Ecole La Belle Maison in Caux im Kanton Waadt: Bildungsziele sind schulische und charakterliche Vortrefflichkeit .
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«Die kleinste Schule der Schweiz!» Ecole La Belle Maison in Caux im Kanton Waadt: Bildungsziele sind schulische und charakterliche Vortrefflichkeit . Das Erfolgsrezept: Kopf, Herz und Hand werden gleichwertig gefördert – das Wocheninternat ver- bindet Schule und Leben eng miteinander. Gespräch mit dem Lehrerehepaar Urs und Brigitte Kasser Roth, Leitung der Ecole La Belle Maison in Caux VD Informationsreihe der Ecole La Belle Maison, Caux VD, 3 (2006) Nr. 1
Erziehung / Schule / Menschliche Werte / Charakter Impressum Informationsreihe der Ecole La Belle Maison, CH-1824 Caux. Telefon 021 963 68 25, Telefax 021 963 34 74. E-Mail: info@labellemaison.ch www.labellemaison.ch Herausgeber: Ecole La Belle Maison. CH-1824 Caux Redaktion: Urs Samuel Kasser, Brigitte Roth Kasser 102 Informationsreihe der Ecole La Belle Maison, Caux VD, 3 (2006) Nr. 1
Erziehung / Schule / Menschliche Werte / Charakter «Die kleinste Schule der Schweiz!» Ecole La Belle Maison in Caux im Kanton Waadt: Bildungsziele sind schulische und charakterliche Vortrefflichkeit . Das Erfolgsrezept: Kopf, Herz und Hand werden gleichwertig gefördert – das Wocheninternat verbindet Schule und Leben eng miteinander. Gespräch mit dem Lehrerehepaar Urs und Brigitte Kasser Roth, Leitung der Ecole La Belle Maison in Caux VD Die Schule steht heute auf dem Prüfstand. Auto- ritätskrise, Gewalt, Drogen, Alkohol, Rauchen usw. stellen Schulbehörden und Lehrer vor grosse Pro- bleme. Wen erstaunt es, wenn immer mehr Eltern ihre Kinder in die Obhut von Privatschulen geben. Meist handelt es sich dabei um grössere Privatschu- len, weil mit der grossen Zahl Schüler die Kosten Die Ecole La Belle Maison ist ein Wocheninternat für schulische optimiert werden können. Einen ganz anderen Weg und charakterliche Vortrefflichkeit. Das «Schulhaus» liegt auf hat das Lehrerehepaar Urs und Brigitte Kasser 1000 Meter Höhe hoch oben über Montreux am Genfersee. Es han- Roth eingeschlagen. Sie gründeten in Caux im Kan- delt sich um ein helles, weiträumiges, dreistöckiges Gebäude im Stil einer grosszügig angelegten Landhausresidenz. ton Waadt, hoch oben über Montreux am Genfersee, ihre Privatschule La Belle Maison, bei der die Schülerzahl bewusst auf zwölf beschränkt wurde. ◆ INTERVIEW: DR. FELIX WÜST (ZUMIKON) Was diese Schule von den meisten – wenn nicht von allen andern – Privatschulen unterscheidet, ist das Vielen Dank, Frau Roth, Herr Kasser, für den freundlichen Bildungsziel, nämlich die schulische und vor allem Empfang den Sie mir hier oben, hoch über dem Genfersee, be- auch die charakterliche Vortrefflichkeit. Charakter- reitet haben. Ich freue mich, dass Sie mir Gelegenheit zu diesem Gespräch über Ihre Privatschule La Belle Maison geben. Wie eigenschaften wie Respekt, Disziplin, Selbstkon- ich Ihnen schon sagte: Der Auslöser zu meiner Initiative war trolle, konsequentes Verhalten, Toleranz und Mitge- die Wochenendzeitschrift «SIE+ER», wo in der Ausgabe Nr. 19 fühl stehen im Mittelpunkt des Erziehungskonzepts, vom 7. Mai 2006 ein Bericht über «Die grösste Schule der ja, sie sind sogar das Hauptziel der Schule. Welt» erschien. Da kam mir Ihre Schule La Belle Maison in den Kann so etwas funktionieren? Können die von den Sinn, die ich ja einmal besuchen durfte. Ich dachte sofort, das wäre etwas, ein Gespräch mit Ihnen beiden, die die vermutlich Behörden – im vorliegenden