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DORISEA – Dynamics of Religion in Southeast Asia 1 DORISEA WORKING PAPER ISSUE 25, 2021, ISSN: 2196-6893 PETER J. BRÄUNLEIN THERAPIEBEDÜRFTIGE GEISTER TERROR UND TRAUMA IM ASIATISCHEN HORRORFILM 25 DORISEA Working Paper, ISSUE 25, 2021, ISSN: 2196-6893
DORISEA WORKING PAPER SERIES EDITORS Peter J. Bräunlein Andrea Lauser Paul Christensen MANAGING EDITOR Paul Christensen ASSISTANT MAGAGING EDITOR Miriam Kuhnke BMBF Competence Network “Dynamics of Religion in Southeast Asia” (DORISEA) From 2011 to 2015, the research network “Dynamics of Religion in Southeast Asia” (DORISEA) connected scholars from various academic institutions focused on Southeast Asia. It was coordinated by the Department of Social and Cultural Anthropology at the Georg-August-University of Göttingen (GISCA). Its core was formed by scholars from the Universities of Göttingen, Hamburg, Münster, Heidelberg and Berlin (Humboldt University) who were involved in several projects that investigate the relationship between religion and modernity in Southeast Asia. Many of the contacts and collaborations from this period have continued to this day and are being consolidated in the (double open-peer reviewed) DORISEA Working Paper series, which was relaunched in 2021. How to cite this paper: Peter J. Bräunlein (2021): Therapiebedürftige Geister. Terror und Trauma im asiatischen Horrorfilm. In: DORISEA Working Paper Series, No. 25. Göttingen: Institute for Social and Cultural Anthropology. DOI: 10.3249/2196-6893-dwp-25 © 2021 by the author This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial 4.0 International License. http://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0 ISSN: 2196-6893 DOI: 10.3249/2196-6893-dwp-25 Research Network DORISEA Dynamics of Religion in Southeast Asia Project Office University of Göttingen Institute of Social and Cultural Anthropology Theaterstraße 14 D - 37073 Göttingen Germany dorisea@uni-goettingen.de www.dorisea.net
DORISEA – Dynamics of Religion in Southeast Asia 3 PETER J. BRÄUNLEIN THERAPIEBEDÜRFTIGE GEISTER. TERROR UND TRAUMA IM ASIATISCHEN HORRORFILM ABSTRACT At the turn of the 20th to 21st century, ghost films experienced an unexpected boom in East and Southeast Asia. This cultivation of ‘angstlust’ needs to be explained, as does the omnipresence of vengeful undead in the cinema. This article deals with the emergence of the East and Southeast Asian horror genre since the late 1990s. Ghost films reflect and comment on the imposition of modernity for individuals and society. The narratives of some transnational ghost films from Japan, Korea, Hong Kong, Thailand and Singapore serve as illustrative material. Three interpretative approaches are offered in order to better understand the cinematically generated presence of the undead: ghost films and the dark sides of modernity, ghost films as post-mortem and/or mindgame movies, ghost films and family secrets. Gegen Ende der 1990er Jahre sorgt ein japanischer ASIA EXTREME – HORROR DER Horrorfilm für beachtliches Aufsehen nicht nur bei JAHRTAUSENDWENDE eingefleischten Genre-Fans. Hideo Nakatas RINGU (1998) wird in Japan zum (bis dahin) größten Kino- Filme des New Asian Horror lassen sich in zwei erfolg aller Zeiten und avanciert international zu ei- Gruppen einteilen. Zum einen dominiert Body nem der meist diskutierten und imitierten Horror- Horror, inszeniert in grotesk surrealen Gewaltfan- filme überhaupt. Remakes, diverse Sequels und ein tasien bei maximaler Tabu-Überschreitung. Takashi Prequel festigen den Kultstatus des Films, der dem Miikes AUDITION (Scherer 2011: 237–257) ist für neueren japanischen Horrorkino, kurz J-Horror, diese Richtung so stilbildend wie Hideo Nakatas eine besondere Aura verleiht. RINGU ist zudem RINGU für die zweite Richtung, die sich durch ei- herausragendes Beispiel einer Welle, die zur Jahr- nen ausgesprochenen Hang zum Übernatürlichen tausendwende das ost- und südostasiatische Kino auszeichnet. Auffallend sind zum einen gerade die erfasst und New Asian Horror zur Qualitätsmarke Unsichtbarkeit von körperlicher Gewalt zum ander- der kommenden Dekade werden lässt (McRoy en die geschickte Visualisierung von Psychohorror 2008: 2; White 2005; Choi und Wada-Marciano in Gestalt von Geistern. 2009; Richards 2010). Der neue asiatische Horrorfilm, oft als Asia Ex- Die Kultivierung von Angstlust im Genre treme oder Dark Cinema vermarktet (Choi und des neuen asiatischen Horrorfilms ist ebenso Wada-Marciano 2009b: 5–6; Galloway 2006), setzt erklärungsbedürftig wie die Allgegenwart unbe- hier eigenwillige Akzente und verweigert sich friedeter Toter im Kinosaal. Der vorliegende Bei bislang vertrauten Genremustern. Zombies, Wer- trag befasst sich mit der Entstehungsgeschichte wölfe, und Vampire treten nicht (oder nur selten) des ost- und südostasiatischen Horrorgenres seit in Erscheinung, Serienkiller sind eher rar und das den 1990er Jahren. Die Narrative einiger transna- seit den 1970er Jahren so beliebte Teenie-Slasher- tionaler Geisterfilme aus Japan, Korea, Hongkong, Motiv des Hollywood-Kinos ist weitgehend absent Thailand und Singapur dienen dabei als Anschau- ungsmaterial. In drei Anläufen werden schließlich BMBF‑finanzierten Forschungsverbund DORISEA (Dynamics Interpretationen angeboten, um wiederkehrende of Religion in Southeast Asia, 2011–2015) (siehe auch Bräun- Themen und das Agieren der darin auftretenden lein und Lauser 2016). Erste Gedanken zum asiatischen Geisterfilm konnte ich im Mai 2013 in der Vortragsreihe An- Geister besser zu verstehen.1 thropology of the Uncanny / Anthropologie des Unheimlichen und Monströsen am Institut für Ethnologie und Kulturwis- 1 Meine Beschäftigung mit asiatischen Geisterfilmen senschaft der Universität Bremen vorstellen. Ich danke Jan erfolgte im Rahmen des Forschungsvorhabens „Geister Oberg und Dorle Dracklé für die freundliche Einladung und in der Moderne Südostasiens“, das eingebunden war im anregende Diskussion. DORISEA Working Paper, ISSUE 25, 2021, ISSN: 2196-6893
