25 DORISEA WORKING PAPER THERAPIEBEDÜRFTIGE GEISTER

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25 DORISEA WORKING PAPER THERAPIEBEDÜRFTIGE GEISTER
DORISEA – Dynamics of Religion in Southeast Asia                                                 1

             DORISEA
             WORKING
               PAPER                        ISSUE 25, 2021, ISSN: 2196-6893

                                    PETER J. BRÄUNLEIN

           THERAPIEBEDÜRFTIGE GEISTER
           TERROR UND TRAUMA IM ASIATISCHEN HORRORFILM

                                  25
                                        DORISEA Working Paper, ISSUE 25, 2021, ISSN: 2196-6893
DORISEA WORKING PAPER SERIES
EDITORS
Peter J. Bräunlein
Andrea Lauser
Paul Christensen
MANAGING EDITOR
Paul Christensen
ASSISTANT MAGAGING EDITOR
Miriam Kuhnke

BMBF Competence Network “Dynamics of Religion in Southeast Asia” (DORISEA)

From 2011 to 2015, the research network “Dynamics of Religion in Southeast
Asia” (DORISEA) connected scholars from various academic institutions focused
on Southeast Asia. It was coordinated by the Department of Social and Cultural
Anthropology at the Georg-August-University of Göttingen (GISCA). Its core was
formed by scholars from the Universities of Göttingen, Hamburg, Münster, Heidelberg
and Berlin (Humboldt University) who were involved in several projects that
investigate the relationship between religion and modernity in Southeast Asia. Many
of the contacts and collaborations from this period have continued to this day and
are being consolidated in the (double open-peer reviewed) DORISEA Working Paper
series, which was relaunched in 2021.

How to cite this paper: Peter J. Bräunlein (2021): Therapiebedürftige Geister.
Terror und Trauma im asiatischen Horrorfilm. In: DORISEA Working Paper Series,
No. 25. Göttingen: Institute for Social and Cultural Anthropology.
DOI: 10.3249/2196-6893-dwp-25

© 2021 by the author

This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial 4.0
International License. http://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0
ISSN: 2196-6893                              DOI: 10.3249/2196-6893-dwp-25

Research Network DORISEA
Dynamics of Religion in Southeast Asia

Project Office
University of Göttingen
Institute of Social and Cultural Anthropology
Theaterstraße 14
D - 37073 Göttingen
Germany

dorisea@uni-goettingen.de
www.dorisea.net
DORISEA – Dynamics of Religion in Southeast Asia                                                                         3

                                              PETER J. BRÄUNLEIN

                          THERAPIEBEDÜRFTIGE GEISTER.
                       TERROR UND TRAUMA IM ASIATISCHEN
                                  HORRORFILM
        ABSTRACT At the turn of the 20th to 21st century, ghost films experienced an unexpected boom
        in East and Southeast Asia. This cultivation of ‘angstlust’ needs to be explained, as does the
        omnipresence of vengeful undead in the cinema. This article deals with the emergence of the
        East and Southeast Asian horror genre since the late 1990s. Ghost films reflect and comment on
        the imposition of modernity for individuals and society. The narratives of some transnational
        ghost films from Japan, Korea, Hong Kong, Thailand and Singapore serve as illustrative material.
        Three interpretative approaches are offered in order to better understand the cinematically
        generated presence of the undead: ghost films and the dark sides of modernity, ghost films as
        post-mortem and/or mindgame movies, ghost films and family secrets.

Gegen Ende der 1990er Jahre sorgt ein japanischer                    ASIA EXTREME – HORROR DER
Horrorfilm für beachtliches Aufsehen nicht nur bei                   JAHRTAUSENDWENDE
eingefleischten Genre-Fans. Hideo Nakatas RINGU
(1998) wird in Japan zum (bis dahin) größten Kino-                   Filme des New Asian Horror lassen sich in zwei
erfolg aller Zeiten und avanciert international zu ei-               Gruppen einteilen. Zum einen dominiert Body
nem der meist diskutierten und imitierten Horror-                    Horror, inszeniert in grotesk surrealen Gewaltfan-
filme überhaupt. Remakes, diverse Sequels und ein                    tasien bei maximaler Tabu-Überschreitung. Takashi
Prequel festigen den Kultstatus des Films, der dem                   Miikes AUDITION (Scherer 2011: 237–257) ist für
neueren japanischen Horrorkino, kurz J-Horror,                       diese Richtung so stilbildend wie Hideo Nakatas
eine besondere Aura verleiht. RINGU ist zudem                        RINGU für die zweite Richtung, die sich durch ei-
herausragendes Beispiel einer Welle, die zur Jahr-                   nen ausgesprochenen Hang zum Übernatürlichen
tausendwende das ost- und südostasiatische Kino                      auszeichnet. Auffallend sind zum einen gerade die
erfasst und New Asian Horror zur Qualitätsmarke                      Unsichtbarkeit von körperlicher Gewalt zum ander-
der kommenden Dekade werden lässt (McRoy                             en die geschickte Visualisierung von Psychohorror
2008: 2; White 2005; Choi und Wada-Marciano                          in Gestalt von Geistern.
2009; Richards 2010).                                                    Der neue asiatische Horrorfilm, oft als Asia Ex-
    Die Kultivierung von Angstlust im Genre                          treme oder Dark Cinema vermarktet (Choi und
des neuen asiatischen Horrorfilms ist ebenso                         Wada-Marciano 2009b: 5–6; Galloway 2006), setzt
erklärungsbedürftig wie die Allgegenwart unbe-                       hier eigenwillige Akzente und verweigert sich
friedeter Toter im Kinosaal. Der vorliegende Bei­                    bislang vertrauten Genremustern. Zombies, Wer-
trag befasst sich mit der Entstehungsgeschichte                      wölfe, und Vampire treten nicht (oder nur selten)
des ost- und südostasiatischen Horrorgenres seit                     in Erscheinung, Serienkiller sind eher rar und das
den 1990er Jahren. Die Narrative einiger transna-                    seit den 1970er Jahren so beliebte Teenie-Slasher-
tionaler Geisterfilme aus Japan, Korea, Hongkong,                    Motiv des Hollywood-Kinos ist weitgehend absent
Thailand und Singapur dienen dabei als Anschau-
ungsmaterial. In drei Anläufen werden schließlich                    BMBF‑finan­zierten Forschungsverbund DORISEA (Dynamics
Interpretationen angeboten, um wiederkehrende                        of Religion in Southeast Asia, 2011–2015) (siehe auch Bräun-
Themen und das Agieren der darin auftretenden                        lein und Lauser 2016). Erste Gedanken zum asiatischen
                                                                     Geisterfilm konnte ich im Mai 2013 in der Vortragsreihe An-
Geister besser zu verstehen.1                                        thropology of the Uncanny / Anthropologie des Unheimlichen
                                                                     und Monströsen am Institut für Ethnologie und Kulturwis-
1 Meine Beschäftigung mit asiatischen Geisterfilmen                  senschaft der Universität Bremen vorstellen. Ich danke Jan
er­folg­te im Rahmen des Forschungsvorhabens „Geister                Oberg und Dorle Dracklé für die freundliche Einladung und
in der Moderne Südostasiens“, das eingebunden war im                 anregende Diskussion.

