2004 Gruppenpreis für Jolly Jumper mit Frank Goos Die kreative Erweiterung und ihr unkonventionelles Instrumentarium

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2004 Gruppenpreis für Jolly Jumper mit Frank Goos

Die kreative Erweiterung und ihr unkonventionelles
Instrumentarium
Eine kleine gemischte Gruppe - sowohl im       technischen Höchstleistung, sondern ein
Alter als auch im Auftreten und Aussehen       Überraschungseffekt. Mit der Verwendung
sehr heterogen - tritt als „Band“ an. Die      von Alltagsmaterialien und Gegenständen
Saxophone, die Triangel, das Keyboard in       aus anderen Zusammenhängen gelingt
schräger Stellung, ein Gesangsmikrophon        scheinbar mühelos die Überrumpelung
werden zurecht gerückt, nachgestimmt, es       der Zuhörenden.
wird dem einen oder anderen gut zugere-
det. Noch sind die Jolly Jumper eine gera-     Verfremdung und Kreativität sind me-
dezu typische integrative Band. Sie setzen     thodische Triebfeder für das noch nicht
ein und verblüffen mit dem etwas unsor-        erschlossene Feld integrativer oder inklu-
tierten Klang, aber das ist so. Doch dann      siver Musikpraxis. Die Verwendung von
kommen die Stücke mit den besonderen           Alltagsmaterial als „Musikinstrument“ ist
Extras, die Kombination von Klängen und        der Notwendigkeit geschuldet, dass eine
Heulschläuchen, von Tröten und Schlag-         ganz heterogene Gruppe auf gleichem
zeug und vor allem die Mischung mit Tex-       „Augenniveau“ zusammenkommen und
ten und geschlagenen Büchern. Jetzt sind       Musik machen will. Bei den Jolly Jumper
sie bei ihrem eigentlichen, dem neuen und      aus Emmendingen spielen Gymnasiastin-
eigentlichen Sound angelangt.                  nen neben und mit Schülern der Schule für
                                               geistig-behinderte Kinder und Jugendli-
So jemand muss herausgehoben werden.           che. Es spielen musikalische Anfänger zu-
Es sind nicht nur die kreativen Ideen des      sammen mit instrumental Erfahrenen und
Leiters Frank Goos. Nein, es ist diese pfif-   es experimentieren alle in ähnlicher Form
fige Unbekümmertheit, mit der hier musi-       mit dem unkonventionellen Klang von Bü-
ziert wird... und das in dieser gemischten     chern, Heulschläuchen, Tröten etc..
Besetzung!
                                               Worin besteht der große heitere Effekt,
Das Faszinierende an neuer Musikpra-           worin besteht der Impuls zum gegensei-
xis mit heterogenen Gruppen ist nicht so       tigen Ins-Spielkommen, worin zeigt sich,
sehr der Sensationswert einer musikalisch-     dass die Auswahl der unkonventionellen
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Musikinstrumente tatsächlich die Gruppe      Spielenden besonders sichtbar werden
musikalisch und sozial weiterbringt?         lässt. Das wirkt ausgesprochen witzig und
                                             neu, weil Bücher in der Regel kaum auf
Eine Chance für Heterogenität                ihre akustischen Eigenschaften hin befragt
                                             werden. Das Bücherschlagzeug erhält
Es ist interessant, der Verwendung von un-   durch die Gestaltung bei der Jolly Jum-
konventionellen Klangerzeugern einmal        per-Gruppe eine weitere ästhetisch aus-
intensiver nachzugehen. Die Verwendung       drucksvolle Komponente dadurch, dass
von Alltagsgegenständen wie Teertonnen,      der Text, der diesem Stück zugrunde liegt,
Autofelgen, Küchengeräten, aber auch         aus Alice in Wunderland stammt. Bücher
von Baumstämmen, Pflanzenteilen und          verwandeln also das herkömmliche Mu-
Tierknochen findet quer durch die Kultu-     sizieren, sie öffnen auch den Zugang zu
ren statt. Die Materialien des Alltag und    Fantasiewelten und mittendrin befindet
der Umgebung werden durch die musika-        sich die heterogene Musikgruppe.
lische Praxis zum Musikinstrument. So ent-
steht schnell eine Form musikalischer und    Eine Chance zur politischen Provokation
sozialer Gemeinschaft.
