ADB-Artikel - Deutsche Biographie

Die Seite wird erstellt Hauke Winkelmann
 
WEITER LESEN
Deutsche Biographie – Onlinefassung

ADB-Artikel

Seidl: Johann Gabriel S., österreichischer Dichter, historisch-topographischer
und archäologischer Schriftsteller, wurde (nach seiner eigenhändigen
Aufzeichnung) am 21. Juni 1804 in Wien als der Sohn eines Hof- und
Gerichtsadvocaten geboren, erhielt eine sorgfältige Erziehung und die erste
Ausbildung zunächst am akademischen Gymnasium seiner Vaterstadt.
Die Lehrkräfte dieser Anstalt bestanden damals zum großen Theile aus
Angehörigen des geistlichen Standes, unter denen sich überaus gebildete
Männer befanden, einer derselben. Professor A. Rößler, erkannte die schon
frühzeitig hervortretende poetische Begabung Seidl's und trug zur Förderung
derselben nicht wenig bei. Im übrigen lebte S. mehr zurückgezogen, fand
jedoch auf Ausflügen in die schönen Umgebungen Wiens mannigfaltige
Anregung zu poesievoller Naturbetrachtung, die auch in späteren Jahren einen
Grundzug seiner dichterischen Eigenart bildet. Als sich nicht lange darauf
mehrere Studirende zur gemeinschaftlichen Herausgabe ihrer ersten Gedichte
in einer Sammlung zusammengethan hatten, welche unter dem Titel „Die
Cicade“ gedruckt wurde und in Heften erschien, war auch S. darin mit einer
„Ode an die Sonne“ vertreten. Der Jüngling widmete sich, dem Wunsche
seines Vaters folgend, den Rechtsstudien, nachdem er die sogenannten
philosophischen Studienjahre durchgemacht hatte, während welcher er mit
verschiedenen später litterarisch bedeutend gewordenen Persönlichkeiten
verkehrte, so insbesondere auch mit Friedrich Halm (Freih. v. Münch), später
mit Franz Exner, Jakob v. Jenny, Bauernfeld, Lenau u. a. m. Damals, etwa
16 Jahre alt, veröffentlichte er schon freundlich aufgenommene poetische
Beiträge in Theodor Hell's „Abendzeitung", bald darauf folgten solche in
Zschokke's „Erheiterungen“ und in Gubitz's „Berliner Gesellschafter“, auch in
den österreichischen Zeitschriften fanden sich poetische Stücke des jungen
Dichters. Freilich gab es bei den damaligen traurigen Preßverhältnissen
nicht viele belletristische Blätter in Oesterreich, allein die hervorragendsten
derselben, so Hormayr's wissenschaftlich-belletristisches „Archiv", Bäuerle's
„Theaterzeitung“ und Schickh's „Wiener Zeitschrift“, letztere durch lange
Jahre das vornehmste Blatt Wiens, boten dem jungen talentvollen Autor
manchen Raum für seine Gedichte und erzählenden Aufsätze. Daß der auf
diese Weise in die Litteratur Eingeführte mit den übrigen poetischen Talenten
der Residenz in einem engeren Verkehre stand, ist leicht erklärlich und
spornte S. zu weiterem dichterischen Schaffen an. Grillparzer, Deinhardstein,
Castelli und andere hervorragende und für das dichterische Leben der
österreichischen Residenz bedeutende Persönlichkeiten wandten dem
aufstrebenden Talente ihre Beachtung zu, und der junge Poet erfreute sich ihres
Umganges, auch war seine äußere Lebensstellung eine vor Sorgen bewahrte.