                                        DORISEA Working Paper, ISSUE 25, 2021, ISSN: 2196-6893
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(THE TEXAS CHAIN SAW MASSACRE 1974; HAL-                             NEW ASIAN HORROR – GEISTERFILME DER
LOWEEN 1978; FREITAG DER 13te 1980; A NIGHT-                         BESONDEREN ART
MARE ON ELM STREET 1984).                                            Im Folgenden soll es um Filme des New Asian Hor-
    Die späten 1990er Jahre, in denen sich das asi-                  ror gehen, die direkt oder indirekt den ästhetischen
atische Horrorkino erneuert und alsbald inter-                       wie narrativen Impulsen von RINGU folgen. Es han-
nationale Triumphe feiert, stehen unter dem Ein-                     delt sich durchweg um Geisterfilme der besonderen
druck der Asienkrise, die im März 1997, ausgelöst                    Art.
von einer Immobilienblase in Thailand, auf viele                         Ost- und südostasiatische Geisterfilme sind
„Tiger-Staaten“ dieser Region übergreift und 1998                    selbstredend kein neues Phänomen. Sie greifen
ihren Höhepunkt erlebt. Betroffen sind neben Thai-                   auf jahrhundertealte Traditionen zurück, wie
land vor allem Indonesien, Südkorea, die Philip-                     etwa die chinesischen Wuxia-Romane oder das
pinen und Malaysia. Gleichzeitig wird Japan nach                     japanische Theater. Wuxia xiaoshuo ist ursprünglich
einem sensationellen Wirtschaftsboom von der Im-                     der Gattungsbegriff für Romane „kriegerischer
plosion des künstlich aufgeblähten Finanzmarktes                     Ritterlichkeit“. Einsame Heldinnen und Helden,
erschüttert, die durch die Asienkrise an Dramatik                    ausgestattet mit übermenschlichen Fähigkeiten
zunimmt. Zunehmende Arbeitslosigkeit, die Ver-                       und magischen Schwertern, müssen Ordnung und
schiebung der Einkommensverteilung und Kürzun-                       Gerechtigkeit wiederherstellen und kämpfen dabei
gen der staatlichen Sozialausgaben sind die direkt                   nicht nur gegen korrupte Herrscher und andere
spürbaren Folgen der Asienkrise (Kim 2001). Indi-                    Schurken, sondern auch gegen Geister und Dämonen
rekt und längerfristig macht sich die Krise in den                   oder verbünden sich mit diesen (Portmann 1994).
Bereichen Bildung, Gesundheit, Ernährung und                         Wuxia-Filme aus Hongkong (mittlerweile auch
Familienplanung bemerkbar. So erhöhte sich nach                      aus Taiwan und VR China) entwickelten sich nach
Schätzungen der Asian Development Bank nicht                         einer ersten Blüte in den 1960er und 1970er Jahren
nur die Zahl der städtischen Armen, sondern auch                     zu einem der beliebtesten asiatischen Genres
die der illegalen Abtreibungen und Kindstötungen                     überhaupt.
(Serrat 2000).                                                           In Japan sind Totengeister, vor allem die Gestalt
    Die Filmindustrie der betroffenen Länder ist                     des weiblichen Rachegeists, unverzichtbares Per-
durch die Finanzkrise ins Mark getroffen. Als über-                  sonal der Folkloreüberlieferung. Seit jeher aus Lit-
lebensnotwendig gilt vielen der aktive Wettbewerb                    eratur und Theater bekannt, finden sie übergangs­
mit Hollywood. Dieses selbstverordnete Heilmittel                    los ihren Weg in die japanische Filmkunst (hierzu
führt in Japan, Südkorea, Hongkong und Thailand                      umfassend Scherer 2011). Kinofilm, Fernsehen,
zur Neugründung zahlreicher Produktionsfir-                          Videokassette, DVD und mittlerweile Streaming-
men. Die Bemühungen um international wettbe-                         Diens­te setzen somit die traditionell literarische
werbsfähige Filme und der Trend zur Globalisierung                   und orale Überlieferung mit anderen Mitteln fort
sind somit dem ökonomischen Kalkül geschuldet.                       und intensivieren diese.
Die Neuerfindung des asiatischen Kinos der Angst                         Dieser Effekt lässt sich in allen Gesellschaften
(und nicht jenes der Comedy oder Liebesromanze)                      der Region von Thailand bis Taiwan feststellen.
korrespondiert mit Stoffen und Darstellungsfor-                      Womöglich irreführend ist allerdings die Rede von
men, in denen Kultur- und Filmwissenschaft Iden-                     ‚Folklore‘ und ‚Volksglaube‘, die in der Fachliteratur
titätskrisen erkennen. Diese werden individuell als                  durchaus üblich ist. Im deutschen Sprachgebrauch
Krise von Maskulinität, tradierten Geschlechterrol-                  zumindest legen sich falsche Assoziationen mit vor-
len und des erodierenden Schutzraums der Familie                     modernem Brauchtum, Kinderschreck und Aber-
erfahren (für Thailand z.B. Davis 2003: 62f.; Knee                   glauben nahe. Diese hier eingeschaltete Distanz ver-
2009: 81; Richards 2010: 129f.; Baumann 2013; für                    kennt die hautnahe Gegenwart des Gespenstischen,
Südkorea Choi 2009: 40; Cagle 2009: 128f.; für Ja-                   gerade eben auch in der Moderne. Die Präsenz von
pan Balmain 2008: 129, 143, 168; Richards 2010:                      Geistern ist eben keineswegs nur auf populäre Un-
49ff.; für Hongkong Heffernan 2009).                                 terhaltung beschränkt, sondern wird in Ritual und
    Auch wenn sich für zahlreiche Themen und                         oraler Überlieferung ebenso aktualisiert wie in koll-
Motive des asiatischen Extremkinos historische                       ektiven Angstvorstellungen (Bräunlein 2008).
Vorläufer finden lassen, fällt doch auf, dass die Jahr-                  Die Geisterfilme der Jahrtausendwende setzen
tausendwende hierfür eine höchst produktive und                      das traditionelle Geistermotiv auf innovative Weise
innovative Phase darstellt. Bizarrer Body Horror                     ein. Mehrheitlich im urbanen Mittelschichtmilieu
und die Allgegenwart der Toten wirken gleicher-                      angesiedelt, sind es einerseits Störungen des Innen­
maßen befremdlich wie faszinierend. Aus dieser                       lebens, Wahnvorstellungen, ein dysfunktionales
Perspektive erscheint die spätkapitalistische Mod-                   Selbst, die die Kommunikation mit Geistern
erne in fahles Licht getaucht; ein Gefühl des Un-                    auslösen. Zum anderen spielen technische Kommu­
heimlichen macht sich breit.                                         ni­kations­mittel eine vielfach zentrale Rolle. TV,
                                                                     Videokassette, Mobiltelefon, der PC, das Internet.
                                                                     Sie dienen rachsüchtigen Toten als Einfallstore,
                                                                     um ihren Terror effektiv zu verbreiten. Vor diesem

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DORISEA – Dynamics of Religion in Southeast Asia                                                                     5

