EU-Skepsis und die europäische Regionalpolitik: Fördert effektive Politikumsetzung die Zustimmung für proeuropäische Parteien?
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ÖGfE Policy Brief 11’2019 EU-Skepsis und die europäische Regionalpolitik: Fördert effektive Politikumsetzung die Zustimmung für proeuropäische Parteien? Von Julia Bachtrögler und Harald Oberhofer Wien, 15. Mai 2019 ISSN 2305-2635 Handlungsempfehlungen 1. Die Verteilung der EU-Regionalförderungen sollte, um ihre Wirksamkeit zu erhöhen und damit potenziell auch zu weniger EU-skeptischem Wahlverhalten beizutragen, zielgerichtet auf die Bedürfnisse der jeweiligen Region zugeschnitten sein. 2. Die Effektivität der EU-Regionalpolitik sollte verstärkt auf kleinräumiger Ebene evaluiert werden, um lokale Gegebenheiten berücksichtigen zu können. 3. Die Überprüfung der ökonomischen Wirkungen der EU-Regionalförderungen sollte im Rahmen von (EU-weiten) Analysen verstärkt unter Verwendung von detaillierten Projekt- und Unternehmensdaten durchgeführt werden. Zusammenfassung Die Europäische Union (EU) investiert jährlich mehr als wachstum führt, auch tatsächlich proeuropäischer 50 Milliarden Euro in die Förderung der wirtschaftli- eingestellt sind und ihre Wahlentscheidung dement- chen Entwicklung, Wettbewerbsfähigkeit und At- sprechend treffen. Untersucht wird die Frage anhand traktivität europäischer Regionen und Städte. Die der französischen Präsidentschaftswahl im Jahr 2017 EU-Regionalpolitik verfolgt das Ziel, durch gezielte und dem Wahlerfolg der euroskeptischen Kandidatin Förderungen zu einer Steigerung des wirtschaftlichen Marine Le Pen sowie dem proeuropäischen Kandida- Wachstums, der Beschäftigung und der Lebensqua- ten Emmanuel Macron. Die hier vorgestellten Haupt- lität in allen europäischen Regionen beizutragen. In ergebnisse deuten darauf hin, dass die WählerInnen in diesem Policy Brief wird der Frage nachgegangen, Regionen, in denen durch die EU-Regionalförderung ob die BürgerInnen in jenen Regionen, in denen die zusätzliche Beschäftigung generiert wurde, in einem EU-Regionalpolitik zu zusätzlichem Beschäftigungs- geringeren Ausmaß für Marine Le Pen stimmten. Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999 1
ÖGfE Policy Brief 11’2019 EU-Skepsis und die europäische Regionalpolitik: Fördert effektive Politikumsetzung die Zustimmung für proeuropäische Parteien? 1. Einleitung und Motivation „Neben der Diskussion über das ideale Aus- maß der europäischen Integration ist bei den Die Frage der zukünftigen Gestaltung und Wei- Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai terentwicklung der Europäischen Union bestimmt 2014, sowie bei nationalen Wahlen der ver- die Debatte im aktuell laufenden EU-Parlaments- gangenen Jahre zu beobachten, dass grund- wahlkampf maßgeblich. Ein bemerkenswerter Vor- legend euroskeptische Parteien in den EU- stoß kam zuletzt vom französischen Präsidenten Mitgliedstaaten an Zustimmung gewinnen.“ Macron, der eine tiefergehende Integration in ver- schiedenen Bereichen, unter anderem mittels ei- Gemäß Treib (2014) lassen sich euroskeptische nes Gemeinsamen Budgets und eines/r europäi- Parteien in zwei Gruppen einteilen, nämlich in jene schen FinanzministerIn, forderte. Im Gegensatz zu mit einer „harten“ bzw. einer „weichen“ Einbettung einer Verstärkung der Integration in Richtung einer der EU-Kritik in den jeweiligen Parteiprogrammen. Fiskalunion wollen wiederum andere europäische Während stark euroskeptische Parteien das eu- Regierungen eine Stärkung der