Zur Rolle funktionaler Aspekte bei der Definition und Diagnose unzuverlässigen Erzählens am Beispiel von Jörg-Uwe Albigs "Zornfried"

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Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXXI (2021), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 104–121

Janina Jacke

Zur Rolle funktionaler Aspekte bei der Definition und Diagnose
unzuverlässigen Erzählens am Beispiel von Jörg-Uwe Albigs
„Zornfried“

Einleitung. Die möglichen Funktionen des narrativen Phänomens unzuverlässiges Erzäh-
len sind bisher kaum Gegenstand systematischer Untersuchungen geworden. Bei diesem
Desiderat möchte der vorliegende Aufsatz ansetzen, indem die Relation zwischen Un-
zuverlässigkeit und Funktion aus einer definitionstheoretischen und methodologischen
Perspektive beleuchtet wird. Im ersten Teil wird es darum gehen, welche Rolle die Frage
nach der Funktion unzuverlässigen Erzählens im Zusammenhang mit der Definition des
Phänomens spielt. Der zweite Teil fragt nach dem Verhältnis der Identifikation weitgehend
deskriptiver Textmerkmale zu Funktions- und Interpretationshypothesen im Rahmen der
Diagnose unzuverlässigen Erzählens. Dies wird im Rahmen einer exemplarischen Analyse
des Romans Zornfried von Jörg-Uwe Albig (2019) untersucht, bei dem die Diagnose von
Unzuverlässigkeit mit besonderen Herausforderungen verbunden ist. Neben theoretischen
und methodologischen Ergebnissen leistet der Artikel so einen Beitrag zur Beantwortung
der Frage nach den möglichen Funktionen wertebezogener bzw. axiologischer Unzuver-
lässigkeit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

I. Zur Rolle der Funktion bei der Definition unzuverlässigen Erzählens. Die theoretische
Debatte um unzuverlässiges Erzählen ist seit Jahrzehnten durch eine Uneinigkeit hin-
sichtlich der adäquaten Definition dieses Konzepts geprägt. Es lässt sich als Konsequenz
dieser Uneinigkeit verstehen, dass im Rahmen der meisten Unzuverlässigkeitstheorien
mittlerweile unterschiedliche Typen unzuverlässigen Erzählens vorgestellt werden, die sich
durch teilweise deutlich voneinander abzugrenzende Merkmale auszeichnen.1 So gilt ein
Erzähler sowohl dann als unzuverlässig, wenn er unzutreffende Behauptungen über die
fiktive Welt aufstellt bzw. Unzutreffendes für wahr hält (faktenbezogene/mimetische Un-
zuverlässigkeit), als auch dann, wenn die moralischen Werte, die aus seinen Äußerun-
gen, Auffassungen oder Handlungen abzuleiten sind, nicht in Einklang mit den Werten
stehen, die das fragliche literarische Werk kommuniziert (wertebezogene/axiologische
Unzuverlässigkeit).2

1   Vgl. z. B. Phelan, Martin (1999), Kindt (2008), Köppe, Kindt (2014), Jacke (2020).
2   Die hier angeführte Auffassung von unzuverlässigem Erzählen ergibt sich aus einer Zusammenführung der
    wichtigsten Unzuverlässigkeitstheorien (vgl. Jacke 2020, 293–307). Während ich dort zwecks Begriffsschärfung
    vorschlage, eine bloße Diskrepanz zwischen den (äußeren) Handlungen eines Erzählers und den Werten des
    Werks nicht von vornherein als erzählerische Unzuverlässigkeit zu verstehen, wird diese Variante hier aus zwei
    Gründen inkludiert: Zum einen scheint sie historisch stark mit dem Konzept wertebezogener Unzuverlässigkeit
    verknüpft zu sein (vgl. Booth 1961; Kindt 2008); zum anderen sind Handlungen ein wichtiger Indikator für
    narratoriale Wertauffassungen.

© 2021 Janina Jacke - http://doi.org/10.3726/92168_104 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0
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   Eine relevante Frage ist bisher allerdings nicht explizit zum Gegenstand definitions-
theoretischer Überlegungen geworden: Ist unzuverlässiges Erzählen ein Textphänomen, das
sich maßgeblich durch seine Funktion auszeichnet? Anders formuliert: Ist die Funktion der
für unzuverlässiges Erzählen typischen Textmerkmale ein fester Bestandteil der Definition
des Phänomens?
   Die Antwort auf diese Fragen ist für die narratologische Theorie und Praxis mindestens
in zweierlei Hinsicht von Relevanz: Zum einen ist es unerlässlich für die Nachvollziehbar-
keit und Klarheit literaturwissenschaftlicher Textanalysen und Interpretationen, dass die
Bedeutung der verwendeten Fachtermini vollkommen klar ist. Nur dann hat Fachvokabular
überhaupt Vorteile gegenüber der Alltagssprache. Es ist in diesem Zusammenhang also
hinderlich, wenn Konzepten wie unzuverlässigem Erzählen implizite Bedeutungsfacetten
anhaften, die manch einer ‚mitversteht‘, ein anderer dagegen nicht. Sollten Fragen nach
der Funktion daher integraler Bestandteil des Konzepts unzuverlässigen Erzählens sein,
muss dies (inklusive der dazugehörigen Modalitäten) im Rahmen einer Definition expli-
ziert werden. Zum anderen ist eine explizite Stellungnahme zur Bedeutung funktionaler
Aspekte für das Unzuverlässigkeitskonzept wichtig, um Klarheit über die Spezifika der
Anwendung des Konzepts bzw. der Diagnose unzuverlässigen Erzählens zu erlangen. Wenn
die Identifikation unzuverlässigen Erzählens notwendigerweise die Feststellung der Funk-
tion bestimmter Textmerkmale erfordert, so hat dies unweigerlich Konsequenzen für die
Beantwortung der Frage, im Rahmen welcher literaturwissenschaftlicher Operationen der
Texterforschung die Kategorie unzuverlässiges Erzählen zum Einsatz kommen kann. Konkret
scheinen Hypothesen über die Funktion von Textmerkmalen immer eine Textinterpretation
im emphatischen Sinne zu erfordern (wie am Ende von I. noch näher ausgeführt wird). Eine
definitorische Kopplung erzählerischer Unzuverlässigkeit an funktionale Aspekte würde
also dazu führen, dass das Konzept für deskriptiv-analytische Texterforschung ungeeignet
wäre. Eine explizite Stellungnahme zur definitorischen Rolle der Funktion hat entsprechend
Konsequenzen für eine methodologische Einordnung des Unzuverlässigkeitskonzepts.
   In den verschiedenen existierenden Definitionen unzuverlässigen Erzählens findet sich
nur vereinzelt eine explizite Integration funktionaler Aspekte. So macht Kindt im Rahmen
seiner Definition wertebezogener (bzw. axiologischer) und faktenbezogener (bzw. mime-
tischer) Unzuverlässigkeit deutlich, dass eine Diskrepanz zwischen den Äußerungen des
Erzählers und den Fakten der fiktiven Welt bzw. zwischen den narratorialen Wertungen und
den Werten des Werks nur dann als erzählerische Unzuverlässigkeit einzuordnen ist, wenn
dies „Teil der Kompositionsstrategie“ des Werks ist.3 In anderen Worten: Den relevanten
Textmerkmalen (d. h. den genannten Formen der ‚Diskrepanz‘) muss eine Funktion im Zu-
sammenhang mit der Werkbedeutung zukommen, damit unzuverlässiges Erzählen vorliegt.
In weiteren Definitionsvorschlägen lässt sich m. E. keine Bezugnahme auf funktionale
Aspekte feststellen – dennoch wird an einigen Stellen deutlich, dass viele Erzähltheoretiker
offenbar implizit davon ausgehen, unzuverlässiges Erzählen sei notwendigerweise an be-
stimmte Funktionen gekoppelt. Ein Indikator für diese Annahme besteht in der Auffassung,
dass keinesfalls Textmerkmale als erzählerische Unzuverlässigkeit verstanden werden sollen,