Terror gibt es kein Entkommen. „Sie haben eine                       Terror und Trauma als charakteristische Elemente
E-Mail“, meldet der Computer, das Telefon schrillt                   des Genres thematisieren. Um für Genre uner-
oder der Geist kriecht direkt aus dem TV ins                         fahrene Leser und Leserinnen Zugänge zum asia-
Wohnzimmer. Kommunikationsmedien sind hier                           tischen Geisterfilm zu ebnen, sollen zunächst einige
„Technologien der Angst“ (Bickenbach 2009). Das                      herausragende Beispiele vorgestellt werden (hier-
Versprechen der Moderne, mit „High Tech“ unser                       zu auch Bräunlein 2008: 162–168, Bräunlein und
Leben komfortabler, sicherer und damit angstfreier                   Lauser 2016).
zu gestalten, wird hier ins Gegenteil verkehrt.
Neben Medientechnologie treten medial begabte
Individuen; meist unfreiwillige Geisterseher, die die                TRANSNATIONALE GEISTERFILME AUS OST- UND
Botschaften aus dem nahen Jenseits decodieren.                       SÜDOSTASIEN
    Demnach sind technische Medien Transmitter
von Modernität, veränderten sozialen Beziehungen
und neuen Kommunikationsverhältnissen. Mensch­                       RINGU [DER RING] von Hideo Nakata (Japan 1998)
liche Medien, die den Stimmen der Verstorbenen
Gehör verleihen, repräsentieren den traditionellen                   Die Journalistin Reiko Asakawa will einer Todes-
Kontakt mit der Geisterwelt. Der generelle Zusam-                    serie von Teenagern auf die Spur kommen. Eine
menhang von Trancemedien und Neuen Medien ist                        Videokassette, so geht das Gerücht, bringe jedem,
am Beispiel des europäischen Spiritismus intensiv-                   der sie besitzt, nach genau sieben Tagen den Tod.
er erforscht (z.B. Hahn und Schüttpelz 2009). Im                     Nachdem das Video gesehen wird, klingelt das Tele-
Banne der Modernisierungs- und Rationalisierungs­                    fon, und die Uhr tickt erbarmungslos dem Ende des
these in der Tradition Max Webers wurde von His-                     Opfers entgegen. Tatsächlich gelangt die Reporterin
torikerseite lange ignoriert, dass neben National-                   in Besitz des Videos, auf dem eine geheimnisvolle
staat, Bildungsbürgertum, Industrialisierung und                     Frau zu sehen ist. Asakawa kommt einem mörde­
Technologiefaszination auch die Frage nach dem                       rischen Familiendrama auf die Spur. Im Mittelpunkt
Fortleben der Toten die Mentalitätslage des 19.                      steht die Yamamura-Familie, deren Angehörigen
Jahrhunderts maßgeblich bestimmte. Einschlägige                      übersinnliche Befähigung nachgesagt werden.
religiöse, naturwissenschaftlich-medizinische und                    Sadako Yamamura, so verdichten sich Hinweise,
philosophische Diskurse zeigen dies überdeutlich                     ist die Urheberin des Video-Fluchs, doch ist sie seit
(Sawicki 2002).                                                      dreißig Jahren verschwunden. Reiko Asakawa und
    Die sublime Zweideutigkeit des modernen Me-                      ihr Ex-Mann Ryuji finden schließlich die Leiche
dienbegriffs, der neben technologischer Innovation                   Sadakos in einem Brunnen, in den sie einst vom
eben auch Mediumismus, also Geisterkommunika-                        eige­nen Vater gestoßen wurde. Sie glauben, mit der
tion, mit einschließt (Schüttpelz 2012), wird im                     Bergung und Bestattung der Leiche den Fluch ge-
neuen asiatischen Geisterfilm explizit gemacht. Die                  brochen zu haben. Allerdings wird kurze Zeit später
digitale Revolution der zweiten Moderne evoziert                     auch Ryuji Opfer Sadakos. Asakawa erkennt, dass
die Geisterkommunikation der ersten Moderne. Der                     die einzige Möglichkeit, sich zu retten darin besteht,
Spiritismus der bürgerlichen Salons, ganz wesent­                    eine Kopie des Videos anzufertigen und an eine an-
lich gerahmt von Unterhaltung, Spaß und Spannung                     dere Person weiterzugeben. Sie ruft ihren Vater an,
(Natale 2013), hallt wider im Cineplex-Spiritismus                   um ihn um einen Gefallen zu bitten. Der Film endet
der Jahrtausendwende.                                                mit der Fahrt dorthin.
    Geistersehen ist dabei kein Selbstzweck.                             Effekte des Unheimlichen werden in RINGU über
Verhandelt werden Zumutungen der Moderne,                            Telefon, Videokassette und Fernsehapparat erzeugt
die sich in schuldhaften Verstrickungen und                          (White 2005: 41). Das TV-Gerät, das normalerweise
niederen Instinkten, dunklen Obsessionen und                         den Schrecken der Welt auf Distanz hält, wird zum
Gewaltexzessen manifestieren. Untote treten als                      Einfallstor des Gespenstischen. Aus ihm kriecht
Kläger und Rächer auf den Plan. In einem cha­o­                      Sadako ins Wohnzimmer von Ryuji und verwandelt
tischen Diesseits, das jegliche moralische Maß­                      das vertraute Heim in einen Raum des Unheimli-
stäbe zu verlieren scheint, fordern sie Vergeltung.                  chen. Sadako, weiblich, langhaarig, weißgekleidet,
Ihre Botschaft lautet: an Deinen Taten wirst Du                      ist ein Rachegeist in bereits erwähnter japanischer
gemessen, kein Unrecht bleibt vergessen, die Hölle                   Tradition. Ein Geist, dem zu Lebzeiten Unrecht
ist nicht fern.                                                      zugefügt wurde, der maßlos in seinem Rachebedürf-
    Die asiatischen Geisterfilme der Jahr-                           nis ist und doch letztlich Erlösung sucht. Der Terror,
tausendwende haben die Aufmerksamkeit einer                          den Sadako ausübt, liegt in der Erzeugung
Reihe von Filmwissenschaftlern und Filmwissen-
schaftlerinnen, Medienethnologen und Medien­                             „einer gespannten Erwartung, die eine unbestim-
ethnologinnen auf sich gezogen. Wie nicht anders                         mte Angst auslöst. [...] Sadako und ihr Fluch töten
zu erwarten, sind die Ergebnisse ihrer Interpreta-                       ihre Opfer durch nichts anderes als durch deren
tionsbemühungen keineswegs eindeutig. Drei m.E.                          eigene Angst. Bis zum Ende des Films bleibt die
anregende Lesarten seien vorgestellt, die allesamt                       Präsenz von ‚Etwas‘ [...] unsichtbar. Erst am Ende,

                                        DORISEA Working Paper, ISSUE 25, 2021, ISSN: 2196-6893
DORISEA – Dynamics of Religion in Southeast Asia                                                                   6

    als Sadako zum leibhaftigen Gespenst mutiert,                    einen Schüler auf, der schon länger dem Unter-
    wird ihr Mittel und Medium der Angst­erzeugung                   richt ferngeblieben war. In einer völlig verwüsteten
    noch genauer gezeigt: Es ist der Blick aus einem                 Wohnung findet er den verletzten Toshio vor, der,
    einzelnen verdrehten Auge, der unter ihren lan-                  offenbar tief traumatisiert, nur seltsame, katzen­
    gen Haaren dieses eine Mal ‚hervorsticht‘“ (Bick-                ähnliche Laute auszustoßen vermag. Aus dem Tage-
    enbach 2009: 175).                                               buch der Mutter entnimmt der Lehrer, dass diese
                                                                     sich ohne sein Wissen in ihn verliebt hatte, und ent-
    Das Bedrohliche des Films liegt nicht in der                     deckt alsbald in einem Wandschrank die Leiche von
Darstellung offener Gewalt, sondern in einer be-                     Toshios Mutter Kayako. Von Panik erfasst will er mit
sonderen Atmosphäre latenter Bedrohung. Er-                          dem Jungen die Wohnung verlassen, als das Telefon
zeugt wird diese Atmosphäre durch ausgefeiltes                       klingelt und sich Toshios Vater, Takeo Saeki, meldet.
Sound Design, Kameraführung und Beleuchtung.                         Er gesteht den Eifersuchtsmord und erklärt über-
Das Kratzen der blutigen Fingernägel Sadakos, das                    dies, dass er soeben die hochschwangere Frau des
Rauschen des Fernsehbildschirms, das plötzliche                      Lehrers getötet hätte. Während Kobayashi noch fas-
Schrillen des Telefons, sehr tiefe oder metallisch                   sungslos der Stimme im Telefon lauscht, verändert
hohe Töne als Geräuschkulisse – all dies erzeugt                     sich Toshio, der in Geistergestalt seinen Lehrer „zu
eine zutiefst beklemmende Stimmung, die durch                        Tode” erschreckt.
dämmriges Licht und grobkörnigen Film effektvoll                         Jahre später zieht eine andere Familie ein und
unterstützt wird. Es gibt keinen einzigen Sonnentag                  das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Das auftretende
in RINGU. Die Psychologie menschlicher Furcht                        Geisterpersonal, Toshio mit Vater und Mutter, sind
wird zielsicher in all ihren Facetten adressiert: enge               zunächst nicht als Untote erkennbar, zeigen auf den
Räume, Dunkelheit, Einsamkeit und existenzielle                      zweiten Blick jedoch sehr drastisch, was in ihnen
Verunsicherung (Ng 2009: 39f.).                                      wirklich steckt, nämlich gnadenlose Rachsucht. Alle
    RINGU entfaltete einen immensen Einfluss                         drei sind Opfer von Eifersucht und transformieren
sowohl in Ost- und Südostasien wie auch in Holly-                    zu Rachegeistern.
wood. Es ist keine Übertreibung zu behaupten, dass                       Ein weiteres Thema des Films, der Wandel
“almost all Asian ghost films made after 1999, to                    von der erweiterten patriachalen Großfamilie
a certain extent, are under the spell of Ringu” (Ng                  zur modernen urbanen Kernfamilie, ist häufig
2009: 40). Während Hollywood das Copyright aus                       Gegenstand von Literatur und Film. Dies intensiviert
Japan kauft und Remakes produziert, die im Westen                    sich insbesondere im Zuge der Asienkrise, die sich in
zirkulieren, kopieren Filmemacher Asiens, teilweise                  vielfältigen Familienkrisen niederschlägt. In JU-ON
in Kooperation mit japanischen Kollegen, die Story                   wird davon ein kleiner, im Wortsinn bedrückender
von RINGU, seine szenische Darstellungsform und                      Aspekt vorgestellt. Die beklemmende Enge des
das Charakter-Design. Dieser RINGU-Effekt bringt                     Spuk­hauses verweist auf die Enge der Kleinfamilie
unter dem Label J-Horror ein neuen Typus von                         und Shimizu Takashi gelingt es virtuos, die
Geister­film hervor, der ein ungeahntes Massenpub-                   Intimität des Familienraums in klaustrophobisches
likum findet. Kennzeichnend ist eine Verbindung                      Entsetzen zu verwandeln (Wada-Marciano 2009:
aus Science Fiction-Elementen und Geisterhorror.                     19). Fluchtversuche der Ehefrau, auch wenn sie
Verarbeitet werden Motive wie etwa DNA, Hirnwel-                     nur in der Fantasie erfolgen, werden grausam
len, Hypnose, Virusinfektionen, Computer-Hacking                     bestraft. Die Zerstörung der Kleinfamilie durch den
und es sind Kommunikationsmedien (TV, Video,                         gewalttätigen Vater und Ehemann gebiert Horror
Computer, Handy usw.), die Angst erzeugen. Diese                     (Balmain 2008: 128, 143–147). Das abgrundtief
Technophobie spiegelt den postmodernen Pessi-                        Böse, das durch blindwütige Eifersucht, Mord und
mismus spätkapitalistischer Gesellschaften (Pinedo                   Selbstmord in die Welt gesetzt ist, treibt alle, die
2004, Ng 2009: 39f.).                                                damit in Berührung kommen, in Wahnsinn und Tod.
                                                                     Es gibt kein Happy End, das Grauen geht weiter.
                                                                         Spukhaus, Familiendrama und Rachegeist sind
JU-ON [DER FLUCH] von Shimizu Takashi (Japan                         wohlbekannte Genre-Bausteine. Shimizu Takashis
2000).                                                               packende Inszenierung nutzt diese Elemente
                                                                     eigenwillig und kombiniert visuelle Erfindungen
Im Vorspann des Films wird das Titelmotiv, der                       des Holly­wood-Horrors, vor allem Wes Cravens
todbringende Fluch, erläutert: “Ju-On, the curse                     A NIGHTMARE ON ELM STREET (1984), THE
of one who dies in the grip of anger. It gathers and                 AMITYVILLE HORROR (1979) und THE SHINING
takes effect in the places where that person was alive.              (1980) mit japanischen Narrativen und Motiven
Those who encounter it die, and a new curse is born”.                (McRoy 2005, 2008: 75–82; Kalat 2007).
Ähnlich wie in RINGU geht es um die fatalen Folge­                   JU‑ON wurde ein weltweiter Erfolg, der sieben
wirkungen eines blutigen Familiendramas, und                         Fortsetzungen und Varianten des Films stimulierte,
wie in RINGU verbreitet sich der Todesfluch unauf-                   wobei für das US-Remake Shimizu Takashi selbst
haltsam wie ein ansteckender Virus. In einem Vor­                    als Regisseur angeworben wurde (JU-ON: THE
ort Tokyos sucht der Grundschullehrer Kobayashi                      GRUDGE, 2004).

