Zwölf Briefe in Zeiten der Pandemie
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Die folgenden Gedanken aus theologischer Sicht zur Corona- Fragen an die Kirche – Krise und ihren Folgen für Gesellschaft und Kirche hat Pastor zwölf Briefe in Zeiten der Pandemie Michael Grimm aus Elsdorf verfasst. Sie wurden als Begleit- schreiben zu wöchentlichen Predigten verschickt. 30.05.2020: Glaube ohne Zukunft? Aller guten Dinge sind Drei, besser noch: Zwölf. Mit diesem zwölften Brief in Zeiten der Pandemie soll es von meiner Seite genug sein. Es war der Wunsch, im Gespräch zu bleiben, wie auch der immer neue Versuch, die „eigenartige und einzigartige Erfahrung der Corona-Krise“ (Hartmut Rosa) theologisch zu be- trachten, sie für Mitlesende fragend zu deuten. Vor uns liegt Pfingsten, ein kraftvolles Fest: Der Einbruch des Geistes Gottes, die Überwältigung der Herzen. Am Pfingstsonn- tag und -montag wollen wir in Elsdorf versuchen, wieder mitei- nander Gottesdienst zu feiern: Mit den Vorsichtsmaßnahmen, die weiter notwendig sind. In der Friedhofskapelle, weil die Re- novierung der Kirche erst in der Woche darauf fertig wird. Die Fragezeichen bleiben mit Blick auf die vor uns liegenden Monate, in denen uns das Corona-Virus weiter beeinträchtigen wird. Während viele sich nach der alten „Normalität“ sehnen, mahnen andere, jetzt sei die Zeit, schädliche Lebensgewohn- heiten abzulegen, zumindest neu übers Leben nachzudenken. Was lernen wir also durch Corona? So wie wir durch Disziplin und dem Mitwirken aller es schaffen, die Pandemie zu steuern und einzudämmen, so wäre uns dies auch bei anderen bedrohlichen Entwicklungen möglich: Der ra- pide zunehmenden Zerstörung der Natur, dem Klimawandel, der sich weiter vergrößernden Kluft zwischen Arm und Reich, der Eindämmung ökonomischer Eigengesetzlichkeiten.
Und für die Kirche: Hat der Glaube Zukunft? Die Jerusalemer Pfingstgemeinde stand in ihrer Zeit für eine neue Kraft von „ganz oben“. Der Geist Gottes bewirkte Aufbruch und Wage- mut, Leidenschaft und Hingabebereitschaft. Eine Minderheit waren sie, aber eine kraftvolle. Sie mischten sich ein. Vor allem aber schämten sie sich nicht ihres „transzendenten Überbaus“. Ein Pfingstlied, das sich direkt an den Heiligen Geist wendet, ist der frühmittelalterliche Hymnus VENI CREATOR SPIRITUS. Er stammt aus dem 9. Jahrhundert und besingt den Heiligen Geist als bewegende Kraft, die Menschen erleuchtet und ertüchtigt: "Zünd an in uns des Lichtes Schein / gieß Liebe in die Herzen ein / stärk unsres Leibs Gebrechlichkeit / mit deiner Kraft zu jeder Zeit." Die beigefügte religiöse Rede vergleicht heiße mit kalter Reli- giosität, hoffend auf ein die Herzen entflammendes Pfingst- wunder für erkaltete Christen. Damit sind wir bei dem in diesen Corona-Wochen von der Kir- che unter Verschluss gehaltenen Gedanken: Wenn das so ist – wenn Jesus lebt, wenn er an der Allmacht Gottes Anteil hat –, 21.05.2020: Macht und Mut dann ist ihm nichts unmöglich. Dann kann er auch in unsere All- tagsgeschäfte hineinwirken, dann vermag er die Gedanken der Mit dem Fest von Christi Himmelfahrt – immerhin bei uns ein Menschen zu beeinflussen und Ereignisse in der Welt zu steu- allgemeiner Feiertag – verbindet kaum noch jemand einen be- ern. wegenden religiösen Sinn. Ins Freie geht es, den (jungen) Män- nern hinterher, die mit allerhand Alkohol ein Gruppenerlebnis ... und eine Pandemie auslösen, unsichtbar und doch weltum- der eher rustikalen Art zelebrieren. Manche bis zum Umfallen. spannend, Volkswirtschaften in die Knie zwingend, unsere Mo- Davon zeugen die Notaufnahmen in den