3    Kindt (2008, 53).

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die durch eine Unaufmerksamkeit oder einen Fehler des Autors zustande gekommen sind
und daher nicht mit einer kommunikativen Absicht im Text untergebracht wurden.4
   Wie oben deutlich gemacht, sollten die dem Unzuverlässigkeitsbegriff zugrunde liegen-
den impliziten Bedeutungsfacetten unbedingt im Rahmen der Definition explizit gemacht
werden. Dies erfordert eine Stellungnahme zur Frage, ob und, wenn ja, in welcher Hinsicht
funktionale Aspekte integraler Bestandteil des Konzepts unzuverlässigen Erzählens sein
sollten. Dabei ergibt sich allerdings eine Reihe von Herausforderungen – dies gilt in be-
sonderem Maße für einen funktionalistischen Unzuverlässigkeitsbegriff.
   Eine erste Entscheidung, die hier zu treffen ist, betrifft die genaue Bestimmung des
Funktionsbegriffs. Dieser ist selbst unklar,5 so dass bei seiner fehlenden Explikation einer
funktionalistischen Unzuverlässigkeitsdefinition wiederum implizite Bedeutungsfacetten
anhaften würden. Ist unter der Funktion eines Textmerkmals etwas zu verstehen, das
mit den kommunikativen Absichten des Autors zusammenhängt? Oder bestimmt sich
Funktion durch den Effekt, den Textmerkmale auf den Leser haben? Können Textmerk-
male womöglich unabhängig von Autor und Leser eine Funktion haben? Sind mögliche
oder tatsächlich realisierte Funktionen relevant? Diese und weitere Fragen hinsichtlich des
Funktionsbegriffs müssten im Rahmen einer hinreichend expliziten funktionalistischen
Unzuverlässigkeitsdefinition beantwortet werden.6
   Eine zweite Entscheidung müsste im Rahmen einer funktionalistischen Definition hin-
sichtlich der Frage getroffen werden, ob die für unzuverlässiges Erzählen charakteristischen
Textmerkmale (also die Diskrepanz zwischen den Äußerungen [etc.] des Erzählers und den
Fakten der fiktiven Welt bzw. den Werten des Werks) nur irgendeine Funktion im Werk
erfüllen müssen, um als Unzuverlässigkeit eingeordnet werden zu können, oder ob es eine
bestimmte Funktion sein muss. (Ein Beispiel für letztere Variante lässt sich bei Zerweck
finden. Dieser geht davon aus, dass unzuverlässiges Erzählen notwendigerweise die Funk-
tion erfüllen müsse, grundsätzlichen epistemischen Skeptizismus auszudrücken.)7 Vor dem
Hintergrund, dass unzuverlässigem Erzählen oft unterschiedliche mögliche Funktionen
zugeschrieben werden,8 stellt sich die Frage, auf welche Funktionen das Unzuverlässigkeits-
konzept sinnvollerweise eingeschränkt werden sollte oder kann. Diese Entscheidung kann
letztlich nur vor dem Hintergrund von Überlegungen zur heuristischen Nützlichkeit dieses
Konzepts getroffen werden: Welchem Zweck soll es im Rahmen literaturwissenschaftlicher
Texterforschung dienen? Wie muss es bestimmt werden, um diesen Zweck bestmöglich zu

4 Vgl. bspw. Martínez, Scheffel (1999, 106). Mir ist wiederum nur ein Fall bekannt, in dem sich eine Erzähl-
  theoretikerin gegen ein funktionalistisches Unzuverlässigkeitskonzept ausspricht: Shen schreibt in ihrem Eintrag
  Unreliability im living handbook of narratology, unzuverlässiges Erzählen sei meist ein vom Autor intentional
  eingesetztes Textphänomen (vgl. Shen 2013, § 2). Das impliziert, dass es auch nicht-intentionale Fälle unzuver-
  lässigen Erzählens gibt. Je nach genauer Auffassung von „Funktion“ bedeutet dies allerdings nicht automatisch,
  dass den fraglichen Textmerkmalen keine Funktion zukommen muss.
5 Vgl. Hillebrandt (2011, 29–32).
6 Lediglich dass die Funktion von Textmerkmalen etwas ist, das eng mit der Werkbedeutung verknüpft sein muss,
  gilt offenbar unabhängig vom konkreten Funktionsbegriff (Genaueres hierzu findet sich jeweils am Ende von
  I. bzw. II.)
7 Vgl. Zerweck (2001, 163).
8 Vgl. Bläss (2005).

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erfüllen? Je enger unzuverlässiges Erzählen bestimmt wird (durch die Integration funktio-
nalistischer Aspekte und besonders durch die Beschränkung auf bestimmte Funktionen),
desto unflexibler wird die Einsetzbarkeit des Konzepts.
   Der eben genannte Aspekt der heuristischen Nützlichkeit ist nicht nur bei einer funktio-
nalistischen Unzuverlässigkeitsdefinition zu beachten, sondern stellt auch ganz allgemein
einen wichtigen Faktor bei einer Definitionsentscheidung dar: Wie muss ein Konzept
definiert werden, um als möglichst produktives Werkzeug im Rahmen literaturwissen-
schaftlicher Texterforschung nutzbar zu sein?9 Hier erscheint eine funktionalistische Unzu-
verlässigkeitsdefinition zunächst von Vorteil: In der Regel sind funktionslose Textmerkmale
nicht von literaturwissenschaftlichem Interesse. Warum also sollte ein erzähltheoretisches
Konzept solche Textmerkmale inkludieren? Es ist allerdings auch eine andere Perspektive
auf den Zusammenhang zwischen Funktion und heuristischer Nützlichkeit möglich: Im
Rahmen literaturwissenschaftlicher Texterforschung Konzepte und Kategorien zum Einsatz
zu bringen, die zunächst agnostisch hinsichtlich der Funktion von Textmerkmalen sind, kann
durchaus vorteilhaft sein. Dieser Ansatz liegt bspw. strukturalistisch orientierten narrato-
logischen Analysekategorien zugrunde (etwa den von Genette entwickelten Kategorien zur
Analyse des discours, d. h. der Darstellungsweise von Erzählungen)10. In den Definitionen
von Kategorien wie Analepse, homodiegetischer Erzähler oder interne Fokalisierung spielt die
Frage nach den Funktionen der jeweils relevanten Textmerkmale keine Rolle. Dasselbe gilt
in der Regel für den Einsatz dieser Kategorien im Rahmen von Texterforschung: Sofern die
für die jeweiligen Phänomene charakteristischen Textmerkmale vorliegen, werden sie ent-
sprechend kategorisiert. Sollte sich später im Rahmen einer Textinterpretation ergeben, dass
eine kategorisierte Texteigenschaft keine Funktion hat, so scheint dies der grundsätzlichen
Nützlichkeit der für ihre Beschreibung verwendeten Kategorie keineswegs Abbruch zu tun.
Wenn wir diese Agnostik strukturalistisch-narratologischer Kategorien funktionalistischen
Aspekten gegenüber nicht für problematisch halten, ist die Frage gerechtfertigt, ob dieselbe
Eigenschaft im Zusammenhang mit der Kategorie unzuverlässigen Erzählens tatsächlich
ihrer heuristischen Nützlichkeit entgegensteht.
   Es ist zudem möglich, noch einen Schritt weiter zu gehen: Im Falle strukturalistisch-
narratologischer Kategorien wird eine Eigenschaft, die mit der Agnostik gegenüber funk-
tionalen Fragen zusammenhängt, sogar als besondere Tugend gehandelt: die Eigenschaft,
als Werkzeuge der deskriptiven Textanalyse eingesetzt werden zu können.11 Deskriptiv-ana-
lytische Aussagen über Texte zeichnen sich dadurch aus, dass sie in der Regel intersubjektiv
nachvollziehbar und leicht am Text überprüfbar sind, da sie auf wenig voraussetzungsrei-
chen Schlussfolgerungen basieren, in geringem Maße von Kontextwissen abhängen und
nicht auf literaturwissenschaftliche Interpretations- bzw. Bedeutungstheorien rekurrieren
müssen.12 Neben quantitativ-statistischen Aussagen über Texte, die in der traditionellen