nationalstaatlichen ropäische Projekt grundsätzlich hinterfragen und Kompetenzen erreichen. So befürwortet zum Bei- (auch im Wahlkampf) einen Austritt ihres jeweiligen spiel die österreichische Bundesregierung das vier- Landes aus der EU in Erwägung ziehen, fordern te Szenario („Weniger, aber effizienter“) aus dem „weiche“ EU-SkeptikerInnen grundlegende Refor- „Weißbuch zur Zukunft Europas“, welches 2017 von men der EU-Politik hinsichtlich einer Desintegration der Europäischen Kommission vorgestellt wurde.1 gewisser Politikbereiche oder einer Auflockerung strikter EU-weiter Regulierungen, ohne aber die Neben der Diskussion über das ideale Ausmaß prinzipielle Sinnhaftigkeit der europäischen Integra- der europäischen Integration ist bei den letzten tion infrage zu stellen. So gehören laut Treib (2014) Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2014, neben der französischen Rassemblement National sowie bei nationalen Wahlen der vergangenen Jah- (vormals Front National) auch die italienische Lega re, jedoch auch zu beobachten, dass grundlegend Nord, die britische Ukip oder die kommunistische euroskeptische Parteien in den EU-Mitgliedstaaten Partei Griechenlands zum „harten“ Kern der euros- an Zustimmung gewinnen. So stieg der Stimmen- keptischen Parteien, während etwa die griechische anteil der strikten EU-Gegner bei Wahlen zwischen Syriza oder Die Linke in Deutschland als „Soft Eu- 2000 und 2018 im Durchschnitt der 28 EU-Mitglied- rosceptics“ klassifiziert werden. staaten um acht Prozentpunkte auf fast 18% (Dijks- tra, Poelman und Rodríguez-Pose, 2018, S. 3). Jene „Eine relativ häufig geäußerte Kritik attes- euroskeptischen Parteien, die ebenso, aber im Ver- tiert der EU sowie den nationalen Regierun- gleich weniger vehement gegen die EU argumentie- gen eine unzureichende Vermarktung und ren, zogen 2019 die Stimmen von über einem Viertel mediale Verbreitung der Errungenschaften der WählerInnen an. der EU.“ 1) https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/ weissbuch_zur_zukunft_europas_de.pdf. 2 Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
ÖGfE Policy Brief 11’2019 Eine halbjährlich durchgeführte Eurobarometer- Jahr 2017 herangezogen. Hier kandidierte mit Mari- Umfrage untersucht, wie die Bevölkerung die EU- ne Le Pen eine Kandidatin einer gemäß Treib (2014) Mitgliedschaft und den Nutzen ihres Landes daraus stark euroskeptischen Partei, deren Einstellung zur einschätzt. Die „Brexit“-Verhandlungen, die bis nach EU in deutlichem Gegensatz zu jener ihres Gegen- dem ursprünglich vorgesehenen Austrittsdatum am kandidaten Emmanuel Macron stand. Letzterer galt 29.03.2019 in keiner im Vereinigten Königreich po- im Wahlkampf als Verfechter einer tiefgreifenden litisch durchsetzbaren Lösung mündeten, dürften weiteren Integration der EU-Mitgliedstaaten. Diese die letzten Umfrageergebnisse mitbestimmt haben: Konstellation erlaubt es zu analysieren, ob die Ef- Die Zustimmungsrate zur EU ist die höchste seit 25 fektivität der EU-Regionalfördermittel – gemessen Jahren (siehe z.B Österreichische Gesellschaft für an dessen Beschäftigungseffekten – neben regio- Europapolitik 2019). Trifft die Vermutung zu, dass nalen, ökonomischen und demografischen Charak- die Vorteile (Nachteile) der (Nicht-)Mitgliedschaft ei- teristika eine Rolle für die Wahlentscheidung für den nes Staates in der Europäischen Union durch die proeuropäischen Kandidaten Macron oder die eu- „Brexit“-Debatte potenziell verstärkt in den Vorder- roskeptische Kandidatin Le Pen spielte. grund treten? Eine relativ häufig geäußerte Kritik at- testiert der EU sowie den nationalen Regierungen „Als Fallbeispiel werden dazu die französi- eine unzureichende Vermarktung und mediale Ver- schen Präsidentschaftswahlen aus dem Jahr breitung der Errungenschaften der EU. Werden die- 2017 herangezogen.