Krankenhäusern. bilität einschränkend und das, was wir „Normalität“ nennen, unterbrechend? Das Artensterben, die Zerstörung der Natur Dabei zielt die Himmelfahrt Jesu Christi auf anderes, eigentlich haben uns nur am Rande berührt, den Klimawandel ignorieren auf alles: Wer behält das letzte Wort? Wer hält die Welt in Hän- viele als abstrakte Wirklichkeit. Doch nun hat es uns „erwischt“, den? Himmelfahrt meint – um es plakativ zu sagen – die Macht- und zwar alle Völker. ergreifung Jesu. „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden“, verkündigt der an Gottes Seite entrückte Christus und Hat uns da jemand ein Bein gestellt? Ich meine nicht den Ver- verspricht seinen Jüngern: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der dacht, das Corona-Virus sei in Laboren entwickelt und „freige- Welt Ende.“ lassen“ worden. Sondern benutzt Gott das Virus, die Mensch- heit kalt zu stellen, uns zu demütigen und eine „Umkehr“ zu
erzwingen, so eine Art verfeinerter Sintflut. Oder haben wir es konsequent ausgesetzt werden. Die Chance wird erwogen, ein bei diesen Gedanken mit einer religiösen Verschwörungstheo- digitales Priestertum aller Gläubigen zu etablieren. Diskutiert rie zu tun? wird die Umsetzung wöchentlich angepasster Selbstbeschrän- Die Taten Gottes in der Geschichte Israel lassen sich nacherzäh- kungen, aufgerufen wird zur Solidarität mit den Schwachen. len. Was er durch Jesus Christus gesagt hat, nachsprechen. Rückblickend erkennen wir deutlicher, mitunter verwundert, wie auf unserem Lebensweg göttliche Führung wirksam war. Aber hier und heute? Das ist riskant. Solch „prophetische“ Rede ist gefährlich. Sie beinhaltet den Schritt ins Ungesicherte. Religionsbeamte scheuen das prophetische Risiko. Selbster- nannte Propheten haben solches Wagnis in Verruf gebracht. Der Prophet kann irren, und Prophetie zur Lüge werden. Und doch muss eine Predigt, die sich auf den lebendigen Christus beruft, in die Gegenwart vorstoßen. Sie muss Widerfahrnisse theologisch deuten – hoffend auf den Einfluss des Geistes Got- tes. Die heutige Predigt versucht beides zusammenzusehen: Him- melfahrt und Pfingsten – Jesu „Macht im Himmel und auf Er- den“ wie seine Präsenz unter uns im Geist. Dies ist Ausdruck des Einklangs mit den Maßnahmen staatlicher 17.05.2020: Das Schweigen der Hirten Stellen. Auch liefert es denen, die Religion ablehnen, keinerlei Angriffsfläche. Doch was ist mit der eigentlichen Rede der Kir- Diese Krise macht sprachlos, jedenfalls die Kirchenoberen. che – der Rede von Gott? Drängt sich in der Zeit der Krise nicht Nicht dass sie sich in diesen Tagen und Wochen kollektiven Aus- die Frage nach Gott auf: „Wo ist Gott, warum lässt er das zu, nahmezustands nicht mehr äußerten. Allerdings fügt sich, was was bezweckt er damit, kann man trotzdem oder gerade des- aus den Kirchen als offizielle Verlautbarung oder in den Ge- halb noch an ihn glauben?“, so der jüdische Historiker Michael meinden mittels Internet-Predigten und Telefonandachten ver- Wolffsohn (F.A.Z. 20.04.2020). breitet wird, (allzu) selbstverständlich in die Auskünfte der Epi- demiologen und zu den Anordnungen der Bundesregierung. Wenn das jüdisch-christliche Bekenntnis gilt, dass es keinen Le- bensbereich gibt, der von Gottes Gegenwart ausgeschlossen Da ist vom Abstandhalten als neuer Form von Nächstenliebe die ist, dann haben wir das Widerfahrnis dieser Krise auch theolo- Rede. Betont wird die Wahrnehmung von Verantwortung, in- gisch zu deuten, es zumindest tastend zu versuchen. Was wä- dem alle Gemeinschaftsformen bis hin zum Gottesdient ren bedenkenswerte Antworten einer von Gott her