Aber ein trauriges Ereigniß änderte die Verhältnisse, als am 16. October
1823 Seidl's Vater starb. Es stellte sich heraus, daß keine Mittel vorhanden
waren, um die Hinterbliebenen anständig erhalten zu können, und der junge
S. war genöthigt, für sich und die Mutter sowie für deren vermögenslose
Schwester den Lebensunterhalt zu erwerben.|Er that dies durch litterarische
Arbeiten, Theaterreferate, durch übernommene Privatlectionen und durch
Abfassung von Bühnenwerken, die er mitunter sogar im Verein mit anderen
Schriftstellern wie z. B. Biedenfeld und Halirsch anfertigte, Stücke, welche nicht
selten auf verschiedenen Bühnen Wiens und der Provinz zu oft wiederholter
Darstellung gelangten. Daß er diese dramatischen Productionen nur als
Erwerbsarbeiten betrachtete, zeigt am besten eine im „Humoristen“ von
1838 von S. veröffentlichte humorvolle Skizze: „Geschichte meines ersten
dramatischen Versuches“, welche die Entstehung und Darstellung des von S.
gedichteten und im November 1824 im Theater an der Wien zur Aufführung
gelangten dramatischen Volksmärchens „Der kurze Mantel" behandelt. Auf
diese Weise wurden noch zur Darstellung gebracht das Melodrama: „Die
Unzertrennlichen“, „Mantel und Becher“ u. a. m. Von besonderem Werthe
aber erscheint die aus jener Zeit stammende Uebersetzung und Bearbeitung
des Textbuches der heitern Oper „Maurer und Schlosser“, welches S. nach
einem französischen Originale in überaus gewandter Weise abfaßte und dem
er hauptsächlich in den eingefügten Liedern sehr sangbare einschmeichelnde
Texte bot. S. hatte inzwischen seine Rechtsstudien ebenfalls fortgesetzt,
immer aber dabei litterarischer Beschäftigung und philosophischen Studien
mehr Aufmerksamkeit zugewandt, in der That sollten letztere seinen späteren
Lebensberuf begründen. Damals lernte er auch in Therese Schlesinger, der
Tochter eines verarmten Wiener Bürgers seine spätere Frau kennen und es
dürfte diese Bekanntschaft der Grund gewesen sein, daß er nun energisch
in seinen Studien sich für das Lehramt vorbereitete, sich in den classischen
Sprachen ausbildete und dadurch in der That so weit gelangte, daß er
mittelst Decrets vom 7. April 1829 am Gymnasium zu Cilli in Steiermark
als Grammaticalprofessor angestellt wurde. Er vermählte sich nun noch
vor der Abreise und zwei der letzten berühmten Freunde, von denen S.
Abschied nahm, waren Anastasius Grün und Nicolaus Lenau. Auf der damals
ziemlich langwierigen Reise nach Cilli machte S., da er Graz berührte,
daselbst auch die persönliche Bekanntschaft des liebenswürdigen, mit ihm
gleichstrebenden Dichters K. G. v. Leitner. Bald hatte sich der Dichter in
dem schönen Lande Steiermark zurechtgefunden, und die kleine Stadt,
in der er weilte, lieb gewonnen. Neben seiner Lehrthätigkeit betrieb er
auch weiterhin eifrig die Poesie, beschäftigte sich jedoch insbesondere mit
archäologischen wissenschaftlichen Arbeiten, wozu der alte historische Boden
der Claudia Celeja ein weites Feld bot. Da der Dichter schon durch seine
poetischen Bilder: „Schillers Manen" (1826) und durch die erschienenen
drei Theile „Dichtungen“ (1826—1828) sowie durch die Dialectgedichte:
„Flinserln“ (1828) allgemeine Aufmerksamkeit erweckt hatte, wurde er auch
von den litterarischen Kreisen der Steiermark warm empfangen und in der
Zeitschrift „Der Aufmerksame“, die in Graz erschien, veröffentlichte er seitdem