                                        DORISEA Working Paper, ISSUE 25, 2021, ISSN: 2196-6893
DORISEA – Dynamics of Religion in Southeast Asia                                                                    7

PULSE/KAIRO von Kiyoshi Kurosawa (Japan 2001)                            In Japan waren Besitz und Nutzung des kabel-
                                                                     losen Telefon (jap. keitai) Ende der 1990er Jahre
Die Floristin Michi, neu in Tokyo, wird beim Besuch                  mit einer expliziten Technologie-Verheißung
ihres Kollegen Taguchi Zeugin von dessen Selbst-                     verbunden: größtmögliche virtuelle Vernetzung
mord. Auf einer hinterlassenen CD entdecken Michi                    schafft Freiheit und Unabhängigkeit von jeglichen
und ihre Kollegen Bilder einer jenseitige Schatten-                  raum-zeitlichen Beschränkungen. Texte versend-
welt. Aus dem Monitor starrt ihnen ein geister­                      en, Waren einkaufen, Rechnungen bezahlen, GPS‑​
haftes Gesicht entgegen. Wenig später meldet sich                    Ortung, TV-Sendungen gucken, eigene Filme erstel­
der tote Taguchi am Telefon und wiederholt in einer                  len und verschicken, Verabredungen arrangie­ren,
Endlosschleife die zwei Worte „Hilf mir!“. In den fol-               in virtuellen Räumen chatten usw. Keitai-Kultur
genden Wochen verschwinden viele von Michis Kol-                     (Nguyen 2004) hat längst die japanische Ge-
legen oder sie begehen aus ungeklärten Gründen                       sellschaft durchdrungen und auch jenseits Japans
Suizid. Auffällig häufig versiegeln die Bewohner To-                 sind die urbanen Ballungszentren Asiens bevölkert
kyos Räume mit rotem Klebeband. Michi entdeckt,                      von permanent elektronisch kommunizierender
dass die Geister der Verschwundenen in diesen                        Menschen, die sich nicht mehr in die Augen schau-
Isolationszellen verharren, ehe sie sich vollends                    en. Kurosawa setzt mit PULSE in der Frühphase der
auflösen. In einem parallelen Erzählstrang gerät                     keitai-Utopie eine Dystopie entgegen und hat damit
der Student Ryosuke an eine Software, die dazu                       einen der verstörendsten Filme überhaupt geschaf-
auffordert, Geister zu treffen. Das Programm wählt                   fen (Balmain 2008: 183–86).
sich an Ryosukes PC selbsttätig ein und die Webcam
zeigt schemenhaft eine Gestalt mit einer Mülltüte
über dem Kopf, dahinter auf der Wand die Schrift                     JIAN-GUI [THE EYE] von Oxide und Danny Pang
„Hilf mir!“. Ryosuke wendet sich an Kommilitonen                     (Thailand/Hongkong/Singapur 2002)
im Computer Lab der Universität. Nach Analyse der
Software findet man heraus, dass das Programm                        Erzählt wird die Geschichte der blind aufgewachs­
als Schnittstelle zum Totenreich fungiert. Die Jen-                  enen Mun, einer in Hongkong lebenden erfolg­­­
seitswelt ist überfüllt, die Toten drängen über das                  reichen Konzertviolinistin. Durch eine Hornhaut-
Internet in die Welt der Lebenden. Der Geisterkon-                   verpflanzung gewinnt sie ihre Sehkraft zurück. Da
takt bewirkt ein Gefühl der Depression und kurze                     das Sehen jedoch behutsam neu erlernt werden
Zeit darauf lösen sich die Betroffenen auf. Nichts als               muss, betreut sie der junge Psychotherapeut Lo
Ascheflocken und Brandspuren an Wänden bleiben                       Wah. Mit der schrittweisen Erlangung der Sehkraft
zurück. Allerdings ist ihnen der Zugang zum Toten-                   wird Mun mit merkwürdigen Phänomenen konfron-
reich versperrt und sie sind dazu verdammt, auf                      tiert. Im Spiegel sieht sie nicht ihr eigenes, sondern
immer in einer Zwischenwelt des Schweigens zu                        ein fremdes Gesicht und Schemen im Krankenhaus-
verharren. Eine Selbstmordwelle greift um sich, der                  flur scheint außer ihr niemand anderer zu sehen.
Verkehr bricht zusammen, ein Jumbojet stürzt ab,                     Die neue Hornhaut ermöglicht beängstigende Ein-
die Stadt versinkt im Chaos. Tokyo wird evakuiert.                   blicke in die Welt der Toten, wie sie alsbald erken­
Michi und Ryosuke treffen sich und entkommen zu-                     nen muss. Mun sieht nicht nur, wie die Seelen von
nächst gemeinsam dem tödlichen Geisterkontakt.                       Verstorbenen „geholt“ werden, sondern auch das
Sie ziehen durch das entvölkerte Tokyo und ver-                      qualvolle Schicksal jener, die der „schlimme Tod“
suchen auf einem Schiff nach Südamerika zu ent-                      – Selbst­mord, Mord, Unfalltod – ereilte. Die trans-
fliehen. Sie erfahren, dass an vielen Orten der Welt                 plantierte Augenhornhaut, so stellt sich heraus,
der Untergang droht. Am Ende verschwindet auch                       stammt von einer Spenderin aus einem entlegenen
Ryosuke und Michi bleibt als einsame Überlebende                     Dorf in Thailand. Mun und ihr Therapeut begeben
dieser Apokalypse zurück.                                            sich dort­hin und erfahren, dass die junge Frau, „se-
    Wie in RINGU und JU-ON entfaltet auch in PULSE                   herisch“ begabt, zukünftiges Unglück vorhersagen
ein todbringender Fluch seine Wirkung. Ein Com-                      konnte. Als sie eine Feuerkatastrophe ankündigt,
puterprogramm infiziert die User mit Depression                      die dann auch eintritt, wird sie von den Dorfbe-
und Todessehnsucht. Kurosoawa beschreibt nicht                       wohnern für das Unglück verantwortlich gemacht.
nur die gespenstische Eigenmächtigkeit von Com-                      Geächtet und als Hexe verschrien, wird Selbstmord
puterprogrammen, er schildert in dystopischen                        zum einzigen Ausweg. Sie erhängt sich. Die eigene
Bildern den Fluch des Internets. Nicht ein Mehr                      Mutter jedoch kann ihr diese Tat nicht verzeihen.
an zwischenmenschlicher Kommunikation ist die                        Nacht für Nacht wiederholt sich seither der Selbst­
Folge, sondern Kommunikationsunfähigkeit, kata-                      mord. Mun und ihr Begleiter können die Mutter
tonische Starre, Leblosigkeit. Der PC-User, der über                 überzeugen, ihrer Tochter zu verzeihen und für sie
seine Tastatur Kontakt zu anderen Menschen sucht,                    ein buddhistisches Ritual durchführen zu lassen,
trifft auf Gespenster und endet in der Hölle ewiger                  um ihrer Seele Frieden zu schenken. Das ist jedoch
Isolation. Die Geister des Internet überfluten un-                   nicht das Happy End. Mun muss feststellen, dass
sere Welt, zerstören das soziale Miteinander und                     auch sie die Gabe, Katastrophen vorherzusehen,
führen die Apokalypse herbei.                                        geerbt hat. Diese Gabe wird alsbald auf die Probe