betrachteten Welt? In Erinnerung ist mir nur die reflexartige An der Feier des Abendmahls – der engsten Form christlicher Verneinung jeder Möglichkeit, in der Corona-Pandemie eine Gemeinschaft – ist in evangelischen Gemeinden auf absehbare Strafe Gottes zu sehen. Zeit nicht zu denken. Noch ratloser macht es mich, wenn die Ein ehemaliger Bischof der evangelischen Kirche erinnert an das Gottesdienstteilnehmer zum Tragen eines Mund-Nasen-Schut- altertümliche, nicht mehr gebrauchte Wort „Heimsuchung“ zes aufgefordert werden und ihnen das Singen untersagt sein (F.A.Z. 13.05.2020). soll. Die Begründung: Durch Singen wird die Übertragung des Corona-Virus erleichtert, eine mögliche Ansteckung befördert. Zunächst möchte man annehmen, dabei handele es sich um so Also besser den Mund halten? etwas wie einen Schicksalsschlag. Auch die Vorstellung einer Prüfung menschlicher Lebensgewohnheiten klingt an. Nehmen wir den Ausdruck im religiösen Sinne und wörtlich, dann wäre es Gott, der Menschen aufsucht, um mit ihnen zu sein. Gott sucht mich, mich heimzuholen in eine ursprüngliche Beziehung. Mit solcher Heimsuchung mutet er sich mir zu. Das unterbricht mich. Dies wäre keine Strafe des Himmels, sondern eine Weise göttlicher Fürsorge. Auch wenn es uns unendlich schwerfällt, umzukehren und mit Gott umzugehen: Beschleicht nicht immer mehr Menschen der Eindruck, dass es so in der Welt nicht weitergehen konnte, nicht weitergehen darf? Daran, dass wir darüber auch mit Gott als unserem himmlischen Vater zu Rate gehen können, erinnert der heutige Sonntag: Rogate – „Betet!“ Als Ermutigung zum Gebet die Predigt meines Heeslinger Kollegen Pastor Michaele- sen – schnörkellos, instruktiv, zur Sache redend. Gottesdienst ohne den Gesang der Gemeinde geht an seinem Wesen – so wie es in evangelischen Kirchen verstanden und praktiziert wird – grundsätzlich vorbei. Solcher Widersinn wird 10.05.2020: Die singen ja noch... an dem heutigen Sonntag deutlich. Er trägt den Namen Kan- Mit diesem Sonntag ist es bei uns wieder erlaubt, zum Gottes- tate, ein lateinisches Wort, zudem in die Befehlsform gesetzt. dienst in die Kirche einzuladen und daran teilzunehmen – wenn Auf Deutsch: „Singt!“ – „Singet dem HERRN ein neues Lied, auch eingeschränkt durch Sicherheitsvorkehrungen. So darf je denn er tut Wunder!“, lautet das biblische Leitwort dieses nach Größe des Kirchgebäudes nur eine gewisse Zahl von Men- Sonntags aus Psalm 98. schen unter Wahrung von Abstandsregeln und Hygienevor- Also besser zuhause bleiben und dort für sich oder mit den An- schriften mitwirken. Dies erfordert in Kirchengemeinden mit gehörigen unbeschwert ein Lied zur Ehre Gottes anstimmen? regem Gemeindeleben eine vorherige Anmeldung. Denn das ist ja erlaubt. Oder in der Frühe draußen den Vögeln
zuhören, wie sie auf ihre Weise laut und vernehmlich singen Renovierungsarbeiten, Verwaltungsangelegenheiten und Hygi- und das Leben preisen? Ehrlich gesagt, bin ich ganz froh, dass eneregeln sind das eine. Wie aber kann es bei uns in Zukunft uns in Elsdorf noch etwas Zeit zum Abwägen gegeben ist. Wir kirchliches Leben geben, wenn viele der Teilnehmenden im renovieren nämlich das Kircheninnere. So werden wir erst zum Rentenalter sind und sich auf längere Sicht werden vor Nähe Pfingstfest die Türen wieder öffnen. schützen müssen? Auch die Frage an uns selbst: An welcher Noch etwas stimmt mich nachdenklich: Es ist ja nicht so, dass Stelle der Kirchengemeinde bleibe ich verwurzelt und enga- es diejenigen Glieder der Kirchengemeinde, mit denen ich in giere mich neu? Oder bin ich dahin gelangt: Es geht auch ohne diesen