Unzuverlässiges Erzählen in der Heterodiegese in Daniel Kehlmanns historischem Roman "Tyll"

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Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXXI (2021), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 69–85

Swen Schulte Eickholt, Andreas Schwengel

Unzuverlässiges Erzählen in der Heterodiegese in Daniel Kehlmanns
historischem Roman „Tyll“

Einleitung. Unzuverlässigkeit ist traditionell in der Homodiegese, die den Erzähler als
Teil der erzählten Welt ausweist, verortet worden. Erst jüngste Forschungsarbeiten setzen
sich mit der Möglichkeit von unzuverlässigem Erzählen in der Heterodiegese auseinander.
Das ist nicht primär durch einen geänderten Blick auf die Texte bedingt: Das Verständ-
nis von unzuverlässigem Erzählen hat sich weiter ausdifferenziert. Zielte das Konzept von
Booth darauf ab, die Intentionen des impliziten Autors1 von den Normen des Erzählers
abzugrenzen und damit die Textintention herausarbeiten zu können,2 widmet die For-
schung sich mittlerweile ganz unterschiedlichen Formen von Unzuverlässigkeit. Dadurch
wurden Typen erarbeitet, die auch in der Heterodiegese möglich sind. Deutlich wurde
dabei, dass unzuverlässiges Erzählen nicht isoliert von den gattungsspezifischen Implika-
tionen betrachtet werden sollte. Denn wäre unzuverlässiges Erzählen z. B. im klassischen
historischen Roman eine problematische Strategie, so ist dieses Verfahren für die postmo-
derne Spielart der Gattung geradezu prädestiniert, um die Inkonsistenz der Wirklichkeit
abzubilden.
   Aber ab wann lässt sich in der Heterodiegese überhaupt von Unzuverlässigkeit sprechen?
Gehen wir diesem Problem einführend an einem Beispiel nach. In Daniel Kehlmanns
Roman Tyll 3 wird ein Ereignis repetitiv aus verschiedenen Perspektiven erzählt (grundsätz-
lich eine narrative Strategie, Unzuverlässigkeit zu gestalten). Die Winterkönigin Elizabeth
erinnert sich an ihre Hochzeitsnacht:

       Und als sie ihm [ihrem Gatten Friedrich, die Verf.] übers tränennasse Gesicht strich, fiel ihr selt-
       samerweise ihre Hochzeitsnacht ein. […]. [A]ls er sie plötzlich packte, dachte sie, er wäre verrückt
       geworden, und […] schüttelte sie ihn ab und sagte: ‚Lass den Unsinn!‘ Er versuchte es wieder,
       und sie stieß ihn so heftig weg, dass er gegen die Anrichte taumelte: Eine Karaffe zerbrach, und
       Zeit ihres Lebens erinnerte sie sich an die Pfütze auf den steinernen Intarsien, auf der drei Rosen-
       blätter schwammen wie kleine Schiffchen. Es waren drei gewesen, das wusste sie noch genau.
       Er richtete sich auf und versuchte es wieder.
       Und da sie gemerkt hatte, dass sie stärker war, rief sie nicht um Hilfe, sondern hielt nur sein
       Handgelenk fest […]. ‚Lass es‘, sagte sie.
       Er begann zu weinen. […] Er fasste sich ein letztes Mal und griff an ihre Brust. Sie gab ihm eine
       Ohrfeige, fast erleichtert ließ er ab. (T 255)

1   Schmid hat darauf hingewiesen, dass es richtiger implizierter Autor heißen müsste. Obwohl impliziter Autor die
    verbreitetere Form ist, wird im Folgenden Schmids Vorschlag aufgegriffen und vom abstrakten Autor gesprochen;
    vgl. Schmid (2014, 47–64).
2   Vgl. Booth (1983).
3   Kehlmann (2017). Im Folgenden werden Zitate aus dieser Ausgabe im Fließtext unter Angabe der Sigle T und
    Seitenzahl nachgewiesen.

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Etwas später wird das Ereignis aus der Perspektive ihres Mannes erinnert:

        Wie schüchtern sie gewesen war, wie furchtsam. Sie hatte sich die Hände vor das Mieder gehal-
        ten, das er eben aufschnüren wollte, aber dann hatte sie aufgeblickt und er hatte ihr Gesicht im
        Kerzenschein gesehen, zum ersten Mal aus der Nähe, und da hatte er geahnt, wie es ist, wirklich
        eins zu sein mit einem anderen; aber als er die Arme ausgebreitet hatte, um sie an sich zu ziehen,
        war er gegen die Karaffe mit Rosenwasser auf dem Nachttisch gestoßen, und das Klirren der
        Scherben hatte den Bann gebrochen: Die Pfütze auf dem Ebenholzparkett, er sah sie noch vor
        sich, und darauf treibend, wie kleine Schiffchen, die Rosenblätter. Es waren fünf gewesen. Das
        wusste er noch genau.
        Dann hatte sie zu weinen begonnen […] und so hatte er von ihr abgelassen, denn obgleich ein
        König stark sein musste, war er vor allem stets sanftmütig gewesen […]. (T 289)

Die Unterschiede sind deutlich genug. Nicht nur, dass die Bewertung der eigenen Rolle
völlig unterschiedlich ist, es besteht auch Uneinigkeit über die Art des Fußbodens und die
Anzahl der Rosenblätter, die in der entstandenen Pfütze schwimmen. Nach Krah ist ein
wiederholt erzähltes Ereignis grundsätzlich als markiert zu betrachten,4 also unabhängig
von seinem Inhalt vom Text als wichtiges Element gesetzt. Was ist nun aber wichtig an
dieser Szene? Warum markieren beide Figuren ihre genaue Erinnerung an die Anzahl der
Rosenblätter und verwenden dieselbe Metapher der Schiffchen? Oder sind es gar nicht die
Figuren, die hier sprechen? Die Passagen sind heterodiegetisch erzählt, aber der Erzähler tritt
nicht hervor, er zieht sich völlig hinter seine Figuren zurück. In anderen Kapiteln werden
Einschätzungen der Figuren dafür explizit korrigiert. Warum wird hier darauf verzichtet,
die wirklichen Geschehnisse aufzuklären? Und gibt es diese Wirklichkeit überhaupt? Dass
Figuren sich ungenau erinnern, ist noch keine Unzuverlässigkeit; dass ein Erzähler die Dif-
ferenz von Ereignissen aber betont und dann eine Auflösung verweigert, schon eher. Nur
haben wir in Kehlmanns Tyll eindeutig mehrere Erzähler. Jeder dieser Erzähler inszeniert
sein eigenes Spiel mit Unzuverlässigkeit.
   Im Folgenden soll in einem ersten Schritt grundsätzlich über die Möglichkeiten un-
zuverlässigen Erzählens in der Heterodiegese nachgedacht werden (I.). Dann werden die
Formen und Funktionen unzuverlässigen Erzählens in Tyll in den Blick genommen (II.),
um zu reflektieren, wie sich die Figur des Narren Tyll Ulenspiegel begreifen lässt (III.) und
welche Rückkopplungseffekte sich aus den Gattungsnormen des historischen Romans auf
die unzuverlässige Erzählhaltung ergeben – und umgekehrt (IV.).

