Zur Lebenssituation von Kindern, Jugendlichen und Familien heute - Prof. Dr. Rainer Dollase
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Zur Lebenssituation von Kindern, Jugendlichen und Familien heute Prof. Dr. Rainer Dollase Universität Bielefeld, Abt. Psychologie und Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung 50 Jahre Gemeindezentrum Oldentrup Oldentrup, 15.10. 2007
Gliederung 1. Früher war alles besser... 2. Mythen und tatsächliche Veränderungen 3. Realistische Erziehung und Entwicklung
Fazit: Früher war nicht alles besser... Und wie war unsere eigene Jugend?
• persönliche Erinnerungen • tägliche, handgreifliche Auseinandersetzungen • Halbstarkenkrawalle • Prügelstrafe in Elternhaus und Schule
Kindergarten 1948/1949 Oberhausen Alstaden, St. Antonius
Halbstarkenkrawalle [Bearbeiten] Erste Halbstarkenkrawalle entluden sich nach Konzerten oder Filmvorführungen, die auch später noch oft der „Anlass“ waren. So zogen am 30. Dezember 1956 im Anschluss an eine Vorführung des Films Außer Rand und Band mit Bill Haley rund 4000 Jugendliche randalierend durch die Innenstadt von Dortmund, belästigten Passanten und lieferten sich Auseinandersetzungen mit der Polizei. Großkrawalle fanden besonders von 1956-1958 statt. Häufig wurde das Mobiliar der Kino- und Konzertsäle dabei vollständig zerstört. Die Halbstarkenkrawalle führten zu scharfen Diskussionen in den Medien und der Politik. Auf besonderes Unverständnis stieß dabei die scheinbare Sinn- und Ziellosigkeit der Randale. Als Hauptschuldige für diese Entwicklung wurde häufig die amerikanische Populärkultur genannt. Heute werden die Krawalle, aber auch allgemein das Phänomen Halbstarke, häufig als Protest an der damaligen, von den Jugendlichen selber als streng und trostlos empfundenen Gesellschaft und ihren Autoritäten verstanden, auch wenn dieser Protest auf keinen Fall politisch motiviert und organisiert war. Der Begriff "Halbstarker" ist heute allerdings unüblich beziehungsweise unmodern.
Fazit: Auch wir waren nicht viel besser...
2. Mythen und tatsächliche Veränderungen
Veränderungsmythen • Einzelkindmythos • Mythos Verplanung • TV Wirkungsmythos • Mythos Multikulturalität
Tatsächliche Änderungen (Beispiele von Ergebnisse von Zeitwandelstudien) • Flynn Effekt: Nachwuchs ist intelligenter • In Mathe wird mehr verlangt als früher • Mehr Schüler auf weiterführenden Schulen • Selbständigkeit nimmt zu, z.T. aber auch Narzissmus • Bewertungsnormen für Kindern ändern sich
• Es ändern sich allerdings die erziehenden Erwachsenen..
Erwachsene ändern sich • Erwerbsbeteiligung der Erwachsenen höher • Eigeninteresse der Erwachsenen größer geworden - Interesse an Kindern sinkt • Orientierung in einer globalen, schnelllebigen Welt schwieriger • Erwachsene wissen nicht mehr, was sie ihren Kindern empfehlen sollen - die Zukunft ist ungewiss
Pflichtwerte wichtiger als Entfaltungswerte? Antworten "ja" in Prozent; Quelle:Veen/Graf 80 70 B B B B B B B 60 50 J J J 40 J J J 30 J 20 10 0 1983 1985 1987 1989 1991 1993 1996 1922-1934 1954-1971
Ein paar aktuelle Daten zur Situation von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen....
Zufriedenheit mit verschiedenen Lebensbereichen Deutsche (N = 1677), Türken (N = 706), Aussiedler ( N = 232), nur Hauptschüler ( 6.- 10.Klasse) Meine Religion J H B Meine Nachbarn JH B Meine Schule J HB Meine schulischen Leistungen JHB Das Stadtviertel, in dem ich wohne J B H Meine Schulklasse JH B Die Stadt, in der ich lebe JH B Mein Aussehen JH B Die Straße in der ich wohne H JB Deutsche Meine Lehrer J H B Türken Aussiedler Meine Geschwister J H B Meine Zukunft H JB Mein Leben im allgemeinen H JB Das Haus, in dem wir wohnen JH B Mein Taschengeld J B H Meine Gesundheit JH B Mein Zimmer HBJ Meine Freizeit HB J Meine Familie JH B Freunde und Freundinnen B HJ Meine Eltern H J B 1 1,5 2 2,5 3 3,5 4 4,5 5 5,5 6 Signifikanzprüfung: Varianzanalyse, anschließend Tukey B, nsf: Zimmer,Leben allgemein,
Zufriedenheitsurteile über Eltern, Freunde, Lehrkräfte und Schulklasse von SchülerInnen der SI aller Schulstufen (N = 7800, Ende der 90er Jahre) 10-11 Jahre 12 -13 Jahre 14 - 15 Jahre 16 - 17 Jahre 1 1,2 1,4 B 1,6 B J 1,8 J J J B B 2 2,2 2,4 H 2,6 H 2,8 H H 3 B Eltern J Freunde H Schulklasse LehrerInnen
Wertediskrepanz Lehrer und Schüler 2004 religiös sein BJ H Gehorsamkeit J H B was zu sagen haben JH B Ehrgeizig sein H J B Sauberkeit J H B Wohlstand J H B Erfolg haben JH B Sicherheit J B H Bescheidenheit BH J Leben genießen HJ B Schutz der Umwelt B J H abwechslungsreiches Leben HJB unabhängig sein HB J soziale Gerechtigkeit BH J Hilfsbereitschaft BH J Toleranz BH J Ehrlichkeit HBJ Frieden B HJ 1 1,5 2 2,5 3 3,5 4 4,5 5 5,5 6 B Lehrer (ca.85) J Schüler SI (ca.175) H Schüler SII (ca.225)