DORISEA – Dynamics of Religion in Southeast Asia 4 (THE TEXAS CHAIN SAW MASSACRE 1974; HAL- NEW ASIAN HORROR – GEISTERFILME DER LOWEEN 1978; FREITAG DER 13te 1980; A NIGHT- BESONDEREN ART MARE ON ELM STREET 1984). Im Folgenden soll es um Filme des New Asian Hor- Die späten 1990er Jahre, in denen sich das asi- ror gehen, die direkt oder indirekt den ästhetischen atische Horrorkino erneuert und alsbald inter- wie narrativen Impulsen von RINGU folgen. Es han- nationale Triumphe feiert, stehen unter dem Ein- delt sich durchweg um Geisterfilme der besonderen druck der Asienkrise, die im März 1997, ausgelöst Art. von einer Immobilienblase in Thailand, auf viele Ost- und südostasiatische Geisterfilme sind „Tiger-Staaten“ dieser Region übergreift und 1998 selbstredend kein neues Phänomen. Sie greifen ihren Höhepunkt erlebt. Betroffen sind neben Thai- auf jahrhundertealte Traditionen zurück, wie land vor allem Indonesien, Südkorea, die Philip- etwa die chinesischen Wuxia-Romane oder das pinen und Malaysia. Gleichzeitig wird Japan nach japanische Theater. Wuxia xiaoshuo ist ursprünglich einem sensationellen Wirtschaftsboom von der Im- der Gattungsbegriff für Romane „kriegerischer plosion des künstlich aufgeblähten Finanzmarktes Ritterlichkeit“. Einsame Heldinnen und Helden, erschüttert, die durch die Asienkrise an Dramatik ausgestattet mit übermenschlichen Fähigkeiten zunimmt. Zunehmende Arbeitslosigkeit, die Ver- und magischen Schwertern, müssen Ordnung und schiebung der Einkommensverteilung und Kürzun- Gerechtigkeit wiederherstellen und kämpfen dabei gen der staatlichen Sozialausgaben sind die direkt nicht nur gegen korrupte Herrscher und andere spürbaren Folgen der Asienkrise (Kim 2001). Indi- Schurken, sondern auch gegen Geister und Dämonen rekt und längerfristig macht sich die Krise in den oder verbünden sich mit diesen (Portmann 1994). Bereichen Bildung, Gesundheit, Ernährung und Wuxia-Filme aus Hongkong (mittlerweile auch Familienplanung bemerkbar. So erhöhte sich nach aus Taiwan und VR China) entwickelten sich nach Schätzungen der Asian Development Bank nicht einer ersten Blüte in den 1960er und 1970er Jahren nur die Zahl der städtischen Armen, sondern auch zu einem der beliebtesten asiatischen Genres die der illegalen Abtreibungen und Kindstötungen überhaupt. (Serrat 2000). In Japan sind Totengeister, vor allem die Gestalt Die Filmindustrie der betroffenen Länder ist des weiblichen Rachegeists, unverzichtbares Per- durch die Finanzkrise ins Mark getroffen. Als über- sonal der Folkloreüberlieferung. Seit jeher aus Lit- lebensnotwendig gilt vielen der aktive Wettbewerb eratur und Theater bekannt, finden sie übergangs mit Hollywood. Dieses selbstverordnete Heilmittel los ihren Weg in die japanische Filmkunst (hierzu führt in Japan, Südkorea, Hongkong und Thailand umfassend Scherer 2011). Kinofilm, Fernsehen, zur Neugründung zahlreicher Produktionsfir- Videokassette, DVD und mittlerweile Streaming- men. Die Bemühungen um international wettbe- Dienste setzen somit die traditionell literarische werbsfähige Filme und der Trend zur Globalisierung und orale Überlieferung mit anderen Mitteln fort sind somit dem ökonomischen Kalkül geschuldet. und intensivieren diese. Die Neuerfindung des asiatischen Kinos der Angst Dieser Effekt lässt sich in allen Gesellschaften (und nicht jenes der Comedy oder Liebesromanze) der Region von Thailand bis Taiwan feststellen. korrespondiert mit Stoffen und Darstellungsfor- Womöglich irreführend ist allerdings die Rede von men, in denen Kultur- und Filmwissenschaft Iden- ‚Folklore‘ und ‚Volksglaube‘, die in der Fachliteratur titätskrisen erkennen. Diese werden individuell als durchaus üblich ist. Im deutschen Sprachgebrauch Krise von Maskulinität, tradierten Geschlechterrol- zumindest legen sich falsche Assoziationen mit vor- len und des erodierenden Schutzraums der Familie modernem Brauchtum, Kinderschreck und Aber- erfahren (für Thailand z.B. Davis 2003: 62f.; Knee glauben nahe. Diese hier eingeschaltete Distanz ver- 2009: 81; Richards 2010: 129f.; Baumann 2013; für kennt die hautnahe Gegenwart des Gespenstischen, Südkorea Choi 2009: 40; Cagle 2009: 128f.; für Ja- gerade eben auch in der Moderne. Die Präsenz von pan Balmain 2008: 129, 143, 168; Richards 2010: Geistern ist eben keineswegs nur auf populäre Un- 49ff.; für Hongkong Heffernan 2009). terhaltung beschränkt, sondern wird in Ritual und Auch wenn sich für zahlreiche Themen und oraler Überlieferung ebenso aktualisiert wie in koll- Motive des asiatischen Extremkinos historische ektiven Angstvorstellungen (Bräunlein 2008). Vorläufer finden lassen, fällt doch auf, dass die Jahr- Die Geisterfilme der Jahrtausendwende setzen tausendwende hierfür eine höchst produktive und das traditionelle Geistermotiv auf innovative Weise innovative Phase darstellt. Bizarrer Body Horror ein. Mehrheitlich im urbanen Mittelschichtmilieu und die Allgegenwart der Toten wirken gleicher- angesiedelt, sind es einerseits Störungen des Innen maßen befremdlich wie faszinierend. Aus dieser lebens, Wahnvorstellungen, ein dysfunktionales Perspektive erscheint die spätkapitalistische Mod- Selbst, die die Kommunikation mit Geistern erne in fahles Licht getaucht; ein Gefühl des Un- auslösen. Zum anderen spielen technische Kommu heimlichen macht sich breit. nikationsmittel eine vielfach zentrale Rolle. TV, Videokassette, Mobiltelefon, der PC, das Internet. Sie dienen rachsüchtigen Toten als Einfallstore, um ihren Terror effektiv zu verbreiten. Vor diesem DORISEA Working Paper, ISSUE 25, 2021, ISSN: 2196-6893
DORISEA – Dynamics of Religion in Southeast Asia 5 Terror gibt es kein Entkommen. „Sie haben eine Terror und Trauma als charakteristische Elemente E-Mail“, meldet der Computer, das Telefon schrillt des Genres thematisieren. Um für Genre uner- oder der Geist kriecht direkt aus dem TV ins fahrene Leser und Leserinnen Zugänge zum asia- Wohnzimmer. Kommunikationsmedien sind hier tischen Geisterfilm zu ebnen, sollen zunächst einige „Technologien der Angst“ (Bickenbach 2009). Das herausragende Beispiele vorgestellt werden (hier- Versprechen der Moderne, mit „High Tech“ unser zu auch Bräunlein 2008: 162–168, Bräunlein und Leben komfortabler, sicherer und damit angstfreier Lauser 2016). zu gestalten, wird hier ins Gegenteil verkehrt. Neben Medientechnologie treten medial begabte Individuen; meist unfreiwillige Geisterseher, die die TRANSNATIONALE GEISTERFILME AUS OST- UND Botschaften aus dem nahen Jenseits decodieren. SÜDOSTASIEN Demnach sind technische Medien Transmitter von Modernität, veränderten sozialen Beziehungen und neuen Kommunikationsverhältnissen. Mensch RINGU [DER RING] von Hideo Nakata (Japan 1998) liche Medien, die den Stimmen der Verstorbenen Gehör verleihen, repräsentieren den traditionellen Die Journalistin Reiko Asakawa will einer Todes- Kontakt mit der Geisterwelt. Der generelle Zusam- serie von Teenagern auf die Spur kommen. Eine menhang von Trancemedien und Neuen Medien ist Videokassette, so geht das Gerücht, bringe jedem, am Beispiel des europäischen Spiritismus intensiv- der sie besitzt, nach genau sieben Tagen den Tod. er erforscht (z.B. Hahn und Schüttpelz 2009). Im Nachdem das Video gesehen wird, klingelt das Tele- Banne der Modernisierungs- und Rationalisierungs fon, und die Uhr tickt erbarmungslos dem Ende des these in der Tradition Max Webers wurde von His- Opfers entgegen. Tatsächlich gelangt die Reporterin torikerseite lange ignoriert, dass neben National- in Besitz des Videos, auf dem eine geheimnisvolle staat, Bildungsbürgertum, Industrialisierung und Frau zu sehen ist. Asakawa kommt einem mörde Technologiefaszination auch die Frage nach dem rischen Familiendrama auf die Spur. Im Mittelpunkt Fortleben der Toten die Mentalitätslage des 19. steht die Yamamura-Familie, deren Angehörigen Jahrhunderts maßgeblich bestimmte. Einschlägige übersinnliche Befähigung nachgesagt werden. religiöse, naturwissenschaftlich-medizinische und Sadako Yamamura, so