                                        DORISEA Working Paper, ISSUE 25, 2021, ISSN: 2196-6893
DORISEA – Dynamics of Religion in Southeast Asia                                                                       8

gestellt und erweist sich als Fluch, da sie nicht in                 nach­dem er mit ihr gebrochen hatte. Er flieht auf
der Lage ist, Menschen zu warnen und zu retten.                      das Dach eines Hochhauses und Siu‑yu drängt ihn
Mun entschließt sich, die Implantate entfernen zu                    zu springen. Law zeigt Reue und bittet um Verge-
lassen und lebt wieder ihr Leben als Blinde.                         bung. Siu-yu verschwindet in dem Moment, als Yan
    Es ist der Fortschritt von Medizintechnologie,                   das Dach betritt. Der Film endet versöhnlich. Law
der aus einer zunächst mit sich zufriedenen blinden                  und Yan sitzen als Liebespaar gemeinsam nebenei­
jungen Frau eine Seherin werden lässt, die plötzlich                 nander. INNER SENSES erregte besondere Aufmerk-
entsetzliche Dinge wahrnehmen muss. Zusammen                         samkeit, da sich der Hauptdarsteller Leslie Cheung,
mit Mun lernt der Zuschauer das Geistersehen und                     ein in ganz Asien bekannter Superstar, am 1. April
erfährt zudem vom Schrecken einer Jenseitswelt,                      2003 vom Dach des Hongkonger Mandarin Oriental
die nicht fernab, irgendwo „da unten“, zu finden ist,                Hotels in den Tod stürzte und in seinem Abschieds-
sondern uns hautnah umgibt. Die unerlösten Toten                     brief unerträgliche Depressionen als Grund nannte
sind verdammt, ihr gewaltsames Ende immer aufs                       (Heffernan 2009: 57). INNER SENSES war der letzte
Neue zu wiederholen. Unbewältigte Probleme der                       Film Leslie Cheungs.
Vergangenheit lassen sie nicht ruhen. Der Motiv­
komplex wurde in dem international beachteten
Hollywood-Film THE SIXTH SENSE (1999) bekannt                        JANGHWA, HONGRYEON [A TALE OF TWO SISTERS]
und die Pang-Brüder greifen in ihrer Filmsprache                     von Kim Jee-woon (Korea 2003)
auf dieses Vorbild zurück (Knee 2009: 72). Doch
ist THE EYE weit mehr als bloßes Hollywood­imitat,                   Das Mädchen Su-mi wird von ihrem Vater und der
sondern trägt eigenständig, pan-asiatische Züge                      jüngeren Schwester Su-yeon von einer psychia-
(Lee­2016). Das Thema der unerlösten Toten, das im                   trischen Klinik abgeholt und ins familiäre Zuhause
ersten Teil des Films in Hongkong eingeführt wird,                   im ländlichen Umfeld gebracht. Ihre Stiefmutter
verdichtet sich in einem thailändischen Dorf: der                    Eun-joo empfängt sie kühl und auch der Vater ist dis-
soziale Tod einer als Hexerin verschrienen Frau, das                 tanziert und passiv. Su-yeon wird von Albträumen
Trauma des Selbstmords, die allnächtliche Wieder­                    geplagt. Auch Su-mi hat angsterregende Geister-
kehr der Toten, eine schwierige Mutter-Tochter                       visionen und hegt den Verdacht, dass ihre jüngere
Beziehung, die über den Tod hinausreicht, die er-                    Schwester von der Stiefmutter misshandelt wird.
lösende Kraft des buddhistischen Totenrituals.                       Eines Abends besucht der Onkel mit seiner Frau die
                                                                     Familie. Im Laufe des Essens erleidet die Ehefrau
                                                                     des Onkels einen Ohnmachtsanfall. Als sie wieder
YEE DO HUNG GAAN [INNER SENSES] von Law Chi-                         zu sich kommt, behauptet sie, ein Mädchen unter
leung (Hongkong 2002)                                                der Küchenspüle gesehen zu haben. Auch die Stief-
                                                                     mutter sieht das Mädchen und als sie ihren gelieb-
Die junge Frau Yan sucht nach einem Selbstmord­                      ten Vogel tot im Käfig findet, ist für sie klar, dass all
versuch verzweifelt die Hilfe eines Psychiaters, da                  diese seltsamen Dinge mit der Rückkehr Su‑mis zu
sie Geister sieht. Der angesehene Dr. Jim Law (Les-                  tun haben. Der Vater macht Su-mi Vorwürfe, doch
lie Cheung Kwok-wing), der auf Fälle von Geister­                    Su-mi wehrt sich und weist ihn darauf hin, wie bru-
halluzinationen spezialisiert ist, behandelt sie.                    tal die Stiefmutter die Schwester behandeln würde.
Er selbst glaubt als skeptischer Wissenschaftler                     Ihr Vater erklärt, dass die Schwester längst tot sei,
nicht an Geister. Allerdings gerät er in Gewissens­                  doch Su-mi glaubt ihm nicht. Am nächsten Morgen
konflikte, da er sich in seine Klientin verliebt. Yan                wird die Stiefmutter gezeigt, die einen blutgetränk-
kommt zur Einsicht, dass ihre Geistervisionen mit                    ten Sack durch das Haus schleift. Su-mi will den
unterdrückten Ereignissen der Vergangenheit zu                       Sack öffnen, da sie ihre Schwester darin vermutet.
tun haben. Ihr Zustand bessert sich scheinbar. Als                   Im Handgemenge verletzt sie ihre Stiefmutter mit
Dr. Law jedoch ihr vorsichtig seine Verliebtheit                     einer Schere, wird jedoch selbst niedergeschlagen
eingesteht, fürchtet sie, er würde sie ebenso fallen                 und verliert das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich
lassen wie ihr Ex-Freund. Sie erlebt einen Rückfall,                 kommt, wird sie von der Stiefmutter durchs Haus
sieht erneut Geister und versucht, sich umzubring-                   gezerrt und verspottet. Sie versucht Su-mi mit einer
en. Sie überlebt und Law gelingt es, den Heilungs­                   Tonfigur zu erschlagen. Dies misslingt, da der Vater
prozess zu befördern, indem er ihre geschiedenen                     nach Hause kommt. Nun stellt sich heraus, dass
Eltern zusammenführt. Allerdings beginnt Law                         sowohl die Auseinandersetzungen mit Eun-joo wie
nun seinerseits Geister zu sehen, bekommt Alb-                       auch die Anwesenheit der jüngeren Schwester Ein-
träume und schlafwandelt. Seine Persönlichkeit                       bildungen einer gespaltenen Persönlichkeit sind.
verändert sich. Er nimmt Antidepressiva und wird                     In Wirklichkeit ist Su-mi seit ihrer Rückkehr mit
zunehmend aggressiv. Heimlich verabreicht er sich                    ihrem Vater allein im Haus und die Stiefmutter Eun-
selbst Elektro­schocks in therapeutischer Absicht,                   joo hat in Wirklichkeit ein anderes Aussehen als die
ohne dass dies die gewünschte Wirkung zeigt. Be-                     bisher aufgetretene Stiefmutter. Su-mi wird zurück
sessen wird er vom rachelüsterne Geist seiner eins­                  in die Klinik gebracht. Währenddessen wird die
tigen Freundin Siu-yu. Sie hatte sich selbst getötet                 Stiefmutter von Su-yeons Geist heimgesucht und

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DORISEA – Dynamics of Religion in Southeast Asia                                                                  9