I. Unzuverlässigkeit und Heterodiegese. „For lack of better terms, I have called a narrator
reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to
say, the implied author’s norms), unreliable when he does not.“5 Seit diesem vielzitierten
Diktum Booths aus dem Jahre 1961 haben die narratologischen Diskussionen um un-
zuverlässige Erzähler einen weiten Weg zurückgelegt. Die kaum zu greifende, abstrakte
Kategorie des implied author, die nach Booth mit der breiten Leserschaft ein normatives
Wertesystem teilt, suggerierte, dass ein von diesem Wertesystem abweichender Erzähler

4   Vgl. Krah (2006).
5   Booth (1983, 158 f.).

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als unzuverlässig entlarvt zum „butt of the ironic point“ 6 werde und sich Leser und implied
author hinter dem Rücken des Erzählers über dessen Fehlbarkeit amüsierten.
   Solche frühen Ansätze sind beschränkt auf Diskussionen über moralische Werte und
Normen, die in Booths Argumentation noch dazu eher schwammig bleiben. Unzuver-
lässigkeit wird hier also definiert auf der Grundlage einer Diskrepanz zwischen dem, was
ein Werk als moralisch normativ voraussetzt, und dem, was ein Erzähler sagt oder wie er
in Relation zu diesen Normen handelt. Diese Definition setzt voraus, dass der Erzähler,
der diesen Normbruch begeht, eine personalisierte Figur innerhalb der Handlung, also
ein homodiegetischer Erzähler in Genettes Terminologie, ist. Die Narratologie schien sich
daher lange einig: „Only first-person narrators can be properly unreliable.“7
   Wie verhält es sich aber mit narrativer Unzuverlässigkeit bei Erzählinstanzen, die
heterodiegetisch und – ontologisch gesprochen – konturlos, nicht-personalisiert sind? Wenn
ihnen keine Normen oder Werte attestiert werden können, gelten sie dann automatisch
als zuverlässig? Dies kann wohl kaum der Fall sein. Der Intersektion von Unzuverlässig-
keit und Heterodiegese hat sich die Erzähltheorie in den letzten Jahren mehr und mehr
angenommen. „It has long been insisted that there is no actual heterodiegetic unreliability,
since heterodiegetic narrators first stipulate the fictive world through their speech and hence
are omniscient“, bilanziert Lang.8 Die Annahme, dass von der erzählten Welt ontologisch
getrennte Erzählinstanzen omniscient, also allwissend seien, ist insofern problematisch, als
die ontologische Beziehung zwischen Erzähler und erzählter Welt nicht zwingend etwas
über den eigentlichen Wissensschatz der Erzählinstanz aussagt. Wie könnte sich diese All-
wissenheit äußern? Schließlich sind literarische Texte (im Normalfall) linear erzählt, sie
entfalten sich nach und nach, vom Linksoben der Buchseite zum Rechtsunten, wieder und
wieder, bis ein fiktionaler Kosmos vermeintlich auserzählt ist. Was ist hier aber das Alles,
das der allwissende Erzähler kennt, was ist mit potenziell verschwiegenen Informationen,
was mit widersprüchlichen Äußerungen, die sich durch die gegebenen Informationen nicht
auflösen lassen?
   Lang zufolge muss aufgrund von Unklarheiten in Genettes Konzeption zunächst ex-
pliziert werden, was die Heterodiegese überhaupt bedeutet und was nicht:

       Mit dem Begriff der ‚Heterodiegese‘ ist noch nichts darüber ausgesagt, ob der Bericht auf einen
       bestimmten Wahrnehmungs- oder Erlebnisinhalt beschränkt ist (Fokalisierung) oder ob der
       Erzähler sich wertend gegenüber dem Erzählten verhält oder nicht (Erzählverhalten/Auktoriali-
       tät). Man sollte annehmen, dies sei allgemeiner Konsens, da die Ausarbeitung dieser Trennung ja
       gerade das Ziel der Genetteschen Theorie ist.9

In der Verwendung würden Nullfokalisierung und Heterodiegese oder wertendes Erzähl-
verhalten und Heterodiegese oft verschmelzen, obwohl doch die Trennung von Erzähl-
stimme und Perspektivierung von Genette intendiert war. Die Begriffe „Allwissenheit“
und „Auktorialität“ seien häufig fälschlicherweise auf die Heterodiegese projiziert worden,

6 Booth (1983, 304).
7 Fludernik (2002, 159).
8 Lang (2018, 55).
9 Lang (2018, 59).

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schließlich sei der heterodiegetische Erzähler laut Lang „prototypisch allwissend und
auktorial – aber nicht unbedingt.“10
  Janina Jacke knüpft in ihrem Aufsatz in derselben Ausgabe des Journal of Literary Theory
wie Lang an diese Definition an und trennt die Heterodiegese von Kriterien, die von der
Forschung meist automatisch mit ihr in Verbindung gebracht wurden. Diese Kriterien
umfassen:

      – die Geschaffenheit der Erzählinstanz (personal vs. non-personal),
      – den Wissensschatz der Erzählinstanz (beschränkt vs. allwissend) und
      – das Wesen der Äußerungen der Erzählinstanz in Relation zu den Fakten der erzählten Welt11

Jacke zufolge hat die Forschung Homo- bzw. Heterodiegese weitestgehend als package deals,
als ganzheitliche Systeme gedacht; ein homodiegetischer Erzähler müsse personal und mit
beschränktem Wissen verstanden werden, während der heterodiegetische Erzähler (fast)
immer non-personal und allwissend sei.12 Die Trennung dieser bipolaren Oppositionen er-
laubt nach Jacke eine Neu-Evaluierung des Erzählaktes, die unzuverlässiges Erzählverhalten
nicht an Hetero- oder Homodiegese knüpft, sondern den Ursprung der Unzuverlässig-
keit auf jeweils eines der drei anderen Begriffspaare zurückführen lässt. Ob erzählerische
Unzuverlässigkeit möglich ist oder nicht, ist also nicht per se abhängig von Homo- oder
Heterodiegese, sondern von komplexeren Erzählstrukturen, die über den ontologischen
Status der Erzählinstanz hinausgehen.13
   Eine Frage, die wir uns in der Heterodiegese zwangsweise stellen müssen, ist die der
Fokalisierung. Besonders interessant wird es, wenn die Erzählstimme nicht figural ist und
die perspektivischen Zügel der Erzählung ihren Fokalfiguren überlässt.14 Dies kann aber
nicht nur zu Unzuverlässigkeit führen, wenn intern fokalisiert wird und die Erzählung
an eine Perspektive gekoppelt ist. In den Worten Stanzels wäre dann die Reflektorfigur,
durch die wir die erzählte Welt wahrnehmen, unzuverlässig. Wie verhält es sich jedoch mit
solchen Erzählern, die nullfokalisieren, also mehr als einen Charakter der erzählten Welt als
Fokalfigur perspektivieren und traditionell in die Nähe der Allwissenheit gerückt werden?
Wie bewerten wir Erzähler, wenn sie durch ihre Multiperspektivität wahrnehmungs- oder
erinnerungsbedingte Widersprüche auf Handlungsebene entstehen lassen, ohne diese
durch ihre potenzielle Allwissenheit aufzuklären?15 Ist in diesem Fall die Erzählinstanz
unzuverlässig, weil sie den Widerspruch nicht auflöst? Oder sind die Fokalfiguren unzu-
verlässig, weil sie ähnlich wie beim Problem der Homodiegese an individuelle beschränkte
Wissens- und Erfahrungsschätze gebunden sind (wie im einleitend zitierten Beispiel)? Lang
führt aus: „Wenn also ein Erzähltext aus der internen Fokalisierung heraus berichtet, ist

10 Lang (2018, 59).
11 Vgl. Jacke (2018, 10–21).
12 Vgl. Jacke (2018, 13).
13 Vgl. Jacke (2018, 22).
14 Mit Wolf Schmid wollen wir in diesem Fall von figuraler Perspektive sprechen. Vgl. vertiefend Schmid (2014,
   132–141). Genettes Kategorie der Heterodiegese ist in solchen Fällen irreführend.
15 Am treffendsten erscheint uns hier die von Lahn und Meister vorgeschlagene Bezeichnung ‚mimetische Unzu-
   verlässigkeit‘; vgl. Lahn, Meister (2016, 189 f.).