Wochen so gut es ging im Gespräch zu bleiben versuche, meine Beteiligung... nach Gottesdienst verlangt... So zeigt es auch eine Befragung Wir kommen aus einer Situation des Überangebots an Unter- evangelischer Christen: Zwar bedauern es fast alle, an Ostern haltungsangeboten und Aktivitäten – auch in der Kirche. nicht mit ihren Verwandten zusammen gewesen zu sein. Den Möglich, dass wir durch die als Schutzmaßnahme verordnete Gang zur Kirche am höchsten aller christlichen Feiertage jedoch Unterbrechung unseres Tuns erkennen, wie es uns erleichtert, vermissten die wenigsten Gemeindeglieder. dies alles nicht mehr mitmachen oder vorbereiten zu müssen – Wie wird es also werden, wenn wir an Pfingsten wieder versu- bis hin zum Gottesdienst. Die Krise unterbricht auch religiöse chen, Gottesdienst zu feiern? Wer freut sich darauf, wer wird Gewohnheiten. Sie lässt nach deren Sinn und ihrer Wirksamkeit kommen? Und wie werden wir uns dabei fühlen und verhalten fragen. – in der renovierten Kirche, mit Ordnungen, die uns der kluge Darum ist es Zeit, nicht nur innezuhalten, sondern nachzuden- Menschenverstand vorgibt? Wie wird der Heilige Geist sich da- ken. Es ist die Möglichkeit, christliche Themen neu zu definie- rin fügen? Bleibt Raum für ihn, der die Herzen schaut? Wahr- ren, Gemeinde anders zu sehen, Ideen für die Zeit nach Corona scheinlich kommt es – Corona hin oder her – darauf an: Dass es zu entwickeln. Manches, was wir tradieren, ist gut gemeint, uns eine Herzenssache ist. wird aber nicht einmal von den Mitchristen beachtet, ge- schweige denn unterstützt. Liegt das nur an den anderen, oder hat es mit uns zu tun? Ist es am Ende Gott selbst, der nicht mehr 02.05.2020: Wir müssen reden „zieht“? Wie können wir in dieser Zeit, wo das Gemeindeleben ausge- Es wäre traurig, wenn nach der Corona-Krise alles genauso wei- setzt und die Kirche für Gottesdienste geschlossen ist, mitei- tergeht wie vorher: In unserer Prioritätensetzung, mit unserem nander ins Gespräch finden und Gemeinde bleiben? Wie geht Konsumverhalten, bei der Hektik, mit der wir unterwegs sind. es uns ohne die Begegnungen in den Gruppen und Kreisen? Dies ist unserem Land, das ist der Gesellschaft als ganzer nicht Worauf richten wir unser Augenmerk bei der Wiederbelebung zu wünschen, dass alles wieder so wird wie vorher. Darüber gilt des Gemeindelebens? Was braucht es in Zukunft nicht mehr, es zu sprechen. Dieses Gespräch muss keine großartige Debatte oder nicht mehr wie bisher? Womit gehen wir als Christen nach sein. Wichtig ist, dass ich es mit mir selbst beginne. außen? Einer, der sich aufgrund einer besonderen Beauftragung damit beschäftigt, Kirche neu zu denken, ist Thomas Steinke, Pastor
für Gemeindeinnovation aus Schneverdingen. Er hatte zuge- sagt, am Sonntag (3.5.) in Elsdorf den Gottesdienst zu leiten. Der fällt aus. Seine Predigt hat er uns gesandt. Beachtung ver- göttlichen Wirklichkeit in den heiligen Handlungen (Taufe, dient auch die von ihm eingerichtete webseite: www.Gemein- Abendmahl, Beichte, Segnung). Das Kerngeschäft der Theologie deinnovation.de ist die theo-logische Verantwortung dessen, was Menschen er- leben, was ihnen widerfährt und wo sie die Prioritäten in ihrem Leben setzen. 