verdichten sich Hinweise, philosophische Diskurse zeigen dies überdeutlich ist die Urheberin des Video-Fluchs, doch ist sie seit (Sawicki 2002). dreißig Jahren verschwunden. Reiko Asakawa und Die sublime Zweideutigkeit des modernen Me- ihr Ex-Mann Ryuji finden schließlich die Leiche dienbegriffs, der neben technologischer Innovation Sadakos in einem Brunnen, in den sie einst vom eben auch Mediumismus, also Geisterkommunika- eigenen Vater gestoßen wurde. Sie glauben, mit der tion, mit einschließt (Schüttpelz 2012), wird im Bergung und Bestattung der Leiche den Fluch ge- neuen asiatischen Geisterfilm explizit gemacht. Die brochen zu haben. Allerdings wird kurze Zeit später digitale Revolution der zweiten Moderne evoziert auch Ryuji Opfer Sadakos. Asakawa erkennt, dass die Geisterkommunikation der ersten Moderne. Der die einzige Möglichkeit, sich zu retten darin besteht, Spiritismus der bürgerlichen Salons, ganz wesent eine Kopie des Videos anzufertigen und an eine an- lich gerahmt von Unterhaltung, Spaß und Spannung dere Person weiterzugeben. Sie ruft ihren Vater an, (Natale 2013), hallt wider im Cineplex-Spiritismus um ihn um einen Gefallen zu bitten. Der Film endet der Jahrtausendwende. mit der Fahrt dorthin. Geistersehen ist dabei kein Selbstzweck. Effekte des Unheimlichen werden in RINGU über Verhandelt werden Zumutungen der Moderne, Telefon, Videokassette und Fernsehapparat erzeugt die sich in schuldhaften Verstrickungen und (White 2005: 41). Das TV-Gerät, das normalerweise niederen Instinkten, dunklen Obsessionen und den Schrecken der Welt auf Distanz hält, wird zum Gewaltexzessen manifestieren. Untote treten als Einfallstor des Gespenstischen. Aus ihm kriecht Kläger und Rächer auf den Plan. In einem chao Sadako ins Wohnzimmer von Ryuji und verwandelt tischen Diesseits, das jegliche moralische Maß das vertraute Heim in einen Raum des Unheimli- stäbe zu verlieren scheint, fordern sie Vergeltung. chen. Sadako, weiblich, langhaarig, weißgekleidet, Ihre Botschaft lautet: an Deinen Taten wirst Du ist ein Rachegeist in bereits erwähnter japanischer gemessen, kein Unrecht bleibt vergessen, die Hölle Tradition. Ein Geist, dem zu Lebzeiten Unrecht ist nicht fern. zugefügt wurde, der maßlos in seinem Rachebedürf- Die asiatischen Geisterfilme der Jahr- nis ist und doch letztlich Erlösung sucht. Der Terror, tausendwende haben die Aufmerksamkeit einer den Sadako ausübt, liegt in der Erzeugung Reihe von Filmwissenschaftlern und Filmwissen- schaftlerinnen, Medienethnologen und Medien „einer gespannten Erwartung, die eine unbestim- ethnologinnen auf sich gezogen. Wie nicht anders mte Angst auslöst. [...] Sadako und ihr Fluch töten zu erwarten, sind die Ergebnisse ihrer Interpreta- ihre Opfer durch nichts anderes als durch deren tionsbemühungen keineswegs eindeutig. Drei m.E. eigene Angst. Bis zum Ende des Films bleibt die anregende Lesarten seien vorgestellt, die allesamt Präsenz von ‚Etwas‘ [...] unsichtbar. Erst am Ende, DORISEA Working Paper, ISSUE 25, 2021, ISSN: 2196-6893
DORISEA – Dynamics of Religion in Southeast Asia 6 als Sadako zum leibhaftigen Gespenst mutiert, einen Schüler auf, der schon länger dem Unter- wird ihr Mittel und Medium der Angsterzeugung richt ferngeblieben war. In einer völlig verwüsteten noch genauer gezeigt: Es ist der Blick aus einem Wohnung findet er den verletzten Toshio vor, der, einzelnen verdrehten Auge, der unter ihren lan- offenbar tief traumatisiert, nur seltsame, katzen gen Haaren dieses eine Mal ‚hervorsticht‘“ (Bick- ähnliche Laute auszustoßen vermag. Aus dem Tage- enbach 2009: 175). buch der Mutter entnimmt der Lehrer, dass diese sich ohne sein Wissen in ihn verliebt hatte, und ent- Das Bedrohliche des Films liegt nicht in der deckt alsbald in einem Wandschrank die Leiche von Darstellung offener Gewalt, sondern in einer be- Toshios Mutter Kayako. Von Panik erfasst will er mit sonderen Atmosphäre latenter Bedrohung. Er- dem Jungen die Wohnung verlassen, als das Telefon zeugt wird diese Atmosphäre durch ausgefeiltes klingelt und sich Toshios Vater, Takeo Saeki, meldet. Sound Design, Kameraführung und Beleuchtung. Er gesteht den Eifersuchtsmord und erklärt über- Das Kratzen der blutigen Fingernägel Sadakos, das dies, dass er soeben die hochschwangere Frau des Rauschen des Fernsehbildschirms, das plötzliche Lehrers getötet hätte. Während Kobayashi noch fas- Schrillen des Telefons, sehr tiefe oder metallisch sungslos der Stimme im Telefon lauscht, verändert hohe Töne als Geräuschkulisse – all dies erzeugt sich Toshio, der in Geistergestalt seinen Lehrer „zu eine zutiefst beklemmende Stimmung, die durch Tode” erschreckt. dämmriges Licht und grobkörnigen Film effektvoll Jahre später zieht eine andere Familie ein und unterstützt wird. Es gibt keinen einzigen Sonnentag das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Das auftretende in RINGU. Die Psychologie menschlicher Furcht Geisterpersonal, Toshio mit Vater und Mutter, sind wird zielsicher in all ihren Facetten adressiert: enge zunächst nicht als Untote erkennbar, zeigen auf den Räume, Dunkelheit, Einsamkeit und existenzielle zweiten Blick jedoch sehr drastisch, was in ihnen Verunsicherung (Ng 2009: 39f.). wirklich steckt, nämlich gnadenlose Rachsucht. Alle RINGU entfaltete einen immensen Einfluss drei sind Opfer von Eifersucht und transformieren sowohl in Ost- und Südostasien wie auch in Holly- zu Rachegeistern. wood. Es ist keine Übertreibung zu behaupten, dass Ein weiteres Thema des Films, der Wandel “almost all Asian ghost films made after 1999, to von der erweiterten patriachalen Großfamilie a certain extent, are under the spell of Ringu” (Ng zur modernen urbanen Kernfamilie, ist häufig 2009: 40). Während Hollywood das Copyright aus Gegenstand von Literatur und Film. Dies intensiviert Japan kauft und Remakes produziert, die im Westen sich insbesondere im Zuge der Asienkrise, die sich in zirkulieren, kopieren Filmemacher Asiens, teilweise vielfältigen Familienkrisen niederschlägt. In JU-ON in Kooperation mit japanischen Kollegen, die Story wird davon ein kleiner, im Wortsinn bedrückender von RINGU, seine szenische Darstellungsform und Aspekt vorgestellt. Die beklemmende Enge des das Charakter-Design. Dieser RINGU-Effekt bringt Spukhauses verweist auf die Enge der Kleinfamilie unter dem Label J-Horror ein neuen Typus von und Shimizu Takashi gelingt es virtuos, die Geisterfilm hervor, der ein ungeahntes Massenpub- Intimität des Familienraums in klaustrophobisches likum findet. Kennzeichnend ist eine Verbindung Entsetzen zu verwandeln (Wada-Marciano 2009: aus Science Fiction-Elementen und Geisterhorror. 