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die Norm, an der die Vollständigkeit gemessen werden kann, der Wahrnehmungshorizont
derjenigen Figur, deren Perspektive die Erzählung vermittelt.“16 Was der heterodiegetische
Erzähler weiß, ist zunächst irrelevant, weil die erzählte Welt an Wahrnehmung und Wissen
des limitierten Fokalisators gekoppelt ist.
   Dem Fokalisator mögen hier vielleicht aufklärende Informationen fehlen, aber sollte der
Erzähler – insbesondere, wenn er den Anschein der Allwissenheit erweckt – an dieser Stelle
nicht aufklären? Hier knüpft Matthias Löwe an: „Von Unzuverlässigkeit kann man meines
Erachtens sinnvoll erst dann sprechen, wenn sich zeigen lässt, dass es zu den Intentionen
oder den Sinnmodellen eines Textes gehört, den Blick des Lesers explizit auch auf den Er-
zähler und auf dessen Widersprüche zu lenken.“17 Löwe begreift unzuverlässiges Erzählen
als Kompositionsstrategie des Textes. Der Erzähler fungiert beim unzuverlässigen Erzählen
in der Heterodiegese also nicht als Korrektiv, sondern die Unzuverlässigkeit ist in diesem
Fall poetologische Programmatik, und der Leser wird aufgefordert, in Anlehnung an Wolf
Schmid das „Dargestelltsein des Erzählers“ als Figur oder Wertungsinstanz zur Kenntnis
zu nehmen.18 Diese Funktion des Erzählers lässt sich nach Löwe bei heterodiegetischen
Erzählern „mit gering ausgeprägter Personalität extrem schwierig“ nachweisen.19
   Mit Blick auf Kehlmanns Tyll muss aber konstatiert werden, dass dem nicht immer so
ist. Bei den oben zitierten Beispielen der Wahrnehmung der Hochzeitsnacht durch die
Figuren Friedrich und Elizabeth ist es alles andere als extrem schwierig, die Unzuverlässig-
keit des nicht-figuralen Erzählers festzustellen, weil sie an klar zu benennenden Fakten
festzumachen ist. Dabei ist für das Verständnis der Handlung irrelevant, welche dieser
Details nun stimmen. Vielmehr machen die Diskrepanzen auf eine Sinndimension des
Textes aufmerksam, die sich in der Unzuverlässigkeit des heterodiegetischen Erzählers
manifestiert. Löwes Beobachtung muss insofern ergänzt werden, als eine axiologische Un-
zuverlässigkeit20 bei einem nicht-figural gestalteten Erzähler auszuschließen ist. Nun weist
allerdings das Schmid-Zitat, das Löwe anführt, auf eine ganz andere Textinstanz. So heißt
es bei Schmid vollständig: „Die Präsenz des abstrakten Autors im Kommunikationsmodell
verdeutlicht das Dargestelltsein des Erzählers, seines Textes und der in ihm ausgedrückten
Bedeutung.“21 Für Tyll ist das insofern relevant, als die polyphone Anlage des Romans sich
insbesondere im Einsatz verschiedener Erzähler spiegelt. Wer anders legt die Redeanteile
der Erzähler fest als der abstrakte Autor? Es ist folglich im Grunde nicht zu entscheiden,
ob es eine Kompositionsstrategie des Textes ist, die auf den abstrakten Autor verweist, oder
eine Entscheidung der jeweiligen Erzähler, die ihre Rede komponieren, wenn entscheidende
Tatsachen der erzählten Welt nicht berichtet werden. Für Tyll lässt sich konstatieren, dass

16 Lang (2018, 67).
17 Löwe (2018, 88).
18 Vgl. Löwe (2018, 89).
19 Löwe (2018, 89).
20 Die verschiedenen Typen von unzuverlässigem Erzählen können hier nicht besprochen werden. Forschungs-
   konsens in dieser Hinsicht ist noch nicht erzielt, einen guten Eindruck über die Positionen gewinnt man bei
   Lahn, Meister (2016, 189–194) und Köppe, Kindt (2014, 236–256). Axiologische Unzuverlässigkeit hier nach
   Köppe, Kindt (2014, 250–253).
21 Schmid (2014, 63). Schmids Kommunikationsmodell ebd., 46. Relevant für die Darstellung ist dabei nur, dass
   der abstrakte Autor selbst nicht Teil des fiktiven Kosmos ist.

Peter Lang                                                         Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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der Roman durch alle Erzählinstanzen mit Unzuverlässigkeit spielt und teilweise erst der
markierte Unterschied zwischen den Erzählinstanzen auf die Unzuverlässigkeit besonders
hinweist, die als Kompositionsprinzip des abstrakten Autors erscheint und damit Teil der
Textintention ist.

II. „Tyll“ als Spiel mit unzuverlässigem Erzählen. Wie gerade festgehalten, bestehen die
Schwierigkeiten mit dem unzuverlässigen Erzählen in der Heterodiegese bei nicht figural
ausgestaltetem Erzähler auch darin, dass die epistemologischen Möglichkeiten des Er-
zählers unklar sind. Das ist für Leser von Tyll ein Problem, da die Textintention oftmals
schwer zu erschließen ist und die Rezipienten immer neue und eigene Zugänge finden
können, ohne dass der Text selber eine Auslegung zu präferieren und präfigurieren scheint.
Hinzu kommt oftmals eine gar ontologisch zu nennende Unsicherheit über den Status
der Erzähler. Die vorherige Auseinandersetzung hat schon ergeben, dass Genettes Eintei-
lungen nicht aussagekräftig genug sind, denn wo genau liegt die Grenze zwischen Null-
fokalisierung und interner Fokalisierung, wenn immer wieder die Perspektive einzelner
Figuren übernommen wird? Schmids Modell der Textinterferenz ist hier differenzierter.
Im Folgenden sollen fünf Strategien unzuverlässigen Erzählens in Tyll untersucht werden.
Es ist dabei einschränkend darauf hinzuweisen, dass unzuverlässiges Erzählen bei Daniel
Kehlmann grundsätzlich dazu dient, die Konsistenz der (fiktiven) Wirklichkeit aufzu-
lösen – dazu bedient er sich immer wieder fantastischer Elemente, die strukturell aus der
Erzählweise des magischen Realismus entlehnt sind.22 Das Wunderbare nicht zu erklären
und logische Verständnislücken nicht zu schließen, ist dabei die grundsätzliche Vorge-
hensweise, für die noch zu klären wäre, ob eine grundsätzliche Affinität zum mimetisch
unzuverlässigen Erzählen vorliegt. Sollte diese Form fantastischen Schreibens ausgenom-
men werden, da nicht Unzuverlässigkeit Teil der Textintention ist, sondern das Erzeugen
einer inkonsistenten Wirklichkeit? Mit diesen offen bleibenden Fragen im Hintergrund
lassen sich folgende Formen der Unzuverlässigkeit aufzeigen, die vom abstrakten Autor
besonders markiert werden.

A. Kollektive Erzähler mit unklarem ontologischem Status. Die polyphone Struktur von
Kehlmanns Roman ist ein zentrales Gestaltungscharakteristikum. Auch wenn überwie-
gend heterodiegetisch erzählt wird, differiert die Distanz zu den Figuren stark. Im Kapitel
Könige im Winter dominiert die figurale Einstellung gar so sehr, dass bis auf die Personal-
form fast homodiegetisches Erzählen vorliegt; das ganze Kapitel könnte als lange erlebte
Rede gesehen werden, womit die Mehrstimmigkeit auch narratologisch verwirklicht ist,
da Figuren- und Erzählerrede sich in der erlebten Rede kaum trennen lassen und es stets
undeutlich bleibt, wie groß der Anteil der Erzählerrede am Erzählten ist.23 Eröffnet wird
der Roman durch ein homodiegetisches Erzählerkollektiv: „Bisher war der Krieg nicht
zu uns gekommen.“ (T 7)24 Beschlossen wird das Kapitel allerdings durch die Offenba-
rung, dass das Erzähler-Kollektiv keinesfalls aus den Dorfbewohnern besteht, sondern aus

22 Vgl. Kehlmann (2012).
23 Weiterhin auffällig ist der Wechsel der Zeitformen (s. u.).
24 Ein Beginn, der in mehreren Hinsichten interessant ist, da er die kollektive Bedeutsamkeit von Geschichte
   unterstreicht und mit dem Krieg direkt in den historischen Kontext springt.