zahlreiche poetische Beiträge, nicht minder topographische und historische
Aufsätze in der „Steiermärkischen Zeitschrift", unter denen besonders jene,
welche Cilli und dessen Umgebung betreffen, bemerkenswerth sind. Daß seine
Mitarbeit an den übrigen österreichischen belletristischen Zeitschriften, in
denen Seidl's Name ja schon durch Jahre als der eines beliebten Schriftstellers
vertreten war, auch in der neuen Stellung nicht erlahmte, sei hier ebenfalls
angemerkt. Mehrere Sammlungen von Novellen und einige Bände Gedichte
waren außerdem die Frucht des ruhigeren stilleren Lebens in der Provinz und
die schönsten und reifsten der Poesien Seidl's sind in jener Zeit entstanden,
insbesondere die Gedichte der „Bifolien“, deren erste Auflage im J. 1836
erschien. Mit den Wiener litterarischen Freunden blieb der Dichter übrigens
in steter Verbindung, auch hatte er durch die ununterbrochene Herausgabe
einiger Taschenbücher, darunter der „Aurora“, mit den poetischen Talenten
Oesterreichs fortwährende Fühlung. Verschiedene Reisen im Lande und
außerhalb desselben veranlaßten S., das zwar erst 1840 erschienene, aber
auch vollständig in Steiermark entstandene Buch: „Wanderungen durch
Tirol und Steiermark“ (2 Bde. Leipzig, 2. Aufl. 1847) abzufassen, welches
anziehende topographische und ethnographische Details enthält. Von den
Persönlichkeiten, mit denen S. in dem Lande, wo er nun weilte, verkehrte,
sei insbesondere der für das Culturleben der Steiermark so außerordentlich
bedeutende, hochbegabte Fürst Erzherzog Johann hervorgehoben, welcher
den Dichter und Schriftsteller in S. hochschätzte, und dem auch die „Bifolien“
gewidmet sind. Die Stadt Cilli würdigte die Verdienste Seidl's durch Verleihung
des Ehrenbürgerrechtes. In dieser Weise lebte der Dichter bis zu Anfang des
Jahres 1840 in der kleinen Kreisstadt, als ein eigenthümlicher Zufall seine
Rückkehr in die Residenz bewirkte. Es tauchte nämlich zu jener Zeit plötzlich
in Deutschland das Gerücht von Seidl's Tode auf, und die Zeitungen brachten
Nekrologe und Trauergedichte auf den vermeintlich Verstorbenen. Auch in
Wien fand dieses Gerücht Eingang. Die Folge davon war, daß man darauf
aufmerksam geworden war, welche Bedeutung der Poet habe und was er auch
in wissenschaftlicher Beziehung zu leisten vermöge. Plötzlich erhielt derselbe
von dem Oberstkämmerer des Kaisers in Wien M. Graf v. Dietrichstein ein
schmeichelhaftes Schreiben, worin er zugleich aufgefordert wurde, sich um
die erledigte Stelle eines Custos im k. k. Münz- und Antikencabinet in Wien
zu bewerben. Selbstverständlich kam er dieser liebenswürdigen Aufforderung
nach und erhielt mit Decret des Oberstkämmereramtes vom 4. Mai 1840 diese
Stelle verliehen.

S. verließ also Cilli, von wo ihm nun der Abschied recht schwer wurde, wie sein
schönes Gedicht: „Abschied von Steiermark“ am besten beweist, und kehrte
mit seiner Familie nach elfjähriger Abwesenheit wieder in die Residenzstadt
zurück. In seiner neuen Stellung hatte er sich durch ernstes Studium und regen
Eifer bald derart zurechtgefunden, daß er wegen seinen schriftstellerischen
Leistungen auf dem Gebiete der Epigraphik, Numismatik und Archäologie am
1. Februar 1848 zum correspondirenden und am 28. Juli 1851 zum wirklichen
Mitgliede der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften ernannt wurde.