19). Fluchtversuche der Ehefrau, auch wenn sie Verarbeitet werden Motive wie etwa DNA, Hirnwel- nur in der Fantasie erfolgen, werden grausam len, Hypnose, Virusinfektionen, Computer-Hacking bestraft. Die Zerstörung der Kleinfamilie durch den und es sind Kommunikationsmedien (TV, Video, gewalttätigen Vater und Ehemann gebiert Horror Computer, Handy usw.), die Angst erzeugen. Diese (Balmain 2008: 128, 143–147). Das abgrundtief Technophobie spiegelt den postmodernen Pessi- Böse, das durch blindwütige Eifersucht, Mord und mismus spätkapitalistischer Gesellschaften (Pinedo Selbstmord in die Welt gesetzt ist, treibt alle, die 2004, Ng 2009: 39f.). damit in Berührung kommen, in Wahnsinn und Tod. Es gibt kein Happy End, das Grauen geht weiter. Spukhaus, Familiendrama und Rachegeist sind JU-ON [DER FLUCH] von Shimizu Takashi (Japan wohlbekannte Genre-Bausteine. Shimizu Takashis 2000). packende Inszenierung nutzt diese Elemente eigenwillig und kombiniert visuelle Erfindungen Im Vorspann des Films wird das Titelmotiv, der des Hollywood-Horrors, vor allem Wes Cravens todbringende Fluch, erläutert: “Ju-On, the curse A NIGHTMARE ON ELM STREET (1984), THE of one who dies in the grip of anger. It gathers and AMITYVILLE HORROR (1979) und THE SHINING takes effect in the places where that person was alive. (1980) mit japanischen Narrativen und Motiven Those who encounter it die, and a new curse is born”. (McRoy 2005, 2008: 75–82; Kalat 2007). Ähnlich wie in RINGU geht es um die fatalen Folge JU‑ON wurde ein weltweiter Erfolg, der sieben wirkungen eines blutigen Familiendramas, und Fortsetzungen und Varianten des Films stimulierte, wie in RINGU verbreitet sich der Todesfluch unauf- wobei für das US-Remake Shimizu Takashi selbst haltsam wie ein ansteckender Virus. In einem Vor als Regisseur angeworben wurde (JU-ON: THE ort Tokyos sucht der Grundschullehrer Kobayashi GRUDGE, 2004). DORISEA Working Paper, ISSUE 25, 2021, ISSN: 2196-6893
DORISEA – Dynamics of Religion in Southeast Asia 7 PULSE/KAIRO von Kiyoshi Kurosawa (Japan 2001) In Japan waren Besitz und Nutzung des kabel- losen Telefon (jap. keitai) Ende der 1990er Jahre Die Floristin Michi, neu in Tokyo, wird beim Besuch mit einer expliziten Technologie-Verheißung ihres Kollegen Taguchi Zeugin von dessen Selbst- verbunden: größtmögliche virtuelle Vernetzung mord. Auf einer hinterlassenen CD entdecken Michi schafft Freiheit und Unabhängigkeit von jeglichen und ihre Kollegen Bilder einer jenseitige Schatten- raum-zeitlichen Beschränkungen. Texte versend- welt. Aus dem Monitor starrt ihnen ein geister en, Waren einkaufen, Rechnungen bezahlen, GPS‑ haftes Gesicht entgegen. Wenig später meldet sich Ortung, TV-Sendungen gucken, eigene Filme erstel der tote Taguchi am Telefon und wiederholt in einer len und verschicken, Verabredungen arrangieren, Endlosschleife die zwei Worte „Hilf mir!“. In den fol- in virtuellen Räumen chatten usw. Keitai-Kultur genden Wochen verschwinden viele von Michis Kol- (Nguyen 2004) hat längst die japanische Ge- legen oder sie begehen aus ungeklärten Gründen sellschaft durchdrungen und auch jenseits Japans Suizid. Auffällig häufig versiegeln die Bewohner To- sind die urbanen Ballungszentren Asiens bevölkert kyos Räume mit rotem Klebeband. Michi entdeckt, von permanent elektronisch kommunizierender dass die Geister der Verschwundenen in diesen Menschen, die sich nicht mehr in die Augen schau- Isolationszellen verharren, ehe sie sich vollends en. Kurosawa setzt mit PULSE in der Frühphase der auflösen. In einem parallelen Erzählstrang gerät keitai-Utopie eine Dystopie entgegen und hat damit der Student Ryosuke an eine Software, die dazu einen der verstörendsten Filme überhaupt geschaf- auffordert, Geister zu treffen. Das Programm wählt fen (Balmain 2008: 183–86). sich an Ryosukes PC selbsttätig ein und die Webcam zeigt schemenhaft eine Gestalt mit einer Mülltüte über dem Kopf, dahinter auf der Wand die Schrift JIAN-GUI [THE EYE] von Oxide und Danny Pang „Hilf mir!“. Ryosuke wendet sich an Kommilitonen (Thailand/Hongkong/Singapur 2002) im Computer Lab der Universität. Nach Analyse der Software findet man heraus, dass das Programm Erzählt wird die Geschichte der blind aufgewachs als Schnittstelle zum Totenreich fungiert. Die Jen- enen Mun, einer in Hongkong lebenden erfolg seitswelt ist überfüllt, die Toten drängen über das reichen Konzertviolinistin. Durch eine Hornhaut- Internet in die Welt der Lebenden. Der Geisterkon- verpflanzung gewinnt sie ihre Sehkraft zurück. Da takt bewirkt ein Gefühl der Depression und kurze das Sehen jedoch behutsam neu erlernt werden Zeit darauf lösen sich die Betroffenen auf. Nichts als muss, betreut sie der junge Psychotherapeut Lo Ascheflocken und Brandspuren an Wänden bleiben Wah. Mit der schrittweisen Erlangung der Sehkraft zurück. Allerdings ist ihnen der Zugang zum Toten- wird Mun mit merkwürdigen Phänomenen konfron- reich versperrt und sie sind dazu verdammt, auf tiert. Im Spiegel sieht sie nicht ihr eigenes, sondern immer in einer Zwischenwelt des Schweigens zu ein fremdes Gesicht und Schemen im Krankenhaus- verharren. Eine Selbstmordwelle greift um sich, der flur scheint außer ihr niemand anderer zu sehen. Verkehr bricht zusammen, ein Jumbojet stürzt ab, Die neue Hornhaut ermöglicht beängstigende Ein- die Stadt versinkt im Chaos. Tokyo wird evakuiert. blicke in die Welt der Toten, wie sie alsbald erken Michi und Ryosuke treffen sich und entkommen zu- nen muss. Mun sieht nicht nur, wie die Seelen von nächst gemeinsam dem tödlichen Geisterkontakt. Verstorbenen „geholt“ werden, sondern auch das Sie ziehen durch das entvölkerte Tokyo und ver- qualvolle Schicksal jener, die der „schlimme Tod“ suchen auf einem Schiff nach Südamerika zu ent- – Selbstmord, Mord, Unfalltod – ereilte. Die trans- fliehen. Sie erfahren, dass an vielen Orten der Welt plantierte Augenhornhaut, so stellt sich heraus, der Untergang droht. Am Ende verschwindet auch stammt von einer Spenderin aus einem entlegenen Ryosuke und Michi bleibt als einsame Überlebende Dorf in Thailand. Mun und ihr Therapeut begeben dieser Apokalypse zurück. sich dorthin und erfahren, dass die junge Frau, „se- Wie in RINGU und JU-ON entfaltet auch in PULSE herisch“ begabt, zukünftiges Unglück vorhersagen ein todbringender Fluch seine Wirkung. Ein Com- konnte. Als sie eine Feuerkatastrophe ankündigt, puterprogramm infiziert die User mit Depression die dann auch eintritt, wird sie von den Dorfbe- und Todessehnsucht. Kurosoawa beschreibt nicht wohnern für das Unglück verantwortlich gemacht. nur die gespenstische Eigenmächtigkeit von Com- Geächtet und als Hexe verschrien, wird Selbstmord puterprogrammen, er schildert in dystopischen zum einzigen Ausweg. Sie erhängt sich. Die eigene Bildern den Fluch des Internets. Nicht ein Mehr Mutter jedoch kann ihr diese Tat nicht verzeihen. an zwischenmenschlicher Kommunikation ist die Nacht für Nacht wiederholt sich seither der Selbst Folge, sondern Kommunikationsunfähigkeit, kata- mord. Mun und ihr Begleiter können die Mutter tonische Starre, Leblosigkeit. Der PC-User, der über überzeugen, ihrer Tochter zu verzeihen und für sie seine Tastatur Kontakt zu anderen Menschen sucht, ein buddhistisches Ritual durchführen zu lassen, trifft auf Gespenster und endet in der Hölle ewiger um ihrer Seele Frieden zu schenken. Das ist jedoch Isolation. Die Geister des Internet überfluten un- nicht das Happy End. Mun muss feststellen, dass sere Welt, zerstören das soziale Miteinander und auch sie die Gabe, Katastrophen vorherzusehen, führen die Apokalypse herbei. geerbt hat. Diese Gabe wird alsbald auf die Probe DORISEA Working Paper, ISSUE 25, 2021, ISSN: 2196-6893