 9 Während es grundsätzlich möglich erscheint, die heuristische Nützlichkeit von Konzepten ausschließlich in
   Relation zu einzelnen Forschungsvorhaben zu betrachten, soll der Fokus hier auf Aspekten der heuristischen
   Nützlichkeit liegen, die von Einzelvorhaben unabhängig sind.
10 Vgl. Genette (2010).
11 Vgl. z. B. Kindt, Müller (2003).
12 Vgl. Jacke (2020, 263–268).

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Literaturwissenschaft kaum eine Rolle spielen,13 lassen sich Aussagen über die formale
Gestaltung von Texten sowie teilweise auch über deren Inhalt der deskriptiven Analyse
zurechnen. Der Wert deskriptiv-analytischer Aussagen über literarische Texte besteht da-
rin, dass sie in unterschiedlicher Hinsicht umfassenderen Textinterpretationen zuarbeiten
können (s. u.). Literaturwissenschaftliche Textinterpretation zeichnet sich im Gegensatz
zur Analyse dadurch aus, dass Texte nicht bloß beschrieben werden, sondern das explizite
Textmaterial durch Hypothesen über seine impliziten Bedeutungsgehalte angereichert wird.
Dabei kommen in der Regel abduktive, d. h. ‚unsichere‘, Schlussmechanismen zum Ein-
satz, Kontextinformationen werden mit dem Text in Verbindung gebracht und es werden
literaturwissenschaftliche Theorien herangezogen, die Annahmen über die Ziele und Me-
thoden von Interpretation enthalten. Interpretationen können, u. a., auf die Herausstellung
nicht-expliziter inhaltlicher Aspekte zielen, also bspw. auf die Beantwortung nicht-trivialer
Fragen hinsichtlich des erzählten Geschehens bzw. der fiktiven Welt (inhaltsspezifizierende
Interpretation). Zudem liegt ein wichtiges Ziel interpretativer Auseinandersetzungen mit
literarischen Texten darin, übertragene Bedeutungen zu identifizieren, d. h. die ‚Werkbedeu-
tung‘ bzw. die Botschaft, die ein Werk vermittelt (inhaltstranszendierende Interpretation).14
Während im Rahmen von Interpretationen ebenso diverse Ziele verfolgt werden wie ver-
schiedenste Methoden, Theorien und Informationsquellen zum Einsatz kommen, können
deskriptive Analysen in mindestens zweierlei Hinsicht als Interpretationen befruchtende,
sichere Basis verstanden werden. Zum einen dienen Analyseergebnisse als Heuristik für
Interpretationen: Durch pointierte Textbeschreibung geraten Textmerkmale in den Fokus,
die erklärungsbedürftig sind oder gar bereits Erklärungsansätze inspirieren.15 Zum anderen
kann es, gewissermaßen andersherum betrachtet, als Plausibilitätskriterium für eine Inter-
pretationshypothese zu einem literarischen Text gelten, wenn diese Hypothese geeignet ist,
möglichst viele Textmerkmale zu erklären.16
    Deskriptive Analysekategorien haben also durchaus ihre Berechtigung. Kommen wir
nun zurück zu Fragen der Funktion von Textmerkmalen: Wie bereits angedeutet, führt
die Integration funktionaler Aspekte in die Definition einer erzähltheoretischen Kategorie
dazu, dass diese Kategorie grundsätzlich nicht mehr im Rahmen deskriptiver Analyse ein-
gesetzt werden kann. Im Gegensatz zur bloßen Feststellung von Textmerkmalen, die häufig
deskriptiv erfolgen kann, scheinen Aussagen über die Funktion dieser Merkmale generell
Elemente von Hypothesen hinsichtlich der ‚Werkbedeutung‘ bzw. Botschaft des Werks zu
sein: Die Funktion – und das gilt unabhängig vom konkret vertretenen Funktionsbegriff
– ist die Rolle, die Textmerkmale im Zusammenhang mit der Werkbedeutung spielen;
sie fungiert gewissermaßen als Brücke zwischen Texteigenschaften und der Botschaft des
Textes. Wird für eine literaturwissenschaftliche Kategorie definitorisch zur Voraussetzung
gemacht, dass die für sie charakteristischen Textmerkmale eine Funktion haben, erfordert
die Anwendung der Kategorie die Identifikation der Funktion dieser Textmerkmale – und
somit eine (inhaltstranszendierende) Textinterpretation.

13 Statistikbasierte Verfahren kommen dagegen in der sogenannten digitalen Literaturwissenschaft teilweise äußerst
   fruchtbar im Rahmen der explorativen Untersuchung größerer Textkorpora zum Einsatz, vgl. Moretti (2013).
14 Vgl. Shusterman (1978), Folde (2015).
15 Vgl. Kindt, Müller (2003).
16 Vgl. Føllesdal (1979).

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   Was bedeutet es aber, andersherum, für die Anwendung einer Kategorie, nicht unter
Rekurs auf funktionale Aspekte definiert zu sein? Garantiert eine nicht-funktionalistische
Definition, dass die fragliche Kategorie im Rahmen deskriptiver Textanalyse eingesetzt
werden kann? Dies ist keineswegs der Fall. Je nachdem, wie offen bzw. ambig ein literari-
sches Werk gestaltet ist, kann auch die Anwendung solcher Kategorien eine Interpretation
erfordern, die grundsätzlich für die Textanalyse geeignet sind. Bspw. mag es notwendig sein,
mittels Interpretation festzustellen, ob eine Textpassage als Analepse, d. h. als Rückgriff
in der Zeit, einzuordnen ist, weil die zeitliche Einordnung der in der Passage berichteten
Ereignisse im Text nicht explizit gemacht wird. Bei einer komplexen Kategorie wie unzu-
verlässigem Erzählen, die häufig implizit umgesetzte Textmerkmale betrifft, ist es natürlich
besonders oft der Fall, dass ihre Anwendung eine Textinterpretation erfordert.
   Eine nicht-funktionalistische Definition würde demnach lediglich die Möglichkeit
offenhalten, dass die Kategorie unzuverlässiges Erzählen in einigen Fällen, in denen die rele-
vanten Texteigenschaften vergleichsweise explizit umgesetzt sind, im Rahmen deskriptiver
Textanalyse eingesetzt werden kann. Eine Definition unzuverlässigen Erzählens, in der
funktionale Aspekte ausgeklammert werden, ist deswegen keineswegs misszuverstehen als
Versuch, die Kategorie unzulässig zu simplifizieren und ihrer inhärenten Komplexität zu
berauben. Eine nicht-funktionalistische Definition sollte stattdessen lediglich als Versuch
verstanden werden, das Unzuverlässigkeitskonzept nicht komplexer und voraussetzungs-
reicher als notwendig zu gestalten.
   Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen dient die folgende Analyse der potenziellen
Unzuverlässigkeit in Jörg-Uwe Albigs Roman Zornfried als Illustration der Tatsache, dass
selbst bei der Arbeit mit einer nicht-funktionalistischen Definition unzuverlässigen Er-
zählens in einigen Fällen komplexe Interpretationen und Funktionshypothesen aufgestellt
werden müssen, um eine Unzuverlässigkeitsdiagnose treffen zu können. Neben dem Erlan-
gen eines tieferen Verständnisses des Romans Zornfried ist es deswegen Ziel des folgenden
Abschnitts, das oft komplexe Zusammenwirken zwischen (deskriptiven) Textmerkmalen,
Funktionszuschreibungen und Bedeutungshypothesen im Rahmen literaturwissenschaft-
licher Texterforschung (und insbesondere im Zusammenhang mit Unzuverlässigkeitsdiag­
nosen) besser zu verstehen.