Gleichzeitig mit dem Antritte seiner Stellung am Münz- und Antikencabinet
wurde dem Dichter von der obersten Polizei- und Censurhofstelle das
undankbare Amt eines Censors „aufgedrängt“ (wie S. selbst schreibt), welches
er bis zum Jahre 1848 nicht nur zur Zufriedenheit der vorgesetzten Behörde
versah, sondern auch mit Milde und Rücksicht den Parteien gegenüber
dabei waltete. Es ist bekannt, was das Amt eines österreichischen Censors
damals in Oesterreich bedeutete und sehr zu beklagen, daß nicht immer
Männer wie J. G. Seidl dasselbe handhabten. Es ist deshalb auch vollkommen
unrichtig, wenn von der einen oder anderen Seite behauptet wurde, S. sei
in der Ausübung seines Censuramtes herzlos und strenge gewesen, so
manchem Schriftsteller ebnete er vielmehr die Bahn, damit dieser in die
Oeffentlichkeit treten konnte und zeigte sich so entgegenkommend als
nur möglich in der Ausübung dieses ihm lästigen Amtes. Auf litterarischem
Gebiete waren es fast ausschließlich wissenschaftliche Arbeiten, mit denen
sich S. in dieser Zeit beschäftigte. Charakteristisch ist ein Satz aus den
handschriftlichen biographischen Aufzeichnungen Seidl's, worin er erwähnt,
„daß ihn das Censuramt sowie seine loyale Haltung im J. 1848 und in der
darauf folgenden Reformperiode um sein ganzes litterarisches Renommée
brachte und er auch der Journalistik gegenüber zu einer persona ingratissima
wurde“. Selbstverständlich kränkte eine solche unverdiente Zurücksetzung
den zartfühlenden Dichter außerordentlich, doch dauerte es nicht lange, bis
man auch in weiteren Kreisen das schwere Unrecht einsah, welches dem
stets edel Denkenden bereitet worden war. Ein harter Schlag traf ihn, als
im Januar 1849 seine nach St. Pölten übergesiedelte|Mutter daselbst starb.
Von da an war er wieder auf pädagogischem Gebiete mehr thätig, übernahm
sogar vorübergehend im J. 1849 die Professur der deutschen Sprache am
Josefstädter Gymnasium in Wien und 1850 betheiligte er sich mit anderen
Pädagogen, von denen hier nur Adalbert Stifter genannt sei, an der Redaction
der „Zeitschrift für österreichische Gymnasien“, welche er bis zu seinem Tode
fortführte. Ein Ereigniß auf poetischem Gebiete war es für S., als er im J. 1853,
zur Wettbewerbung aufgefordert, den Text der österreichischen Volkshymne
verfaßte und neben mehreren Texten anderer Dichter, die ebenfalls eingelaufen
waren, seiner Dichtung der Vorzug gegeben wurde. Dieser Text der Hymne
wurde als authentischer erklärt und der Dichter durch eine Ordensverleihung
ausgezeichnet.

Nachdem im J. 1854 die Gattin Seidl's gestorben war, führte er mit seiner
Tochter ein zurückgezogenes Leben, doch fehlte es ihm nicht an äußeren Ehren,
er erhielt 1856 die Stelle eines Hofschatzmeisters, wurde zum Regierungsrathe
ernannt, mit dem Orden der eisernen Krone und später durch den Hofrathstitel
ausgezeichnet. Im J. 1872 erfolgte seine Pensionirung, nach welcher er nur
noch der Redaction der Gymnasialzeltschrift und kleineren Arbeiten sich
widmete. Melancholie und Schwermuth bemächtigten sich Seidl's in der letzten
Zeit, es war dies wohl auch die Folge physischen Leidens, das ihn immer
heftiger ergriff. Am 18. Juli 1875 starb er einen sanften ruhigen Tod, von seiner
Tochter und ihrer Familie, aber auch von allen den zahlreichen Verehrern und
Freunden echter sinniger Poesie tief betrauert.