DORISEA – Dynamics of Religion in Southeast Asia 8 gestellt und erweist sich als Fluch, da sie nicht in nachdem er mit ihr gebrochen hatte. Er flieht auf der Lage ist, Menschen zu warnen und zu retten. das Dach eines Hochhauses und Siu‑yu drängt ihn Mun entschließt sich, die Implantate entfernen zu zu springen. Law zeigt Reue und bittet um Verge- lassen und lebt wieder ihr Leben als Blinde. bung. Siu-yu verschwindet in dem Moment, als Yan Es ist der Fortschritt von Medizintechnologie, das Dach betritt. Der Film endet versöhnlich. Law der aus einer zunächst mit sich zufriedenen blinden und Yan sitzen als Liebespaar gemeinsam nebenei jungen Frau eine Seherin werden lässt, die plötzlich nander. INNER SENSES erregte besondere Aufmerk- entsetzliche Dinge wahrnehmen muss. Zusammen samkeit, da sich der Hauptdarsteller Leslie Cheung, mit Mun lernt der Zuschauer das Geistersehen und ein in ganz Asien bekannter Superstar, am 1. April erfährt zudem vom Schrecken einer Jenseitswelt, 2003 vom Dach des Hongkonger Mandarin Oriental die nicht fernab, irgendwo „da unten“, zu finden ist, Hotels in den Tod stürzte und in seinem Abschieds- sondern uns hautnah umgibt. Die unerlösten Toten brief unerträgliche Depressionen als Grund nannte sind verdammt, ihr gewaltsames Ende immer aufs (Heffernan 2009: 57). INNER SENSES war der letzte Neue zu wiederholen. Unbewältigte Probleme der Film Leslie Cheungs. Vergangenheit lassen sie nicht ruhen. Der Motiv komplex wurde in dem international beachteten Hollywood-Film THE SIXTH SENSE (1999) bekannt JANGHWA, HONGRYEON [A TALE OF TWO SISTERS] und die Pang-Brüder greifen in ihrer Filmsprache von Kim Jee-woon (Korea 2003) auf dieses Vorbild zurück (Knee 2009: 72). Doch ist THE EYE weit mehr als bloßes Hollywoodimitat, Das Mädchen Su-mi wird von ihrem Vater und der sondern trägt eigenständig, pan-asiatische Züge jüngeren Schwester Su-yeon von einer psychia- (Lee2016). Das Thema der unerlösten Toten, das im trischen Klinik abgeholt und ins familiäre Zuhause ersten Teil des Films in Hongkong eingeführt wird, im ländlichen Umfeld gebracht. Ihre Stiefmutter verdichtet sich in einem thailändischen Dorf: der Eun-joo empfängt sie kühl und auch der Vater ist dis- soziale Tod einer als Hexerin verschrienen Frau, das tanziert und passiv. Su-yeon wird von Albträumen Trauma des Selbstmords, die allnächtliche Wieder geplagt. Auch Su-mi hat angsterregende Geister- kehr der Toten, eine schwierige Mutter-Tochter visionen und hegt den Verdacht, dass ihre jüngere Beziehung, die über den Tod hinausreicht, die er- Schwester von der Stiefmutter misshandelt wird. lösende Kraft des buddhistischen Totenrituals. Eines Abends besucht der Onkel mit seiner Frau die Familie. Im Laufe des Essens erleidet die Ehefrau des Onkels einen Ohnmachtsanfall. Als sie wieder YEE DO HUNG GAAN [INNER SENSES] von Law Chi- zu sich kommt, behauptet sie, ein Mädchen unter leung (Hongkong 2002) der Küchenspüle gesehen zu haben. Auch die Stief- mutter sieht das Mädchen und als sie ihren gelieb- Die junge Frau Yan sucht nach einem Selbstmord ten Vogel tot im Käfig findet, ist für sie klar, dass all versuch verzweifelt die Hilfe eines Psychiaters, da diese seltsamen Dinge mit der Rückkehr Su‑mis zu sie Geister sieht. Der angesehene Dr. Jim Law (Les- tun haben. Der Vater macht Su-mi Vorwürfe, doch lie Cheung Kwok-wing), der auf Fälle von Geister Su-mi wehrt sich und weist ihn darauf hin, wie bru- halluzinationen spezialisiert ist, behandelt sie. tal die Stiefmutter die Schwester behandeln würde. Er selbst glaubt als skeptischer Wissenschaftler Ihr Vater erklärt, dass die Schwester längst tot sei, nicht an Geister. Allerdings gerät er in Gewissens doch Su-mi glaubt ihm nicht. Am nächsten Morgen konflikte, da er sich in seine Klientin verliebt. Yan wird die Stiefmutter gezeigt, die einen blutgetränk- kommt zur Einsicht, dass ihre Geistervisionen mit ten Sack durch das Haus schleift. Su-mi will den unterdrückten Ereignissen der Vergangenheit zu Sack öffnen, da sie ihre Schwester darin vermutet. tun haben. Ihr Zustand bessert sich scheinbar. Als Im Handgemenge verletzt sie ihre Stiefmutter mit Dr. Law jedoch ihr vorsichtig seine Verliebtheit einer Schere, wird jedoch selbst niedergeschlagen eingesteht, fürchtet sie, er würde sie ebenso fallen und verliert das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich lassen wie ihr Ex-Freund. Sie erlebt einen Rückfall, kommt, wird sie von der Stiefmutter durchs Haus sieht erneut Geister und versucht, sich umzubring- gezerrt und verspottet. Sie versucht Su-mi mit einer en. Sie überlebt und Law gelingt es, den Heilungs Tonfigur zu erschlagen. Dies misslingt, da der Vater prozess zu befördern, indem er ihre geschiedenen nach Hause kommt. Nun stellt sich heraus, dass Eltern zusammenführt. Allerdings beginnt Law sowohl die Auseinandersetzungen mit Eun-joo wie nun seinerseits Geister zu sehen, bekommt Alb- auch die Anwesenheit der jüngeren Schwester Ein- träume und schlafwandelt. Seine Persönlichkeit bildungen einer gespaltenen Persönlichkeit sind. verändert sich. Er nimmt Antidepressiva und wird In Wirklichkeit ist Su-mi seit ihrer Rückkehr mit zunehmend aggressiv. Heimlich verabreicht er sich ihrem Vater allein im Haus und die Stiefmutter Eun- selbst Elektroschocks in therapeutischer Absicht, joo hat in Wirklichkeit ein anderes Aussehen als die ohne dass dies die gewünschte Wirkung zeigt. Be- bisher aufgetretene Stiefmutter. Su-mi wird zurück sessen wird er vom rachelüsterne Geist seiner eins in die Klinik gebracht. Währenddessen wird die tigen Freundin Siu-yu. Sie hatte sich selbst getötet Stiefmutter von Su-yeons Geist heimgesucht und DORISEA Working Paper, ISSUE 25, 2021, ISSN: 2196-6893
DORISEA – Dynamics of Religion in Southeast Asia 9 (scheinbar?) getötet. In einer Rückblende werden Reihe von Selbstmorden. Schließlich kommt June Schlüsselereignisse der Vergangenheit geschildert, auf die Spur des Rachegeistes. Sie kann den Geist die die Störung Su-mis erklären. Der Vater kommt als das Mädchen Natre identifizieren, die frühere mit Eun-joo in das Haus, in dem die wirkliche Mut- Kommilitonin und heimliche Freundin von Tun. Im ter mit den Töchtern lebt. Die Atmosphäre ist an Elternhaus Natres finden Tun und Jane ihren halb gespannt, es kommt zu heftigen Wortgefechten mit verwesten Leichnam und erfahren von der Mutter Eun-joo. Su-mi rennt wütend weg. Ihre Schwester vom Suizid des Mädchen. Mit einer Feuerbestattung begibt sich ins Zimmer der Mutter und weint. Als soll dem Spuk ein Ende bereitet werden. Jane findet sie erwacht, entdeckt sie ihre eigene Mutter, die sich in einer Schublade Negativfilme aus dem Besitz von im Kleiderschrank erhängt hat. Panisch versucht Natre. Sie zeigen ihre Misshandlung und Vergewal- sie, die Mutter