auf die bisher kompromiss-
lose Haltung der Aleviten auf den Konferenzen mit der Regierung ab und lenkt
von dem Umstand ab, dass die Mitglieder des Kassationshof mehrheitlich durch
den Hohen Rat für Richter und Staatsanwälte (Hakimler ve Savcılar Yüksek
Kurulu, HSYK) bestimmt werden, der seit der Volksabstimmung über die Ver-
fassungsänderung über die Wahl der Mitglieder der HSYK indirekt durch die
AKP dominiert wird.51 Bei der Debatte um die legale Anerkennung der Cem-
Häuser hatten die Aleviten ihren Widerstand gegen die Aufhebung dieses Geset-
zes nicht aufgegeben. Ein Grund für den kemalistischen Verweis beim Yargıtay-

48   AHA-Online: PSAKD: Tahrik mi? Yıldırma mı?, 07.05.2012, http://www.alevihab
     erajansi.com/index.php?option=com_content&task=view&id=12053&Itemid=1.
49   AHA-Online: Yargıya göre cemevi ibadethane, 02.11.2011, http://www.alevihab
     erajansi.com/index.php?option=com_content&task=view&id=12047&Itemid=1.
50   Radikal: Cemevlerine 'tekke ve zaviye' içtihadı, 26.07.2012, S. 14.
51   Hintergrund für dieses anti-alevitische Urteil des Kassationshofs ist der Umstand, dass
     die Yargıtay-Richter, die zum größten Teil vom Hohen Rat für Richter und Staatsanwälte
     (Hakimler ve Savcılar Yüksek Kurulu, HSYK) bestimmt werden, gerade nach der von
     der AKP erwünschten erfolgreichen Volksabstimmung vom 12.09.2010 über die Verfas-
     sungsänderung über die Ernennung der HSYK-Mitglieder neu gewählt wurden. Da mit
     der erfolgreichen Volksabstimmung die AKP einen indirekten Einfluss auf die Wahl der
     Mitglieder der HSYK ausübt, die wiederum den dominierenden Anteil der Richter des
     Kassationshofs wählen, bestimmt die Regierungspartei über die von ihr dominierte
     HSYK die Urteilspraxis des Kassationsgerichts (Can Dündar: Beş Ayda Yargıtay nasıl
     değiştirildi, 22.11.2011, http://gundem.milliyet.com.tr/bes-ayda-yargitay-nasil-degistirildi
     /gundem/gundemyazardetay/22.11.2011/1465830/default.htm).

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