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ihren Geistern, denn sie sind wenige der zahllosen anonymen Opfer des Dreißigjährigen
Krieges:25

       Wir aber erinnern uns, auch wenn keiner sich an uns erinnert, denn wir haben uns noch nicht
       damit abgefunden, nicht zu sein. Der Tod ist immer noch neu für uns, und die Dinge der Lebenden
       sind uns nicht gleichgültig. Denn es ist alles nicht lang her. (T 29)

Da es sich hier um einen transzendenten Zustand handelt, ist über die epistemologischen
Möglichkeiten und den ontologischen Zustand der Geister nicht viel zu sagen. Die Zu-
verlässigkeit des Erzählten erscheint dadurch grundsätzlich in Frage gestellt. Ebenso lässt
sich die Einschätzung, alles sei noch nicht lange her, kaum bewerten, da das Zeitmaß nach
dem Tod ein anderes sein kann.26 So wird gleich zu Beginn eine Größe eingeführt, die den
Bereich des empirisch Überprüfbaren überschreitet. Diese transzendente Instanz soll dann
Garant für die Zuverlässigkeit der Erzählung sein.

B. Unklarer ontologischer Zustand der textual actual world [TAW]. Was die Rezeption
fiktionaler Welten angeht, unterstellen wir mit Surkamp: „Leser [nutzen] ihr Wissen
über die tatsächliche Welt […], um die Unbestimmtheiten innerhalb der von fiktionalen
Texten entworfenen Wirklichkeiten aufzulösen.“27 Entsprechend konstruiert der Leser die
TAW in Analogie zu seinem eigenen Weltwissen, solange der Text keinen Anlass gibt,
der fiktionalen Welt andere Gesetzmäßigkeiten zuzuweisen. Für den historischen Roman
ist dieses Verhältnis insofern brisant, als das Weltwissen der Menschen aus vergangenen
Epochen zumeist signifikant von den Vorstellungen heutiger Leser abweicht. Dem he-
terodiegetischen Erzähler wird intuitiv das Weltwissen des Autors unterstellt. Für Tyll
heißt das konkret: Ein Erzähler mit dem Weltwissen des 21. Jahrhunderts erzählt eine
Geschichte aus der Vergangenheit.
   Im Kapitel Die große Kunst von Licht und Schatten folgen wir Athanasius Kircher auf
der Suche nach einem Drachen im Holsteinischen, einer Region, die sich dadurch für die
Suche qualifiziere, dass dort nie ein Drache gesichtet worden sei. Denn das hervorragendste
Merkmal eines Drachen sei es, unauffindbar zu sein (vgl. T 352), womit die Suche an sich
schon fragwürdig wird. Gerade durch die ironische Schilderung des arroganten und recht
blasierten Kircher wird der Leser – mit Rückgriff auf sein Weltwissen – animiert, über
diese Schlussfolgerung zu lachen; besonders, da Kircher das baldige Ende der Welt prophe-
zeit: „In sechsundsiebzig Jahren endet das eiserne Zeitalter, Feuer kommt über die Welt,
und unser Herr kehrt in Glorie zurück. Man braucht kein großer Sternenkenner zu sein,
um das vorauszusehen.“ (T 359)28 Umso irritierender ist die lakonische und nicht weiter
erläuterte Feststellung des Erzählers, die das Kapitel beschließt und Kircher, zumindest

25 Daher die Betonung der Erinnerung. Von einer Korrektur des kollektiven Gedächtnisses ließe sich hier insofern
   sprechen, als die Fiktion die Lizenz und Möglichkeit hat, eine Geschichte von unten zu imaginieren.
26 Bei dem später vorgestellten Bericht des Grafen von Wolkenstein (s. C) wird dagegen explizit die große zeitliche
   Distanz betont – das Verhältnis zur Zeit ist durch diesen Kontrast als subjektiv markiert.
27 Surkamp (2002, 163). Unsere Bezeichnung der fiktionalen Welt als textual actual world [TAW] lehnt sich an
   die possible world theory an.
28 Hier wie an vielen anderen Stellen spielt Kehlmann ironisch auf die Tätigkeit des Historiographen an, indem
   Kircher die zukünftige Geschichte prophezeit.

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was die Drachen angeht, Recht gibt: „Im selben Jahr starb in der Holsteinischen Ebene
der letzte Drache des Nordens. Er war siebzehntausend Jahre alt, und er war es müde sich
zu verstecken. […] [W]as mit einem wie ihm nach dem Tod geschehen würde, wusste er
noch immer nicht.“ (T 392 f.) Damit werden die Theorien des Lesers über die TAW aller
Voraussicht nach widerlegt und deren ontologischer Status bleibt ungewiss. Auffällig ist
hier auch, dass der Erzähler eine Allwissenheit beansprucht, die über menschliches Maß
hinausgeht (nicht nur, dass er von dem Drachen weiß, er kennt auch seine Gedanken).
Während Kircher nach der Behauptung, sein jüngstes Buch beantworte die offenen Fragen,
auf die Nachfrage seines Kollegen, welche er denn meine, arrogant „Alle“ (T 351) antwortet,
bleiben dem Leser nach dem Kapitel mehr Fragen als Antworten über die Einrichtung der
TAW – und der Erzähler, der so genaues Wissen zu haben scheint, fühlt sich offenbar nicht
bemüßigt, hier oder anderswo aufzuklären.

C. Unzuverlässigkeit im intradiegetischen Bericht. Im Kapitel Zusmarshausen ist die hetero-
diegetische Erzählstimme durchaus in der Lage, als allwissendes Korrektiv zu fungieren.
Die Figur Graf Martin Wolkenstein versucht ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen
des Dreißigjährigen Krieges seine Erfahrungen und Treffen mit Tyll Ulenspiegel in einer
„Lebensbeschreibung“ (T 183) festzuhalten. Die von ihm gewählte Gattung ist grund-
sätzlich der historischen Wahrheit verpflichtet, schreibt er doch über wirklich geschehene
Erlebnisse. Sein intradiegetischer Bericht, den wir als Leser nie wörtlich zu Gesicht be-
kommen, sondern immer nur in durch die Erzählinstanz kommentierter Fassung, wird
im extradiegetischen Kommentar des Erzählers ins Lächerliche gezogen. Schon in der Fi-
gurenbeschreibung wird deutlich auf die Unzuverlässigkeit Wolkensteins hingewiesen: Es
liegt nicht nur ein halbes Jahrhundert zwischen dem Erzählgegenstand und Wolkensteins
Schreibakt, wir werden auch daran erinnert, dass der Schreiber „ein sehr alter Mann war,
geplagt von Gicht, Syphilis sowie der Quecksilbervergiftung, die ihm die Behandlung
der Syphilis eingetragen hatte“ (T 183). Gleich mehrfach macht der Erzähler darauf auf-
merksam, wie ungenau Wolkenstein arbeitet: „[…] genauso war es gewesen, nichts davon
hatte er erfunden, obwohl er gerne erfand, wenn seine Erinnerung Lücken hatte, und deren
gab es viele, denn all das war, als er davon schrieb, bereits ein Menschenalter her.“ (T 184 f.,
Hervorhebung der Verf.)
   Diese Kommentare des Erzählers häufen sich im Laufe von Wolkensteins Beschreibung,
der Erzähler korrigiert viele Details. Die Überschätzung der eigenen Erinnerung des Grafen
führt zu äußerst ironischen Momenten: „Er [der Abt] beugte sich vor, legte dem dicken
Grafen eine Hand auf die Schulter und fragte, ob er sich das auch alles merken könne.
‚Alles‘, sagte der dicke Graf.“ (T 205) Entgegen seiner Selbsteinschätzung vergisst der Graf
aber Passagen aus seinen Gesprächen mit Tyll (vgl. T 209), der eigentlich im Mittelpunkt
dieser Erzählung stehen soll. Die Erzählinstanz dient hier als Korrektiv und demaskiert
die Unzuverlässigkeit des intradiegetischen Schriftstellers.
   Das Entlarven dieser potentiellen Unzuverlässigkeit ist die poetologische Funktion der
Erzählstimme in Zusmarshausen. Wolkenstein, der faktischer Richtigkeit verpflichtet sein
sollte, nimmt es mit der Wahrheit nicht ganz so genau und wird von einem personal nicht
ausgestalteten Erzähler korrigiert und der Lüge bezichtigt. Das korrektivische Erzählen
wird aber auch zum intertextuellen Instrument, das die Ungenauigkeit anderer, ähnlicher