                                             In der Arbeit mit sozial Benachteiligten
Die Verwendung von unkonventionellen         entwickelt sich das Instrumentarium aus
Alltags- und Umweltinstrumenten fördert      Industrieabfällen wie Teertonnen, Trak-
in besonderer Weise den Wahrnehmungs-        torfedern nicht nur aus Mangel an kon-
bereich. Die unfertigen, rohen Materialien   ventionellen Instrumenten, sondern aus
werden erst durch die eigene Bewegung        dem Bewusstsein heraus, eine musikali-
und Handhabung zum akustisch klin-           sche Gegenwelt zu schaffen. Diese mu-
genden Instrument. Die eigene (taktile)      sikalische „Gegenwelt“ orientiert sich an
Wahrnehmungstätigkeit macht aus dem          der Musik der Jugendkultur, aber auch
unauffälligen Material eine wertvolle in-    an dem Gemeinschaftserleben populärer
strumentale Beteiligungsmöglichkeit. Die     Musik. Die erhöhte Sensibilität für die an-
Jolly Jumper verwenden das Zusammen-         deren Gruppenmitglieder, die starke Beto-
schlagen von Büchern als originellen         nung des Wir-Gefühls sind nicht nur Aus-
Sound, der in der Unterschiedlichkeit des    druck antibürgerlicher Jugendinteressen,
Schlagens und der zeitlichen Abfolge zum     sondern auch der politischen Rückversi-
Hinhören und Hinschauen provoziert und       cherung in der eigenen Peer-Group. Dierk
gleichzeitig die individuelle Eigenart der   Zaiser kommentiert diese Art des Percus-
                                                                                     39
sionspiels im Hinblick auf die Identifikation   entfacht. Gleichzeitig bietet dieses erkun-
und Motivation von Jugendlichen in seinem       dende Lernen die Chance, dass auch die
Projektbericht „Warum spielen wir nicht mit     Mitglieder der Musikgruppe selbst Ideen
richtigen Trommeln?“. Durch die geringen        zur neuen Verwendung von Musikmateri-
feinmotorischen Anforderungen und die           alien einbringen. Die Zugänglichkeit, die
Konzentration auf rhythmische Strukturen        Erreichbarkeit von neuen Instrumenten ist
sind relativ rasch hörbare Erfolge und vor-     natürlich für alle gegeben und entwickelt
zeigbare Ergebnisse in ästhetischen Dimen-      sich auf Dauer immer weiter.
sionen zu erzielen (vgl. Wallbaum 2000,
289). Gerade bei solch vordergründig nie-       Erweiterung der Programmgestaltung
derschwelligen Angeboten ist es notwen-
dig, mit wirkungsvollen Inszenierungen An-      Die Verwendung alltäglicher Materialien, wie
spruch zu signalisieren und Projektvisionen     sie z.B. die Jolly Jumper nutzen, lässt neue
aufzuzeigen      (Zaiser 2008, 5)               Möglichkeiten der Programmgestaltung bei
                                                „Auftritten“ zu. Alltagsmaterialien machen
Diese Art der musikalischen Percussions-        neugierig auf mehr und leben von dem
arbeit lässt sich auch in heterogenen Grup-     Kontrast zu den konventionell gespielten
pen mit Menschen mit unterschiedlicher          Stücken. Damit erweitert sich das Repertoire
Behinderung zur Verstärkung des gemein-         einer heterogenen Gruppe auch für die Zu-
samen Ausdrucks nutzen. Die Jolly Jumper        hörenden, denn diese werden immer wieder
nützen die fast aggressiven Schwungbewe-        durch neue andere Konstellationen von „Ins-
gungen der „Heulschläuche“ zur imponie-         trumenten“ überrascht.
renden Gemeinschaftsgeste.
                                                Damit werden die Programmabfolgen aus-
Erreichbarkeit für Alle                         gesprochen abwechslungsreich, immer
                                                wieder überraschend und in der Perfor-
Alltagsmaterial hat im Hinblick auf lang-       mance attraktiv.
fristiges Musizieren einen zusätzlichen Ef-
fekt. Es wird nicht nur die instrumentale       Fazit
Fertigkeit durch die Nutzung unterschied-
lichster Handhabung und Schlagvarianten         Eine Gruppe wie die Jolly Jumper profitiert
erweitert, sondern auch die Chance der          von der kreativen Nutzung von Alltagsma-
kreativen Erweiterung der eigenen Spiel-        terialien innerhalb ihrer Spielstücke für das
möglichkeiten wird immer wieder neu             gemeinsame Spiel. Sie erreicht damit trotz
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unterschiedlichster instrumentaltechnischer     engagierten Bandleader, Musikschullehr-
Voraussetzungen ein tolles „Wir-Gefühl“,        kräfte und Ensembleleiter, die aus Zufällen
das sich auf das Publikum überträgt.            produktive Einfälle machen können.

Die Verwendung von Büchern, Schläuchen,         Zu den Voraussetzungen für solche Mehr-
Tröten und anderes mehr sind nicht nur          fachtalente gibt es noch wenig wissen-
Zeichen einer laufend erweiterten Kreativi-     schaftliche Forschung deswegen, weil sich
tät des Leiters Frank Goos, sondern auch        diese Personen einer genauen Beschrei-
Zeichen einer immer wieder neuen Suche          bung bzw. Kategorisierung entziehen.