II. Zur Relevanz der Funktion bei der Diagnose unzuverlässigen Erzählens am Beispiel von
„Zornfried“. Die Handlung von Albigs Kurzroman ist schnell zusammengefasst: Jour-
nalist Jan Brock, der auch der Erzähler der Geschichte ist, stößt auf die düster-völkische
Lyrik des neurechten Dichters Storm Linné und entschließt sich, einen Verriss des bisher
wenig bekannten Werks zu schreiben. Brock wird daraufhin von einem Freiherrn von
Schierling auf dessen Burg Zornfried im Spessart eingeladen, die zu einem Versamm-
lungsort der rechten Szene geworden ist und auf der auch Linné als Gast weilt. Brock
nimmt das Angebot in der Absicht an, eine ‚Homestory‘ zu Schierling und Zornfried
zu schreiben, um – so die Argumentation gegenüber seinem Redakteur – über die be-
sorgniserregenden Machenschaften der Neuen Rechten zu berichten und zu informieren.
Brock lässt sich von Schierling durch Burg und Wald führen, studiert die Gruppen junger
Männer, die sich für Kampfübungen auf der Burg treffen, und wohnt den Leserunden
bei, auf denen Linnés Gedichte vorgetragen werden – bisweilen auch vom Verfasser selbst.

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Ein persönliches Treffen mit Linné kann Brock allerdings nicht erwirken. Eines Tages
taucht eine weitere Journalistin auf Burg Zornfried auf, Jenny Zerwien, die sich stärker
als Brock beim Burgherrn anbiedert und in dessen Gunst entsprechend höher zu stehen
scheint. Frustriert streift Brock durch den Wald um die Burg, in dem er sich prompt verirrt.
Auf einer Lichtung stößt er auf Linné, der wie aufgebahrt auf einem Katafalk liegt und in
eine Art morbider Naturmeditation versunken ist. Nach dem merkwürdigen Zusammen-
treffen findet Brock wieder aus dem Wald heraus. Brock erlebt auf Burg Zornfried in der
Runde seiner Gastgeber eine auf dem Burghof stattfindende antifaschistische Demonstra-
tion mit und fühlt sich dabei (nur zögerlich schuldbewusst) fast als Verbündeter der Burg-
residenten. Als Jenny Zerwien die Burg nach einem unangenehmen Annäherungsversuch
Schierlings verlässt, erhält Brock wieder mehr Aufmerksamkeit des Burgherrn. Er schließt
sich einem Manöver der auf Zornfried residierenden Männergruppe an, löst sich aber nach
einiger Zeit plötzlich von ihr und stößt im Wald ein weiteres Mal auf den aufgebahrten
Linné, der sich offenbar das Leben genommen hat. Brock bricht daraufhin seinen Besuch
auf Zornfried und das damit verbundene journalistische Vorhaben ab.
    Laut Umschlagtext handelt es sich bei dem Kurzroman Zornfried um eine „Satire über
die neurechten Bewegungen unserer Gegenwart […] – und über die Medien, die deren
Treiben mit sensationsfreudigem Eifer begleiten“.17 Folgt man dieser sehr groben Inter-
pretationsskizze, dann lassen sich hier gleich zwei Komponenten einer Hypothese über
die ‚Botschaft‘ von Zornfried identifizieren: Das Werk übt auf satirische Weise moralische
Kritik an rechtsextremen Strömungen einerseits und dem Umgang der Medien mit dieser
Thematik andererseits. Es ist vor diesem Hintergrund naheliegend zu prüfen, ob und, wenn
ja, inwiefern diese satirische Kritik möglicherweise durch das gestalterische Mittel des un-
zuverlässigen Erzählens umgesetzt wird, das insbesondere in seiner wertebezogenen bzw.
axiologischen Variante geeignet scheint, derartige Botschaften zu transportieren.
    Die These, dass in Zornfried neurechte Bewegungen satirisch aufs Korn genommen
werden, lässt sich schnell bestätigen. Als Mittel fällt hier zunächst die zugleich grotesk über-
zeichnete und dennoch beunruhigend realitätsnahe Beschreibung derjenigen Figuren ins
Auge, die im Roman als Protagonisten und Statisten der rechten Szene inszeniert werden.
Beschreibungen von Physiognomien, Mimik und Verhaltensweisen wirken ebenso wie die
wiedergegebenen Äußerungen oft ins Absurde überzeichnet – zugleich werden aber teils
äußerst enge Anlehnungen an konkrete reale Personen offensichtlich. So wohnen sowohl
der fiktive Burgherr von Schierling als auch der neurechte Verleger Götz Kubitschek in
einem herrschaftlichen historischen Gebäude (Burg bzw. Rittergut), siezen die eigene
Ehefrau und servieren eingeladenen Journalisten Speisen aus eigenem Anbau.18 Die düster-
pathetische Lyrik Storm Linnés erinnert an die Stefan Georges,19 die von den fiktiven Rech-
ten geäußerten Plattitüden zu Relativierung und Rechtfertigung ihrer Gesinnung („Ich bin
kein Nationalsozialist […], sondern deutschnational“, Zf 26; „Es geht um Gemeinschaft“,

17 Klappentext des Romans Zornfried, Albig (2019). Im Folgenden werden Zitate aus dieser Ausgabe im Fließtext
   unter Angabe der Sigle Zf und Seitenzahl nachgewiesen.
18 Vgl. die Homestory der FAZ-Autoren Bender und Bingener über Kubitscheks Rittergut Schnellroda; , zuletzt 13.5.2020.
19 Auf derartige Verweise machen auch zahlreiche Rezensenten aufmerksam.