26.04.2020: Krisen bringen uns voran Schon bestehende Krisen in unseren Wirtschaftssystemen und Lebensverhältnissen werden durch die Corona-Pandemie ver- schärft, sich bereits anbahnende Entwicklungen beschleunigt. So bewirkt etwa die die Notwendigkeit zum Home Schooling den größten Umbau der gewohnten Art des Unterrichts, den unser Schulsystem je erlebt hat. Das fordert in kurzer Zeit von allen Beteiligten eine ungeheure Anpassungsleistung. Die Überlebensfähigkeit ganzer Branchen wie auch ihre Not- wendigkeit steht auf dem Spiel. Dabei ist der Ausdruck „Sys- temrelevanz“ das Zauberwort dieser tiefgreifenden Krise. Wel- che Aktivitäten und welche Teilsysteme von Wirtschaft und Ge- sellschaft werden gebraucht, welche kann man runterfahren? Am Beispiel des an Bedeutung und Wert verlierenden Banken- Systems bringt es Bill Gates auf den Punkt: „Banking wird ge- braucht. Banken nicht.“ Gilt dies auch für die christlichen Kirchen? Kommt ihnen nur Der jüdische Historiker Michael Wolffsohn weist in einem Bei- noch Bedeutung zu, indem sie die medizinisch notwendigen trag für die F.A.Z. (20.04.2020) auf das von ihm wahrgenom- Selbstbeschränkungen flankierend unterstützen, ihr eigentli- mene theologische Schweigen der religiösen Führer hin: „Ich je- ches „Kerngeschäft“ – beschleunigt durch die Einschränkung denfalls habe keine theologisch tiefgehende Interpretation die- der sozialen Kontakte – weiter zurückfahren und Kirchen schlie- ser Pandemie seitens führender Geistlicher registriert, die sich ßen? Führt die Krise in Abwandlung des Bill Gates Zitates dazu: doch sonst zu fast allem und jedem zu Wort melden. Selten sind Religiosität wird bleiben, die Großkirchen aber nicht. sie, meist ungebeten und nicht qualifiziert, um ‚guten Rat‘ ver- Das „Kerngeschäft“ der Kirche ist der Gottesdienst: Die gemein- legen.“ schaftliche Anbetung Gottes, die Erleuchtung durch die Verkün- Bleibe ich also bei meiner Kernkompetenz – der Predigt, oder digung seines Wortes, die geheimnisvolle Vereinigung mit der um es modern zu sagen: der Kommunikation christlicher
Inhalte, dem Bemühen, religiöse Dynamiken auszulösen. Ne- eine Zeitenwende erleben? Dann ginge es nicht länger darum, ben dem ersten Jünger Petrus kommt ein neuer Protagonist der Schritte zurück in die gewohnte Normalität zu gehen, sondern Jesus-Bewegung zu stehen: Der spät berufene Paulus. Er wird eine andere Lebensweise einzuüben. Vielleicht ist das Virus zum eigentlichen Begründer der christlichen Religion. Einen ge- eine Art Sendbote aus der Zukunft? Was aber wäre seine Bot- waltigen Innovationsschub bringt dies mit sich. Das geht nicht schaft? ohne Konflikte. Davon handelt die heutige Predigt „Petrus und Die alte Normalität, nach der sich viele sehnen, ist ungesund. Paulus – oder: Der Streit der Theologen“. Wir huldigen einer Wachstumsideologie. Wir machen uns alles immer schneller verfügbar (Hartmut Rosa). Wir stehen der Na- tur aggressiv gegenüber. Wir dürfen nicht so weitermachen: 18.04.2020: Zeitenwende? nicht noch öfter verreisen, nicht immer rascher unsere Ziele er- „Ein Zeitalter geht hier zu Ende“, stellt in diesen Tagen ein itali- reichen, nicht immer mehr produzieren und noch preiswerter enischer Schriftsteller fest. Antonio Scurati lebt in Mailand, die einkaufen, nicht noch mehr Natur verbrauchen, nicht noch am weitesten entwickelte und strahlendste Stadt Italiens. Für mehr Ansprüche an das Leben haben. die Generation der 20 bis 50jährigen „war immer Samstag- abend; und man ging immer auf eine Party. ... Als zwanghafte Es sind so viele Menschen herausgetreten aus der Möglichkeit, Touristen haben sie die Welt bereist, ohne ihr Zuhause dabei überhaupt an etwas anderes als an die Verfügbarkeit aller jemals zu verlassen.