“ se für die Bevölkerung durch die Komplikationen bei der Trennung des Vereinigten Königreichs von der 2. (Ökonomische) EU, und die im Zuge der Diskussion publik gemach- Bestimmungsgrößen von ten Analysen und Meinungen, nun greifbarer? Wahlergebnissen und die Schätzung der Beschäftigungswirkung der „Konkret werden die Ergebnisse einer ak- EU-Regionalpolitik tuellen Studie der AutorInnen beleuchtet (Bachtrögler und Oberhofer, 2018), die den Das Ergebnis der ersten Runde der Präsident- Einfluss der Effektivität der EU-Regionalpoli- schaftswahl 2017 in Frankreich, das in der Unter- tik auf das Ausmaß euroskeptischen Wahlver- suchung als zu erklärende Variable herangezogen haltens in den europäischen Regionen unter- wird, variiert stark zwischen den französischen Dé- sucht.“ partements (Bezirken; siehe Abbildung 1). Beson- ders deutlich werden die Unterschiede, wenn man Vor diesem Hintergrund diskutiert dieser Policy die Stimmenanteile der Kandidatin der damaligen Brief die Frage, ob eine wirksamere Umsetzung der Front National betrachtet: Während Marine Le Pen europäischen Politikmaßnahmen im nahen Umfeld in Paris unter 5% der WählerInnen von sich über- der Bürgerinnen und Bürger zu einem geringeren zeugen konnte, sind es in Aisne, einem ländlichen Wahlstimmenanteil für euroskeptische Parteien bei- Département in Picardie, 35,67%, was dem maxi- trägt. Konkret beleuchten wir die Ergebnisse einer malen regionalen Stimmanteil einer Kandidatin oder aktuellen Studie der AutorInnen (Bachtrögler und eines Kandidaten bei dieser Wahl entspricht. Diese Oberhofer, 2018), die den Einfluss der Effektivität räumliche Disparität bildet eine weitere Motivation der EU-Regionalpolitik auf das Ausmaß euroskep- für eine wissenschaftliche Untersuchung der für die tischen Wahlverhaltens in den europäischen Regi- Wahlentscheidung zugrundeliegenden regionalen onen untersucht. Als Fallbeispiel werden dazu die Charakteristika und Entwicklungen, auf die die EU- französischen Präsidentschaftswahlen aus dem Regionalpolitik direkt abzielt. Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999 3
ÖGfE Policy Brief 11’2019 Abbildung 1: Stimmenstärkste KandidatInnen je Département in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl 2017 in Frankreich Source: By Mélencron (own work) [CC BY-SA 4.0 https://creativecommons. org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons. In Bachtrögler und Oberhofer (2018) wird ein Be- Das Modell wird darüber hinaus um Informationen rechnungsverfahren zur Analyse der potenziellen zur „Betroffenheit“ der WählerInnen in den Regio- Bestimmungsgrößen der Wahlergebnisse in den 96 nen von der Europäischen Union ergänzt. Als Be- französischen Départements verwendet, das auf troffenheitsindikatoren in Schätzmodellen wurden in Wahlmodellen zur Beantwortung verwandter Frage- der jüngsten Literatur (Becker et al. 2017, Crescenzi stellungen aus der Literatur aufbaut. Hierzu wird ein et al. 2017) das regionale Ausmaß des Handels mit multivariates Regressionsmodell zum Einsatz ge- anderen EU-Mitgliedstaaten, die Höhe der von der bracht, bei dem die maßgeblichen ökonomischen EU erhaltenen Transfers sowie die Immigration aus Einflussfaktoren für regionale Wahlentscheidungen EU-Staaten herangezogen. (wie etwa Pro-Kopf-Einkommen, Höhe der Arbeits- losigkeit, die Altersstruktur, Bildungsniveau, Migra- „Konkret stellt sich die Frage, ob sich die tionsbewegungen, Bevölkerungsdichte bzw. Grad Regionalpolitik, von deren Projekten potenzi- der Urbanisierung, vorherrschende gesellschaftli- ell alle Bürgerinnen und Bürger profitieren che Werte) berücksichtigt werden.2 können, auf euroskeptisches Wahlverhalten bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 2017 in Frankreich ausgewirkt hat.