nach Dingen der klingenden Umwelt, die          Frank Goos ist der typische Autodidakt,
einfach Spaß machen, wenn man sie im            der sein Saxophonspiel bis zum Studium
Zusammenhang mit Kulturinstrumenten             weiterentwickelt, sich die Musik Frank
hört. Dieses Aufmerksamwerden auf All-          Zappas zum Vorbild nimmt und dann im-
tägliches ist Teil solcher heterogener Musik-   mer wieder auf „pädagogisch-produktive
projekte.                                       Verhältnisse“ trifft. Die Vielseitigkeit ist not-
                                                wendige Voraussetzung bei der Beteiligung
Das bunte Programm mit klassischen und          in einer Zirkusband, bei den Projekten mit
unkonventionellen Musikstücken erleichtert      ungewöhnlichen Saxophon-Orchestern
dem uneingeweihten Publikum den Zugang          und natürlich auch bei der Arbeit in einem
zu den so verschiedenen Mitgliedern der in-     integrativen gemischten Ensemble. „Frank
tegrativen Band, ohne dass Vergleiche sich      Goos ist das, was man gemeinhin einen
ständig in Vordergrund drängen. Damit setzt     Ausnahmepädagogen nennt. Mit allen
die Arbeit der Jolly Jumper ein Zeichen für     Tücken dieser Bezeichnung. Frank Goos
offenes Miteinander beim Musizieren.            nämlich ist nur ausnahmsweise Pädagoge.
                                                Viel öfter ist er ein Besessener, der akus-
Zur Person                                      tische, optische, kulinarische, motorische,
                                                sensorische geistige Anregungen nicht nur
Hinter dem vielseitigen Programm und            wie ein Schwamm aufsaugt, sondern sei-
den präsentierten Stärken der musizie-          ne Eindrücke mischt, verdaut, verarbeitet
renden Jugendlichen steht aber ein viel-        (im Bauch?) und als neues Ganzes aus-
seitiger Initiator und ein „Animateur“ des      spuckt. Das ist unglaublich inspirierend
Ganzen, dem es gelingt, immer wieder neue       und tierisch anstrengend. Und manchmal
Spielideen zu entwickeln und weiterzuge-        tut sich in der Kombination zwischen Kin-
ben. Frank Goos ist ein Modellfall für die      dern, Jugendlichen, Musik und Literatur
                                                                                             41
eine ganz neue Welt auf. Die von Alice im        Musizieren ein gemeinsames Abenteuer
Wunderland zum Beispiel. Harry Potter ist        wird. Dafür ist fast jede Anregung recht
auch dabei, denn was Dumbledore über             und Persönlichkeiten, die in ihrer eigenen
Musik sagt, ist natürlich genau richtig: Ah,     künstlerischen Praxis unterschiedliche Sti-
Musik - ein Zauber, der alles in den Schat-      le praktizieren, haben dafür die besten
ten stellt, was wir hier treiben .“ (Hofmaier,   Voraussetzungen. Bei Frank Goos z.B.
2002)                                            spielen Texte, klassische musikalische Bei-
                                                 spiele (Schuberts Winterreise), aber auch
Solche pädagogischen Talente sind nicht          landschaftliche Gegebenheiten und das
einfach in der Kooperation, für eine sol-        Engagement in unterschiedlichen Trios
che Arbeit gibt es oft keinen geeigneten         und Quartetten eine entscheidende Rolle.
Rahmen, kaum Räume und die zusätzli-             Nicht nur dafür wurde Frank Goos im Jahr
chen Kraftanstrengungen für die Auftrit-         2008 als Kulturpreisträger der Stadt Em-
te sind nicht immer leicht durchzusetzen.        mendingen gewürdigt.
Umso erstaunlicher ist es, wenn sich eine
Arbeit mit so gemischten Ansprüchen über         Literatur
mehrere Jahre hin hält und die Jugendli-
chen mit und ohne Behinderung sich im-           Hofmaier, Sigrid (2002) http://www.kom-
mer wieder engagieren lassen.                    text.com/proben/jolly.html (übernommen
                                                 August 2008)
Kommen wir auf den Anfang zurück. Die
Faszination in der kreativen gemeinsamen         Wallbaum, Christopher (2000): Produkti-
Musikpraxis besteht zu einem großen Teil         onsdidaktik im Musikunterricht. Perspek-
aus der Herausforderung, sich auf Neues          tiven zur Gestaltung ästhetischer Erfah-
und Unkonventionelles einzulassen. Das           rungssituationen. Kassel: Bosse
musikalische Material, die immer wieder
neu zu erforschenden Klänge und Töne             Zaiser, Dierk (2008) „Warum spielen wir
spielen dabei eine große Rolle und nicht         nicht mit richtigen Trommeln?“ In: Rhyth-
zuletzt die unkonventionellen Instrumente.       mik Nr. 14 Nov. 2008, S. 5, hrsg. v. Be-
Dennoch braucht diese Arbeit eine Trieb-         rufsverband Rhythmik Schweiz
feder. Eine Instanz, die ständig die Moti-
vation hochhält und immer wieder auch
durch provokante Aktionen die Beteilig-
ten daraufhin führt, dass das Spielen und        Elisabeth Braun
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