Fall vom Kanton Waadt «kleinste Schule der Welt – oder zumindest der Schweiz» leiten. – vorgegebenen schulischen Ziele erreicht werden Doch bevor wir über die Schule sprechen, wäre es für die Le- und gleichzeitig die charakterliche Vortrefflichkeit serschaft sicher wertvoll, etwas über Sie, das Lehrerehepaar als Hauptziel erklärt werden? Das wollten wir in Er- zu erfahren. Wie kamen Sie auf die kühne Idee, hier oben eine fahrung bringen und baten die Leitung der Schule Privatschule zu gründen? La Belle Maison um ein Gespräch. U. KASSER: Wir haben beide, meine Frau und ich, den traditionel- len Weg der Ausbildung zum Lehrer am Lehrerseminar des Kan- Informationsreihe der Ecole La Belle Maison, Caux VD, 3 (2006) Nr. 1 1
Erziehung / Schule / Menschliche Werte / Charakter tons Solothurn durchlaufen. Nach ein paar Jahren Dienst in der öffentlichen Schule – und in meinem Fall auch an der wunderba- ren Privatschule «Ecole d’Humanité» auf dem Hasliberg – wid- meten wir uns während zehn Jahren dem Künstlerberuf. Meine Frau war Malerin und ich klassischer Berufsmusiker. Doch in den Neunziger-Jahren kehrten wir beide in den Staatsdienst im Kan- ton Aargau zurück. Hier gediehen die Idee und der Traum, eine eigene Schule zu führen, in der die humanistischen Ideale einer Menschlichen-Werte-Erziehung eher verwirklicht werden kön- nen. Glückliche Umstände führten uns in dieses Haus hier, wo wir unsern Traum auch tatsächlich verwirklichen konnten. Beeindruckend! Nun aber zu Ihrer Schule. Meines Wissens unterrichten Sie derzeit vier Schüler. U. KASSER: Das ist richtig. Wir hatten auch schon sechs und sie- ben Schüler. Derzeit sind es vier, die in der 7. und 8. Klasse sind. Die Ecole La Belle Maison im Herbst! Damit dürfte Ihre Vermutung, wonach wir «die kleinste Schule der Schweiz» sind, wohl zutreffen. Sie führen eine Privatschule. Sie leiten ein Wocheninternat. Was unterscheidet Ihre Schule von der Staatsschule? Was ist bei Ihnen anders als bei den grösseren Privatschulen? U. KASSER: Wir sind ein sehr familiärer Betrieb. Die Kinder sind bei uns aufgehoben wie in einer Familie. Das fördert das Selbst- vertrauen der Kinder. Unsere derzeitigen Schüler sind Kinder, die sich in einer grösseren Gemeinschaft eher schwertun und dort vielleicht «untergehen» oder auf schlechte Wege gelangen könn- ten. Wir hier haben die Möglichkeit, mit der Geborgenheit, die wir bieten, diese Schüler besser auffangen zu können. Die üb- lichen Privatschulen sind ja meist grössere Institute, was verständ- lich ist, weil sich mit einer grossen Zahl von Schülern die Fixkos- ten viel besser verteilen lassen. Wir bei uns haben das grosse Glück, äussere Bedingungen vorzufinden, die es uns ermög- lichen, auch in dieser kleinsten Grössenordnung zu funktionie- ren, sodass alles auch vom finanziellen Aspekt her auf gutem Die Schüler besuchen das Wocheninternat während der obligatori- Boden bestehen kann. Wir zwei erledigen alles selber. Wir be- schen Schulzeit ab etwa der zweiten Klasse bis zur 9. Klasse. Da- schäftigen keine weiteren Mitarbeiter. Wir betrachten uns wirk- nach können sie weiterführende Schulen oder eine Lehre besuchen lich als eine kleine Familie, die zusammen mit diesen Kindern (siehe Kasten mit Beispielen von « Schülerkarrieren»). ihren Alltag lebt und bestreitet. Wir kommen darauf zurück. Vorerst müssen wir aber noch Erfolgsgeschichten einiger unserer Schüler *: einige ganz konkrete Dinge besprechen. Wie Sie gesagt haben, sind Sie beide Lehrer, die früher an einer staatlichen Schule • Deborrah (16-jährig): Sie kommt aus einer totalen Schul- unterrichtet haben. Frau Roth, Sie waren Primarlehrerin. verweigerungshaltung an unsere Schule. Im Verlaufe des Herr Kasser, Sie waren Lehrer an der Oberstufe. In beiden einen Jahres, in dem sie das 9. Schuljahr absolviert, kehrt Fällen haben wir es mit staatlich anerkannten Schulen zu tun. ihre Freude am Lernen wieder zurück und sie kann das Schuljahr mit Erfolg abschliessen und eine Berufswahl- U. KASSER: Das trifft zu. Wir mussten natürlich für unsere Ecole schule besuchen, welche sie ebenfalls erfolgreich ab- La Belle Maison auch eine staatliche, offizielle Bewilligung ein- schliesst und heute eine Lehrstelle als Kauffrau-Lehrling er- holen. Voraussetzung dazu war, dass alle kantonalen Vorschriften halten hat. eingehalten werden. Die Einhaltung des Lehrplans des Kantons Waadt musste gewährleistet werden. Allerdings orientieren wir • Roger (15-jährig): Er sollte nach der 5. Primarklasse in die uns als Schule mit der Unterrichtssprache Deutsch nach den Lehr- Kleinklasse versetzt werden. Heute, nach drei Jahren, hat plänen der deutschsprachigen Kantone Bern, Zürich, Solothurn, derselbe Schüler das Niveau eines ordentlichen Bezirks- Aargau usw. schülers erreicht. Ist die Schülerzahl nach oben begrenzt, weil Sie unbedingt eine • Jeffrey (16-jährig): Dieser Schüler kommt zu uns mit einer kleine Schule bleiben wollen? völlig verschlossenen und ernsten Grundhaltung. Er lebt ohne Fröhlichkeit und kennt keine Lebensfreude, ausser B. ROTH: Wir haben hier im Hause La Belle Maison die Möglich- vielleicht beim Computerspielen mit Games usw. Zum Jah- keit, zwölf Kinder unterrichten und beherbergen zu können. resziel hat er sich vorgenommen, fröhlicher und teilnehmen- U. KASSER: Die Beschränkung auf zwölf Kinder folgt einer Vor- der zu sein. Dies ist ihm sehr gut gelungen. schrift des Kantons, ist also staatlich festgelegt. Unser Wochen- internat darf demnach nur zwölf Schüler umfassen, weil wir ma- *) Namen von der Redaktion geändert ximal zwölf Kinder beherbergen können. Selbstverständlich wäre es uns freigestellt, tagsüber externe Schüler aus der näheren Um- 2 Informationsreihe der Ecole La Belle Maison, Caux VD, 3 (2006) Nr. 1
Erziehung / Schule / Menschliche Werte / Charakter gebung zu unterrichten. Aber so weit sind wir noch nicht. Derzeit wäre für das eine oder andere Kind dann doch noch zu hart. Das arbeiten wir strikte als Wocheninternat. ideale Eintrittsalter bei uns liegt bei zehn, elf, zwölf Jahren. Die öffentliche Schule hat derzeit Probleme: Gewalt, Respekt- Haben Sie auch schon Schulabgänger gehabt? Konnten diese losigkeit den Lehrern gegenüber, Drogen, Alkohol, Handys, De- problemlos in die nächsthöheren Schulen übertreten? motivation, schlechte schulische Leistungen usw. Glauben Sie, sich durch die individuelle Betreuung Ihrer kleinen Anzahl von U. KASSER: Ja. Wir haben schon mehrere Schulabgänger gehabt; Schülern deutlich von den öffentlichen Schulen abgrenzen zu Kinder, die das 9. Schuljahr hier zu Ende gebracht haben und die können? Können Sie dank der individuellen Betreuung Ihrer glücklicherweise auch mit Erfolg eine weitere, neue Schule be- Schüler mehr «herausholen»? suchen konnten. Im einen Fall war das eine Berufswahlschule in der deutschsprachigen Schweiz, und im andern Fall trat der Schul- U. KASSER: Davon sind wir fest überzeugt. Sehen Sie, die Pro- abgänger in die Kantonsschule – also die FMS, Fachmittelschule bleme, die Sie angesprochen haben, hängen nicht nur oder primär – ein. mit der