Wenn man die litterarische Thätigkeit Seidl's ins Auge faßt, so lassen sich
zunächst zwei Hauptgruppen derselben zusammenfassen, nämlich die
poetische und die wissenschaftliche Gruppe. Jede derselben weist werthvolle
Arbeiten auf, zugleich zeigen diese beiden Gruppen im allgemeinen,
daß Seidl's Wirken in jüngeren Jahren fast ausschließlich der Poesie und
etwa in der zweiten Hälfte seines Lebens beinahe nur wissenschaftlicher
Thätigkeit gewidmet war, denn die nach 1848 erschienenen poetischen
Veröffentlichungen sind nur entweder Neuauflagen oder Nachlesen aus
älterer Zeit. Die poetischen Werke des Dichters bilden theils lyrische, theils
novellistische Stücke in Prosa. Insbesondere gebührt der mundartlichen
lyrischen Dichtung Seidl's besondere Aufmerksamkeit. Als Lyriker sowohl auf
hochdeutschem als auch auf dem dialektischen Gebiete nimmt S. unter den
deutsch-österreichischen Poeten eine überaus angesehene Stellung ein. Es
sind nicht hoch emporstrebende Gedanken, welche uns in den Liedern Seidl's
mit fortreißen, und vielfach drängt sich darin das subjective Empfinden vor,
aber die Töne, welche der Dichter anschlägt, sprechen und dringen zu Herzen,
sei es, daß sie sich zum einfachen Liebesliede zusammensetzen, daß sie
die Freude an der Natur besingen oder ein Stimmungsbild entwerfen, wie es
in wenigen Zeilen kaum bezeichnender entworfen werden kann (z. B. „Am
Kamin", I, 248). Sehr selten entschlüpft dem Dichter einer jener Austriacismen,
wie wir sie leider bei den österreichischen Poeten des Vormärz, die nicht
länger im „Auslande" geweilt haben, öfter finden. Schon der 1825 erschienene
Cyclus: „Schillers Manen“ (I, 1 ff.) zeigt poetische Gewandtheit, Kraft und
Begeisterung, welche von dem kaum 21jährigen Dichter Bedeutendes erwarten
ließ. In den späteren Dichtungen, insbesondere in den „Liedern der Nacht“ ist
es wohl auch mitunter düstere Schwermuth, welche in einzelnen derselben
vorwaltet, Lenau's Einfluß dürfte sich bei derartigen Stücken geltend machen.
Schon in dieser Sammlung tritt uns jedoch auch hier und da ein gewisser
epischer Zug entgegen, der auf des Dichters Begabung für die erzählende
Dichtung hinweist. In der That erweisen dies im hohen Grade die schon
1826 gesammelt gedruckten, einzeln|theilweise noch früher veröffentlichten
„Balladen, Romanzen, Sagen und Lieder“ (I, 115 ff.). Man ist überrascht von
der epischen Gestaltungskraft, welche dem blutjungen Poeten in Gedichten
wie „Hans Euler', „Die feste Mauer“ oder „Mac-Gregor's Nacht-Ritt“ eigen
ist, und die man selbst bei den besten Talenten in ihrer ersten Entwicklung
nicht gewohnt ist. Die meisten dieser poetischen Erzählungen zeichnen sich
auch durch Knappheit der Form aus. Daß S. auch heimische Sagenstoffe
schon damals sich ebenfalls zum Vorwurf seiner Dichtungen wählte, ist eine
ebenfalls beachtenswerthe, jedenfalls zu erwähnende Thatsache. Waren
es in den früheren Sammlungen gemüthvoll zu Herzen dringende Lieder
oder einzelne kräftiger angelegte epische Dichtungen verschiedener Art,
dazwischen allerdings auch leichtere lyrische Waare, so bot der Dichter im
