8 Glückswissen in der Ratgeberliteratur - 8.1 Glückswissen als Psychowissen. Ein methodischer Zugang - De Gruyter

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8 Glückswissen in der Ratgeberliteratur
8.1 Glückswissen als Psychowissen. Ein methodischer Zugang

Die vorliegende Untersuchung geht von der Annahme aus, dass die Lehrsätze,
welche die Glücksratgeberautor*innen an ihre Leserschaft weitergaben, als soziale
Praktiken von Glückswissen historisch untersucht werden können. Was ist damit
gemeint? In Anlehnung an die Forschung von Stefan Senne und Alexander Hesse
fallen unter den Sammelbegriff Ratgeber „alle Formen lebensweltlicher Proble-
matisierung, […] von Gesundheit bis Partnerschaft“¹, welche Wissensanleitungen
über „Glück“ und dessen Trabanten (Freude, Frohsinn, Euphorie etc.) enthalten. An
diese Form der Wissensgenerierung von Glückswissen und dessen Verbreitung sind
gesellschaftspolitische Visionen geknüpft, die Uffa Jensen und Maik Tändler mit
dem Begriff des „Psychowissens“ beschreiben. Damit sind gemeint:

     „[…] all jene Wissensbestände, die eine säkulare Beschreibung und Erklärung des ‚seeli-
     schen Apparats‘² von Individuen, ihrem psychischen ‚Innenleben‘ und ihren Verhaltensde-
     terminanten bereitstellen und dies mit praktischen Anweisungen zur Erkenntnis, Behand-
     lung, Modellierung, Regulierung oder Befreiung dieses Selbst verbinden.“³

Dieser wissenshistorische Zugang bietet eine Möglichkeit, transnationale Wis-
senszirkulationsnetzwerke in historischer Beziehung zueinander zu untersuchen
und die komplexen Verflechtungen „zwischen (Wissen)schaft, außerwissen-
schaftlicher Öffentlichkeit und gesellschaftlicher wie individueller Aneignung
und Nutzbarmachung psychologischen Wissens“ in den Blick zu nehmen.⁴
     Darüber hinaus verhindert dieser breite Wissensbegriff künstliche Grenzen in
einer transnational begriffenen Wissensgeschichte zu ziehen. Aus dieser wis-
senshistorischen Perspektive wird in der Untersuchung gefragt, auf welche Vor-
stellungen, Versprechen, Begrifflichkeiten, Narrative und Metaphern von „Glück“
in den Ratgebern Bezug genommen wurde.Wer schrieb die Ratgeber? Wer war das
Zielpublikum? Welche Praktiken wurden empfohlen? Welche Beispiele, Szenarien
und Objekte wurden für die Anleitung verwendet? Ein kurzer Überblick über die
Geschichte der Ratgeberpraktik soll als Grundlage für die anschließende Unter-
suchung dienen.

 Vgl. Senne und Hesse 2019, 29.
 Eine kritische Darstellung zum zeitgenössischen Diskurs über die „Errettung der modernen
Seele“ vgl. u. a. Illouz 2009.
 Tändler und Jensen 2012, 10.
 Vgl. ebd.

   OpenAccess. © 2021 Isabelle Haffter, publiziert von De Gruyter.        Dieses Werk ist lizenziert
unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitung 4.0 International
Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110661439-008
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8.2 Zur Geschichte der Ratgeberpraktik