zu retten. Dabei stürzt der Schrank tigung durch Tuns Freunde (die sich mittlerweile auf sie. Alle im Haus hören das Geräusch, doch nur alle selbst getötet haben). Tun selbst hat diese Fo- Eun-joo betritt den Raum und will nach kurzem tos aufgenommen, ohne Natre zu Hilfe zu kommen. Zögern Su-yeon helfen. Als jedoch Su-mi, ohne die Jane wendet sich empört von Tun ab. Dieser foto- Dramatik der Situation zu erkennen, hinzukommt grafiert mit einer Polaroidkamera seine Wohnung und sie beleidigt, warnt sie Su-mi, dass sie ihre und entdeckt den Geist Natres auf seinen Schultern Worte bereuen werde. Su-mi verlässt das Haus. Su- hockend. Er stürzt sich verzweifelt aus dem Fenster, yeon stirbt unter dem Schrank, ohne dass Eun-joo überlebt jedoch den Sturz. Im Krankenhaus besucht eingreift. ihn Jane. Die letzte Einstellung zeigt ihn und den Die kammerspielartige Inszenierung, sorgfäl- Geist Natres, die ihm immer noch im Nacken sitzt. tige Beleuchtung und Farbgebung vermitteln eine Wie in RINGU ist es ein technisches Medium, irritierend hypnotische Stimmung, in der sich die über das ein Geist in Erscheinung tritt, um eine Un- Enge der Kindheit der Schwestern verdichtet (Choi tat zu rächen. In RINGU nutzt der Geist Videokas 2009: 53f.). Die Geschichte der bösen Stiefmutter, sette, Fernsehgerät und Telefon, um sich mitzu- die für den Tod der Mutter und der Schwester ver- teilen, hier ist es die Polaroidkamera. Im Mittel- antwortlich ist, wird aus der Perspektive der Teen- punkt stehen eine missachtete Liebe, sexueller agerin Su-mi entfaltet. Liebe, Tod und Wahnsinn Missbrauch und verleugnete Schuld. SHUTTER ist sind zentrale Themen der Erzählung. Die Leugnung einerseits Medienreflexion. Durch den sich öffnen des endgültigen Verlustes einer geliebten Person ist den Verschluss (shutter) des Kameraobjektivs wird nur im Wahn möglich. Doch gleichzeitig erzeugt das der Geist auf der (Polaroid-)Fotografie präsent. wahnhafte Festklammern gespenstische Effekte. Andererseits ist der Film ein hochmoralisches Dra- Die Geliebten treten als Untote in Erscheinung und ma, das von der Unvermeidlichkeit von Schuld und entfalten aus dieser Position Handlungsmacht. Der Sühne zeugt. Niemand kann der Last der Vergan- Filmemacher Kim Jee-woon versteht es virtuos, das genheit und damit dem karmischen Gesetz entkom- Gespenstische in einem Zwischenraum von Patho men. logie und Realität anzusiedeln. Was am Ende jedoch unleugbar bleibt, ist die Zerstörung der Familie. Aus einem Horrorfilm wird eine Familientragödie. THE MAID von Kelvin Tong (Singapur 2005) In Korea wurde der Film vermutlich genau deswe- gen zu einem sensationellen Erfolg, der 2003 sogar Die 18-jährige Rosa, eine Filipina, kommt nach Sin- den Blockbuster THE MATRIX RELOADED aus dem gapur, um in der Familie Teo als Haushaltshilfe zu Rennen schlug (Galloway 2006: 37). arbeiten. Herr und Frau Teo heißen sie herzlich willkommen. Ihr geistig behinderte Sohn Ah Soon freundet sich schnell mit Rosa an. Es ist der siebte SHUTTER von Banjong Pisanthanakun und Monat im chinesischen Kalender, der Geistermonat, Parkpoom Wongpoom (Thailand 2004) in dem nach chinesischem Glauben die Tore zum Jenseits geöffnet sind und die Toten die Welt der Der Fotograf Tun und seine Freundin Jane über- Lebenden besuchen können. Rosa wird von merk- fahren nachts eine junge Frau auf einsamer Weg würdige Erscheinungen und Träumen gequält. Sie strecke. Jane will der reglos auf der Straße liegen findet heraus, dass früher bereits eine andere Fili den Frau helfen, doch Tun überredet sie zur Fahrer pina, Esther, als Maid in dieser Familie tätig war flucht. In den kommenden Wochen erscheinen und stößt auf einen entsetzlichen Vorgang. Genau auf Fotos, die Tun entwickeln lässt, merkwürdige vor zwei Jahren, an einem Nachmittag im Geister- Schatten und Gesichter. Zusammen mit Jane kehrt monat, wechselt Ah Soons Stimmung abrupt. Aus er zum Unfallort zurück, erfährt jedoch von der Spiel wird plötzlich Agression, er fällt über Esther Polizei, dass weder ein Unfall gemeldet noch eine her und vergewaltigt sie. Als Esther den Vorfall bei Leiche gefunden wurde. Tun leidet nun unter un- der Polizei melden will, wird sie von Herrn Teo erklärlichen Nackenschmerzen, June unter Alb- niedergeschlagen, mit Öl übergossen und bei leben- träumen und beängstigende Visionen der jungen digem Leib verbrannt. Rosa, schockiert von dieser Frau. Im Freundeskreis von Tun ereignet sich eine Entdeckung, will aus dem Haus fliehen, als sich ihr DORISEA Working Paper, ISSUE 25, 2021, ISSN: 2196-6893
DORISEA – Dynamics of Religion in Southeast Asia 10 Ah Soon entgegenstellt. Rosa wehrt sich mit einem Produkt eines komplexen Modernisierungspro Messer und stellt dabei fest, dass der Junge selbst zesses, ist das Zielpublikum von Geisterfilmen, in ein Geist ist. Er hat sich kurz nach der Ermordung denen Jugendliche häufig als obsessiv gewalttätig von Esther das Leben genommen und verharrt im porträtiert werden. Von außen betrachtet gilt das Elternhaus, um dem Geist Esthers, seiner großen Horror-Subgenre vielfach als verwerfliches Produkt Liebe, nah zu sein. Als Hausherr Teo realisiert, dass der Kulturindustrie oder als Symptom des mora Rosa hinter das Geheimnis gekommen ist, schlägt er lischen Verfalls. Häufig ist der Ruf nach Zensur und auch sie nieder und fesselt sie. Als Rosa wieder zu Verbot die Folge dieser Einschätzung. Gewaltgela sich kommt, erklärt er, dass sein Plan von Anfang an dene Formen der Unterhaltung, so die Logik, stehen gewesen sei, sie zu opfern, um sie mit dem Geist des unter Verdacht, Gewalt zu erzeugen (Cherry 2009: Sohnes zu verheiraten. Die Geisterhochzeit würde 200). Die Lesart Kitiarsas dagegen verhilft zu Ein- seinem toten Sohn Erlösung schenken. Als er dabei blicken in gesellschaftliche Wirklichkeiten. In vielen ist, Rosa zu erhängen, erklärt sein Sohn, dass genug Thai-Geisterfilmen werden die sozialen Bedingun- Tote im Haus seien und gerät in ein Handgemenge gen offengelegt, die Gewaltfaszination erst ermögli- mit seinem Vater. Der stürzt und stößt gegen den chen. Leistung und Konsum sind Werte eines neo- Hausaltar. Lampenöl fließt aus und wird durch liberalen Kapitalismus, der mit Verheißungen lockt: Esthers Geist entflammt. Herr Teo verbrennt. Frau Wohlstand, Aufstieg, Glück. Die Kehrseite dieser Teo, die die Flucht Rosas verhindern will, läuft vor Verheißungen zeigt indes ein hässliches Gesicht: einen fahrenden Lastwagen und stirbt. In der letz- Gier und Gewalt, Egoismus und Rücksichtslosigkeit. ten Szene sitzt Rosa mit der Urne, die Esthers Asche Opfer, die auf der Strecke bleiben, fordern Recht enthält, im Taxi auf dem Weg zum Flughafen. Beim und Rache aus der Schattenwelt. Betreten des Flughafens wird sie von den Geistern Kitiarsa resümiert: der Familie Teo beobachtet. THE MAID wurde zu einem beachtlichen trans- “In Thai horror films, modernity intensifies viola- nationalen Erfolg des singapurischen Kinos (Feeley tion, violence, and the haunting of the dead. These 2012). Der perfekt regulierte