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Erzählungen benennt, so zum Beispiel in der Kriegsbeschreibung der Schlacht bei Zus-
marshausen, der letzten großen Schlacht des Dreißigjährigen Kriegs, in die Wolkenstein
mitsamt des berühmten Narrens im Schlepptau gerät:

       Als er später zu schildern versuchte, was sie gesehen hatten, musste der dicke Graf feststellen,
       dass er das nicht konnte. Es überstieg seine Fähigkeiten als Schriftsteller. Es überstieg auch seine
       Fähigkeiten als vernünftiger Mensch: Noch aus der Distanz eines halben Jahrhunderts sah er sich
       nicht imstande, es in Sätze zu fassen, die wirklich etwas bedeuteten. (T 216)

Wolkenstein ist nicht in der Lage, der Grausamkeit des Kriegs mit eigenen Worten gerecht
zu werden. Da es sich jedoch um „eine[n] der wichtigsten Momente seines Lebens“ (T 217)
handelt, erzählt er dennoch von dem Ereignis, indem er sich bei der Kriegsbeschreibung in
Grimmelshausens Simplicissimus bedient, wo die Schlacht von Wittstock beschrieben wird.

       Was der dicke Graf nicht wissen konnte, war aber, dass Grimmelshausen die Schlacht von Witt-
       stock zwar selbst erlebt, aber ebenfalls nicht hatte beschreiben können und stattdessen die Sätze
       eines von Martin Opitz übersetzten englischen Romans gestohlen hatte, dessen Autor nie im Leben
       bei einer Schlacht dabei gewesen war. (T 224)

Der aus der Not geborene Plagiarismus führt hier also zu Geschichtsverfälschung, die auf
einem leeren Signifikanten fußt. Wolkensteins Beschreibung ist gleich dreifach (Witt-
stock – Opitz’ Übersetzung – englisches Original) von seinem Ursprungspunkt verrückt,
der sich als leeres Zentrum entpuppt. So wird dieser ‚wichtigste Moment seines Lebens‘ zu
historiografischer Unehrlichkeit degradiert, die den Zuverlässigkeitskriterien der zugrunde
liegenden Gattung nicht genügen kann.

D. Ausbleiben auktorialer Führung. Im Eingangsbeispiel der Könige im Winter unterbleibt
die auktoriale Führung, da die Unterschiede in der Wahrnehmung nicht aufgelöst wer-
den. Im Kapitel Zusmarshausen findet sich durch die Positionierung des Erzählers ein
noch eindrucksvolleres Beispiel: Während der Erzähler seine Kompetenz, Widersprüche
im Bericht des Grafen aufzudecken, also kompetent über die TAW berichten zu können,
mehrfach explizit unter Beweis stellt, verweigert auch er an zentralen Szenen die Aufklä-
rung. Der Graf wird überhaupt erst auf die Reise geschickt, um Tyll Ulenspiegel ausfindig
zu machen. Als er ihn endlich gefunden hat, kann Karl von Doderer, der Tyll bereits
gesehen hat, dessen Identität nicht sicher bestätigen (vgl. T 210). Der Erzähler schweigt
dazu. Als später bei der Schlacht von Zusmarshausen – nun wesentlich stärker figural ein-
gestellt, aus der Perspektive des Grafen – Tyll tödlich getroffen zu Boden zu gehen scheint,
enthält der Erzähler sich wiederum jedes Kommentars, wie es möglich ist, dass er kurz
darauf wieder neben dem Grafen herläuft (vgl. T 222).

E. Präsenserzählungen. Ohme hat jüngst vorgeschlagen, wegen der „paradoxalen Ver-
mittlung“29 auf der temporalen Ebene den Präsensroman grundsätzlich als Fall einer

29 Ohme (2019, 106; vgl. ferner 109 f.). Ohme räumt ein, dass damit der ohnehin stark ausgeweitete Begriff
   zusätzlich verwässert wird und plädiert grundsätzlich gegen seine Verwendung, da er ihm mangelnde heuris-
   tische Brauchbarkeit attestiert.

Peter Lang                                                        Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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unzuverlässigen Erzählung zu betrachten. Im Tyll sind drei Kapitel (deren Protagonist Tyll
ist) im Präsens erzählt. Das ist eine beachtenswerte Differenz zu den übrigen Kapiteln und
steigert die paradoxale Vermittlung noch, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass es
sich um einen historischen Roman handelt, dem aus der Perspektive des Rezipienten nur
die Vergangenheitsform angemessen erscheint. Auch die mangelnde auktoriale Führung
wird damit sowohl legitimiert (da die Präsensform suggeriert, der Erzähler könne nicht
wissen, was als Nächstes geschieht) als auch hervorgehoben. Das Kapitel Im Schacht endet
damit, dass sich Tyll als Mineur in einem halb eingestürzten Schacht befindet und trotzig
ankündigt, er werde dort nicht sterben (vgl. T 425) – da er chronologisch später noch auf-
taucht, scheint das zu stimmen, nur dass auch hier nie erläutert wird, wie dies gelingen
konnte. Die erwartbare Frustration über die unterbliebene Aufklärung seiner Flucht wird
in einer metatextuellen Volte noch dadurch gesteigert, dass genau diese Enttäuschung
schon angekündigt wird, wenn der Erzähler aus dem Kapitel Zusmarshausen erläutert, der
Graf berichte in seinen Erinnerungen, wie Tyll ihm von dieser Verschüttung erzählt habe:

        […] tief drunten, kein Ausweg, keine Luft, doch dann die wundersame Rettung. Es sei eine un-
        glaubliche und wilde Geschichte gewesen, schrieb der Graf, und der Umstand, dass er danach
        abrupt das Thema wechselte und nicht darauf einging, wie die Wunderrettung unter Brünn
        denn eigentlich vonstattengegangen war, sollte später die Ratlosigkeit und Wut so mancher Leser
        wecken […]. (T 224 f.)