“ (F.A.Z. 23.03.2020) Dinge und Orte zu glauben. Es sind so viele Menschen entfrem- det – sowohl von der uns umgebenden Natur wie auch den Be- Damit ist es vorbei. Seit Wochen haben die Stadt Mailand und dürfnissen der Seele. Fast möchte man von einem Sog ins Vir- der Norden Italiens eine der höchsten Infektionsraten mit Co- tuelle sprechen. Doch lässt sich Gott spüren beim Streicheln vid-19 Viren, die Sterblichkeitsrate liegt bei zehn Prozent. Vor von Displays? Gottes Präsenz im Internet statt in hautnahen den Krankenhauseingängen stapelten sich an manchen Tagen Gesten? Eine Online-Kirche, die man anklickt und wegwischt? die Särge. Antonio Scurati: „Ein Zeitalter ist zu Ende gegangen, ein anderes wird beginnen. Morgen. Heute steht man Schlange Immer noch ist mir unwohl beim Erstellen von Video-Andach- für Brot.“ ten für ein virtuelles „Publikum“. Dennoch: Heute keine schrift- liche Predigt, sondern der „mediale“ Versuch davon zu spre- Wir im Elbe-Weser Raum bewegen uns im Windschatten der chen, was aus Ostern folgt. Denn nicht nur die Corona-Pande- Pandemie. Wir haben uns mit Reiseverboten und lästigen Ab- mie hat Folgen. Die von Ostern waren und sind für mich – davon standsregeln zu arrangieren. Manche sorgen sich um ihre be- erzähle ich – weitreichender. rufliche Existenz. Und alle hoffen wir, dass wir diese lästige Zeit hinter uns bringen. Dabei beschleicht uns unabweisbar die Ah- nung, dass es auch für uns ein Leben in der gewohnten Weise 12.04.2020: Ostern – auf Liebe und Tod nicht mehr geben wird. Liebe ist stärker als der Tod – so wird sie immer wieder be- Werden die entvölkerten Flughäfen zu Museen einer unterge- schworen: in Schlagern, während der Euphorie des Verliebt- gangenen Zeit? Könnte es sein, dass auch wir auf dem Lande seins, selbst noch auf dem Friedhof. Aber ist das nicht eine
Phrase, eine schwärmerische Selbsttäuschung angesichts der nun das geliebte Gegenüber fehlt? Und wie häufig erleben wir Erfahrung, die eine ganz andere ist? Es ist nun einmal so: Die uns selber als lieblos, als solche, die sich zwar verlieben, aber Liebe lässt die Zeit vergehen – und die Zeit lässt die Liebe ver- eben nicht selbstlos lieben, die immer wieder die Liebe verra- gehen. ten, und all die Treueschwüre – sie gelten nicht mehr... Petrus, der seinem Lehrer und Freund die Treue geschworen hatte, erging es so. Verrat und Tod entreißen ihm den Freund. Um sein armes Leben zu retten, verleugnet er die Liebe. Sich selber in die Augen schauen, vermag er danach nicht mehr. Kar- freitag wird uns die Armseligkeit des Menschen unausweichlich vor Augen gehalten. Diesen Tag kann man nur erleiden. Ostern aber ist Neuanfang. Ostern ist das Wunder aller Wun- der: Jesus lebt. Seine Liebe zu uns ist wirklich stärker als der Tod. Sie ermöglicht Petrus die glückliche Wiederholung einer verlorenen Liebe: ER hat mich gesucht und auch gefunden, hat von mir immer schon gewusst. Wie ein Engel dreht ER seine Runden – nah, so nah, fern, so fern – vom Himmel bis ans Meer. Es gibt nicht nur ein Leben nach Corona. Es gibt auch ein Leben nach dem Tod. Da ist eine Liebe, die uns rettet und trägt, die uns selbst unsere größte Angst überwinden lässt: die zu ster- ben. Davon handelt die 5. der Petrus-Predigten. Frohe und ge- segnete Ostern, denn: Der Herr ist auferstanden, er ist wahr- haftig auferstanden! Seine Liebe hat kein Ende. 09.04.2020: Der stille Karfreitag In diesem Jahr ermöglichen die äußeren Umstände, den Karfrei- tag in Ruhe und Stille zu begehen, in der Haltung, die seiner ernsten religiösen Wahrheit angemessen ist. Stiller ist es in die- sen Wochen geworden – auf unseren Dörfern wie in der weiten Am Ende siegt immer noch der Tod, auch über die Liebe. Und Welt. Hörbar ist der menschliche Lärm verebbt. Dafür hören wir wie stehen wir dann da als die, die geliebt haben und denen aufmerksamer die Stimmen der Vögel.