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Zf 61) an Aussagen, die uns aus den Medien von Funktionären oder Anhängern politischer
Parteien wie der AfD oder der Identitären Bewegung bekannt sind.
   Wie sind nun die Äußerungen, Haltungen und Handlungen des Erzählers Jan Brock
in Relation zu dieser durch das Werk plakativ kommunizierten Kritik an rechtsextremen
Strömungen einzuordnen? Hier scheint von Unzuverlässigkeit zunächst keine Spur: Brock
ist ganz offensichtlich ein aufgeklärter Journalist, der selbst politisch links sozialisiert
worden ist (vgl. Zf 133). Es ist maßgeblich Brocks humoristisch-herablassende Darstellung
und Kommentierung der rechten Figuren und Aktivitäten, über die die durch das Werk
kommunizierte Kritik an rechten Bewegungen ausgedrückt wird und die rechten Akteure
der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Hierzu gehören u. a. seine Beschreibungen der
dümmlich-plumpen jungen Männer mit gelben „W“s auf ihren T-Shirts, die eine Podiums-
diskussion durch rechte Parolen stören („Ich glaube, dass es diese Buchstaben waren, die
uns bedrohen sollten, nicht die Körper der Männer, die eher schmächtig waren, schwammig
oder geradezu ungeheuerlich dick“, Zf 11), sein Kommentar über Schierlings Assistenten
Matzek („Sebastian Matzek, sagte er dann mit einer Knappheit, die wohl militärisch wirken
sollte, aber nach Asthma klang“, Zf 25) oder seine Einschätzung von Storm Linnés Lyrik
(„die krumme Syntax, das schiefe Bild, die verstaubten Wörter“, Zf 12). Brock trägt die
ganze Zeit eine ironisch-kritische Distanz gegenüber der rechten Szene nach außen, die er
nicht nur in seinem Erzähldiskurs an den zitierten Stellen deutlich werden lässt, sondern
immer auch in seiner Rolle als erlebendes Ich – so bspw. in dem Verriss, den er über Linnés
Gedichtband Eiserne Ernte schreibt („Das krude Denken Linnés legte ich bloß, enthüllte
seinen Wahn, entlarvte seinen Versuch, mit erloschenen Feuern zu spielen“, Zf 20; Hervor-
heb. i. O.), oder gegenüber Schierling („Der Saal der Freude, wiederholte ich und sah den
elektrischen Kamin an, der mitten im Frühling glühte. Hier gehen Sie also zum Lachen
hin“, Zf 33; Hervorheb. i. O.).
   Eine ähnliche Diagnose lässt sich auch hinsichtlich des zweiten im Klappentext genann-
ten Elements der Botschaft von Zornfried treffen: der Kritik am Umgang der Medien mit
rechtsorientierten Strömungen. Erneut sind vor allem explizite Mittel der satirischen Kritik
festzustellen, zuvorderst die Einführung der Figur Jenny Zerwien. Bei Zerwien handelt
es sich um eine Journalistin, deren Verhalten deutlich als fragwürdig bzw. problematisch
dargestellt wird: Sie biedert sich stark bei Schierling an, um möglichst nahe an diesen he-
ranzukommen („der Freiherr und Jenny Zerwien nahmen Platz und begannen sofort, die
Köpfe zusammenzustecken und zu flüstern“, Zf 90), und äußert immer wieder Plattitüden,
mit denen sie ihr Verhalten zu rechtfertigen sucht („Holen Sie doch nicht immer gleich die
Nazikeule raus, sagte sie […]. Das wird doch langsam langweilig“, Zf 93 f.; „Erst einmal
bin ich hier, um zuzuhören, sagte Jenny Zerwien. Das nennt man Journalismus“, Zf 94).
Brock sieht dieses Verhalten ganz offensichtlich kritisch: Einmal mehr sind es insbesondere
seine Beschreibungen und Kommentare, durch die im Werk Kritik am Umgang einiger
Medienvertreter mit rechten Strömungen kommuniziert wird. Auch in dieser Hinsicht ist
Brock also ein zuverlässiger Erzähler: Seine Aussagen und Haltungen liegen hier – wie auch
im vorher besprochenen Fall – auf einer Linie mit diesen leicht identifizierbaren Elementen
der moralischen Botschaft des Werks.
   Wie eine genauere Analyse allerdings zeigt, lassen sich im Zusammenhang mit beiden
bisher untersuchten Zielscheiben der Kritik (d. h. rechte Strömungen und journalistische

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Berichterstattung in diesem Feld) etwas anders gelagerte Fälle potenzieller Unzuverlässig-
keit feststellen.
   Schauen wir uns zunächst noch einmal Brocks Haltung gegenüber der völkisch-rechten
Szene an. Hier steht Brock zwar nicht im Verdacht, eine moralische Bewertung an den
Tag zu legen, die der durch das Werk kommunizierten Botschaft widerspricht. Wohl aber
unterschätzt er offenbar die Gefahr, die von der rechten Dynamik ausgeht. Dies liegt zum
einen an seiner Überheblichkeit, die ihn die Rechten vor allem als lächerlich einschätzen
lässt, zum anderen aber auch an seiner Ignoranz – denn Brock wirkt wenig informiert: Er
kennt die Bedeutung der szenetypischen Handgesten nicht („ein paar reckten den rechten
Arm in die Luft, irgendein Zeichen in Taubstummensprache: Daumen und kleiner Finger
aneinandergedrückt, Zeige-, Mittel- und Ringfinger ausgestreckt“, Zf 11), weiß auch nach
einiger Zeit auf der Burg noch nicht, was die gelben „W“s auf den T-Shirts bedeuten (vgl.
Zf 61),20 und kennt die Bücher in Schierlings Bibliothek nicht. Dennoch scheint er nicht
motiviert, seine Lücken durch Recherche zu schließen: „Ich sah ein Buch mit rotem Cover
mit dem Titel Michael. A Novel, der mich an irgendetwas erinnerte, doch Schierling steckte
es sofort wieder zwischen seine Nachbarn zurück. Ich ließ es dabei bewenden“ (Zf 32).21
   Dass Brock die rechte Szene in mindestens zweierlei Hinsicht unterschätzt hat, wird ihm
im Verlauf der Erzählung zunehmend deutlich. Zum einen wächst nach und nach sein
Gefühl der Bedrohung, als ihm bewusst wird, dass er von den gewaltbereiten „W-Bubis“
als Eindringling auf der Burg betrachtet wird (vgl. Zf 99–101). Er fühlt sich daraufhin in
seiner Pension nicht mehr sicher (vgl. Zf 108–110). Neben seinem Konkurrenzkampf mit
Zerwien könnte dies ein weiterer möglicher Grund dafür sein, dass Brock sich in der Folge
stärker bei den Burgresidenten, insbesondere beim Burgherrn Schierling anbiedert (s. u.).
Zum anderen merkt Brock zum Ende des Romans hin, dass auch er selbst in gewisser
Weise in den Sog der neurechten Dynamik gerät. Von den kampflustigen, auf Zornfried
residierenden Männern zum ‚Manöver‘ eingeladen, schließt er sich tatsächlich dem Marsch
durch den Wald an – und merkt schlagartig, wie die rechte Dynamik funktioniert:

        Nach zehn oder zwanzig Minuten stellte ich fest, dass ich nach nichts so sehr verlangte wie nach
        einem Befehl. Ich begriff, dass das Warten der entscheidende Teil dieses Marsches war: der Moment,
        in dem der Wille keinen Auslauf mehr hatte, nicht einmal mehr im Gehorsam. (Zf 150)

Dies scheint letztlich auch der Grund zu sein, warum Brock seinen Besuch auf Zornfried
schlagartig abbricht und damit dieses journalistische Projekt ad acta legt.
   In Bezug auf die rechte Szene lassen sich also tatsächlich Facetten erzählerischer Unzuver-
lässigkeit in Zornfried feststellen: Brock zeigt lange Zeit eine falsche oder zumindest unzu-
reichende Einschätzung dieser Szene – er hegt falsche bzw. unzureichende Überzeugungen.