(scheinbar?) getötet. In einer Rückblende werden                     Reihe von Selbstmorden. Schließlich kommt June
Schlüsselereignisse der Vergangenheit geschildert,                   auf die Spur des Rachegeistes. Sie kann den Geist
die die Störung Su-mis erklären. Der Vater kommt                     als das Mädchen Natre identifizieren, die frühere
mit Eun-joo in das Haus, in dem die wirkliche Mut-                   Kommilitonin und heimliche Freundin von Tun. Im
ter mit den Töchtern lebt. Die Atmosphäre ist an­                    Elternhaus Natres finden Tun und Jane ihren halb
gespannt, es kommt zu heftigen Wortgefechten mit                     verwesten Leichnam und erfahren von der Mutter
Eun-joo. Su-mi rennt wütend weg. Ihre Schwester                      vom Suizid des Mädchen. Mit einer Feuerbestattung
begibt sich ins Zimmer der Mutter und weint. Als                     soll dem Spuk ein Ende bereitet werden. Jane findet
sie erwacht, entdeckt sie ihre eigene Mutter, die sich               in einer Schublade Negativfilme aus dem Besitz von
im Kleiderschrank erhängt hat. Panisch versucht                      Natre. Sie zeigen ihre Misshandlung und Vergewal-
sie, die Mutter zu retten. Dabei stürzt der Schrank                  tigung durch Tuns Freunde (die sich mittlerweile
auf sie. Alle im Haus hören das Geräusch, doch nur                   alle selbst getötet haben). Tun selbst hat diese Fo-
Eun-joo betritt den Raum und will nach kurzem                        tos aufgenommen, ohne Natre zu Hilfe zu kommen.
Zögern Su-yeon helfen. Als jedoch Su-mi, ohne die                    Jane wendet sich empört von Tun ab. Dieser foto-
Dramatik der Situation zu erkennen, hinzu­kommt                      grafiert mit einer Polaroidkamera seine Wohnung
und sie beleidigt, warnt sie Su-mi, dass sie ihre                    und entdeckt den Geist Natres auf seinen Schultern
Worte bereu­en werde. Su-mi verlässt das Haus. Su-                   hockend. Er stürzt sich verzweifelt aus dem Fenster,
yeon stirbt unter dem Schrank, ohne dass Eun-joo                     überlebt jedoch den Sturz. Im Krankenhaus besucht
eingreift.                                                           ihn Jane. Die letzte Einstellung zeigt ihn und den
    Die kammerspielartige Inszenierung, sorgfäl-                     Geist Natres, die ihm immer noch im Nacken sitzt.
tige Beleuchtung und Farbgebung vermitteln eine                          Wie in RINGU ist es ein technisches Medium,
irritierend hypnotische Stimmung, in der sich die                    über das ein Geist in Erscheinung tritt, um eine Un-
Enge der Kindheit der Schwestern verdichtet (Choi                    tat zu rächen. In RINGU nutzt der Geist Videokas­
2009: 53f.). Die Geschichte der bösen Stiefmutter,                   sette, Fernsehgerät und Telefon, um sich mitzu-
die für den Tod der Mutter und der Schwester ver-                    teilen, hier ist es die Polaroidkamera. Im Mittel-
antwortlich ist, wird aus der Perspektive der Teen-                  punkt stehen eine missachtete Liebe, sexueller
agerin Su-mi entfaltet. Liebe, Tod und Wahnsinn                      Missbrauch und verleugnete Schuld. SHUTTER ist
sind zentrale Themen der Erzählung. Die Leugnung                     einerseits Medien­reflexion. Durch den sich öffnen­
des endgültigen Verlustes einer geliebten Person ist                 den Verschluss (shutter) des Kameraobjektivs wird
nur im Wahn möglich. Doch gleichzeitig erzeugt das                   der Geist auf der (Polaroid-)Fotografie präsent.
wahnhafte Festklammern gespenstische Effekte.                        Anderer­seits ist der Film ein hochmoralisches Dra-
Die Geliebten treten als Untote in Erscheinung und                   ma, das von der Unvermeidlichkeit von Schuld und
entfalten aus dieser Position Handlungsmacht. Der                    Sühne zeugt. Niemand kann der Last der Vergan-
Filmemacher Kim Jee-woon versteht es virtuos, das                    genheit und damit dem karmischen Gesetz entkom-
Gespenstische in einem Zwischenraum von Patho­                       men.
logie und Realität anzusiedeln. Was am Ende jedoch
unleugbar bleibt, ist die Zerstörung der Familie.
Aus einem Horrorfilm wird eine Familientragödie.                     THE MAID von Kelvin Tong (Singapur 2005)
In Korea wurde der Film vermutlich genau deswe-
gen zu einem sensationellen Erfolg, der 2003 sogar                   Die 18-jährige Rosa, eine Filipina, kommt nach Sin-
den Blockbuster THE MATRIX RELOADED aus dem                          gapur, um in der Familie Teo als Haushaltshilfe zu
Rennen schlug (Galloway 2006: 37).                                   arbeiten. Herr und Frau Teo heißen sie herzlich
                                                                     willkommen. Ihr geistig behinderte Sohn Ah Soon
                                                                     freundet sich schnell mit Rosa an. Es ist der siebte
SHUTTER von Banjong Pisanthanakun und                                Monat im chinesischen Kalender, der Geistermonat,
Parkpoom Wongpoom (Thailand 2004)                                    in dem nach chinesischem Glauben die Tore zum
                                                                     Jenseits geöffnet sind und die Toten die Welt der
Der Fotograf Tun und seine Freundin Jane über-                       Lebenden besuchen können. Rosa wird von merk-
fahren nachts eine junge Frau auf einsamer Weg­                      würdige Erscheinungen und Träumen gequält. Sie
strecke. Jane will der reglos auf der Straße liegen­                 findet heraus, dass früher bereits eine andere Fili­
den Frau helfen, doch Tun überredet sie zur Fahrer­                  pina, Esther, als Maid in dieser Familie tätig war
flucht. In den kommenden Wochen erscheinen                           und stößt auf einen entsetzlichen Vorgang. Genau
auf Fotos, die Tun entwickeln lässt, merkwürdige                     vor zwei Jahren, an einem Nachmittag im Geister-
Schatten und Gesichter. Zusammen mit Jane kehrt                      monat, wechselt Ah Soons Stimmung abrupt. Aus
er zum Unfallort zurück, erfährt jedoch von der                      Spiel wird plötzlich Agression, er fällt über Esther
Polizei, dass weder ein Unfall gemeldet noch eine                    her und vergewaltigt sie. Als Esther den Vorfall bei
Leiche gefunden wurde. Tun leidet nun unter un-                      der Polizei melden will, wird sie von Herrn Teo
erklärlichen Nackenschmerzen, June unter Alb-                        niedergeschlagen, mit Öl übergossen und bei leben-
träumen und beängstigende Visionen der jungen                        digem Leib verbrannt. Rosa, schockiert von dieser
Frau. Im Freundeskreis von Tun ereignet sich eine                    Entdeckung, will aus dem Haus fliehen, als sich ihr

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DORISEA – Dynamics of Religion in Southeast Asia                                                                    10