Das Spektrum der Wissensräume von deutschsprachigen Ratgebern war vom 18.
bis ins 19. Jahrhundert geschlechter-, alters- und länderübergreifend und reichte
von Etiketten- und Benimmbüchern, religiösen und okkultistischen Seelsorge-
büchern, pädagogischen Erziehungsratgebern für Kinder und Jugendliche,⁵ An-
leitungen zur sexuellen Aufklärung und Körperpflege bis hin zur medizinischen
Heim- und landwirtschaftlichen Hofversorgung. Sie stellten eine erste Annähe-
rung an eine psychologische Beratung und eine therapeutische Anleitung dar.⁶
     Diese Symbiose aus psychologischer Wissensgenerierung und Wissens-
transfer erfuhr zu Beginn des 20. Jahrhunderts, insbesondere nach dem Ersten
Weltkrieg, einen Popularitätsschub. Die Verbreitung von „Psycho-Wissen“ in
Form von Anleitungen für eine verbesserte „Lebensführung“⁷ vollzog sich trans-
national vor dem Hintergrund der sich verändernden modernen Lebens- und
Berufsumstände, den Dynamiken des Wirtschaftskapitalismus und den Verwi-
ssenschaftlichungsprozessen in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen.⁸ Die
Therapeut*innen gaben den Ratsuchenden „Lebenstechniken“ an die Hand,
welche die Anpassung eines psychologisierten „Selbsts“ an die moderne Le-
bensweise versprachen.⁹ Das „Selbst“ wurde im Kontext dieser Therapeutisie-
rungspraktiken als beratungs- und therapiefähig erklärt.¹⁰ Für die Zeit nach dem
Zweiten Weltkrieg, insbesondere seit den 1970er Jahren, spricht die Forschung von

 Zur Kinder- und Jugendratgeberliteratur vgl. u. a. Frevert u. a. 2014.
 Einige Beispiele: Hoffmann, Friedrich. 1718. Herrn Friedrich Hoffmanns, Weitberühmten Me-
dici. Gründliche Anweisung wie ein Mensch. Seine Gesundheit erhalten, und sich von schweren
Krankheiten befreyen kann. 4., 5. und 6. Theil, Halle/Frankckfurt, Leipzig: Renger (Regnerische
Buchhandlung); Frölich, Anton. 1802. Lehre über die erste Grundlage des menschlichen Glücks
durch physische Erziehung und Bildung.Von Anton Frölich, der Arnzneywissenschaft Doktor und
wirklichen Mitglied der medizinischen Fakultät, Wien: Anton Pilcher; Knigge, Adolph Freyherr
1807. Die Kunst mit Menschen umzugehen. 3 Bände in 1 Band (Komplett), Hannover: o.V.
 Mehr zur „Lebensführung“ vgl. Schwenk 1996. Mehr zu Weber vgl. Müller 2014.
 Zum Einfluss des Psychowissens nach dem Ersten Weltkrieg in den USA, GB, F und Indien vgl.
u. a. Lasch 1979, Herman 1995, Furedi 2003, Rieff 2007, Illouz 2009, Jensen 2011, Jensen 2019. Zum
breiten gesellschaftlichen Einfluss liegen erst Einzeluntersuchungen vor, eine Gesamtübersicht ist
noch ausstehend, vgl. u. a. Mahlmann 1991, Kleiner und Suter 2015.
 Zu „Lebenstechniken“ im Kontext von Herrschaftsdiskursen, „Selbsttechnologien“ und
Selbstführung, bzw. -disziplinierung, vgl. insbesondere Foucault 1989, Foucault 2009, Foucault
2014, Foucault 2017. Vgl. auch Eitler und Eberfeld 2015.
 Vgl. Jensen 2011, 38 ff. Zur Glücksratgeberwissenspraktik nach 1945 vgl. u. a. Kleiner und Suter
2018.
8.2 Zur Geschichte der Ratgeberpraktik             79