Schule zusammen, sondern diese Probleme haben ihre Ur- sache im familiären Umfeld der Schüler. Dort sind leider gewisse Wir befinden uns hier in Caux – nicht gerade im Zentrum der Grundregeln, gewisse Grundnormen nicht mehr gewährleistet. Schweiz! – dafür an einem herrlichen Ort. Sommer und Winter Der erzieherische Auftrag kann in vielen Familien nicht mehr er- eröffnen hier ungeahnte Möglichkeiten für die Kinder. Ist das füllt werden. In unserer Schule mit der individuellen, direkten Be- ein Standortvorteil? treuung der Kinder können wir dieses Defizit wettmachen. Wir können unseren Schülern in der Tat eine Art von Leben lehren, U. KASSER: Das würde ich wohl meinen. Wir sind überzeugt, dass das es ihnen ermöglicht, sich von all den negativen Einflüssen nur schon der Blick, der hier über den Genfersee schweifen kann, fernzuhalten. unwahrscheinlich inspirierend wirkt. Die Kinder können das viel- leicht noch nicht so ausdrücken. Aber wir spüren, dass es ihnen Sie unterrichten ab Primarschulstufe. Welche Altersklassen sind ganz sicher sehr wohl tut, jeden Tag wieder von neuem in einer das? Wann verlassen die Schüler die Ecole La Belle Maison? solchen Umgebung aufstehen zu dürfen und dass das auf ihr Ler- nen einen positiven Einfluss hat. Die Kinder verbringen so die U. KASSER: Die Schüler absolvieren bei uns die obligatorische ganze Woche hier oben bei unberührter Natur und reiner Luft mit Schulzeit, von der Primarschule bis und mit der 9. Klasse. Bei der möglichst viel Sonnenschein. Bei Nebellagen befinden wir uns unteren Stufe gehen wir davon aus, dass die Schüler zuerst in der meistens oberhalb der Nebelgrenze! Staatsschule eingeschult werden und dann vielleicht ab 2. oder 3. Klasse zu uns kommen. Vorher wären die Kinder noch zu jung. Werden die Kinder in der Freizeit auch betreut? Das Weggehen von zu Hause, das Leben in einem Internat, das Urs Samuel Kasser und Brigitte Roth Kasser leiten und führen die Schule und das Internat in der humanistischen und reform- pädagogischen Tradition im Sinne einer Erziehung in menschlichen Werten. Unser Bild vom 28. Mai 2006, aufgenommen auf dem Balkon der Schule, zeigt das Leiter- und Lehrerehepaar Urs Kasser (rechts) und Frau Roth Kasser (links) im Gespräch mit Dr. Felix Wüst. Informationsreihe der Ecole La Belle Maison, Caux VD, 3 (2006) Nr. 1 3
Erziehung / Schule / Menschliche Werte / Charakter ihr Bestes geben können. Für uns ist die Charakterbildung eine absolute Voraussetzung für alles andere. Wir wollen unsere Kin- der zu Menschen heranwachsen lassen, die verantwortungsbe- wusst sind, die sich bewusst sind, dass sie nicht nur für sich leben, sondern eben auch für die Mitmenschen. Die Kinder sollen auch ein Gefühl für die Mitmenschen bekommen und diese Verantwor- tung, diese Selbstverantwortung lernen, die sich eben auch darin ausdrückt, dass sie sich bewusst sind, wozu sie eigentlich all das lernen hier – also wozu man rechnen und lesen und schreiben lernt. Mit andern Worten: Wir wollen die Kinder dazu anleiten, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu werden. Das ist aber nicht mit irgendeiner Religion oder irgendetwas religiös Verbrämtem verbunden? Caux liegt oberhalb von Montreux am Genfersee. U. KASSER: Definitiv nicht! Wir sind weder religiös festgelegt und schon gar keine konfessionelle Schule. Wenn Sie schon in diese U. KASSER: Was heisst Freizeit? Jene Freizeit, in der die Kinder Richtung denken, dann könnte man bei uns eher von einer – in machen können was ihnen beliebt, kennen wir eigentlich