Man mag dies beklagen, den Stillstand ärgerlich finden, weil die 03.04.2020: Corona-Helden Folgen z.B. für Geschäftsinhaber und Gewerbetreibende tat- Die Berufswelt ordnet sich in der Krise neu. Nun zählen zwei sächlich Existenz gefährdend sind. Auch können wir die Ruhe Dinge: Wie riskant ist eine Tätigkeit – und wie wichtig ist sie für und den Stillstand vermeiden und statt im öffentlichen Raum in das Überleben von Mensch und Gesellschaft? Arbeitsminister sozialen Netzwerken auf der Suche nach Ablenkungsangeboten Heil (SPD) hatte in der Woche 2 der Corona-Krise in einem In- unterwegs sein. terview darauf hingewiesen: „Leistungsträger sind nicht nur Ich erlebe die Ruhe dieser Tage als eine Chance, es den Christen Krawattenträger, sondern auch diejenigen, die jetzt im Super- in aller Welt gleichzutun. Sie gedenken an Karfreitag des Lei- markt an der Kasse sitzen, die in Krankenhäusern Zusatzschich- dens und Sterbens Jesu Christi: „Menschen gehen zu Gott in ten schieben oder weiterhin den Müll entsorgen.“ Übrigens viel Seiner Not, / finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und zu oft noch ohne die dafür nötige Schutzkleidung. Brot, / sehen ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Wo kommen in dieser Neubewertung not-wendiger Berufe Kir- Tod. / Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden.“ chenleute zu stehen? Welchen Stellenwert kommt der Religion Diese Worte dichtete Dietrich Bonhoeffer in der Zeit seiner in solcher Ausnahmesituation zu? Ist sie (noch) in irgendeiner zweijährigen Haft. Heute, an diesem Gründonnerstag jährt sich Weise „systemrelevant“ für unsere Gesellschaft? Auf mich sein 75. Todestag. Auf Befehl Adolf Hitlers wurde der brillante wirkt es, als hätte man der Kirche den Stecker gezogen, sie von Theologe und Widerstandskämpfer noch kurz vor Kriegsende der Stromversorgung abgenommen. Das sogenannte Kernge- erhängt, im Alter von 39 Jahren. Als sie Jesus Christus an das schäft – Besuche und Unterricht, Gemeindeveranstaltungen Kreuz nagelten war der noch jünger. – Musste das sein? und Gottesdienste – ist ausgesetzt. Sogar Kirchengebäude sol- Auf diese Frage gibt es keine schlüssige Antwort, bestenfalls An- len verschlossen bleiben. näherungen. Mut braucht es dafür – ich meine, den Blick auf Obwohl Kirchengemeinden ihre Internet-Aktivitäten verstär- das Kreuz auszuhalten. Demut stellt sich ein angesichts des ken, stellt die Corona-Krise die Bedeutung christlicher Praxis in Leids, das sich dort abbildet. Ja, so grausam können Menschen Frage. Was können wir in dieser Herausforderung Hilfreiches sein. Und: so sehr erniedrigt sich der Allerhöchste, so verletzlich von Gott sagen? Hat er der Welt das Virus gesandt, um den glo- macht sich der Allmächtige... Die Jünger scheitern an dieser Er- balen Wachstumswahn zu torpedieren? Die Natur jedenfalls at- fahrung. met auf. So wenig Flugverkehr und so wenig CO-2 Ausstoß wa- Ergreifend bildet sich dieses Scheitern bei Petrus ab, der doch ren lange nicht. Wie aber ist der Glaube hilfreich für die, die um seinem Herrn die Treue geschworen hatte. „In der Nacht, da er ihr Leben fürchten, oder die als Mediziner Leben zu retten ver- (= Jesus) verraten ward“, gerät Petrus in eine schreckliche Situ- suchen? Andere haben zu lernen: Der Dienst am Menschen ation. Die Angst, von der er ergriffen wird, macht aus ihm einen kann manchmal auch ein „Lassen“ sein. Verräter. Und doch liegt ein Trost in dem allen. Davon handelt Es ist keine Heldentat, aber lassen will ich es nicht, für den kom- die vierte der Petrus-Predigten. menden Sonntag wieder eine Predigt zu schreiben. Sie handelt davon, wie Petrus in seinem Lehrer und Freund den Sohn Got- tes erkennt. Dieses Bekenntnis bildet den Höhepunkt des