einem regelrechten „Psychoboom“ in der amerikanischen und europäischen
Beratungspraktik.¹¹
     Vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstands stellt sich die Frage,
welche Bedeutung die individualtherapeutische Konstitution des „Selbst“ nach
dem Ersten Weltkrieg für das Glückswissen in der deutschsprachigen Ratgeber-
literatur während der Weimarer Republik und in dem noch kaum untersuchten
Zeitraum von 1933 bis 1945 in NS-Deutschland hatte.¹² Dazu ist es wichtig danach
zu fragen, um welche Form von diskursiver Wissenskommunikation es sich bei
der Untersuchung von Glücksratgebern handelt.
     Die Ratgeberkommunikation kann als eine komplexe, wechselseitige und
dynamische Wissenspraktik aufgefasst werden. Die Beratung als eine interaktive
Kommunikationspraxis zwischen einem Ratsuchenden und einem Ratgebenden
entwickelte sich ab den 1750er Jahren.¹³ Die Ratgeberautor*in konzipiert eine stille
Zuhörerschaft beim Verfassen ihrer Lehrsätze. Die Autor*in entwirft auf der
Grundlage einer (auto‐)biografisch erfolgreichen Glücksgeschichte einen fiktiven
Dialog mit den Ratsuchenden. In der Praxis blieb es den Rezipient*innen freilich
selbst überlassen, ob sie das Beratungswissen über „Glück“ und „Erfolg“ in ihren
individuell ausgeführten Ratgeberpraktiken anwandten, verwarfen, abänderten
oder weiterempfahlen.¹⁴ Dieser Umstand stellt die historische Forschung vor
methodische Herausforderungen. Die Auflagenzahl und die Rezension eines
Ratgebers können jedoch darüber Auskunft geben, wie oft ein Werk in der Ge-
sellschaft rezipiert und inwieweit das Glückswissen eines Ratgebers zirkulierte
und darüber verhandelt wurde.
     Glücksratgeber gewannen im deutschsprachigen Raum seit 1900 an Popu-
larität. Die als Expert*innen auftretenden Autor*innen gaben mit Hilfe alltags-
naher Sprache und scheinbar authentischer Erfahrungsberichte praktische An-
leitungen für ein „glücklicheres“ Leben.¹⁵ Dabei griffen sie vermehrt auf
Glückswissen aus der Arbeitspsychologie zurück. Auf welche Weise? Die Verfas-
ser*innen von Ratgeberbüchern traten oft in einer Doppelrolle als Arbeitspsy-

 Zum „Psychoboom“ vgl. Tändler 2016. Zur Glücksratgeberwissenspraktik nach 1945 vgl. u. a.
Duttweiler 2007, Kleiner 2014, Kleiner 2016.
 Wenige Einzelstudien liegen vor, eine Gesamtübersicht ist noch ausstehend, vgl. u. a. Zur
Ratgeberliteratur in der NS-Zeit Höffer-Mehlmer 2003, 182– 210, Seegers 2015, Senne und Hesse
2019, Seegers 2019.
 Vgl. Messerli 2010, 31.
 Vgl. ebd.
 Zur Popularität von Erfolgs- und Glücksratgebern seit 1900 vgl. Konzepte von Glück und Erfolg
in der Ratgeberliteratur (1900 – 1940). Eine Einleitung. In: Kleiner und Suter 2015, 9 – 40. Re-
zension vgl. Haffter 2017. Ferner vgl. zur Entwicklung der Ratgeberliteratur während der Weimarer
Republik Höffer-Mehlmer 2003, 182– 210.
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cholog*innen und Ratgeberautor*innen auf. Sie gaben ambivalent verfasste
Antworten auf komplexe Problemstellungen. Diese universellen Fragen über
„Glück“ und „Erfolg“ entsprangen einer transnationalen Wissenszirkulation. Sie
beschäftigten die Menschen in der Zeit des Wilhelminischen Kaiserreichs, der
Weimarer Republik und der NS-Diktatur.
     Der Fokus der folgenden Forschungsfragen liegt auf dem Untersuchungs-
zeitraum 1933 – 1945:
1. Welchen Wandel durchlief Glückswissen in der Ratgeberliteratur? Welche
     Wissensbestände wurden nach 1933 umgedeutet, hinzugefügt oder verboten?
2. Welche Bedeutung hatten stereotypisierte Geschlechterkonventionen über
     ein individuelles Streben nach „Glück“ und „Erfolg“ in der modernen Ge-
     sellschaft?
3. Welche politische Aufgabe wurde der Glücksratgeberpraktik beigemessen?

Die politischen Umbrüche um 1933 taten der Popularität einiger Glücksratgeber-
autor*innen keinen Abbruch. Die Glücksratgeber boten, speziell zwischen 1930
und 1945, verschiedene Anleitungspraktiken für die sich im Übergang von der
Weimarer Republik zum „Dritten Reich“ drastisch verändernden Lebenslagen:
1. als wirtschaftliche Erfolgs- und individuelle Glücksratgeber über eine wie-
    derzuerlangende „Arbeitsfreude“ während der als „Krise“¹⁶ gedeuteten Zeit
    der Weimarer Republik um 1930,
2. als Anleitungen für kollektive Körperpraktiken während der Aufbaujahre der
    NS-Diktatur 1933 – 1939 im Sinne der „rassenhygienischen“ NS-Ideologie
    „Kraft durch Freude“
3. als propagandistische Durchhalteparolen an die „Volksgemeinschaft“ wäh-
    rend der Kriegsjahre 1939 – 1945.