“ 2) Siehe u.a. Eichenberg & Dalton (1993), Lubbers & Schee- pers (2010), Barone et al. (2016) und Curtice (2017). 4 Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
ÖGfE Policy Brief 11’2019 Im Rahmen der in diesem Policy Brief präsentier- 2007-2013 durch EU-Regionalförderungen kofinan- ten Studie vertiefen wir die Analyse des Einflusses zierten Projekten und den zugehörigen Empfängern der EU-Politik auf das Wahlverhalten. Konkret stellt herangezogen (Bachtrögler et al., 2019). Die gesam- sich die Frage, ob sich die Regionalpolitik, von de- melten Unternehmensdaten wurden infolge mit Bi- ren Projekten potenziell alle Bürgerinnen und Bür- lanzdaten und Informationen aus der Gewinn- und ger profitieren können, auf euroskeptisches Wahl- Verlustrechnung der jeweiligen Unternehmen, wel- verhalten bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 2017 che in der Orbis-Datenbank (Bureau van Dijk) ver- in Frankreich ausgewirkt hat. Die EU-Regionalpolitik fügbar sind, verbunden.3 Der Datensatz wurde ab- verfolgt das Ziel, u.a. über die Förderung regiona- schließend um alle französischen Unternehmen aus ler Märkte und Arbeitsmärkte, zu einer besseren der Orbis-Datenbank, welche keine EU-Förderun- Lebensqualität der EU-BürgerInnen beizutragen. gen erhalten haben, ergänzt. Die letzte Gruppe an Dazu werden über den Europäischen Fonds für die Unternehmen dient im Berechnungsverfahren als Regionale Entwicklung (EFRE), den Europäischen Kontrollgruppe für die Berechnung der Effektivität Sozialfonds (ESF) und den Kohäsionsfonds, in Zu- der EU-Regionalförderungen.4 Als Maß für die Ef- sammenarbeit mit den Mitgliedstaaten, Projekte fektivität der EU-Fördermaßnahmen verwenden wir kofinanziert, die zur strukturellen Stärkung der, ins- das durch die Förderung induzierte Beschäftigungs- besondere aber nicht nur, wirtschaftlich schwäche- wachstum in den geförderten Unternehmen und be- ren Regionen beitragen sollen. Die Schaffung neuer rechnen einen durchschnittlichen Beschäftigungs- Transport- und sozialer Infrastruktur zählt ebenso wachstumseffekt für 21 französische Regionen. dazu wie auch das Angebot von (Weiter-)Bildungs- Diese Regionen bilden eine höhere Verwaltungsebe- maßnahmen oder Aktivitäten im kulturellen Bereich. ne und umfassen jeweils mehrere Départements. Diesen berechneten Beschäftigungswachstumsef- Die beschriebenen ökonomischen Wahlmodelle fekt nehmen wir im nächsten Schritt als zusätzliche berücksichtigen die Summe der Förderungen, die im Rahmen der EU-Regionalpolitik (und anderer Pro- gramme wie der europäischen Agrarpolitik) ausbe- 3) Die Orbis-Datenbank beinhaltet Bilanzdaten sowie die Ge- winn- und Verlustrechnung von rund 300 Millionen Unterneh- zahlt werden. Diese Information misst, inwiefern Re- men weltweit und wird kommerziell vertrieben. Weiterführende gionen von den EU-Regionalfördertöpfen finanziell Informationen zu dieser Datenbank finden sich online unter: profitieren, lässt aber keinen direkten Rückschluss https://www.bvdinfo.com/de-de?gclid=EAIaIQobChMIyc2gpeid