J. 1836 mit den „Bifolien" nach beiden Richtungen hin Gedichte, welche den
hervorragenden Poesien der zeitgenössischen Dichter unbedingt ebenbürtig zur
Seite gestellt werden können. Es ist ein kleiner Kreis des Empfindens, welcher
in den eigentlich lyrischen Teilen der „Bifolien" zur Behandlung kommt, der
Dichter besingt seine Häuslichkeit und sein Glück, Freundschaft und Liebe,
die Ideale des Lebens bald in ernsten, bald in heiteren Klängen, überall aber
begegnen wir der Innigkeit und Gemüthstiefe, welche Seidl's Eigenart ist und
gerade in den „Bifolien" zur vollen und ganzen Geltung kommt. Der Dichter
offenbart auch hier keine himmelanstrebende begeisterte Natur, aber eine
wohlthuende Wärme durchströmt das Herz bei Liedern wie „Meine Uhr" (II,
25), „Mein Wecker" (II, 121), „Mein Stammbuch" (II, 142), „Die Strickerin" (II,
68) und ähnlichen Poesien, welche oft an ein unbedeutendes kleines Ereigniß
oder an einen geringfügigen Gegenstand anknüpfend in sinniger Weise manch'
fein entworfenes Bild vor dem Auge des Lesers immer weiter aufrollen und
dessen Seele empfindungsvoll zu stimmen wissen. Der Dichter weiß dies
mit einfachen Mitteln zu bewirken und insbesondere jedes seiner derartigen
Lieder in knappem Rahmen einzufügen. Von bedeutender Wirkung sind in
den „Bifolien" die erzählenden Gedichte, der Kreis, aus dem sie ihre Stoffe
schöpfen, ist ein weiter und umfassender, der Romanzen- und Balladenton
waltet vor, Anschaulichkeit der Darstellung, gute Charakteristik der Gestalten,
wohldurchdachte und gelungene Zeichnung der Stimmung zeigen sich als
Vorzüge der meisten dieser poetischen Erzählungen. Viele derselben sind
aus Sammlungen, Anthologien und mit Proben belegten Literaturgeschichten
der neueren Zeit ziemlich allgemein bekannt, so „Das Glücksglöcklein" (II, 3)
mit der rührenden Schilderung von der Liebe des Volkes zu seinem Könige.
„Aennchen von Tharau" (II, 18), „Die Spielkarten" (II, 40), „Der König und der
Landmann" (II, 59), „Die Pestjungfrau" (II, 91), „Der Falschmünzer" (II, 123),
„Der letzte Mann" (II, 217), „Der todte Soldat“ (II, 248) u. a. m. Ein bunte
Fülle von Gestalten zieht an dem Geiste des Lesers dieser „Bifolien“ vorüber,
Gestalten, welche edle Regungen des Herzens, Hochsinn und Tapferkeit,
Heimathsliebe und echte Frömmigkeit verkörpert zeigen. Mit dieser allerdings
reichhaltigen Sammlung hochdeutscher Gedichte hat S. eigentlich seine
besonders beachtenswerthe poetische Thätigkeit abgeschlossen, die besten
seiner Lieder hat er darin vereinigt, und wenn auch späterhin manches
Gedicht entstand, das unseres Dichters Eigenart nicht verläugnet und mit
verschiedenen älteren Stücken vereinigt, in der „Nachlese": „Natur und
Herz“ (Stuttgart 1853, IV, 189) enthalten ist, so treten diese Gedichte doch in
künstlerischer Beziehung weit hinter die früher veröffentlichten zurück, und
man wird manchmal an ein wehmüthiges Epigramm des Dichters aus seinen
letzten Lebensjahren erinnert, das mit den Zeilen schließt: „Doch einen Verlust
verschmerz' ich nie — Abhanden kam mir die Poesie!“ (V, 102.)