Aufgrund ihrer dynamischen Adaptionsfähigkeit, je nach gesellschaftspoliti-
schem Kontext, hofften die Autor*innen, durch die Vermittlung ihrer ‚neuen‘,
modernen Lebenspraktiken eine integrative, geschlechter-, klassen-, alters- und
parteiübergreifende Wirkungsmacht in der Weimarer Republik entfalten zu kön-
nen. Nach 1933 erhoben die zensierten Glücksratgeberautor*innen denselben
Anspruch, jedoch auf der Grundlage der „NS-Rassenideologie“.
    Einschlägige Beispiele sind jene Ratgeber und Broschüren, welche in Re-
ferenz auf die NS-Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“ und auf die „ras-
senhygienischen“ Empfehlungen des „Rassenpolitischen Amtes“ den ‚neuen‘,
„deutschen“ Menschen in der nationalsozialistischen „Volkgemeinschaft“ fei-

 Zum Krisendiskurs in der Weimarer Republik vgl. Eitz 2015, Eitz und Engelhardt 2015.
8.2 Zur Geschichte der Ratgeberpraktik           81

erten und den kollektiven, gemeinschaftsstiftenden Erlebnischarakter ihrer
Glü ckspraktiken betonten.¹⁷ Exemplarisch ist Hermann Wilkes Ratgeber „Dein
‚Ja‘ zum Leibe! Sinn und Gestaltung deutscher Leibeszucht“ (1939) zu nennen.¹⁸
Dieser Ratgeber von Wilke (eigentlich: Arno Vossen¹⁹) stand in einer wissens-
historischen Kontinuität zur „Freikörperkultur“ (FKK), deren ehemalige Ver-
einsmitglieder sich nach der Aufhebung ihres Verbots dem „rassenhygieni-
schen“ Konzept des „Bundes für Deutsche Leibeszucht“ anzupassen hatten.²⁰
Der Ratgeberautor Wilke empfahl körperpraktische Anleitungen auf der
Grundlage der „NS-Rassenhygiene“²¹ in Referenz auf die Berliner Ausstellung
„Gesundes Leben – frohes Schaffen“²² des Arztes und NSDAP-Funktionärs Prof.
Dr. Walter Groß,²³ Leiter des „Rassenpolitischen Amtes der NSDAP (RPA)“.
      Das „rassenpolitische“ Ziel der Glücksratgeber war vordergründig die
„Lebensgestaltung des neuen Menschen“, um „stark und froh“ zu leben.²⁴
Tatsächlich wurde der „gleichgeschaltete“ „Volkskörper“ beispielsweise im
Auftrag der „Reichsjugendführung der NSDAP“ mit propagandistischen An-
leitungen zu „Freude“, „Zucht“ und „Glaube“ im „Handbuch für die kulturelle
Arbeit im Lager“ (1941) auf den totalitären Vernichtungskrieg und den Holo-
caust vorbereitet.²⁵
      Ein Beispiel für den wissenshistorischen Kontext von Glücksratgebern, in
welchem angewandtes Glückswissen zirkulierte und rezipiert wurde, war die Frei-
zeitorganisation „Kraft durch Freude“ und deren nationalsozialistische Gefühls-
politik. Hitlers leistungsorientierte Wirtschafts- und Kriegsideologie fragte rheto-
risch: „Wie erhalten wir dem Volke die Nerven, in der Erkenntnis, daß man nur mit
einem nervenstarken Volk Politik treiben kann?“ Die Antwort lautete: mit der
Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“.²⁶ Gemäß Leys NS-Arbeitspsychologie