darauf zu, ob diese Förderungen auch tatsächlich 4gIVjQ8YCh1ZEQ0fEAAYASAAEgJKXvD_BwE. die ökonomischen Lebensverhältnisse in den ein- 4) Methodisch verwenden wir zur Berechnung der Effekti- zelnen Regionen verbessern. Da sich die Effektivität vität eine Kombination eines sogenannten “Propensity Score Matching“-Verfahrens und dem Differenz-von-Differenzen An- der eingesetzten finanziellen Mittel aus der EU-Regi- satz (siehe z.B. Angrist und Pischke, 2009). Das “Propensi- onalpolitik in den französischen Départements nicht ty Score Matching“-Verfahren verfolgt das Ziel, aus der Kont- direkt beobachten lässt, muss diese zur Beantwor- rollgruppe diejenigen Unternehmen herauszufiltern, welche in den maßgeblichen Unternehmensmerkmalen den geförderten tung unserer Fragestellung geschätzt werden. Unternehmen am ähnlichsten sind. Zu diesem Zweck wird für jedes Unternehmen die Wahrscheinlichkeit berechnet, dass Zu diesem Zweck wird auf ökonometrische Me- es durch EU-Regionalmittel unterstützt wird. Auf Basis dieser Wahrscheinlichkeiten werden die Unternehmen, die gefördert thoden zur Bewertung des Einflusses von Politik- wurden, im nächsten Schritt mit nicht-geförderten Unterneh- maßnahmen zurückgegriffen (siehe Bachtrögler und men verglichen, die eine möglichst ähnliche Wahrscheinlichkeit Oberhofer, 2018). Konkret wurden in einem ersten aufweisen, die finanzielle Unterstützung erhalten zu haben. Der Schritt Daten zu den in Frankreich in der Periode Differenz-von-Differenzen-Ansatz verfolgt diese Unternehmen dann über die Zeit und erlaubt es, zusätzliche Faktoren, die auf Basis der Datenlage nicht beobachtbar sind, sich aber über die Zeit nicht ändern, zu berücksichtigen. Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999 5
ÖGfE Policy Brief 11’2019 potenzielle Bestimmungsgröße in das oben bespro- gelöste Beschäftigungswachstumseffekt um einen chene Wahlmodell auf. Prozentpunkt höher ist. Obwohl auch eine höhere Förderungsintensität, d.h. die Höhe der Regionalför- 3. Empirische Befunde derung relativ zur Bevölkerung, in einem Départe- ment mit einer geringeren Zustimmung für die eu- Die Schätzung der Auswirkungen von EU-Regi- roskeptische Kandidatin verbunden ist (siehe Zeile onalförderungen in der Förderperiode 2007-2013 3), spielt gemäß den dargestellten Ergebnissen die auf der Unternehmensebene zeigt für fünf bis sie- Beschäftigungswirkung der Förderung darüber hi- ben von 21 Regionen Frankreichs einen positiven naus eine zentrale Rolle für das Wahlverhalten der Beschäftigungseffekt in den durch Regionalmittel französischen BürgerInnen. geförderten Unternehmen, welcher statistisch nach- weisbar ist. So konnte etwa aufgrund der Förderung Hinsichtlich der weiteren Variablen entsprechen in der Region Íle de France in den Jahren 2007 bis die Ergebnisse den Erkenntnissen aus früheren 2013 ein um 2,9 Prozentpunkte höheres durch- Studien. Einen wesentlichen Einfluss hat dabei das schnittliches jährliches Beschäftigungs-wachstum Einkommen (BIP) pro Kopf in einem Département, erreicht werden. In den 14 anderen Regionen (mit das den Stimmenanteil Le Pens negativ und jenen einer Ausnahme) ergibt die Schätzung ebenso einen Macrons positiv beeinflusst. Wohlhabendere Regio- positiven Beitrag der Fördermittel für das Beschäf- nen tendieren also dazu, proeuropäischer zu wäh- tigungswachstum, der jedoch statistisch nicht von len. Ein ähnliches Bild zeigen die Resultate für den Null unterscheidbar ist.5 Einfluss der Größe des industriellen Sektors und die Höhe der