Evangeliums – und wird zugleich zum Scheitelpunkt des ge- viel Geld? Vielleicht ist sogar wieder Zeit, mich Gott hinzuhal- meinsamen Weges. Jesus wird seinen Jüngern einen anderen ten. Ich meine den Einklang, die Frage nach ihm. Weg zumuten als sie ihn sich erträumen. Davon handelt der kommende Sonntag („Palmsonntag“). Er eröffnet die Karwo- che. Sie konfrontiert uns mit der Ohnmacht Menschen guten Willens. 28.03.2020: Was unsere Seele beschäftigt Von dem französischen Mathematiker, Physiker und Philoso- phen Blaise Pascal ist der Satz überliefert: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ Natürlich spricht der Philosoph nicht vom Unglück eines Unfalls oder einer Kriegseinwirkung. Pascals Satz zielt auf die innere Unruhe vieler Menschen. Es meint jenes Phänomen, dass man nicht mit sich selber zu sein vermag. Immerfort muss „etwas los sein“. Ständig ist man am Reden. Immerzu ist etwas zu erledigen. So vermeidet man sich – und bleibt ein Unglücklicher, der sich selbst nicht aushalten kann. Die von der Regierung angeordneten Schutzvorkehrungen, um den Verlauf der Corona-Epidemie zu verlangsamen, zielen auf eine Unterbrechung des öffentlichen Lebens. Sie untersagen das geliebte Mit-anderen-zusammen-Sein. Manche beruflichen Tätigkeiten sind nach Hause verlegt, andere gar nicht mehr möglich: bei mir die Begleitung von Gemeindegruppen oder das Feiern von Gottesdiensten. So werde ich ungewollt auf mich selber zurückgeführt. Eine wunderbare Nötigung, mit mir zu sein! Eine tolle Gelegenheit, über Grundsätzliches nachzuden- ken, was die Seele beschäftigt. Auch Zeit, vor Gott still zu sein. Geht mein Leben auch anders, von allem weniger? Wer von all den Menschen, mit denen ich zu tun habe, ist wirklich wichtig für mich? Welche Lebensformen tragen, Lebensfreuden ohne
Wenn da nur nicht – oder: Gott sei Dank – das Internet wäre. Religiöse Begründungen des sozialen Lebens gehören einer ver- Draußen steht das Leben still, doch die Rechner laufen auf gangenen Zeit an. Das Phänomen der Kraft der Berührung Hochtouren. Irgendein Bildschirm ist immer an. Manche Päda- nicht. Nun wird die religiöse Praxis der Berührung durch die hin- gogen plagt der Gedanke, dass ihre Schüler nach drei Monaten terhältige Wirkung des Virus sogar zur Gefahr. Welch ein Wi- Zwangsferien als Internet-Junkies in die Schulen zurückkehren. dersinn: Nächstenliebe, die sich in der tätigen Zuwendung be- Man kann die geschenkte Ruhe auch vergeuden. währt, erweist sich in diesen Zeiten in der Vermeidung von Kon- Auch diesen Samstag wieder für jene, die mögen, eine Predigt takten und Orten, an denen sich Menschen versammeln. über Petrus, den Schüler und Jünger Jesu. Eine Predigt zu Vielleicht stimmt es den einen oder die andere traurig, dass schreiben, diese zu lesen und darüber nachzudenken, halte ich Gottesdienste bis auf weiteres keine stattfinden. Ihnen sei ab nicht für vertane Zeit. Natürlich ist diese schriftliche Rede keine heute Woche für Woche eine Predigt über den Jünger Petrus Antwort auf die medizinische Herausforderung oder auf soziale gesandt und zu lesen gegeben. Auch Petrus erlebte in seiner Fragen in Zeiten der Pandemie. Dennoch – oder gerade – mag Begegnung mit Jesus einen „Shutdown“. Eine Neuorientierung uns der Sprung in den Glauben, den Petrus wagt, zu denken ge- wurde ihm zugemutet, die er sich nicht erträumte. Kein leichter ben. Vielleicht ermutigt sein Beispiel, es neu zu wagen, mit Je- Weg wurde dies für ihn, aber ein von Jesus begleiteter, der ins sus zu sein. ewige Leben führt. 21.03.2020: Gottesdienste in Corona-Zeiten Interessant: Das Verbot von Gottesdiensten und Gebetsver- sammlungen liegt auf der gleichen Ebene wie das Verbot von Fußballspielen und After-Work-Partys. Es geht um „Veranstal- tungen“ – folgerichtig für eine Gesellschaft, die auch ihre poli- tische Ordnung ganz von den individuellen Rechten, vom "Pri- vaten" her versteht. Der Gottesdienst wird eingeordnet als Un- terhaltungsprogramm für religiös interessierte Bürger. Frühere Gesellschaften erinnerten sich in Notzeiten an die Wei- sungen und Verheißungen Gottes. Auf Anordnung der "Obrig- keit“ wurden Bußtage mit gottesdienstlichen Feiern abgehal- Die Fotos an und in der Ev.-luth. Allerheiligen Kirche in Elsdorf ten. Gegenwärtig ist kein Gedanke daran, dass der Gottesdienst sind von Michael Grimm. Sie wurden während der Kirchenreno- als gemeinsamer (nicht nur "privater"), lebensnotwendig ist für vierung aufgenommen. Es ist der Zeitraum, in dem diese Briefe das Zusammenleben einer Kirchengemeinde wie auch für eine geschrieben wurden. Gesellschaft als Ganze.
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