 Vgl. Ley 1935, 44. Mehr dazu s. Kap. 11, 12.
 Vgl. Wilke 1940.
 Vgl. König 1990, 199.
 Vgl. ebd.
 Zur „Rassenhygiene“ als Erziehungsideologie im Nationalsozialismus vgl. u. a. Harten, Nei-
rich und Schwerendt 2006.
 Die Ausstellung fand im Berliner Funkturm vom 24.09.1938 bis 06.11.1938 statt, vgl. Aus-
stellungsplakat, Objektdatenbank, Deutsches Historisches Museum, Berlin, https://www.dhm.
de/datenbank/dhm.php?seite=5&fld_0=20000373, 03.08. 2019. Mehr zum wissenshistorischen
Kontext der „rassenhygienischen“ NS-Parole „Gesundes Leben – frohes Schaffen“ während des
Zweiten Weltkriegs vgl. u. a. Reiberter und Breger 1942. S. Kap. 14.
 Mehr zu Walter Groß vgl. u. a. Uhle 1999, Uhle 2017.
 Vgl. Wilke 1940, 174.
 Vgl. Dörner 1941.
 Vgl. Ley 1935, 31.
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sollte die Freizeitorganisation der gebeutelten „Arbeiterseele“ wieder „Nahrung“
geben, sodass sie „Kraft durch Freude“ erlange.²⁷ Leys beschönigende Schlussworte
über das vermeintlich „herrliche Ziel“ eines Zweiten Weltkriegs und Holocausts in
seiner Gründungsrede der „NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude“ vom 27. Novem-
ber 1933 an einer Kundgebung der „Deutschen Arbeitsfront“ im Festsaal des
Preußischen Staatsrates in Berlin machen das manipulative Ausmaß der Gefühls-
politik der NS-Arbeitsmoral „Kraft durch Freude“ deutlich:

     „[…] Und deshalb soll dieses große gewaltige Werk im Hinblick auf das herrliche Ziel auch
     schon im Namen unser Wollen zum Ausdruck bringen: Nicht Freizeit, nicht Feierabend,
     nicht ‚Nach der Arbeit‘ – unser Werk heißt: Nationalsozialistische Gemeinschaft ‚Kraft durch
     Freude!‘“²⁸

„Rassenhygienische“ „Kraft-durch-Freude“-Befürworter*innen wie Wilke stütz-
ten sich auf das Glückswissen ihrer Vordenker*innen und unterzogen diese
Wissensbestände einer NS-ideologischen Umdeutung. Für ihre totalitäre Theorie
über nationalsozialistische Glückswissenspraktiken zählten mitunter Erkennt-
nisse aus den Freizeitorganisationen der sozialistischen und kommunistischen
Arbeiterbewegung und aus der Forschung zur Massenpsychologie seit dem aus-
gehenden 19. Jahrhundert. Hinzu kamen Wissensbestände aus den bürgerlichen,
zuweilen bereits antisemitisch und „völkisch“ argumentierenden Reformbewe-
gungstheorien zu Körperpraktiken (z. B. autosuggestive „Willenskraft“) und „Le-
bensführung“²⁹ um 1900 sowie den psychologischen Erkenntnissen der interna-
tionalen Arbeitswissenschaft, insbesondere aus dem Bereich der angewandten
„Psychotechnik“ in der Weimarer Republik.
    Das gleichzeitige Wechselspiel aus Brüchen, Kontinuitäten und Ambivalen-
zen ist ein wesentliches Merkmal der Glücksratgeberliteratur, welches ihrer ei-
genen Erfolgsgeschichte als Wissenspraktik zugrunde liegt. Die vergleichende
Ratgeberanalyse soll aufzeigen, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede das
Glückswissen der Autor*innen zur Zeit der Weimarer Republik im Vergleich zur
nationalsozialistischen Ideologie aufwies.

 Vgl. ebd. Tonaufzeichnung eines Ausschnitts aus Leys Rede vom 27.11.1933, https://archive.
org/details/19331127RobertLeyAusschnittAusDerRedeZurGruendungDerFreizeitorganisationKraft
Dur, 12.12. 2019.
 Ley 1935, 44.
 Mehr zur „Lebensführung“ vgl. Schwenk 1996. Mehr zu Weber vgl. Müller 2014.
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