nicht. Anführungszeichen – «spirituell ausgerichteten Schule» spre- Wir leiten unsere Schüler dazu an, ihre Freizeit bewusst zu ge- chen. Damit meinen wir, das Geistige sei bei uns ebenso wichtig stalten. Wir leben da nach dem Motto «carpe diem» – nutze den wie das Materielle. Tag! Das heisst, die Kinder werden dazu angehalten, die Freizeit als ganz konkreten Teil ihres Lebensalltags aufzufassen. Es darf Wie setzen Sie das um? Sie können ja im Stundenplan nicht vor- auf keinen Fall ein Trödeln sein. Die Kinder sollen lernen, immer sehen, dass täglich zum Beispiel von neun bis zehn Uhr «Cha- etwas Bestimmtes bewusst zu unternehmen. Oder anders ausge- rakterbildung und menschliche Werte» doziert werden? drückt: Pausen sind für uns ein Wechsel der Tätigkeiten. Dazu ge- hören auch Erholung oder eben die Freizeit. U. KASSER: Charakterbildung findet bei uns 24 Stunden am Tag statt. Die Charakterbildung durchdringt unseren ganzen Alltag. Gehört dazu auch Sport? Sie ist unser wichtigstes Anliegen. Wann immer der Moment ge- kommen ist, wo das Thema Charakter relevant wird, beschäfti- U. KASSER: Unbedingt! Da sind wir in der glücklichen Lage – gen wir uns damit. Wenn ein Problem auftritt, wenn zwischen- zumal im Winter mit Skifahren – über ein einzigartiges sportli- menschliche Probleme auftreten, was auch immer, dann packen ches Angebot zu verfügen. Bei guten Schneeverhältnissen kön- wir das konkret an. Der Schüler soll verstehen, warum im ein- nen unsere Kinder von unserem Hausberg Rochers de Naye auf zelnen Fall dieses und jenes Verhalten nicht richtig war. Zur Cha- 2000 Metern Höhe bis zu uns vor die Haustüre Ski fahren. rakterbildung tragen auch unsere festen Tagesabläufe bei. Das gibt Halt und Festigkeit, Sinn für Ordnung, stärkt den Charak- Die Kinder befinden sich die ganze Woche während 24 Stunden ter. am Tag in Ihrer Obhut. Sie ersetzen ihnen damit während dieser Zeit auch ihre Eltern. Das wiederum heisst, Sie sind eigentlich Habe ich Sie richtig verstanden: Nicht die schulische Seite, son- mit Ihrer Wocheninternatsschule die ideale Lösung für ein be- dern die Charakterbildung ist das hauptsächliche Bildungsziel rufstätiges Ehepaar, das wenig Zeit für seine Kinder hat …? der Ecole La Belle Maison? U. KASSER: Wenn Sie das so sehen – ja! Aber die Kinder sind ja U. KASSER: Ja. So ist es. am Wochenende bei ihren Familien zu Hause, wo dann die Eltern hoffentlich mehr Zeit für ihre Sprösslinge haben. Die Idee des Bleibt Ihnen dann genügend Zeit, um diesen jungen Leuten den Wocheninternats hat sich ergeben, weil beide Seiten – die Schule staatlich vorgeschriebenen Lernstoff in den Kopf zu pauken? und die Eltern – in diesem «System» Vorteile sehen. Die Eltern haben ihre Kinder übers Wochenende, und wir von unserer Seite U. KASSER: Danke für diese Frage, die mitten ins Ziel trifft. Es ist haben Samstag und Sonntag Zeit zur Erholung und Vorbereitung nämlich so, dass die Schüler dank der Charakterbildung in die der nächsten Woche. Übrigens: Die Anreisezeit für die jetzigen Lage versetzt werden, ihre Zeit viel besser nutzen zu können. Als Kinder beträgt etwa zweieinhalb Bahnstunden. Das ist deshalb kleine, gereifte und charakterfeste Persönlichkeiten können sie kein Problem, weil die Kinder zusammen reisen. Sie fahren ge- ihren Lernstoff viel besser und leichter einfahren. Je mehr Zeit meinsam im gleichen Zug zu uns. Das hat bis heute überhaupt nie wir für die Charakterbildung zur Verfügung stellen, desto besser Probleme verursacht. läuft alles andere. Im Prospekt der Ecole