Ah Soon entgegenstellt. Rosa wehrt sich mit einem                    Produkt eines komplexen Modernisierungspro­
Messer und stellt dabei fest, dass der Junge selbst                  zesses, ist das Zielpublikum von Geisterfilmen, in
ein Geist ist. Er hat sich kurz nach der Ermordung                   denen Jugendliche häufig als obsessiv gewalttätig
von Esther das Leben genommen und verharrt im                        porträtiert werden. Von außen betrachtet gilt das
Elternhaus, um dem Geist Esthers, seiner großen                      Horror-Subgenre vielfach als verwerfliches Produkt
Liebe, nah zu sein. Als Hausherr Teo realisiert, dass                der Kulturindustrie oder als Symptom des mora­
Rosa hinter das Geheimnis gekommen ist, schlägt er                   lischen Verfalls. Häufig ist der Ruf nach Zensur und
auch sie nieder und fesselt sie. Als Rosa wieder zu                  Verbot die Folge dieser Einschätzung. Gewaltgela­
sich kommt, erklärt er, dass sein Plan von Anfang an                 dene Formen der Unterhaltung, so die Logik, stehen
gewesen sei, sie zu opfern, um sie mit dem Geist des                 unter Verdacht, Gewalt zu erzeugen (Cherry 2009:
Sohnes zu verheiraten. Die Geisterhochzeit würde                     200). Die Lesart Kitiarsas dagegen verhilft zu Ein-
seinem toten Sohn Erlösung schenken. Als er dabei                    blicken in gesellschaftliche Wirklichkeiten. In vielen
ist, Rosa zu erhängen, erklärt sein Sohn, dass genug                 Thai-Geisterfilmen werden die sozialen Bedingun-
Tote im Haus seien und gerät in ein Hand­gemenge                     gen offengelegt, die Gewaltfaszination erst ermögli-
mit seinem Vater. Der stürzt und stößt gegen den                     chen. Leistung und Konsum sind Werte eines neo-
Hausaltar. Lampenöl fließt aus und wird durch                        liberalen Kapitalismus, der mit Verheißungen lockt:
Esthers Geist entflammt. Herr Teo verbrennt. Frau                    Wohlstand, Aufstieg, Glück. Die Kehrseite dieser
Teo, die die Flucht Rosas verhindern will, läuft vor                 Verheißungen zeigt indes ein hässliches Gesicht:
einen fahrenden Lastwagen und stirbt. In der letz-                   Gier und Gewalt, Egoismus und Rücksichtslosigkeit.
ten Szene sitzt Rosa mit der Urne, die Esthers Asche                 Opfer, die auf der Strecke bleiben, fordern Recht
enthält, im Taxi auf dem Weg zum Flughafen. Beim                     und Rache aus der Schattenwelt.
Betreten des Flughafens wird sie von den Geistern                        Kitiarsa resümiert:
der Familie Teo beobachtet.
     THE MAID wurde zu einem beachtlichen trans-                         “In Thai horror films, modernity intensifies viola-
nationalen Erfolg des singapurischen Kinos (Feeley                       tion, violence, and the haunting of the dead. These
2012). Der perfekt regulierte Stadtstaat Singapur,                       films have undressed modernity and revealed its
diese „air-conditioned nation” (Harvey 2008), wird                       naked truth. They mirror modernity’s ironies.
mit allem anderen als mit unberechenbarem Geis-                          (...) Thailand is haunted by the shortcomings of
terhorror assoziiert. Kelvin Tong bricht mit diesem                      modernity: it seems to promise many things, but
Image. Das Fest der hungrigen Geister öffnet die                         cannot always deliver on what it promises; the
Pforten zum Jenseits. Bruchlinien urbaner Funk-                          process of modernization has created as much as
tionalität werden sichtbar und destruktive Kräfte                        it has destroyed. In the Thai context, horror films
freigesetzt, die hinter einer patriarchalen Fa­mi­lien­                  reveal the dark side of urban modernization (...)”
ordnung lauern: unkontrollierte Sexualität, Ausbeu-                      (Kitiarsa 2011: 216).
tung philippinischer Maids, Missbrauch, Mord (Tan
2010). Die Geister der Toten treten als Ankläger                         In eine ähnliche Richtung argumentiert
und Rächer in Erscheinung und sind gleichzeitig                      Andrew Johnson, der bei seinen urbanethnolo-
verurteilt, in einer Hölle auszuharren, die sie sich                 gischen Forschungen in Bangkok und Chiang Mai
selbst geschaffen haben.                                             auf zahlreiche Geisternarrative traf. In Bangkok
                                                                     dokumentierte Johnson u.a. Geschichten von Vi-
                                                                     sionen, Träumen und Geisterscheinungen, die im
I – GEISTERFILME UND DIE DUNKLEN SEITEN                              Kontext von Unfällen auftreten (Johnson 2012).
DER MODERNE                                                          Die ständig lauernde Bedrohung durch den Un-
                                                                     falltod in prekären Arbeitsverhältnissen wird über
Der Boom des neuen Geisterfilms in Ost- und Süd­                     Geisterkommunikation thematisiert. Der unzeitige,
ostasien ist bemerkenswert und verlangt nach                         „schlimme“ Tod, Erzählungen von Spuk-Orten, die
Erklärungen. Im Folgenden seien einige Ansätze                       Begegnung mit unruhigen Totengeistern sind Teil
vorgestellt, die das Unheimliche und Geisterhafte in                 des Alltags. Die eigene Machtlosigkeit wird rituell
den Blick nehmen und die dahinter liegende Faszi-                    kompensiert. In Geisterschreinen werden Kon-
nationskraft zu erläutern versuchen.                                 trakte mit Geistern ausgehandelt. Angesprochen
    Der allzu früh verstorbene thailändische Ethno­                  werden dabei explizit die Geister der Wildnis, ins­
loge Pattana Kitiarsa (1968–2013) befasste sich im                   besondere Kobra- und Baumgeister. Das Chaos
Zuge seiner Forschungen zu Jugend- und Popular­                      muss in Worte gefasst werden, um es handhabbar
kultur auch intensiver mit thailändischen Geister­                   zu machen und zu transformieren.
filmen und deutet dieses Genre als Spiegel ge-
sellschaftlicher Verwerfungen (Kitiarsa 2011). Im                        “Thai spirit shrine devotees equate the chaos that
Mittelpunkt von Thai-Geisterfilmen stehen Gewalt                         they experience in their everyday working lives
und Grenzüberschreitungen. Das absichtliche oder                         with a form of the supernatural. But, unlike that
unabsichtliche Überschreiten gesellschaftlicher Ta-                      in an ‘occult economy’, this supernatural force is
bus setzt Geister in Bewegung. Die urbane Jugend,                        not something that lies out of their reach. Instead,

                                        DORISEA Working Paper, ISSUE 25, 2021, ISSN: 2196-6893
DORISEA – Dynamics of Religion in Southeast Asia                                                                    11

    spirit devotees transform this chaos into some-                  ist kein abrupter, sondern eine Pendelbewegung
    thing over which they have control: a wild thing                 zwischen Präsenz und Absenz. Dieses Oszillieren
    displaced in the city but one with a human face.                 wird greifbar in Phantasmen, so Ivy. Gespenster­
    They do so by naming it, transforming those for­                 geschichten liefern Einblicke in die Zone zwischen
    ces of chaos that they fear in their everyday lives              „gerade noch“ und „nicht mehr“. Artikuliert werden
    into entities with whom they can reason” (John-                  dabei Sehnsüchte und Verlustängste, die sich mit
    son 2012: 775).                                                  dem Vorgang des Verschwindens assoziieren.

    Am Beispiel von Chiang Mai, neben Bangkok                            „The vanishing can only be tracked through the
die wichtigste Metropole Thailands, befasst sich                         poetics of phantasm, through attentiveness to
Andrew Johnson mit den Konsequenzen von Stadt-                           the politics of displacement, deferral, and origi­
planung und zeigt, dass Fortschritt und Entwick-                         nary repetition. Practices and discourse now situ­
lung Geister nicht zum Verschwinden bringen,                             ated at the edge of presence (yet continuously
sondern, im Gegenteil, ihr Erscheinen begünsti-                          repositioned at the core of the national-cultural
gen. Individualisierung, Entfremdung und Ängste                          imaginary) live out partial destinies of spectacu-
vor dem Scheitern sind der Preis für „progress and                       lar recovery. Their status is often ghostly. And it
development“. Das Versprechen von Prosperität                            is through the ghosts of stories and (sometimes)
ist mit Unsicherheit gepaart; Aufstieg und Absturz                       stories of ghosts that I work, disclosing the econo­
sind Geschwister. Auf den wirtschaftlichen Boom                          my of the appropriated marginal, of lacunae in
folgt der Boom der Geister (Johnson 2014: 32). Ein                       representation at the center of the dominant” (Ivy
überhitzter Kapitalismus erzeugt in mehrerlei Hin-                       2009: 20f.).
sicht Leerräume, das ideale Ambiente für Geister.
Die neue Mittelschicht, leistungs- und prestigeori-                      Für Bliss Cua Lim liefern Geisterfilme „Allego­
entiert, lebt in maßgeschneiderten, sterilen Vo-                     rien von Geschichte“ (Lim 2001). Die Zeitqualität,
rorten und wird von innerer Leere befallen. In den                   die im Spuk angelegt ist, sperrt sich dem Diktat
Ruinen des Fortschritts, in leeren, unverkäuflichen                  homogener, linearer, säkularer, leerer Zeit. Geister
Büro- und Appartementgebäuden spukt es, wie                          sind nicht, wie gemeinhin gedeutet, Boten aus der
viele Gesprächspartner Johnsons berichten. Die                       Vergangenheit, die ihre Autorität in der Gegenwart
Invasion der Geister, der Einbruch des bedrohlich                    geltend machen. Ganz im Gegenteil, schreibt Lim,
Übernatürlichen in Krisenzeiten ist im Übrigen ein
wohlvertrauter Topos, der sich in ganz Südostasien                       „the ghostly return of traumatic events precisely
nachweisen lässt und keineswegs auf eine poli-                           troubles the boundaries of past, present, and fu-
tische Metapher zu reduzieren ist. Geister werden                        ture, and cannot be written back to the compla-
als reale Bedrohung erlebt (Siegel 2006). Was John-                      cency of a homogeneous, empty time” (Lim 2001:
sons Ethnographie zutage fördert, das Auftreten                          287).
„realer“ Geister in der urbanen Moderne Thailands
und die rituelle Kommunikation mit ihnen, ver-                       Im Aufbegehren gegen dieses uns natürlich erschei-
doppelt sich gewissermaßen im Geisterfilm, so das                    nende Zeitkonzept liegt eine Provokation. Geister-
Argument Pattana Kitiarsas. Die Allgegenwart von                     filme sind historische Allegorien insofern sie mit
Geistern ist ein Effekt wildgewordener Ökonomie                      dem Vokabular des Übernatürlichen vergangenes
und ohnmächtiger Politik, sie spiegelt die dunklen                   Unrecht, Verlust und Trauma artikulieren:
Seiten der Moderne und betrifft unterschiedslos
Mittelschicht wie Prekariat.                                             „Such ghost narratives productively explore the
    Dieser Deutungsansatz, der das Gespenstische                         dissonance between modernity’s disenchanted
zum Wesensmerkmal von Moderne erklärt, wird                              time and the spectral temporality of haunting in
von einer Reihe von Autorinnen vertieft, beispiels-                      which the presumed boundaries between past,
weise von der Ethnologin Marlyn Ivy (1995) oder                          present, and future, are shown to be shockingly
der Filmwissenschaftlerin Bliss Cua Lim (2009).                          permeable. […] Yet the ghost narrative opens the
Die Moderne, wie auch immer man diesen Begriff                           possibility of a radicalized concept of noncontem-
im Einzelnen ausdifferenziert, beinhaltet stets den                      poraneity; haunting as ghostly return precisely
dramatischen Bruch mit der Vergangenheit, der                            refuses the idea that things are just ‘left behind,’
sich in einem Wandel des Zeit- und Raumgefüges                           that the past is inert and the present uniform. Put
ausdrückt. Fortschritt ist gefräßig und löscht Ver-                      simply, the ghost forces the point of nonsynchro-
gangenheit. Manifest wird dies vor allem in Ar-                          nism. It is this challenge to received ideas of time
chitektur, die wiederum Wohnform und soziale                             that makes the specter a particularly provocative
Beziehungen gestaltet. Mit dem Verschwinden der                          figure for the claims of history” (Lim 2001: 288).
vertrauten Stadtlandschaft schwinden Geborgen-
heit, Identitätsbezüge und Geschichte. Marylin Ivy                      Lim ist maßgeblich inspiriert von Jacques Der-
untersucht Diskurse des Verschwindens und des                        ridas Werk „Spectres de Marx“, das erstmals 1993
Verlustes in Japan. Der Vorgang des Verschwindens                    erscheint (deutsche Übersetzung Derrida 2004). Es