Arbeitslosenrate. Ist letztere in einem Die berechneten Beschäftigungseffekte der EU- Département um einen Prozentpunkt höher, war der Förderungen werden im nächsten Schritt als Vari- Wahlerfolg Macrons gemäß der Schätzung um 1,1 able in ein Schätzmodell zur Erklärung des Stim- Prozentpunkte niedriger und jener von Le Pen ver- menanteils von Marine Le Pen und von Emmanuel besserte sich um 2 Prozentpunkte. Macron, bei der französischen Präsidentschafts- wahl verwendet. Tabelle 1 stellt die Ergebnisse die- Um die Aussagefähigkeit der Ergebnisse zu stär- ser Modellberechnung auf Basis der 96 französi- ken, wurden zum einen unterschiedliche Berech- schen Départements dar. nungsverfahren angewandt (siehe Bachtrögler und Oberhofer, 2018). Zum anderen wurden die Stim- Die zweite Zeile in Tabelle 1 enthält das Haupt- men für den gemäß Treib (2014) „schwach“ euro- ergebnis für die in diesem Policy Brief behandelte skeptischen Kandidaten Jean-Luc Mélenchon, und Forschungsfrage. Der empirische Befund besagt, die Veränderung der Stimmen für Le Pen gegenüber dass der Stimmenanteil Le Pens in einem Dépar- der Präsidentschaftswahl 2012, miteinbezogen, um tement um rund 2 Prozentpunkte niedriger ausfällt, das euroskeptische Wahlverhalten und seine Be- wenn der durch die EU-Regionalförderung aus- stimmungsfaktoren zu untersuchen. Sowohl das Er- gebnis, dass eine effektivere EU-Regionalpolitik mit einem geringeren Stimmenanteil Le Pens zusam- 5) Ob ein ähnlicher Effekt auch mit nationalen Förderungs- menhängt, als auch der Einfluss weiterer Variablen maßnahmen anstelle der EU-Mittel erreicht werden kann, kann erweisen sich dabei als kaum verändert. in dieser Studie nicht untersucht werden. Grundsätzlich ist das Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse innerhalb der EU wohl nur mit einer EU-weit koordinierten Politikgestaltung zu er- reichen. Letztere soll unter anderem dazu beitragen, dass durch die Richtlinien zur Kofinanzierung auch strukturelle, mittel- und längerfristig relevante Projekte priorisiert werden, oder dass von Best Practices in anderen Regionen Rückschlüsse auf die eige- ne Region gezogen werden können. 6 Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
ÖGfE Policy Brief 11’2019 Tabelle 1: Marginale Effekte auf Stimmenanteile in erster Runde der Präsidentschaftswahl 2017 in französischen Départements Quelle: Eigene Berechnungen aus Bachtrögler und Oberhofer (2018) 4. Zusammenfassung und Die Resultate dieses Policy Briefs deuten darauf Politikempfehlungen hin, dass die Effektivität der EU-Regionalpolitik das Wahlverhalten der Bevölkerung beeinflussen kann. „In französischen Regionen, in denen die In französischen Regionen, in denen die Fördermit- Fördermittel aus EU-Töpfen zu mehr Be- tel aus EU-Töpfen zu mehr Beschäftigungswachs schäftigungswachstum beigetragen haben, tum beigetragen haben, gaben weniger WählerIn- gaben weniger WählerInnen der EU-kritischen nen der EU-kritischen Kandidatin Marine Le Pen ihre Kandidatin Marine Le Pen ihre Stimme und Stimme und votierten vermehrt für Emmanuel Mac- votierten vermehrt für Emmanuel Macron.“ ron. Dieses Ergebnis legt den Schluss nahe, dass die Bevölkerung die Vorzüge einer Mitgliedschaft in der EU dann höher einschätzt, wenn sie diese direkt anhand der Entwicklung (der Beschäftigungssituati- on) in der eigenen Region wahrnehmen kann. Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999 7