|
Eine sehr beachtenswerthe Stellung nimmt S. als Dichter auf dem Gebiete
der Mundart ein. Schon in früher Zeit ging er den Spuren des Volksthums in
seiner niederösterreichischen Heimath nach, sammelte Sagen und andere
Volksüberlieferungen und machte sich mit dem volksthümlichen Dialekte
überaus vertraut. Als er in Steiermark weilte, übertrug er auch auf dieses ihm
lieb gewordene Land die gleiche Thätigkeit, und manches hübsche Volkslied,
manche Mythe und Sage aus dem Volksmunde ausgezeichnet, ist durch ihn
schätzenswerther Weise erhalten geblieben. In den Jahren 1828 bis 1838
erschienen die vier Hefte: „Flinserln“ (III, 1 ff.). Es sind dies von S. selbst
gedichtete kurze und längere Gedichte in der heimischen Mundart, wodurch
er in vortrefflicher Weise sein tiefes Verständniß des Volkscharakters sowie
seine Vertrautheit mit dem Dialekte darlegte. Die „Flinserln" enthalten echte
warme Herzenstöne, welche der Dichter dem Volke förmlich abgelauscht hat,
so daß manches dieser Liedchen wirklich selbst zum Volksliede geworden
ist. Daß diese mundartlichen Gedichte zumeist das Bauernleben betreffen,
in dessen Dialekt sie verfaßt sind, ist selbstverständlich, übrigens finden
sich auch größere Stücke darunter, welche theils Stimmungsbilder, theils
Scherze und Schnurren enthalten, welche der Dichter mit gutem Humor
vorzutragen versteht. Dieser Gruppe von Dichtungen sind auch die kleinen
dramatischen Lebensbilder: „'s letzti Fensterln“ und „Drei Jahrl'n nachm letzt'n
Fensterln“ beizuzählen, welche nicht nur auf der Wiener Bühne, sondern auf
zahlreichen Provinzbühnen und auch außerhalb Osterreichs oft zur beifällig
aufgenommenen Darstellung gelangten, da auch hierin sich S. als tüchtiger
Kenner und inniger Schilderer des Volkslebens zeigte. Endlich gehören zu den
von S. in der Mundart veröffentlichten Poesien die drei im J. 1850 erschienenen
Hefte: „Almer, Innerösterreichische Volksweisen“ (IV, 3 ff.), welche allerdings
nicht vom Dichter selbst verfaßt, aber eben als Sammlung dieser kleinen
zumeist unter den Begriff der sogenannten „Schnaderhüpfeln“ fallenden Lieder
von Werth sind. S. nahm dabei die Gelegenheit wahr, einige Schilderungen
aus dem steirischen Volksleben beizufügen, welche die Beachtung des
Ethnographen verdienen, sowie auch die von ihm verfaßten Glossare zu
den erwähnten Dialektgedichtsammlungen in sprachlicher Hinsicht von
Werth sind. — Verschiedene der von ihm gesammelten Sagen allerdings in
Bearbeitungen, welche dem Charakter der bezüglichen Blätter angepaßt
waren, hat der Dichter in der „Wiener Zeitschrift“, in „Ost und West“ (1838
und 1839) und in anderen belletristischen Blättern jener Zeit veröffentlicht,
auch in Wolf's Zeitschrift für deutsche Mythologie (1855, 2. Bd.) finden
sich steiermärkische Sagen und Volksgebräuche mitgetheilt. Der Verfasser
dieser Zeilen hat nach der handschriftlich zurückgebliebenen Sammlung
Seidl's dessen „Sagen und Geschichten aus Steiermark“ (Graz 1881) nebst
verschiedenen Beiträgen zu des Dichters Biographie herausgegeben. Um
das Bild von des Dichters poetischem Wirken zu vervollständigen sind
auch dessen novellistische Arbeiten zu erwähnen, sie liegen zumeist in
den Sammlungen: „Georginen“ (Graz 1836), „Episoden aus dem Roman
des Lebens“ (Wien 1836), „Novelletten“ (Wien 1839), „Pentameron“ (Wien
1843) und „Laub und Nadeln“ 2 Bde. (Wien 1842) vor. (Eine Auswahl in
den Ges. Schr. V und VI.) Es läßt sich jedoch über diese zwischen 1828 und
1871 entstandenen Erzählungen wenig Bemerkenswerthes mittheilen, es
sind schlichte Novellen, zumeist für die üblichen Taschenbücher berechnet,
hter und da reicher an Erfindung, jedoch ohne besonders ausgeprägte
Charakteristik, insbesondere in der Darstellung der vorgeführten Personen,
manche dieser Stücke, wie z. B. „Der Vogel Curios“, erinnern an E. T. A.