                                        DORISEA Working Paper, ISSUE 25, 2021, ISSN: 2196-6893
DORISEA – Dynamics of Religion in Southeast Asia                                                                    12

handelt sich um eine Auseinandersetzung mit der                          „tatsächlich in einer Art posttraumatischen Situ­
These vom Ende der Geschichte und dem Nieder-                            ation befinden, auch schon vor und nicht nur
gang des Kommunismus. Derrida bestreitet beides                          durch 9/11. Diese Filme suggerieren nämlich,
und entwickelt eine „Hauntologie“, die das Gespens­                      dass sich die Katastrophe — das ‚Ende des Men-
tische, mehr noch das Unheimliche in eine philoso-                       schen‘ — schon ereignet hat, und wir, was unser
phische Metaphorik verwandelt, die seit Mitte der                        Bewusstein, oder besser gesagt, unser tradiertes,
1990er Jahre in die Sozialwissenschaft diffundierte                      kulturell-philosophisches Selbstverständnis an­
(hierzu Bräunlein 2013). Das Gespenst bezeichnet                         geht, tatsächlich schon ‘tot’ sind. Da wir aber noch
hier keine konkrete Wesenheit, sondern fungiert                          am Leben sind, heißt das, dass genau dieses kultur-
als Diskurs- und Denkfigur, die das Zusammenspiel                        elle Selbstverständnis — nennen wir es unseren
von Präsenz und Absenz, Vergessen und Erinnern,                          abendländischen Humanismus, die christliche
heimelig und (un)heimlich fassen soll. Bliss Cua                         Weltauffassung, die Ideale der Aufklärung, der
Lim überträgt diese Anregungen auf die Narrative                         französischen Revolution, kurz unsere ‘Moderne’
des asiatischen Geisterfilms, die sie als anarchische                    — tatsächlich ‘gestorben’ ist und wir uns in der
Kritik an Verdrängen und Vergessen entschlüsselt.                        der so oft zitierten postmodernen, post-humanen,
                                                                         oder (...) post-traumatischen, ‘post-mortem’-Epo­
                                                                         che befinden“ (Elsaesser 2009a: 226).
II – GEISTERFILME ALS “POST-MORTEM” UND
MINDGAME MOVIES                                                         In der US-amerikanischen Kunst der 1990er
                                                                     Jahre stellt Elsaesser die Tendenz fest, und er zitiert
Asiatische Geisterfilme sind in hohem Maße mora­                     hier Hal Foster,
lische Erzählungen, wiewohl in den allermeisten
Fällen ohne Happy End. Sie informieren mit gera-                         „Erfahrungen – individuelle und historische – un-
dezu pädagogischer Leidenschaft über Zustände im                         ter der Terminologie des Traumas neu zu definie­
Jenseits. Die Zuschauer erfahren drastisch, was ein                      ren: Als lingua franca, als Gemeinplatz, wird eine
„schlimmer Tod“ bedeutet und welche nach-todli-                          lingua trauma in der Popkultur gesprochen, in
chen Konsquenzen moralisches Fehlverhalten ent-                          akademischen Reden, in Kunst und Literatur“
faltet. Geisterfilme lehren, wie nahe uns die Toten                      (Foster 1996: 106; Elsaesser 2009a: 225).
sind, und dass allzuviele erlösungsbedürftig und
auf uns Lebende angewiesen sind. Nicht zuletzt                       Traumata im medizinisch-psychologischen Sinn
ist zu lernen, was es heißen kann, in der Hölle zu                   sind begleitet von Gefühllosigkeit und (Teil-)
sein. Didaktischer Impuls und moralischer Im-                        Amnesie. Das Trauma des Filmhelden schützt
petus legen es nahe, das Genre Geisterfilm als                       vor der Konfrontation mit einer schockierenden
“post-mortem”-Kino zu bezeichnen.                                    Wirklich­keit. Das unerträglich Reale muss abge-
    Dieser Begriff wurde jüngst von dem Film-                        wehrt werden.
wissenschaftler Thomas Elsaesser (2009a) stark                           Neben und mit der Tendenz des “post­‑mortem”-
gemacht. Elsaesser befasst sich dabei allerdings                     Kino verweist Elsaesser auf die Strategie des unzu-
nicht mit asiatischen Geisterfilmen, sondern iden-                   verlässigen Erzählens als sein wesentliches Charak-
tifiziert einen Trend des ambitionierten Holly-                      teristikum. Diese Erzählstrategie erfährt hier eine
wood-Kinos der 1990er und frühen 2000er Jahre.                       Zuspitzung insofern immer mehrere Realitäts- und
Die von ihm aufgelisteten Beispiele wie THINGS TO                    Bewusstseinsebenen adressiert sind. Zwar liefert
DO IN DENVER WHEN YOU ARE DEAD 1995, LOST                            Filmkunst an sich schon immer das Angebot, alter-
HIGHWAY 1997, FIGHT CLUB 1999, THE SIXTH                             native Lebensentwürfe durchzuspielen, doch hier
SENSE 1999, AMERICAN BEAUTY 1999, MEMENTO                            wird dieses Charakteristikum des Mediums ganz
2000 u.a. zeigen den Helden als eine Art lebender                    bewusst und höchst raffiniert eingesetzt. Es geht um
Toter, als jemand, der seinen Tod irgendwie über-                    „Gedankenspiele, die man mit Filmen spielen kann“
lebt und trotzdem weitermacht oder weitermachen                      (Elsaesser 2009b: 237). Inhalt und Konstruktions­
muss. Erkennbar wird dabei, aufs Neue, eine Krise                    prinzip dienen dazu, sich einer von vielen mögli-
männlicher Identität. Doch damit nicht genug. Die                    chen, „das heißt unwahrscheinlichen und dennoch
Leitfrage der “post-mortem” Situation ist,                           glaubhaften und in sich stimmigen Welt“ (Elsaesser
                                                                     2009b: 237) auszusetzen. Es handelt sich um Filme,
    „was hat überlebt, beziehungsweise was — an ei-                  die den Zuschauer zunächst desorientieren, vor Rät-
    nem selbst — hat nicht überlebt? Zu fragen wäre:                 sel stellen, ihn gleichzeitig auf mehrere Lösungswe-
    Was passiert, wenn man seinen eigenen — sym-                     ge locken und letztendlich mit einer unerwarteten
    bolischen — Tod erlebt?“ (Elsaesser 2009a: 217).                 Finte verblüffen. Solche mindgame movies spielen
                                                                     mit unseren Gedanken und ihre Protagonisten be-
Elsaesser entfaltet diese Fragestellung im Detail an                 treiben ihrerseits Spiele, mitunter abseitige, dunkle
Christopher Nolans MEMENTO und entdeckt da-                          Spiele. So spielt Hannibal Lecture in DAS SCHWEI-
hinter einen allgemeinen Trend. Vergegenwärtigt                      GEN DER LÄMMER (1991) mit seinen Opfern und
werde demnach die Prämisse, wonach wir uns                           der FBI-Agentin Clarice Starling, in SE7EN (1995)

                                        DORISEA Working Paper, ISSUE 25, 2021, ISSN: 2196-6893
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