Weder der so gut informierte Erzähler dieses Kapitels noch die Erzählinstanz aus dem
stark figural erzählten Kapitel Im Schacht fühlen sich bemüßigt, hier aufzuklären. Dem
Präsenserzähler allerdings kann sehr wohl der abstrakte Autor das Rederecht entziehen, der
ohnehin in seiner Kompositionsstrategie darauf bedacht zu sein scheint, die Inkohärenzen
durch die Querverweise in den Texten noch zu steigern.
   Abgesehen von dem ungewissen ontologischen Status der TAW (insbesondere durch
den Einsatz fantastischer Elemente beim ansonsten sehr realistischen Erzählgestus)30 und
des Erzählerkollektivs im ersten Kapitel, Schuhe, ergibt sich hauptsächlich eine mimetische
Unzuverlässigkeit durch die Weigerung der heterodiegetischen Erzähler, widersprüchliche
Informationen aufzuklären oder Lücken im Handlungsablauf zu füllen. Insbesondere
die starken Unterschiede in der Einstellung der Perspektive (narratorial, figural) und der
unterschiedliche Tempusgebrauch (Präsens, Imperfekt) weisen auf den abstrakten Autor
als Instanz, der das textuelle Gewebe konstruiert und gerade durch den unterschiedlichen
Wissenstand der eingesetzten Erzähler und die Begrenzung der erzählten Zeit auf die In-
konsistenzen der TAW und die Unzuverlässigkeit des Erzählens aufmerksam macht. Im
Text selbst wird Gott als einzige Quelle der Zuverlässigkeit angerufen, wie im nächsten
Kapitel zu zeigen ist. Nur hat, wie so häufig bei Kehlmann, wenn Metaphysisches ins Spiel
kommt, dieser Gott kein Interesse daran, die Inkonsistenzen der Welt aufzuklären. Im
Gegenteil: Es scheint ihm ein geradezu närrisches Vergnügen zu bereiten, Unzuverlässigkeit
zu konstruieren. Auch in der TAW ist Gott im Grunde eine Kontingenzformel,31 um den

30 Hier gelingt Kehlmann eine Nähe zu seinem Vorbild Gabriel García Márquez in Hundert Jahre Einsamkeit,
   über dessen „Täuschungsprogramm“ er festhält: „[W]ir fallen immer auf ihn herein.“ Kehlmann (2012, 22 f.).
31 Vgl. Luhmann (2000, 147–154).

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irrationalen Abläufen der Realität Intentionalität unterstellen zu können. Die mangelnde
auktoriale Führung, an der Leser und Figuren in gewisser Weise gleichermaßen leiden, lässt
für die Leser den abstrakten Autor die Stelle des Gottes der TAW einnehmen, da gerade
die Unzuverlässigkeit der Erzählinstanzen auf das Gemacht-Sein der fiktionalen Welt weist
und in ironischem Widerspruch zur apostrophierten Zuverlässigkeit Gottes steht.

III. Tyll Ulenspiegel als Allegorie der Fiktion. Es wäre reizvoll, auf die Umsetzung des
Eulenspiegel-Stoffs in Kehlmanns Tyll zu schauen – das kann hier nicht geleistet werden.
Zu fragen ist grundsätzlicher, warum gerade Tyll das Zentrum des Romans bildet; denn
auch dort, wo er nur als Nebenfigur auftaucht, dominiert er die Handlung auf teilweise
schwer zu durchschauende Weise. Im vorigen Kapitel wurde schon darauf hingewiesen,
dass sich der Roman als Kontrapunkt zur inszenierten Unzuverlässigkeit auf der Inhalts-
ebene mit Zuverlässigkeit auseinandersetzt. Dies geschieht bezeichnenderweise im Ka-
pitel Herr der Luft, welches von Tylls Herkunft handelt. Tylls Vater beschäftigt sich mit
allerhand nicht-alltäglichen Fragen und betätigt sich als Naturheilkundler und Wahr-
sager. Dabei kommt er allerdings ständig an die Grenzen seines Erkenntnisvermögens,
und „[m]anchmal scheint es ihm, als wäre es Gottes Ziel gewesen, bei der Einrichtung der
Welt den Verstand eines armen Müllers zu narren“ (T 97). Erinnert dieser Vorwurf schon
stark an die Konstruktionsweise des Romans selbst, so dringt der Müller später noch tiefer
in die Unzuverlässigkeit der Welt. Im Gespräch mit Inquisitoren, die auf ihn aufmerksam
geworden sind, kommt er – blind für die Gefahr solcher Gedanken – auf ein Problem, das
ihn schon länger beschäftigt: Er habe zwei Blätter gefunden, die völlig identisch seien. Da-
raus schlussfolgert er: „Wenn sie nur zum Schein zwei Blätter und in Wahrheit eines sind,
heißt das nicht, dass … all das Hier und Dort und Da nur ein Netz ist, das Gott geknüpft
hat, damit wir nicht seine Geheimnisse durchschauen?“ (T 105).32 Diese Einschätzung ist
insofern ein metatextueller Verweis, als der Polysemie des Wortes Blätter auch dadurch
entsprochen wird, dass auf zwei Seiten (Blättern) des Romans von ihnen die Rede ist. Der
jüngere der Inquisitoren (es handelt sich auch hier schon um Athanasius Kircher)33 hält
dagegen, dass es in Gottes Schöpfung nicht zwei identische Dinge gebe, „[k]eine zwei
Dinge, zwischen denen Gott nicht den Unterschied erkennt.“ (T 105) Kircher postuliert,
dass die „Vagheit“ (T 103) nicht in den Dingen, sondern in den menschlichen Begriffen
begründet sei. Er folgert: „Deshalb spricht Gott, wenn er Klarheit will, in Zahlen.“ (T 103)
Dass diese Klarheit so zuverlässig nicht ist, ergibt sich später im Roman, wenn Kircher das
Ende der Welt genau ausrechnet (s. o.). Was nun hat dieses Gespräch mit Tyll und was mit
Unzuverlässigkeit zu tun?
   Das Problem von Tylls Vater lässt sich mit Kirchers Gegenargumenten dahingehend
verstehen, dass die Vagheit der Welt, die wir als Inkonsistenz der TAW begreifen können, von
der unzuverlässig erzählt wird, entweder in den Dingen selbst liegt (das wäre das Argument

32 Diese Vorstellung erinnert stark an den unzuverlässigen Demiurgen aus Daniel Kehlmanns Roman Mahlers
   Zeit von 1999; vgl. Gasser (2010).
33 Das ist insofern bedeutsam, als in interner Fokalisation Teile des Kapitels aus seiner Sicht geschildert sind und
   der Leser hier lernt, dass Kirchers später zur Schau getragene Selbstsicherheit im Grunde mehr habitualisiertes
   Verhalten als echte Sicherheit der Überzeugungen ist.

Peter Lang                                                             Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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des Müllers; Gottes Schöpfung wäre dann ein Versuch, diese Inkonsistenz zu verschleiern
und die Menschen zu verwirren) oder im menschlichen Erkenntnisvermögen (was Kirchers
Position wäre und ein Argument für eine – theologisch grundierte – Wissenschaft). Am
Ende meint Kircher schließlich, alle Fragen beantwortet zu haben. Im Grunde genommen
verzweifelt der Müller am Satz vom Widerspruch,34 denn ein Ding kann nicht sein und
gleichzeitig nicht-sein. Seine Versuche, die Inkonsistenzen aufzuklären, bringen ihn schließ-
lich an den Galgen, denn die so freundlich diskutierenden Jesuiten sind unterwegs, um im
Auftrag der Obrigkeit die Quote der verurteilten Hexer anzuheben. Für Tyll, der wegen der
Exekution seines Vaters flieht und sich einem Narren anschließt, mag das eine Lehre sein,
Widersprüchlichkeiten nicht nur zu dulden, sondern eher mit ihnen als gegen sie zu arbeiten.
Die Inkonsistenz der Welt führt zu Irritationen, an denen man entweder scheitern oder die
man für sich nutzen kann. Dass der Müller als Teufelsbündler verurteilt wird, ist insofern
konsequent, als der (christliche) Teufel der Meister der Entzweiung ist, der Herr des Trugs.
   Tyll lernt nun (nachdem er schon als Kind eine mysteriöse Initiation in das Reich der
Uneindeutigkeit erhalten hat),35 Sein und Nicht-Sein zu verbinden. Er ist damit ein Wesen,
das ein lebender Widerspruch gegen den Satz vom Widerspruch ist, der eben besagt, dass
ein Ding nicht gleichzeitig sein und nicht-sein kann. Die einschlägigen Szenen wurden
oben bereits angesprochen. So ist es an mehreren Stellen des Romans unsicher, ob es sich
bei Tyll eigentlich um den Narren handelt, den man erwartet hat; bei der Schlacht von
Zusmarshausen sieht der Graf ihn gar in seinem Blut liegen und wenig später wieder
neben sich herlaufen; und die mysteriöse Flucht aus dem eingestürzten Tunnel scheint Tyll
nur zu überleben, weil er trotzig feststellt, dass er nun nicht sterben werde (vgl. T 424 f.).
Die Doppelbödigkeit der Wirklichkeit resultiert in Tylls Anwesenheit aus einer anderen
Perspektive auf die Gegenwart. Tyll selbst ist die Störung im scheinbar konsistenten Gewebe
der Realität. Schon sein erstes Auftreten im Roman verwischt die Grenzen von Realität und
Fiktion. Mit einer kleinen Truppe zieht er in ein Dorf ein und führt ein Stück auf. Wie
er die fiktionale Realität durch den performativen Aufbau einer fiktiven Welt sukzessive
verwandelt, hat Kehlmann verdichtet dargestellt:

        Tyll Ulenspiegel nahm ein blaues Tuch, kniete sich hin, schleuderte es, eine Seite festhaltend,
        von sich, sodass es sich knatternd entrollte; er zog es zurück, schleuderte es, und wie er auf der
        einen und die Frau [die Tyll begleitende Nele, die Verf.] auf der anderen Seite kniete und das Blau
        zwischen ihnen wogte, schien da wirklich Wasser zu sein, und die Wellen gingen derart wild auf
        und nieder, als könnte kein Schiff sie befahren. (T 10 f.)

Tylls Eigenart, zu sein und nicht zu sein, wird bereits an dieser Stelle deutlich, wenn es
weiterhin heißt: „[W]ann immer unsere Blicke ihn fanden, war er schon wieder anders-
wo“ (T 11). Im letzten Kapitel schließlich verlässt er den Roman wieder mit einer Auf-
führung. Auf einem Ball wird in ordentlichen Reihen, nach einem klaren Ablauf getanzt.
Plötzlich gibt es „Unordnung“ (T 469): Mitten auf der Tanzfläche steht Tyll und jongliert
34 Vgl. Lorenz (2004).
35 Der junge Tyll muss eine Nacht alleine im Wald verbringen, um einen Eselskarren mit Mehl zu bewachen. Am
   nächsten Morgen findet man ihn völlig weiß eingestäubt in den Bäumen, er trägt den Skalp des getöteten Esels
   und erklärt, der Teufel sei in ihn gefahren (Vgl. T 79–81). Später kann er sich an nichts erinnern, und auch dieses
   Ereignis wird vom Erzähler nie aufgeklärt, obwohl er durchaus nicht an die Perspektive Tylls gebunden ist.

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mit Dolchen, die Reihen der Tanzenden geraten in Verwirrung, der Tanz bricht ab, nur
noch Tyll dreht sich: „ein wildes Dahinjagen nach einem atemlosen galoppierenden Takt“
(T 470). Erstaunlicherweise passt die Musik sich seiner Darbietung an: „[D]enn nicht er
folgte ihr, sondern sie ihm“ (ebd.). Schließlich beginnt Tyll „blechern“ (ebd.) zu singen,
wobei er trotzdem die Töne trifft: „Es war wohl eine Sprache, die er erfunden hatte. Und
dennoch war einem, als wüsste man, worum es ging; man verstand es, obgleich man es
nicht hätte in Worte fassen können“ (ebd.). Kurz nach dem Tanz spricht Elizabeth, Tylls
frühere Brotgeberin, mit ihm und bietet ihm an, seine alten Tage bei ihr zu verbringen,
in Wärme und ohne Hunger – am Ende ein friedlicher Tod. Doch Ulenspiegel lehnt ab:
„[W]eißt du, was besser ist? Noch besser als friedlich sterben? […] Nicht sterben, kleine
Liz. Das ist viel besser.“ (T 473) Hatte er am Romanbeginn während seiner Aufführung
noch so realistisch einen Toten gespielt, dass die Dörfler lakonisch kommentierten, er sei
nun „[f]ür immer“ (T 12) tot, lässt der Romanverlauf diese Behauptung gar nicht mehr so
unrealistisch erscheinen. Wurde Tyll bei Brünn in einem Schacht der Mineure verschüttet?
Bei Zusmarshausen erschossen? Und konnte er nicht gar mit Geistern sprechen, wie seine
Abschiedsgeste zu der entschwindenden Seele des Winterkönigs nahelegt? (Vgl. T 320) All
dies zusammengenommen wirkt der Dolchtanz höchst symbolisch: Tyll stört die Ordnung
und erzeugt eine neue, weniger verlässliche – endet doch der Tanz damit, dass Tyll sich
(absichtlich?) an einem Dolch schneidet. Dennoch scheint es eine höhere Ordnung zu
sein, die unerklärliche, gar unnennbare Einsichten ermöglicht. Kurz scheint hier ein alter
Menschheitstraum verwirklicht zu werden: eine neue Sprache jenseits der Zeichen. Tyll wird
zur Allegorie der Fiktion, wie die beiden Blätter, die gleich sind und es doch nicht sind. Er
erzeugt eine neue Realität und lässt die eigentliche schwanken. So wie das Erzählen ist er
unsterblich, was nicht zuletzt Kehlmanns Roman selbst bestätigt, erzählt er doch erneut von
Tyll Ulenspiegel, dem zumindest in der Fiktion unsterblichen Narren, der in immer neuen
Erscheinungen auftaucht, verschwindet und die Konsistenz der Wirklichkeit in Frage stellt.

IV. Zuverlässigkeit als Handlung Gottes: Der historische Roman der Postmoderne und unzu-
verlässiges Erzählen. Wenn wir den Gedanken, Tyll sei eine Allegorie der Fiktion, weiter-
denken, dann ergibt sich noch eine weitere Einsicht: Der Name Tyll ist ebenso polysem wie
das Wort Blätter. Während dieses metatextuell auf die Buchseiten verweist, auf denen von
den anderen Blättern die Rede ist, so bezeichnet Tyll auch den Roman, der von Tyll handelt.
Während Tyll gleichzeitig ist und nicht-ist, auf schwer zu greifende Weise unsterblich, ist
auch der Roman Tyll gleichzeitig real und der Wirklichkeit entzogen. Als materielles Buch
ist Tyll das Realste, was die Literatur zu bieten hat; als in diesem Buch durch Zeichen ver-
mittelte Geschichte ist er so luftig und fiktiv, wie eine Geschichte nur sein kann.
    Nun ist es ja kein Zufall, dass Daniel Kehlmann mit Tyll seinen zweiten historischen
Roman vorlegt und damit bewusst mit bestimmten Gattungskonventionen spielt.36 Für
den unbedarften Leser mag das frustrierend sein, denn „die Frage, ob einzelne Elemente,

36 Claudia Stockinger verdanken wir den Hinweis, dass der Roman durchaus auch in der Tradition des Schelmen-
   romans gelesen werden kann. Offensichtlich würde dieser veränderte Rahmen auch die Interpretation verändern,
   da die Gestalt des Narren, die bei Kehlmann enger als in der Tradition an die Teufelsfigur angelehnt ist, in den
   Mittelpunkt der Betrachtung rücken müsste. Ebenso ergibt eine Lektüre im Kontext Kehlmann’scher Romane
   einen anderen Einblick, da hier unterstellte Irritationen der Wirklichkeit dann zuverlässig erwartet werden.