ÖGfE Policy Brief 11’2019 „Eine stärkere und öffentlich wirksamere In einem ersten Schritt muss hierzu wissen- Darstellung der Aktivitäten der EU-Politik in schaftlich untersucht werden, warum in gewissen den einzelnen Regionen kann die Sichtbarkeit Regionen die EU-Regionalförderung zu mehr Be- der politischen Maßnahmen und somit die Un- schäftigung führt, während in anderen Regionen terstützung für die europäische Politik in der keine spürbaren Effekte nachzuweisen sind. Für Bevölkerung positiv beeinflussen.“ eine solche Untersuchung müssen die notwendigen Daten in bestmöglicher Qualität für Forschungszwe- Diese Erkenntnis ist zugleich auch Auftrag für die cke bereitgestellt werden. Die hieraus resultierende europäische und die nationale Politik. Eine stärkere empirische Evidenz sollte dann von der Politik auf- und öffentlich wirksamere Darstellung der Aktivitä- gegriffen werden und in der Reform der EU-Regi- ten der EU-Politik in den einzelnen Regionen kann onalpolitik ab 2021 seine Berücksichtigung finden. die Sichtbarkeit der politischen Maßnahmen und In diesem Zusammenhang erscheint es auch ent- somit die Unterstützung für die europäische Politik scheidend, die institutionellen Unterschiede (Wahl- in der Bevölkerung positiv beeinflussen. Zugleich systeme, politischer Wettbewerb, Medienland- gilt es allerdings auch die Wirksamkeit von europäi- schaft, etc.) zwischen den EU-Mitgliedsländern mit schen Fördermaßnahmen zu verbessern. Bachtrög- einzubeziehen. In Mitgliedstaaten, die relativ stark ler, Fratesi und Perucca (2019) zeigen für sieben EU- von der EU-Regionalförderungspolitik profitieren, Mitgliedsländer, dass die EU-Regionalförderungen wie etwa Polen oder Ungarn, erhalten europaskep- zwar im nationalen Durchschnitt zu einem zusätz- tische Parteien bei nationalen Wahlen oftmals sehr lichen Beschäftigungs-, Wertschöpfungs- und Pro- hohe Stimmenanteile, obwohl laut Eurobarometer- duktivitätswachstum in den geförderten Unterneh- Umfragen die Zustimmung zur EU in der Bevölke- men beitragen kann, es aber deutliche regionale rung ein beträchtliches Ausmaß annimmt. Die Er- Unterschiede innerhalb der Länder gibt. Dieses Er- gebnisse aus der EU-Wahl Ende Mai 2019 könnten gebnis deutet auf eine Reformnotwendigkeit in die- in einer Nachfolgestudie herangezogen werden, um sem Politikbereich hin. die Rolle von institutionellen Rahmenbedingen für die Wahrnehmung von EU-Politikmaßnahmen zu „Zugleich gilt es allerdings auch die Wirk- untersuchen. samkeit von europäischen Fördermaßnahmen zu verbessern.“ 8 Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
ÖGfE Policy Brief 11’2019 Literaturhinweise Eichenberg, R. C. & Dalton, R. J. (1993), Euro- peans and the European Community: The dyna- Angrist, J. D. & Pischke, J.-S. (2009), Mostly mics of public support for European integration, In- harmless econometrics: An empiricist’s companion, ternational Organization 47(4), 507–534. Princeton University Press. Lubbers, M. & Scheepers, P. (2010), Divergent Bachtrögler, J. & Oberhofer, H. (2008), Euroscep- trends of Euroscepticism in countries and regions ticism and EU Cohesion Policy: The Impact of Mic- of the European Union, European Journal of Political ro-Level Policy Effectiveness on Voting Behaviour, Research 49(6), 787–817. WIFO Working Papers 567, Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung. Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (2019), ÖGfE-Umfrage: Einstellung der Österreiche- Bachtrögler, J., Fratesi, U. & Perucca, G. (2019), rInnen zur Mitgliedschaft in der EU weiter positive, The influence of the local context on the implemen- https://oegfe.at/2019/05/08_einstellung_eu/. tation and impact of EU Cohesion Policy, Regional Studies, DOI: 10.1080/00343404.2018.1551615. Treib, O. (2014), The voter says no, but nobody listens: causes and consequences of the Euroscep- Bachtrögler, J., Hammer, C., Reuter, W. H. & tic vote in the 2014 European elections, Journal of Schwendinger, F. (2019), Guide to the galaxy of EU European Public Policy 21(10), 1541–1554. regional funds recipients: evidence from new data, Empirica 46(1), 103–150. Barone, G., D’Ignazio, A., de Blasio, G. & Natic- chioni, P. (2016), Mr. Rossi, Mr. Hu and politics. The role of immigration in shaping natives’ voting behavi- or, Journal of Public Economics 136, 1–13. Becker, S. O., Fetzer, T. & Novy, D. (2017), Who voted for Brexit? A comprehensive district-level ana- lysis, Economic Policy 32(92), 601–650. Crescenzi, R., Di Cataldo, M. & Faggian, A. (2017), Internationalized at work and localistic at home: The ’split’ Europeanization behind Brexit, Papers in Re- gional Science 97(1), 117–132. Curtice, J. (2017), Why Leave won the UK’s EU referendum, Journal of Common Market Studies 55(S1), 19–37. Dijkstra, L., Poelman, H. & Rodríguez-Pose, A. (2018), The geography of EU discontent, European Commission Regional and Urban Policy Working Paper 12/2018. Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999 9
ÖGfE Policy Brief 11’2019 Über die AutorInnen Julia Bachtrögler, PhD ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Strukturwandel und Regionalentwicklung am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO). In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Fragestellungen im Bereich Regionalökonomie, insbe- sondere der EU-Kohäsionspolitik sowie regionaler Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit. Kontakt: julia.bachtroegler@wifo.ac.at Univ.-Prof. MMag. Dr. Harald Oberhofer ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Österreichi- schen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO). In seiner Forschung beschäftigt er sich mit Fragestellungen in den Bereichen Außenhandelsökonomie, Industrieökonomie und angewandte Ökonometrie. Kontakt: harald.oberhofer@wu.ac.at / harald.oberhofer@wifo.ac.at Über die ÖGfE Die Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) ist ein parteipolitisch unabhän- giger Verein auf sozialpartnerschaftlicher Basis. Sie informiert über die europäische In- tegration und steht für einen offenen Dialog über aktuelle europapolitische Fragen und deren Relevanz für Österreich. Sie verfügt über langjährige Erfahrung im Bezug auf die Förderung einer europäischen Debatte und agiert als Katalysator zur Verbreitung von eu- ropapolitischen Informationen. ISSN 2305-2635 Impressum Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck Österreichische Gesellschaft für Europapolitik kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE Rotenhausgasse 6/8-9 oder jenen, der Organisation, für die die AutorInnen arbei- A-1090 Wien, Österreich ten, überein. Generalsekretär: Mag. Paul Schmidt Schlüsselwörter EU-Skepsis, EU-Regionalpolitik, Beschäftigungseffekte Verantwortlich: Dr. Susan Milford-Faber Zitation Tel.: +43 1 533 4999 Bachtrögler, J., Oberhofer, H. (2019). EU-Skepsis und Fax: +43 1 533 4999 – 40 die europäische Regionalpolitik: Fördert effektive Politi- E-Mail: policybriefs@oegfe.at kumsetzung die Zustimmung für proeuropäische Partei- en? Wien. ÖGfE Policy Brief, 11’2019 Web: http://oegfe.at/policybriefs 10 Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
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