20 Sowohl das beschriebene Handzeichen als auch das „W“ auf den T-Shirts erinnern an reale Symbole aus der
   rechten Szene: Daumen und Zeigefinger zusammengedrückt, die restlichen Finger ausgestreckt, gilt als Dar-
   stellung der Buchstaben „W“ und „P“ und damit als Zeichen für den neonazistischen Schlüsselbegriff „White
   Power“; das gelbe „W“ auf schwarzem Grund erinnert an das Zeichen der Identitären Bewegung mit umge-
   kehrtem Farbschema. Es bleibt in Zornfried offen, ob es sich tatsächlich um diese Zeichen handelt, die Brock
   falsch liest bzw. wiedergibt, oder ob es nur an die Wirklichkeit angelehnte Zeichen sind. Letzteres findet in
   Zornfried analog auch mit genannten Marken, Verlagen, Zeitschriften etc. statt.
21 Es handelt sich hierbei um die englische Übersetzung eines Romans von Joseph Goebbels.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)                                                  Peter Lang
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Hierbei handelt es sich allerdings nicht um wertebezogene Unzuverlässigkeit, sondern am
ehesten um eine Variante faktenbezogener kognitiver Unzuverlässigkeit – und zwar um
die Variante, die in Phelans und Martins Theorie als unreliable reading bzw. unreliable
interpreting bezeichnet wird.22 Brocks Einschätzung der Gefahr, die von der rechten Szene
ausgeht, ist faktisch falsch bzw. geht nicht weit genug.
   Doch steht Brock – aufgrund dieser Fehleinschätzung oder aus anderen Gründen – auch
selbst in der Kritik des Werks? Gibt es Stellen, an denen sich wertebezogene Unzuverlässig-
keit diagnostizieren lässt? Wie ich im Folgenden zeigen möchte, liegen Brocks Handlungs-
motive, seine journalistischen Mittel sowie sein Umgang mit den Folgen seiner Handlungen
zumindest potenziell in Konflikt mit den durch das Werk kommunizierten Werten.
   Im Hinblick auf Brocks journalistische Handlungsmotive lassen sich widersprüchliche
Aussagen bzw. Indikatoren identifizieren. So wird bspw. nicht ganz klar, ob hinter Brocks
Vorhaben, zunächst einen Verriss über Storm Linnés Gedichte und später eine Homestory
auf Burg Zornfried zu schreiben, hehre journalistische Motive stehen oder andere, frag-
würdige. Brock selbst nennt (insbesondere im Gespräch mit anderen Figuren) einige ‚gute‘
Gründe: Seinem Redakteur gegenüber insistiert er darauf, „wie dringend es [sei], den
Anfängen zu wehren, solche Umtriebe mit großer Geduld zu entlarven“ (Zf 19). In seiner
Rezension des Gedichtbands Eiserne Ernte in den Frankfurter Nachrichten schreibt er, man
solle Literatur wie die Linnés „lesen, um den Gegner zu kennen. Man sollte sie auswendig
lernen, um später nicht sagen zu müssen, man hätte von nichts gewusst. Es hat keinen Sinn,
an der Gegensprechanlage abzuweisen, was längst vor der Wohnungstür steht“ (Zf 20).
Dem Feuilletonchef Steinbühl gegenüber beruft sich Brock auf das journalistische Credo,
man müsse „schreiben, was ist, und nicht, was sein soll“ (Zf 21). Diese explizit angeführten
Gründe legen nahe, dass Brock guten Journalismus betreiben und über die Gefahren neu-
rechter Strömungen aufklären will.
   Geschwächt wird diese These über Brocks Motive nun zum einen dadurch, dass Brocks
Vorhaben für ihn zum Sport bzw. zum Selbstzweck wird. Dies wird vor allem dann deut-
lich, wenn er davon spricht, wie stolz er auf seinen Mut, seine Beharrlichkeit und seine
journalistischen Erfolge ist (vgl. Zf 12, 20, 21, 51, 87). Während sich diese persönlichen Be-
weggründe möglicherweise noch mit den explizit angeführten Motiven in Einklang bringen
lassen, treten an anderen Stellen Antriebe zu Tage, die die zuerst genannten Motive eher als
Rationalisierungen wirken lassen. Zu nennen sind hier Brocks Neugier und insbesondere
seine Sensationslust: Die Auseinandersetzung mit Linnés Gedichten ist für ihn mit einer
diebischen Freude an Grusel und Ekel verbunden; den Verriss schreibt er mit offensicht-
lichem Genuss. Er gibt zu, dass er (vordergründig?) durch Neugier motiviert war, sich mit
Linné, Zornfried und Co. auseinanderzusetzen – Linné vergleicht er mit einem „üble[n]
Geruch: Man kann nicht anders als nachschauen, woher er kommt“ (Zf 9). Seinen initialen
Antrieb identifiziert Brock als „reine Neugier […]. Ich […] hatte auch keinen Missions-
drang, kein moralisches Gefühl. Was ich hatte, war meine heilige, unbezähmbare Neugier,
auf die ich stolz war“ (Zf 12). Hinzu kommt Opportunismus: „Neugier hatte mich dorthin
gebracht, wo ich heute stand. Sie hatte mir den Pauschalistenvertrag bei den Nachrichten
beschert, den Peugeot, die Vierzimmerwohnung am Zoo“ (Zf 12). Brock kokettiert an

22 Vgl. Phelan, Martin (1999), Jacke (2020, 25–29, 35–39).

Peter Lang                                                   Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
114 | Janina Jacke: Funktionale Aspekte bei der Definition und Diagnose unzuverlässigen Erzählens

unterschiedlichen Stellen mit seinem fehlenden Moralgefühl (vgl. u. a. Zf 12, 30). Dadurch
wirkt es letztlich unwahrscheinlich, dass er ausschließlich oder möglicherweise überhaupt
aus hehren Gründen handelt bzw. handeln will.
   Neben Brocks Handlungsmotiven bietet auch sein konkretes journalistisches Verhalten
Ansatzpunkte für mögliche moralische Kritik. Als er auf Zornfried eintrifft, verhält er sich
– seinen eigenen Prinzipien entsprechend – zunächst integer: Er macht bei jeder Gelegenheit
seine politische Haltung und seine Distanz zu den Auffassungen der völkisch-rechten Szene
deutlich, bspw. als er Schierling gleich bei der ersten Begegnung nach dessen Großvater fragt:
„Kommen Sie schon, sagte ich. Ostfront oder Westfront. Oder ganz gemütlich in der Heimat
im Büro, bei der Gestapo oder der Lagerverwaltung“ (Zf 28). Nach kurzer Zeit merkt Brock
allerdings, dass er so journalistisch kaum weiterkommt: Die Residenten der Burg sehen ihn
ausschließlich als den außenstehenden Kritiker, der er ist. Brock erhält dementsprechend
keine relevanten Informationen – und ist frustriert: „Mir wurde klar, dass ich nichts auf-
gedeckt hatte, nichts entlarvt, nichts hinterfragt“ (Zf 35). Diese Frustration wächst weiter,
als Jenny Zerwien auf der Burg eintrifft und eine andere journalistische Strategie einsetzt,
die stärker von Erfolg gekrönt ist: „Er hat mir alles über Storm Linné erzählt, sagte sie. Die
ganze traurige Geschichte. […] Frau Zerwien lächelte bescheiden und stolz“ (Zf 105–106).
   Während Brock dieses Verhalten moralisch verurteilt, ist er zugleich neidisch auf
Zerwiens Erfolge – und zwar offenbar nicht nur auf ihre journalistischen, sondern auch,
davon unabhängig, auf die Gunst des Burgherrn, in der sie steht (vgl. Zf 82, 84, 87, 90).
Schleichend ändert Brock daraufhin seine Taktik. So informiert er Schierling darüber,
dass eine antifaschistische Demonstration vor Burg Zornfried geplant ist (Zf 131). Die
Zornfried-Residenten bereiten sich daraufhin mit hämischer Freude auf dieses ‚Event‘ vor
und setzen sich in Szene. Brock ertappt sich dabei, wie er an dem Erdbeersekt nippt, mit
dem Schierling und die anderen demonstrativ anstoßen (vgl. Zf 138), oder wie er im Affekt
ein Feuerzeug gegen die Demonstranten zurückschleudert (vgl. Zf 139). Von einem Un-
behagen Brocks mit dieser veränderten Situation ist zunehmend weniger zu merken: „An
den kommenden Tagen merkte ich kaum, dass ich nur noch zum Schlafen in die Pension
Purucker ging“ (Zf 147).
   Selbst wenn man davon ausgeht, dass Brock (auch) hehre Motive hat und der Zweck
möglicherweise die journalistischen Mittel heiligt, bleibt schließlich die Tatsache, dass Brock
schon früh mit den negativen Konsequenzen seiner journalistischen Handlungen konfron-
tiert wird: Sein Verriss verhilft Storm Linné zu Bekanntheit und neuen Anhängern. Darauf
spricht ihn zuerst Schierling an („Und vielen Dank für Ihre Mühe“, Zf 27), später auch der
Filmemacher Krathmann („Danke für Ihren Artikel […]. Ohne die Nachrichten hätte ich
niemals hierhergefunden. Wenn ihr gegen irgendetwas geifert […], dann weiß man, dass
die Sache sich lohnt“, Zf 73) und Schierlings Frau („Herr Brock ist von den Nachrichten
[…]. Er hat dort die kleine Würdigung unseres Meisters verfasst“, Zf 88). Brock tut offenbar
sein Bestes, diese Informationen zu ignorieren oder anderweitig abzutun: „Ich fragte nicht
nach“, kommentiert er Schierlings Anmerkung, „[i]ch wollte lieber nicht wissen, womit
ich seinen Dank verdient hatte“ (Zf 27). Ähnlich sieht seine Reaktion auf den Kommentar
des Filmemacher aus: „Es war mir ein bisschen unangenehm, dass Krathmann die Sätze
gefielen. Aber es gab keinen Grund, sie deshalb falsch zu finden“ (Zf 74). Auch die auf
Zornfried aufgenommenen Kampfvideos, die Brock im Internet hochlädt, provozieren vor