La Belle Maison ist nachzulesen, dass Der geregelte Tagesablauf trägt zur Charakterbildung bei. Sie die Schüler nicht nur im Einmaleins, im Rechnen und Lesen Könnten Sie mir diesen Tagesablauf erklären? Sind die Kinder usw. unterrichten. Eines Ihrer wesentlichen Ziele ist es, die eingespannt in den Schulbetrieb? Hat beispielsweise jeder sein Schüler mit menschlichen Werten wie Respekt, Toleranz, Diszi- «Ämtchen»? plin, Verantwortung, konsequentem Verhalten, Höflichkeit usw. vertraut zu machen. Das tönt ungewohnt. Das lese ich in kei- U. KASSER: Die Eckpfeiler des Tagesablaufs sind wichtig. Der Tag nem offiziellen Lehrplan einer Schule. beginnt mit Morgengymnastik, mit Joggen. Um sieben Uhr tref- fen wir uns zu einem Meditationskreis. Da wird der Geist auf den U. KASSER: Sie sprechen hier genau das an, was uns am nächsten Tag und seine Herausforderungen vorbereitet. Danach gibt es das und wichtigsten ist in unserer Schule. Wir sind davon überzeugt, Frühstück. Der reguläre Schulunterricht bewegt sich dann im üb- dass die Bildung in menschlichen Werten, die Charakterbildung, lichen Zeitrahmen bis zum Mittagessen. Danach haben die Schü- die wichtigste Voraussetzung ist, um aus diesen Schülern opti- ler eine Mittagspause auf den Zimmern, während der sie sich aus- male Lernschüler zu machen, die auch auf akademischem Gebiet ruhen und den Geist frei machen für neue Herausforderungen. 4 Informationsreihe der Ecole La Belle Maison, Caux VD, 3 (2006) Nr. 1
Erziehung / Schule / Menschliche Werte / Charakter Am Nachmittag stehen dann bis zum Abendessen die Fortsetzung des Unterrichts und selbstständiges Studium auf dem Programm. Da wird auch Musik geübt, Sport getrieben usw. Hausaufgaben werden dann nach dem Abendessen erledigt. Meditation? Das hat aber nichts mit Religion zu tun? U. KASSER: Nein. Da geht es um Konzentration. Wir lernen, un- seren Geist zu konzentrieren auf die Herausforderungen, die der Tag bringt. Haben Sie Buben und Mädchen in der Schule? U. KASSER: Schon bei der Gründung der Schule waren wir ein «gemischtes Internat». Das ist auch heute noch so. Heute sind es drei Buben und ein Mädchen. Wir dürfen sagen, dass wir in die- ser Beziehung bis jetzt gute Erfahrungen gemacht haben. Bei kla- ren Regeln gibt es da keinerlei Probleme. Im Gegenteil – für die Tief verschneites LA BELLE MAISON Erziehung der Kinder bringt das Vorteile mit sich: gegenseitige Achtung, Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft. Ich sah beim Rundgang durch Ihre Schule nirgends einen Fern- sehapparat. Was ist mit Handys, Walkmen, Computerspielen – ist das alles verboten? U. KASSER: Jetzt sprechen Sie die Hausregeln an, die bei uns tat- sächlich in diese Richtung gehen. Fernsehen, das CD-Hören, Walkmen, Handys usw. sind nicht erlaubt. Das ist in der Tat für alle sehr ungewohnt. Wir brauchten eine gewisse Zeit, bis sich alle daran gewöhnt hatten und einsahen, dass sie das während der Woche gar nicht brauchen. Natürlich haben die Kinder die Mög- lichkeit, das am Wochenende zu Hause nachzuholen… Die Erfahrung zeigt aber, dass unsere Kinder selbst an den Wochen- enden weniger Fernsehen schauen und auch all die übrigen Ab- lenkungen weniger konsumieren. Das ist doch eine erstaunliche Entwicklung. Die Kinder merken offenbar selber, dass all das eigentlich gar nicht so notwendig ist. Die Natureisbahn von Caux ist eine sehr beliebte Attraktion. Für die Skifahrer gibt es auf dem Hausberg Rochers-de-Naye gute Können Sie mit gutem Gewissen sagen, Sie können einen Lern- Skipisten, auf