Hoffmann's phantastische Geschichten, einige behandeln historische Stoffe
wie „Die Schweden vor Olmütz“, manche sind nach Vorwürfen nichtdeutscher
Schriftsteller bearbeitet. Hübsche Schilderungen von Gegenden, in|denen
S. geweilt, finden sich mitunter diesen Novellen einverleibt. Es wurde
schon hervorgehoben, daß S. in späterer Zeit sich fast ausschließlich
wissenschaftlicher Thätigkeit widmete, er hat in der That auf dem Gebiete der
Ethnographie, der Numismatik und der Epigraphik überaus beachtenswerthe
Arbeiten verfaßt, zu denen ihm insbesondere die Durchforschung des an
alten Denkmälern so reichen Cillier Bodens reichen Stoff gab. Abgesehen von
historisch-topographischen Aufsähen in der „Steiermärkischen Zeitschrift“,
in der Augsburger „Allgemeinen" und in der „Wiener Zeitung“ sowie in
Schmidl's „Oesterreichischen Blättern“ (1846 und 1847) erschienen als
überaus werthvolle Untersuchungen die „Epigraphischen Excurse. Monumeuta
Celejana“ den „Wiener Jahrbüchern der Litteratur“ (Bd. CII ff.) sowie in den
„Sitzungsberichten und Denkschriften der philos.-hist. Classe der k. Akademie
in Wien" die Aufsätze: „Ueber den Dolichenes-Cult" (XII. und XIII. Bd.), „Beiträge
zu einem Namenverzeichnisse der römischen Procuratoren in Noricum" (XIII.
Bd.), „Das altitalische Schwergeld im k. k. Münz- und Antikencabinet“ (III.
und XI. Bd.), „Ueber des Titus Calpurnius' Delos“ (Denkschr. I. Bd.). Eine
metrische Uebersetzung der Fabeln des Faërnus von S. erschien schon 1831,
auch hat er einzelne Elegien Alfons von Lamartine's noch in seiner früheren
Arbeitsperiode geschickt übertragen sowie den litterarischen Nachlaß seines
begabten, leider mit 30 Jahren dahingeschiedenen Freundes Ludwig Halirsch
mit einer trefflichen biographischen Einleitung versehen im J. 1840 (Wien
2 Bde.) herausgegeben. Damit dürste im wesentlichen die Bedeutung des
Dichters J. G. Seidl gekennzeichnet, die Thätigkeit des wissenschaftlichen
Schriftstellers und Gelehrten umgrenzt erscheinen. Eine Ausgabe (Auswahl)
von Seidl's gesammelten (poetischen) Schriften, herausgegeben von Hans Max.
erschien in 6 Bänden von 1877 bis 1881 in Wien bei dem für die österreichische
Litteratur so hochverdienten Verleger und persönlichen Freunde des Dichters
Wilhelm Braumüller. Die hier bei Anführung einzelner Werke in Klammern
befindlichen Ziffern deuten Band und Seite dieser Ausgabe an.

Literatur
Als Material zur obigen Biographie überließ mir Herr S. H. Funke, Seidl's Enkel,
in freundlicher Weise eigenhändige selbstbiographische Aufzeichnungen des
Dichters. — Zu vergleichen sind: Wurzbach's Biograph. Lex. XXX. 333—350. —
Wurzbach's Biographie im Album österr. Dichter I. Serie (Wien 1850), S. 333—
376. —
Goedeke's Grundriß zur Gesch. d. deutschen Dichtung (Hannover 1859) III, 584
u. 585. — W. Hartel's Nekrolog in der Zeitschrift für österr. Gymnasien 1875. —
Die Lexika von Brümmer und Kehrein. —
Kurz. Gesch. der deutschen Litt. 3. Bd. — J. G. Seidl und seine Beziehungen zur
Steiermark in der Ausgabe der nachgelassenen Sagen des Dichters (Graz 1881)
vom Verfasser dieser Skizze u. a. m.

Autor
Anton Schlossar.

Empfohlene Zitierweise
Schlossar, Anton, „Seidl, Johann Gabriel“, in: Allgemeine Deutsche Biographie
(1891), S. [Onlinefassung]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/
pnd117464392.html
1. September 2021
© Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften
Sie können auch lesen