Stadtstaat Singapur, films have undressed modernity and revealed its diese „air-conditioned nation” (Harvey 2008), wird naked truth. They mirror modernity’s ironies. mit allem anderen als mit unberechenbarem Geis- (...) Thailand is haunted by the shortcomings of terhorror assoziiert. Kelvin Tong bricht mit diesem modernity: it seems to promise many things, but Image. Das Fest der hungrigen Geister öffnet die cannot always deliver on what it promises; the Pforten zum Jenseits. Bruchlinien urbaner Funk- process of modernization has created as much as tionalität werden sichtbar und destruktive Kräfte it has destroyed. In the Thai context, horror films freigesetzt, die hinter einer patriarchalen Familien reveal the dark side of urban modernization (...)” ordnung lauern: unkontrollierte Sexualität, Ausbeu- (Kitiarsa 2011: 216). tung philippinischer Maids, Missbrauch, Mord (Tan 2010). Die Geister der Toten treten als Ankläger In eine ähnliche Richtung argumentiert und Rächer in Erscheinung und sind gleichzeitig Andrew Johnson, der bei seinen urbanethnolo- verurteilt, in einer Hölle auszuharren, die sie sich gischen Forschungen in Bangkok und Chiang Mai selbst geschaffen haben. auf zahlreiche Geisternarrative traf. In Bangkok dokumentierte Johnson u.a. Geschichten von Vi- sionen, Träumen und Geisterscheinungen, die im I – GEISTERFILME UND DIE DUNKLEN SEITEN Kontext von Unfällen auftreten (Johnson 2012). DER MODERNE Die ständig lauernde Bedrohung durch den Un- falltod in prekären Arbeitsverhältnissen wird über Der Boom des neuen Geisterfilms in Ost- und Süd Geisterkommunikation thematisiert. Der unzeitige, ostasien ist bemerkenswert und verlangt nach „schlimme“ Tod, Erzählungen von Spuk-Orten, die Erklärungen. Im Folgenden seien einige Ansätze Begegnung mit unruhigen Totengeistern sind Teil vorgestellt, die das Unheimliche und Geisterhafte in des Alltags. Die eigene Machtlosigkeit wird rituell den Blick nehmen und die dahinter liegende Faszi- kompensiert. In Geisterschreinen werden Kon- nationskraft zu erläutern versuchen. trakte mit Geistern ausgehandelt. Angesprochen Der allzu früh verstorbene thailändische Ethno werden dabei explizit die Geister der Wildnis, ins loge Pattana Kitiarsa (1968–2013) befasste sich im besondere Kobra- und Baumgeister. Das Chaos Zuge seiner Forschungen zu Jugend- und Popular muss in Worte gefasst werden, um es handhabbar kultur auch intensiver mit thailändischen Geister zu machen und zu transformieren. filmen und deutet dieses Genre als Spiegel ge- sellschaftlicher Verwerfungen (Kitiarsa 2011). Im “Thai spirit shrine devotees equate the chaos that Mittelpunkt von Thai-Geisterfilmen stehen Gewalt they experience in their everyday working lives und Grenzüberschreitungen. Das absichtliche oder with a form of the supernatural. But, unlike that unabsichtliche Überschreiten gesellschaftlicher Ta- in an ‘occult economy’, this supernatural force is bus setzt Geister in Bewegung. Die urbane Jugend, not something that lies out of their reach. Instead, DORISEA Working Paper, ISSUE 25, 2021, ISSN: 2196-6893
DORISEA – Dynamics of Religion in Southeast Asia 11 spirit devotees transform this chaos into some- ist kein abrupter, sondern eine Pendelbewegung thing over which they have control: a wild thing zwischen Präsenz und Absenz. Dieses Oszillieren displaced in the city but one with a human face. wird greifbar in Phantasmen, so Ivy. Gespenster They do so by naming it, transforming those for geschichten liefern Einblicke in die Zone zwischen ces of chaos that they fear in their everyday lives „gerade noch“ und „nicht mehr“. Artikuliert werden into entities with whom they can reason” (John- dabei Sehnsüchte und Verlustängste, die sich mit son 2012: 775). dem Vorgang des Verschwindens assoziieren. Am Beispiel von Chiang Mai, neben Bangkok „The vanishing can only be tracked through the die wichtigste Metropole Thailands, befasst sich poetics of phantasm, through attentiveness to Andrew Johnson mit den Konsequenzen von Stadt- the politics of displacement, deferral, and origi planung und zeigt, dass Fortschritt und Entwick- nary repetition. Practices and discourse now situ lung Geister nicht zum Verschwinden bringen, ated at the edge of presence (yet continuously sondern, im Gegenteil, ihr Erscheinen begünsti- repositioned at the core of the national-cultural gen. Individualisierung, Entfremdung und Ängste imaginary) live out partial destinies of spectacu- vor dem Scheitern sind der Preis für „progress and lar recovery. Their status is often ghostly. And it development“. Das Versprechen von Prosperität is through the ghosts of stories and (sometimes) ist mit Unsicherheit gepaart; Aufstieg und Absturz stories of ghosts that I work, disclosing the econo sind Geschwister. Auf den wirtschaftlichen Boom my of the appropriated marginal, of lacunae in folgt der Boom der Geister (Johnson 2014: 32). Ein representation at the center of the dominant” (Ivy überhitzter Kapitalismus erzeugt in mehrerlei Hin- 2009: 20f.). sicht Leerräume, das ideale Ambiente für Geister. Die neue Mittelschicht, leistungs- und prestigeori- Für Bliss Cua Lim liefern Geisterfilme „Allego entiert, lebt in maßgeschneiderten, sterilen Vo- rien von Geschichte“ (Lim 2001). Die Zeitqualität, rorten und wird von innerer Leere befallen. In den die im Spuk angelegt ist, sperrt sich dem Diktat Ruinen des Fortschritts, in leeren, unverkäuflichen homogener, linearer, säkularer, leerer Zeit. Geister Büro- und Appartementgebäuden spukt es, wie sind nicht, wie gemeinhin gedeutet, Boten aus der viele Gesprächspartner Johnsons berichten. Die Vergangenheit, die ihre Autorität in der Gegenwart Invasion der Geister, der Einbruch des bedrohlich geltend machen. Ganz im Gegenteil, schreibt Lim, Übernatürlichen in Krisenzeiten ist im Übrigen ein wohlvertrauter Topos, der sich in ganz Südostasien „the ghostly return of traumatic events precisely nachweisen lässt und keineswegs auf eine poli- troubles the boundaries of past, present, and fu- tische Metapher zu reduzieren ist. Geister werden ture, and cannot be written back to the compla- als reale Bedrohung erlebt (Siegel 2006). Was John- cency of a homogeneous, empty time” (Lim 2001: sons Ethnographie zutage fördert, das Auftreten 287). „realer“ Geister in der urbanen Moderne Thailands und die rituelle Kommunikation mit ihnen, ver- Im Aufbegehren gegen dieses uns natürlich erschei- doppelt sich gewissermaßen im Geisterfilm, so das nende Zeitkonzept liegt eine Provokation. Geister- Argument Pattana Kitiarsas. Die Allgegenwart von filme sind historische Allegorien insofern sie mit Geistern ist ein Effekt wildgewordener Ökonomie dem Vokabular des Übernatürlichen vergangenes und ohnmächtiger Politik, sie spiegelt die dunklen Unrecht, Verlust und Trauma artikulieren: Seiten der Moderne und betrifft unterschiedslos Mittelschicht wie Prekariat. „Such ghost narratives productively explore the Dieser Deutungsansatz, der das Gespenstische dissonance between modernity’s disenchanted zum