welchen man bei guten Schneeverhältnissen bis vor erfolg garantieren? die Haustüre der Ecole La Belle Maison skifahren kann. U. KASSER: Garantieren ist ein grosses Wort. Aber es ist anzuneh- B. ROTH: Die Verpflegung ist uns ein grosses Anliegen. Die Küche men, dass wir mit unserer auf das einzelne Kind ausgerichteten muss optimal sein. Die Kinder bekommen nur gesundes Essen. Lehrmethode mehr Lernerfolg erzielen, als es offenbar in der Mit der kleinen Anzahl von Schülern kann ich die Küche sehr gut Staatsschule der Fall ist. Das beweist ja auch der Umstand, dass selber bewältigen. Die Kinder haben einmal in der Woche Koch- Kinder zu uns kommen, die beim Lernen oder im Umfeld der unterricht und lernen bei mir, wie man vegetarisches Essen zube- Staatsschule Probleme haben. Ein Kind, das in der Staatsschule reitet. Wir sind überzeugt, dass vegetarisches Essen einen sehr po- glücklich und zufrieden ist, sollte auf keinen Fall in eine Privat- sitiven Einfluss auf die Kinder hat, dass sie harmonischer leben, schule wechseln. Wenn es aber im Umfeld des Kindes Probleme dass ihre Gedanken friedlicher sind, als wenn sie tierisches Essen gibt, dann können wir schon garantieren, dass es bei uns gut auf- zu sich nehmen. Sie sind so auch weniger aggressiv. Vor allem gehoben ist und seine Schuljahre hier erfolgreich durchlaufen aber sind wir überzeugt, dass unser Speiseplan ohne Fisch und wird. Fleisch gesünder ist. Dann müsste Ihnen eigentlich die Staatsschule Problemfälle Wie sieht denn beispielsweise der Menüplan, die Speisenabfolge zuweisen? Würden Sie diese annehmen? an einem normalen Schultag aus? U. KASSER: Ja. Allerdings muss ich da sofort etwas präzisieren. B. ROTH: Das Frühstück wird von allen gemeinsam vorbereitet. Problemfälle – das ist ein weites Feld! Allzu schwierige Fälle, Für das Mittagessen bin dann ich verantwortlich – ausser an einem auch Sozialfälle usw., können wir nicht aufnehmen. Wir sind dafür Tag in der Woche, an welchem die Schüler im Rahmen des Koch- nicht eingerichtet. Wir sind keine Sozialschule für beispielsweise unterrichts selber kochen. Beim Decken des Tisches und beim psychisch gravierende Fälle. Das ist nicht unsere Aufgabe. Wir Abwaschen, da helfen dann wieder alle mit. sind auch nicht eingerichtet für Invalide, geistig oder körperlich behinderte Kinder. Vegetarisches Essen: Gab es da noch nie Schwierigkeiten, dass die Eltern fanden, ihr Kind müsse auch ein wenig Fleisch essen Frau Roth, bitte stellen Sie sich eine Mutter vor, die dieses können? Interview liest. Diese Mutter wird es interessieren, wie ihr Kind hier oben verpflegt wird, ob es gesunde Kost bekommt, wer da B. ROTH: Nein, im Gegenteil! Wir haben erst kürzlich von einem kocht? Elternpaar gehört, es werde bei ihnen auch mehr und mehr vege- Informationsreihe der Ecole La Belle Maison, Caux VD, 3 (2006) Nr. 1 5
Erziehung / Schule / Menschliche Werte / Charakter Wann können die Schüler eintreten? Ist der Schuleintritt jeder- zeit möglich oder gilt es, bestimmte Termine zu beachten? U. KASSER: Im Idealfall treten die Schüler auf Beginn eines Schul- jahres ein, das heisst nach den Sommerferien. In einem Notfall oder wenn Eltern beispielsweise kurzfristig von unserer Schule gehört haben, ist es auch möglich, nach einem entsprechenden Gespräch und weiteren Abklärungen mitten im Schuljahr einzu- treten. Voraussetzung ist immer, dass ein neuer Schüler in unsere Gemeinschaft hineinpasst. Frau Roth, Herr Kasser, ich bin beeindruckt! Sie haben eine ausserordentliche Schule aufgebaut, was