Peter Lang                                                             Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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Aussagen oder Informationen in der Erzählung fiktiv oder real-historisch sind, [konstituiert]
den historischen Roman“ für gewöhnlich.37 Trotz historischer Informiertheit wird doch
schnell offenbar, dass ein verstehender Zugang zur Geschichte nicht die Intention dieses
Romans ist.38 Vielmehr steht das prekäre Verhältnis von Realität und Fiktion zur Disposi-
tion, was als Grundstruktur Kehlmann’scher Literatur gelten kann.39 In Form eines histo-
rischen Romans wird dieses Thema fast zwangsläufig zu einem meta-historiographischen
Kommentar, ist doch die historische Wirklichkeit selbst in den Geschichtswissenschaften
in die Krise geraten.40 Lange war es Grundausrichtung des Faches, die Faktizität der Ver-
gangenheit darzustellen. Unter dem Einfluss der Postmoderne41 ist der Disziplin die sichere
Verfügung über das Faktische abhandengekommen. Für die literarische Postmoderne war
und ist gerade der historische Roman die Gattung, in der sich Grundstrukturen ihrer Äs-
thetik hervorragend verwirklichen lassen.42 Nicht zuletzt liegt mit Umberto Ecos Der Name
der Rose ein Roman vor, der als historischer Roman einer der zentralen Texte postmoderner
Ästhetik ist – mit der Integration von Athanasius Kircher in seinen Figurenkosmos spielt
Kehlmann vielleicht auf Eco an, taucht Kircher dort doch im Rahmen der Herausgeber-
fiktion als eine der Quellen des vermeintlich historisch genau recherchierten Textes auf.43
Nun stellt sich im Kontext der Argumentation nicht die Frage nach der Verbindung von
Postmoderne und historischem Roman, sondern nach dem Stellenwert der Unzuverlässig-
keit in dieser Verbindung und genauer: der Unzuverlässigkeit in der Heterodiegese. Die
herausgearbeiteten Formen von Unzuverlässigkeit erzeugen Lücken im textuellen Gewebe.
Gerade die Möglichkeit, die Lücken der historischen Überlieferung fiktiv zu schließen
und andere Perspektiven auf das Geschehen zu eröffnen, galt als Stärke des historischen
Romans.44 Nun verweist die verweigerte auktoriale Führung, die Unzuverlässigkeit von
Kehlmanns Reflektorfiguren aber gerade auf jene Lücken, welche der Rezipient nicht
schließen kann. Das klassische Vorgehen der Historiographie war, in einem Fall wider-
sprüchlicher Quellen zu einem Urteil zu gelangen, welcher Quelle eher zu trauen sei, um
so das tatsächliche Geschehen plausibel zu rekonstruieren. Solange Historiographie auf
einen Sinn der Geschichte abzielt und eine geschlossene Darstellung anstrebt,45 bleibt kaum
ein anderer Ausweg. Während postmoderne Philosophie und vielleicht auch in nicht zu
unterschätzendem Maße postmoderne Ästhetik insofern einen Paradigmenwechsel in der
Historiographie ausgelöst haben, als die Vergangenheit und ihre Artefakte als sprachlich

37 Lampart (2009, 360).
38 Die Abweichungen vom historischen Geschehen sind überdies so zahlreich, dass neben dem Kerngeschehen die
   genaue Ausgestaltung fast in jeder Szene von den Ergebnissen der Geschichtsschreibung abweicht.
39 Vgl. Tranacher (2018, 279).
40 Vgl. Goertz (2001, 24 f.).
41 Das ist hier notwendig verkürzt. Die Debatte, die am prominentesten Hayden White in den Geschichtswissen-
   schaften ausgelöst hat, kann nicht nachgezeichnet werden. Ebenso werden die Grundlinien postmoderner Philo-
   sophie und Ästhetik als bekannt vorausgesetzt. Vgl. auch für Hinweise auf weiterführende Literatur Schilling
   (2012).
42 Vgl. Schilling (2012, 22).
43 Vgl. Schilling (2012, 74 f.).
44 Vgl. Schilling (2012, 10 und 23).
45 Auch für Goertz (2001) sind Sinn und geschlossene Form noch selbstverständliche Ziele der Historiographie.

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Swen Schulte Eickholt, Andreas Schwengel: Unzuverlässiges Erzählen in Kehlmanns „Tyll“ | 83

konstruierte Größen erscheinen, von denen erzählt wird, so weist die Unzuverlässigkeit
als Strategie des abstrakten Autors in Kehlmanns Tyll darauf hin, dass zuverlässige Aus-
sagen in Bezug auf historische Tatsachen schlichtweg unmöglich sind. Neuere historische
Arbeiten bedienen sich schon einer geradezu postmodernen Methodik, da sie die Quellen
nicht nur nebeneinanderstellen, sondern auch ihre Übermittlungswege rekonstruieren und
ihre offenen Ränder offen lassen. Nach dem Sinn der Geschichte wird nicht mehr gefragt.
Der Sinn erschließt sich erst für den Rezipienten nach den Maßgaben seiner Gegenwart.
   Warum kleidet sich Kehlmanns jüngster Roman überhaupt in ein historisches Gewand?
Schon F hat ein ähnlich virtuoses Spiel mit der Unzuverlässigkeit inszeniert.46 Unzuverläs-
siges Erzählen begegnet auch im historischen Roman eher in der Homodiegese oder in der
notorischen Herausgeber- und Manuskriptfiktion. Diese Form der Unzuverlässigkeit weist
zumeist darauf hin, dass es einen nicht zu überwindenden Bruch zwischen der historischen
Wirklichkeit und der Erzählung über dieselbe gibt.47 Worauf aber weist die mimetische
Unzuverlässigkeit, wenn hier nicht nur die Füllung der Lücken verweigert wird, sondern
die Lücken selber recht banale Ereignisse bezeichnen? Für den Gang der Geschichte ist es
sicherlich unwichtig, wie viele Rosenblätter in der Hochzeitsnacht auf der Pfütze schwam-
men. Persönlich ist es für die Eheleute offenbar bedeutsam (aber nicht einmal der Grund
für dieses genaue Erinnern wird evident gemacht).
   Der klassische historische Roman ist zumeist erst von seinem Ende her richtig zu ver-
stehen. Hier zeigt sich, auf welches Finale die historischen Kräfte hin mobilisiert wurden
und welche Deutung sie schließlich erfahren.48 Und vom Ende her konstruierte auch die
Historiographie zumeist ihre historische Wirklichkeit, insofern ist Geschichte immer ein
„Artefakt post factum“.49 Nun endet Tyll noch nicht ganz mit Tylls Dolchtanz, in dessen
Verlauf er sich zur personifizierten Irritation erhebt, zur Allegorie unsterblicher Fiktion.
Elizabeth, die Winterkönigin, tritt nach dem letzten Gespräch mit Tyll (s. o.) auf einen
Balkon und bemerkt verwundert, dass es schneit. Da sie sich unbeobachtet fühlt, durch-
bricht sie die von einer Königin erwartete Etikette und fängt Schneeflocken mit dem
Mund. Darin liegt kaum ein Hinweis, wie Tyll als historischer Roman zu deuten ist, aber
Themen verdichten sich, die den ganzen Roman durchziehen. Erstens, und das wäre dann
auch ein historiographisches Argument, wird im Tyll Geschichte immer wieder von unten
erzählt, und es werden auch die historischen Gestalten immer erst in ihren Schwächen
und ihrer Menschlichkeit plastisch. Elizabeth erinnert sich beim Fangen der Flocken an
ihre Kindheit und bindet den Roman damit zurück an den Anfang, der überwiegend
durch ein Mädchen perspektiviert ist. So wie ihr Gatte nur König sein kann, wenn andere
Könige ihn als solchen anerkennen,50 und Tylls Vater Heiler oder Weiser sein könnte und
erst durch die Inquisition zum Teufelsbündler wird, zeigt sich im Tyll immer wieder, dass

46 Das ließe sich an formalen und strukturellen Eigenschaften, wie an der Figurenkonstellation zeigen, die sich
   teilweise stark ähnelt. So findet sich auch hier das repetitive Erzählen aus unterschiedlicher Perspektive mit
   ähnlicher mimetischer Unzuverlässigkeit wie im Eingangsbeispiel.
47 So postuliert es etwa Schilling (2012, 10).
48 Vgl. Aust (1994, 29).
49 Goertz (2001, 20).
50 Das wird im Roman mehrfach humoristisch dargestellt. Ohne die äußere Anerkennung und die Einhaltung
   des notwendigen Protokolls ist auch ein König nur ein Mensch.

Peter Lang                                                           Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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