Wesensmerkmal von Moderne erklärt, wird time and the spectral temporality of haunting in von einer Reihe von Autorinnen vertieft, beispiels- which the presumed boundaries between past, weise von der Ethnologin Marlyn Ivy (1995) oder present, and future, are shown to be shockingly der Filmwissenschaftlerin Bliss Cua Lim (2009). permeable. […] Yet the ghost narrative opens the Die Moderne, wie auch immer man diesen Begriff possibility of a radicalized concept of noncontem- im Einzelnen ausdifferenziert, beinhaltet stets den poraneity; haunting as ghostly return precisely dramatischen Bruch mit der Vergangenheit, der refuses the idea that things are just ‘left behind,’ sich in einem Wandel des Zeit- und Raumgefüges that the past is inert and the present uniform. Put ausdrückt. Fortschritt ist gefräßig und löscht Ver- simply, the ghost forces the point of nonsynchro- gangenheit. Manifest wird dies vor allem in Ar- nism. It is this challenge to received ideas of time chitektur, die wiederum Wohnform und soziale that makes the specter a particularly provocative Beziehungen gestaltet. Mit dem Verschwinden der figure for the claims of history” (Lim 2001: 288). vertrauten Stadtlandschaft schwinden Geborgen- heit, Identitätsbezüge und Geschichte. Marylin Ivy Lim ist maßgeblich inspiriert von Jacques Der- untersucht Diskurse des Verschwindens und des ridas Werk „Spectres de Marx“, das erstmals 1993 Verlustes in Japan. Der Vorgang des Verschwindens erscheint (deutsche Übersetzung Derrida 2004). Es DORISEA Working Paper, ISSUE 25, 2021, ISSN: 2196-6893
DORISEA – Dynamics of Religion in Southeast Asia 12 handelt sich um eine Auseinandersetzung mit der „tatsächlich in einer Art posttraumatischen Situ These vom Ende der Geschichte und dem Nieder- ation befinden, auch schon vor und nicht nur gang des Kommunismus. Derrida bestreitet beides durch 9/11. Diese Filme suggerieren nämlich, und entwickelt eine „Hauntologie“, die das Gespens dass sich die Katastrophe — das ‚Ende des Men- tische, mehr noch das Unheimliche in eine philoso- schen‘ — schon ereignet hat, und wir, was unser phische Metaphorik verwandelt, die seit Mitte der Bewusstein, oder besser gesagt, unser tradiertes, 1990er Jahre in die Sozialwissenschaft diffundierte kulturell-philosophisches Selbstverständnis an (hierzu Bräunlein 2013). Das Gespenst bezeichnet geht, tatsächlich schon ‘tot’ sind. Da wir aber noch hier keine konkrete Wesenheit, sondern fungiert am Leben sind, heißt das, dass genau dieses kultur- als Diskurs- und Denkfigur, die das Zusammenspiel elle Selbstverständnis — nennen wir es unseren von Präsenz und Absenz, Vergessen und Erinnern, abendländischen Humanismus, die christliche heimelig und (un)heimlich fassen soll. Bliss Cua Weltauffassung, die Ideale der Aufklärung, der Lim überträgt diese Anregungen auf die Narrative französischen Revolution, kurz unsere ‘Moderne’ des asiatischen Geisterfilms, die sie als anarchische — tatsächlich ‘gestorben’ ist und wir uns in der Kritik an Verdrängen und Vergessen entschlüsselt. der so oft zitierten postmodernen, post-humanen, oder (...) post-traumatischen, ‘post-mortem’-Epo che befinden“ (Elsaesser 2009a: 226). II – GEISTERFILME ALS “POST-MORTEM” UND MINDGAME MOVIES In der US-amerikanischen Kunst der 1990er Jahre stellt Elsaesser die Tendenz fest, und er zitiert Asiatische Geisterfilme sind in hohem Maße mora hier Hal Foster, lische Erzählungen, wiewohl in den allermeisten Fällen ohne Happy End. Sie informieren mit gera- „Erfahrungen – individuelle und historische – un- dezu pädagogischer Leidenschaft über Zustände im ter der Terminologie des Traumas neu zu definie Jenseits. Die Zuschauer erfahren drastisch, was ein ren: Als lingua franca, als Gemeinplatz, wird eine „schlimmer Tod“ bedeutet und welche nach-todli- lingua trauma in der Popkultur gesprochen, in chen Konsquenzen moralisches Fehlverhalten ent- akademischen Reden, in Kunst und Literatur“ faltet. Geisterfilme lehren, wie nahe uns die Toten (Foster 1996: 106; Elsaesser 2009a: 225). sind, und dass allzuviele erlösungsbedürftig und auf uns Lebende angewiesen sind. Nicht zuletzt Traumata im medizinisch-psychologischen Sinn ist zu lernen, was es heißen kann, in der Hölle zu sind begleitet von Gefühllosigkeit und (Teil-) sein. Didaktischer Impuls und moralischer Im- Amnesie. Das Trauma des Filmhelden schützt petus legen es nahe, das Genre Geisterfilm als vor der Konfrontation mit einer schockierenden “post-mortem”-Kino zu bezeichnen. Wirklichkeit. Das unerträglich Reale muss abge- Dieser Begriff wurde jüngst von dem Film- wehrt werden. wissenschaftler Thomas Elsaesser (2009a) stark Neben und mit der Tendenz des “post‑mortem”- gemacht. Elsaesser befasst sich dabei allerdings Kino verweist Elsaesser auf die Strategie des unzu- nicht mit asiatischen Geisterfilmen, sondern iden- verlässigen Erzählens als sein wesentliches Charak- tifiziert einen Trend des ambitionierten Holly- teristikum. Diese Erzählstrategie erfährt hier eine wood-Kinos der 1990er und frühen 2000er Jahre. Zuspitzung insofern immer mehrere Realitäts- und Die von ihm aufgelisteten Beispiele wie THINGS TO Bewusstseinsebenen adressiert sind. Zwar liefert DO IN DENVER WHEN YOU ARE DEAD 1995, LOST Filmkunst an sich schon immer das Angebot, alter- HIGHWAY 1997, FIGHT CLUB 1999, THE SIXTH native Lebensentwürfe durchzuspielen, doch hier SENSE 1999, AMERICAN BEAUTY 1999, MEMENTO wird dieses Charakteristikum des Mediums ganz 2000 u.a. zeigen den Helden als eine Art lebender bewusst und höchst raffiniert eingesetzt. Es geht um Toter, als jemand, der seinen Tod irgendwie über- „Gedankenspiele, die man mit Filmen spielen kann“ lebt und trotzdem weitermacht oder weitermachen (Elsaesser 2009b: 237). Inhalt und Konstruktions muss. Erkennbar wird dabei, aufs Neue, eine Krise prinzip dienen dazu, sich einer von vielen mögli- männlicher Identität. Doch damit nicht genug. Die chen, „das heißt unwahrscheinlichen und dennoch Leitfrage der “post-mortem” Situation ist, glaubhaften und in sich stimmigen Welt“ (Elsaesser 2009b: 237) auszusetzen. Es handelt sich um Filme, „was hat überlebt, beziehungsweise was — an ei- die den Zuschauer zunächst desorientieren, vor Rät- nem selbst — hat nicht überlebt? Zu fragen wäre: sel stellen, ihn gleichzeitig auf mehrere Lösungswe- Was passiert, wenn man seinen eigenen — sym- ge locken und letztendlich mit einer unerwarteten bolischen — Tod erlebt?“ (Elsaesser 2009a: 217). Finte verblüffen. Solche mindgame movies spielen mit unseren Gedanken und ihre Protagonisten be- Elsaesser entfaltet diese Fragestellung im Detail an treiben ihrerseits Spiele, mitunter abseitige, dunkle Christopher Nolans MEMENTO und entdeckt da- Spiele. So spielt Hannibal Lecture in DAS SCHWEI- hinter einen allgemeinen Trend. Vergegenwärtigt GEN DER LÄMMER (1991) mit seinen Opfern und werde demnach die Prämisse, wonach wir uns der FBI-Agentin Clarice Starling, in SE7EN (1995) DORISEA Working Paper, ISSUE 25, 2021, ISSN: 2196-6893
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