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Janina Jacke: Funktionale Aspekte bei der Definition und Diagnose unzuverlässigen Erzählens | 115

allem affirmative Kommentare von rechter Seite (vgl. Zf 62). Brock ändert sein Verhalten
trotz allem nicht.
   Handelt es sich bei den aufgelisteten moralisch fragwürdigen Verhaltensweisen und Auf-
fassungen Brocks nun tatsächlich um wertebezogene Unzuverlässigkeit? Dies ist nur dann
der Fall, wenn Brock hier durch das Werk kritisiert wird bzw. die durch sein Verhalten
exemplifizierten Werte mit den Werten des Werks in Diskrepanz stehen. Im Folgenden
möchte ich zeigen, dass die moralische Botschaft des Werks – und damit die wertebezogene
Unzuverlässigkeit – an dieser Stelle nur im Rahmen (inhaltstranszendierender) Interpre-
tation festgestellt werden kann.
   Ob in Zornfried unzuverlässiges Erzählen vorliegt, hängt also davon ab, wie wir die
(über die offensichtlichen, im Klappentext erwähnten Facetten hinausgehende) ‚Botschaft‘
des Werks verstehen. Die zentrale Frage ist hier: Steht die von Brock durch sein Verhalten
gezeigte Wertvorstellung in der Kritik des Werks oder nicht? Bezüglich dieser Frage sind
unterschiedliche Deutungen möglich – es seien illustrativ zwei gegensätzliche angeführt,
die beide nicht unplausibel erscheinen.
   Einer möglichen Deutung zufolge ist Brock tatsächlich zu kritisieren: Angetrieben durch
Sensationslust lässt er sich dazu hinreißen, den Verriss eines rechten Gedichtbands zu schrei-
ben und an einer Homestory über Anhänger der völkisch-rechten Bewegung zu arbeiten,
wodurch er dieser Strömung zu unnötig viel Aufmerksamkeit verhilft. Er rationalisiert sein
Handeln vor sich selbst und anderen, lässt sich in einen Konkurrenzkampf mit seiner Kol-
legin verwickeln, in dem er seine journalistischen Ideale verrät, und gerät aufgrund seiner
Arroganz letztlich tatsächlich selbst in den Sog der völkisch-rechten Dynamik.
   Eine andere Deutung lässt Brock dagegen weniger negativ dastehen: Brock ist grund-
sätzlich ein vernünftiger, aufgeklärter und zudem interessiert-neugieriger Mensch. Diese
Eigenschaften machen ihn zu einem motivierten und hartnäckigen Journalisten, der das
Potenzial hat, relevante Beiträge zu liefern, und der auch vor möglicherweise gefährlichen
Situationen nicht zurückschreckt. Dass Brock dabei selbst die rechte Dynamik zu spüren be-
kommt, zeigt vor allem einmal mehr die Wichtigkeit und Gefahr seiner Mission. Schließlich
schafft Brock es aus eigener Kraft, sich aus dem Sog zu befreien und Zornfried zu verlassen.
   Beide Deutungen sind zunächst kompatibel mit dem textuellen Material von Zornfried.
Gibt es dennoch Möglichkeiten, um zu entscheiden, welche der beiden die plausiblere ist?
In den theoretischen Forschungsbeiträgen zu unzuverlässigem Erzählen gibt es hierzu zwei
Vorschläge, die sich an unterschiedlichen Interpretationstheorien orientieren. Im Rahmen
kognitivistischer Theorien unzuverlässigen Erzählens wird angenommen, dass der relevante
Bezugspunkt, gegen den die Äußerungen, Auffassungen und Handlungen von Erzählern
im Rahmen von Unzuverlässigkeitszuschreibungen abgeglichen werden, letztlich das Wer-
tesystem individueller Leser ist.23 Folgt man dieser Theorie, dann kann tatsächlich keiner
der beiden Deutungen auf Basis intersubjektiver Argumente der Vorzug gegeben werden.
Stattdessen tendierten Leser grundsätzlich dazu, die eigene moralische Auffassung in das
Werk ‚hineinzulesen‘. Das hieße in diesem Fall: Wer Brocks Verhalten selbst kritisch sieht,
wird finden, dass es auch durch das Werk kritisiert wird. Wer dagegen mit Brock sympa-
thisiert, wird diese Tendenzen auch durch Zornfried umgesetzt sehen.