Bist Du zu den anderen Kindern in der Klasse meistens nett? JB Gehst Du gerne in die Schule? J B Verträgst Du Dich mit den anderen Kindern gut? JB Gefällt es Dir zuhause oder in der Schule besser? (zuhause) JB chon einmal vorgekommen, daß Du ein Kind aus Deiner Klasse geschubst, gestoßen oder geschlöagen hast? BJ Hast Du es lieber, wenn in der Schule jeder für sich arbeitet oder mehrere zusammen? (jeder für sich) BJ Gibt es viele Kinder, die Dich nicht leiden können? B J Gibt es viele Kindern, die Du nicht leiden kannst? B J Wirst Du oft wütend, wenn etwas nicht klappt? B J Macht es Dir viel aus, wenn andere Kinder sich mit Dir streiten? B J Tun die anderen Kinder meist das, was Du ihnen sagst? J B Fangen die anderen Kinder oft Streit mit Dir an? B J Fällt es Dir oft schwer, in der Schule aufzupassen B J Ärgern Dich die anderen Kinder in der Klasse viel? B J Lachen Dich andere Kinder oft aus? B J Guckst Du gerne zu, wenn andere Kinder spielen, oder spielst Du lieber mit? (zugucken) BJ 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 B 1974 (N=170) J 1997 (N=1222)
Selbständigkeit 1956 - 1977 -1988 (Daten nach Ehlers u.a. Gertz 2000) Schularbeiten beginnen J H B Allein bleiben JHB Ohne Hilfe essen J H B Alleine an- und ausziehen H B 0 2 4 6 8 10 12 B 1956 J 1977 H 1988
3. Realistische Entwicklung und Erziehung
Ein Modell - Wie wächst ein Mensch auf? (1) 1. Ziel der Entwicklung: ein realistisches Bild von der Welt und sich selbst haben - und damit wirksam im eigenen Interesse handeln können 2. Kinder und Jugendliche entwickeln sich nach einem evolutionären Programm - Tricks der Evolution sind die Angewiesenheit auf Bezugspersonen und die angeborene Selbständigkeit in der Informationsaufnahme 3. Kinder und Jugendliche nehmen alle Informationen auf, die sie für relevant und richtig halten - Glaubwürdigkeit der erziehenden Erwachsenen ist also wichtig
Ein Modell -Wie wächst ein Mensch auf? (2) 1. Kinder und Jugendliche sind sowohl zur selbständigen Erkundung der Umwelt als auch auf das Lernen durch Bezugspersonen und andere programmiert 2. Sie lernen deshalb selbständig und durch Anleitung/ Anregung von Bezugspersonen und Gleichaltrige 3. Manche Fakten,Probleme, Denkweisen können Kinder und Jugendliche nicht durch selbständiges Lernen oder durch Gleichaltrige erlernen 4. Fremdgesteuerte Lern- und Bildungsprozesse sind deshalb genauso normal wie selbstgesteuerte 5. Die Bewertung, was sinnvoll im Sinne der besseren Daseinsbewältigung ist, trifft das Kind. Glaubwürdigkeit der Informationsquelle ist entscheidend.
Bedeutungslehre Jakob von Uexküll,1956,96ff
Wo ändern sich Kinder und Jugendliche? 1. Die biologische und psychologische Funktionsweise von Kindern ändert sich nicht 2. Nicht alle Umweltänderungen verändern die Kinder - nur wenn sich sensible Bereiche ändern, verändern sich die Kinder 3. Kinder sind in vielen Bereichen umweltoffen programmiert - Sprache, Informiertheit, Mode, Reichtum- Armut, Spielzeug etc. ändert sich 4. Es hängt vom Einklang der Ansichten über das realistische Selbst- und Weltbild ab, ob es Unterschiede zwischen Erzieher und Zögling gibt oder nicht
Wer erzieht also unsere Kinder? • wir alle • TV, Medien, Eltern, Gleichaltrige (Harris), Klassenkameraden, andere Erwachsene, Lehrkräfte • empirisch haben alle etwa eine identisch hohe Korrelation mit dem Erziehungserfolg (z.B. Ausbleiben von Aggressivität, r ca. .20) 39
These: Nur die für die Entwicklung eines realistischen Selbst- und Weltbildes glaubwürdige Quelle erzieht mit mehr Macht als die anderen Einflußquellen
Empirischer Beleg • Der “autoritative Erziehungsstil” - eine Kombination aus Führung und Herzlichkeit hat gegenüber allen anderen Erziehungsstilen die besten Resultate • Er erzeugt ein Maximum an Glaubwürdigkeit
Neue Konzepte • guided participation • epistemic authorities • consense implies correctness • (Kruglanski u.a. 2006)
Fazit • „Erziehung“ ist eine evolutionäre Notwendigkeit. • Sie ist keine Manipulation, Formung etc. sondern eine begleitende Beziehung des Heranwachsenden bei seiner selbständigen Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt. • Der Heranwachsende will ein realistisches Selbst- und Weltbild erwerben, damit er wirkungsvoll handeln kann. • Erziehung ist umso einflussreicher je glaubwürdiger sie zeigen kann, daß ihre Inhalte zur wirkungsvollen Auseinandersetzung führen. • Einfluß gewinnt man auch durch Beziehung, Kompetenz, Bindung und Sympathie zum Heranwachsenden
Ende
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