den Rahmen des Ge- wohnten sprengt. Wenn eine Schule von sich sagt, ihr Hauptbil- dungsziel sei die Charakterbildung, so ist das sicher ungewöhn- lich. Abendstimmung in Caux: Die traumhafte Aussicht auf den Genfer- see erheitert Geist und Gemüt! U. KASSER: Gut. Wir streben dieses Ideal jedenfalls an. Dass auch wir alltägliche Probleme haben und dass es Sachen gibt, bei wel- tarische Nahrung aufgetischt. Der Grund: Diese Eltern haben an chen wir immer noch an Verbesserungen arbeiten müssen, das ist ihrem Kind beobachtet, wie ihm die vegetarische Ernährung ganz selbstverständlich. Wichtig scheint uns, dass wir diese klaren Ziel- offensichtlich wohlbekommt und wie das Kind seine Gewichts- vorstellungen vor Augen haben und dass wir immer und täglich probleme spielend lösen konnte. an diesem Ideal der Charakterbildung arbeiten. Und dass die Kin- der das auch wissen. Nach allem was wir bisher gehört haben, bestätigt sich, was Herr Kasser über die Bedeutung eines geordneten Tagesablaufs gesagt hat. Die Kinder sind engagiert, involviert, können mitbe- stimmen und mitgestalten? B. ROTH: Ja. Das fördern wir gezielt. Die Kinder sollen sich mit- verantwortlich zeigen. Wir machen auch jeden Abend gemeinsam einen Tagesrückblick. Da kann dann jeder Schüler seine Gedan- ken äussern oder auch Wünsche oder Verbesserungsvorschläge anbringen. Sie machen echt einen Tagesrückblick mit den Schülern? B. ROTH: Ja. Das ist ein ganz wichtiger Eckpunkt im Tagesablauf. Dabei soll sich jedes Kind Rechenschaft geben können über das, was es an diesem Tag gemacht hat. Wenn man sich am Morgen vornimmt, einen guten Tag zu gestalten, ist es eben sehr wichtig, dass man sich dann abends überlegt, ob der Tag auch wirklich gut war. Diese Zeit für den Tagesrückblick müssen wir unbedingt zur Das Leiter- und Lehrerehepaar der Ecole La Belle Maison: Verfügung stellen. Ja, es geht noch weiter: Die Kinder verfassen Urs Samuel Kasser und Brigitte Roth Kasser. sogar ein Lerntagebuch, in dem sie für jeden Tag schriftlich ihre Lernsituation festhalten. Das hält sie dazu an, sich zu überlegen, Wie sehen die nächsten zwei, drei Jahre aus? Würden Sie die wie es ihnen an diesem Tag bezogen auf das Lernen ergangen ist. Schule gerne mit zehn oder zwölf Schülern betreiben oder hät- ten Sie es lieber so wie es derzeit ist? U. KASSER: In der Tat ist es für uns im Moment ideal, mit dieser kleinen Gruppe zu arbeiten, weil meine Frau und ich das nach wie vor ganz alleine bewältigen können. Allerdings würden wir uns jetzt sehr über Zuwachs, über einige weitere Kinder freuen, denn unsere derzeitigen Schüler treten in einem Jahr ins 9. Schuljahr ein, und dann verlassen sie uns. Wir streben nicht à tout prix die Zahl von zwölf Schülern an, denn das würde bedeuten, dass wir CH-1824 Caux eine zusätzliche Lehrkraft einstellen müssten. Leitung: Frau Roth, Herr Kasser, ich sage es noch einmal: Was Sie hier Urs Samuel Kasser verwirklicht haben, ist grossartig und beeindruckend. Sie bilden Brigitte Roth Kasser die Schüler mit Kopf, Herz und Hand aus und entlassen sie als Telefon: 021 963 68 25 selbstbewusste, im Charakter gestärkte junge Menschen in ihr Telefax: 021 963 34 74. weiteres Leben. Ihre Schüler und deren Eltern werden Ihnen E-Mail:info@labellemaison.ch dafür dankbar sein. www.labellemaison.ch Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Freude und Erfolg in Ihrer segensreichen Tätigkeit. ◆ 6 Informationsreihe der Ecole La Belle Maison, Caux VD, 3 (2006) Nr. 1
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