23 Vgl. bspw. Yacobi (1981), Nünning (1998).

Peter Lang                                                   Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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    Es gibt allerdings zahlreiche Gründe, die gegen eine kognitivistische Definition unzu-
verlässigen Erzählens sprechen. Den wohl wichtigsten Kritikpunkt stellt die grundsätzliche
Unklarheit dieser Position dar: Kognitivistische Unzuverlässigkeitstheorien oszillieren
zwischen einem radikalen Relativismus bei der Literaturinterpretation, dem Vorschlag, das
Konzept für die Beschreibung von Interpretationsstrategien anstatt von Textmerkmalen
zu nutzen, und der gewagten These, individuelle Auslegungen literarischer Werke würden
automatisch valide Textbedeutungen generieren.24 Keine dieser drei Varianten vermag
argumentativ zu überzeugen. Es ist deswegen sinnvoll zu prüfen, ob sich möglicherweise
andere Optionen finden lassen, um die relevanten Komponenten der durch Zornfried zum
Ausdruck kommenden ‚Botschaft‘ zu identifizieren.
    Einem alternativen Vorschlag im Rahmen der Theorie unzuverlässigen Erzählens zufolge
sind die kommunikativen Absichten des Autors das relevante Bezugssystem, das im Rahmen
von Unzuverlässigkeitsdiagnosen herangezogen werden muss, um die in Frage stehenden
Elemente der Werkbedeutung bzw. Botschaft des Werks zu ermitteln.25 Solche intentionalis-
tischen Theorien gehen auf die linguistische Pragmatik zurück und werden in der Literatur-
wissenschaft spätestens seit dem proklamierten Tod des Autors bis heute teilweise äußerst
skeptisch aufgenommen. Unabhängig von der grundsätzlichen Frage, ob die Absichten des
Autors überhaupt als relevant im Zusammenhang mit literaturwissenschaftlich interes­
santen Bedeutungsaspekten gelten können, vermag keine Variante des Intentionalismus
in allen Facetten zu überzeugen. Während die Position des starken Intentionalismus (d. h.
die Auffassung, dass Autorintentionen allein und unabhängig vom sprachlichen Material
eines Textes dessen Bedeutung generieren) zwar geradlinig ist und die Angabe recht klarer
Regeln für die Interpretation ermöglicht, wird sie in der Literaturwissenschaft mehrheitlich
als unplausibel wahrgenommen. Abgeschwächte Ansätze des hypothetischen Intentiona-
lismus, denen es um die Rekonstruktion der hypothetischen Intentionen geht, die einem
Autor auf der Basis relevanter Informationen zugeschrieben werden können, vermeiden
zwar die kontraintuitiven Implikationen des starken Intentionalismus, aber die Metho-
den der Generierung und Überprüfung von Interpretationshypothesen bleiben unklar.26
Unbedenklich scheint mir dagegen der Ansatz zu sein, die kommunikativen Absichten von
Autoren lediglich als Heuristik zur Feststellung der Werkbedeutung heranzuziehen. Gibt
es möglicherweise Stellungnahmen Jörg-Uwe Albigs zu seinem Roman Zornfried, die uns
bei der Beantwortung der Frage helfen, ob Erzähler Brock (bzw. dessen Äußerungen, Auf-
fassungen oder Handlungen) in Diskrepanz zu den Werten des Werks steht?
    Eine Analyse von Albigs Aussagen zum Buch lässt allerdings nicht ohne Weiteres eine
eindeutige Einschätzung zu. In einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur 27 spricht Albig
im Zusammenhang mit problematischem journalistischen Vorgehen nur die Figur Jenny
Zerwien an, die er bezeichnet als „Frau, die sich tatsächlich so ein bisschen reinlaviert in

24   Vgl. z. B. Jacke (2020, 135–146).
25   Vgl. Martínez, Scheffel (1999), Kindt (2008).
26   Zu weiteren Problemen vgl. Stecker (2006).
27   Vgl. das Interview des Deutschlandfunk Kultur mit Albig, , zuletzt: 13.5.2020.
     Im Folgenden unter der Sigle DK im Fließtext nachgewiesen.

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Janina Jacke: Funktionale Aspekte bei der Definition und Diagnose unzuverlässigen Erzählens | 117

diese Szene, um die noch bessere Geschichte zu schaffen, und die natürlich ihr eigenes
Verhalten auch ein bisschen rechtfertigen will dadurch“ (DK ) – Brocks Verhalten wird
nicht als problematisch thematisiert. Gegenüber dem Klett-Cotta Verlag28 nennt Albig
Brock einen „Mensch[en] wie Sie und ich“ – er sei „ein liberaler, aufgeklärter Mensch des
21. Jahrhunderts“. Zugleich macht Albig aber auch deutlich, dass er es grundsätzlich kritisch
sieht, wenn rechtsextremen Bewegungen mediale Aufmerksamkeit zukommt („es ist sich
viel zu viel beschäftigt worden mit den Rechten“, DK ). Die Idee zu Zornfried sei ihm schon
1988 gekommen, als Holocaustleugner Jean-Marie Le Pen in Frankreich überraschend
sehr gute Wahlergebnisse erreichte – was Albig auf die bloße Quantität bzw. Frequenz der
medialen Berichterstattung über Le Pen zurückführt (vgl. KC). Beide Äußerungen spre-
chen also dagegen, dass Albig die mediale Berichterstattung über die Rechten überhaupt
als potenziell sinnvoll betrachtet. Darüber hinaus diagnostiziert Albig bei Brock Angstlust,
Schauerfaszination und banales Konkurrenzdenken (vgl. KC) und macht zudem deutlich,
dass er dessen These nicht teilt, „nichts mach[e] so zuverlässig immun wie eine schwach
dosierte Portion des Erregers, der die Krankheit auslöst“ (Zf 37), die Brock als weitere
Rechtfertigung anführt, die Einladung auf Burg Zornfried anzunehmen.
   Trotz der Uneindeutigkeit der Aussagen sieht Albig Brocks (journalistische) Auffassungen
und Handlungen also letztlich wohl doch kritisch – was darauf schließen lässt, dass er dies
auch mit Zornfried kommunizieren möchte. Aber gelingt es Albig, diese kommunikative
Absicht umzusetzen? Dies ist fraglich, insbesondere wenn wir den Roman Zornfried einmal
an seinen eigenen hypothetischen Maßstäben messen. Sollte es Teil der Botschaft Zornfrieds
sein, dass jede – auch kritische – öffentliche Aufmerksamkeit, die rechtsorientierten Strö-
mungen zuteilwird, schädlich ist, dann müssen die potenziellen Auswirkungen des Romans
selbst ähnlich kritisch beurteilt werden wie die möglichen Effekte einer Homestory über
Funktionäre der Neuen Rechten. Auch wenn Albigs Roman nicht in direkter Weise realen
Persönlichkeiten der rechten Szene eine Plattform bietet, verhilft er doch den fraglichen
Strömungen zu Aufmerksamkeit: Wer vor Zornfried noch nicht von Götz Kubitschek
gehört hatte, wird sich spätestens nach der Lektüre des Romans (bzw. von Rezensionen
oder Interviews zum Roman) über ihn informieren. Es ist sogar denkbar, dass Albig mit
Storm Linnés Lyrik Gedichte geschaffen hat, die in der völkisch-rechten Szene Anklang
finden könnten (vgl. auch die Anmerkung Scholls in KC). Sollten Brock „Angstlust“ und
„Schauerfaszination“ vorzuwerfen sein, so müsste auch Albig selbst in der Kritik stehen,
wenn ihm das Verfassen der rechten Gedichte Linnés „einen perversen Spaß“ bereitet hat,
wie er selbst in einem Interview einräumt.29 Vor dem Hintergrund, dass die potenziell
verwerflichen Facetten hinsichtlich Brock und dessen geplanter Homestory in gewisser
Weise durch Albig und Zornfried gespiegelt werden, erscheint es eher unplausibel, dass
zur Botschaft Zornfrieds eine generelle Kritik an Akteuren gehört, die zwar vernünftige
politische Einstellungen haben, den Rechten aber – aus gemischten Motiven – letztlich zu
vermehrter Aufmerksamkeit verhelfen.

28 Vgl. das Interview des Klett-Cotta Verlags mit Albig, , zuletzt: 13.5.2020. Im Folgenden unter der Sigle KC im Fließtext nachgewiesen.
29 Vgl. das Interview der Jungle World mit Albig, , zuletzt: 13.5.2020.

Peter Lang                                                               Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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