Admiral Seymour 1900: GERMANS TO THE FRONT - von Golf Dornseif

 
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Admiral Seymour 1900: GERMANS TO THE FRONT

                                        von Golf Dornseif

Im Verlauf des chinesischen Boxer-Aufstands war der britische Vice-Admiral Sir Edward H. Seymour
mit 300 Engländern, 112 Amerikanern, 26 österreichisch-ungarischen Matrosen und 40 Italienern am
10. Juni 1900 um sechs Uhr früh von Tongku mit der Eisenbahn abgefahren und gegen 7.30 Uhr in
Tientsin angekommen. Seine Expeditions-Teilnehmer hatten zunächst nur für zwei Tage Proviant
empfangen (nach ihrer Ausschiffung). Man hielt dann einen Kriegsrat ab mit den ältesten Offizieren
der gelandeten internationalen Abteilungen. Von deutscher Seite nahm kein Offizier daran teil, weil die
deutschen Landungskorps sich noch auf dem Weg nach Tientsin befanden.

Der als Militär-Attaché seiner Gesandtschaft in Peking mit den Verhältnissen vertraute russische
Oberst Wogak gab zu bedenken, dass Peking wegen der umfangreichen Zerstörungen des
Bahnkörpers zur Zeit nicht mit der Bahn zu erreichen sei. Die Expedition sollte vorsichtshalber auf die
Ankunft eines in wenigen Tagen zu erwartenden russischen Truppen-Kontingents zählen: ein
Schützen-Regiment, eine halbe Batterie Feldartillerie, ein Zug Kosaken und Nachschub-Kolonnen.
Der Vice-Admiral entschloss sich jedoch statt dessen (wie geplant) so weit wie möglich auf dem
Schienenweg sein Glück zu probieren.

                                           Vice-Admiral Sir Edward Seymour
                                           leitete das internationale
                                           Expeditionscorps zur Rettung der
                                           belagerten Gesandtschaften in
                                           Peking, scheiterte aber bald an der
                                           Guerilla-Taktik des chinesischen
                                           Militärs sowie der sogenannten
                                           Boxer-Rebellen und musste sich
                                           zurückziehen.

Gegen 10 Uhr fuhren Seymours Truppen weiter und erreichten einen Punkt wenige Kilometer vor
Losa, wo aufgerissene Gleise von Pionieren instandgesetzt werden mussten. Nachmittags brachte ein
weiterer Zug russische und französische Marine-Infanteristen, sodass nach Eintreffen des deutschen
Landungskorps mit See-Soldaten insgesamt 1800 Männer zur Verfügung des Admirals eingesetzt
werden konnten. Jetzt gab es drei militärische Eisenbahnzüge in dichter Folge. Nachts biwakierten die
"Vereinten Nationen" in ihren Waggons. Von der Kompanie SMS KAISERIN AUGUSTA standen
Feldwachen und Vorposten bereit, um alle Seiten vor Überraschungen zu bewahren.

Am 11. Juni gegen sieben Uhr setzten sich die Züge erneut in Bewegung, doch in Losa stiess man
jetzt auf eine zerstörte Brücke. Um neun Uhr traf aus Tientsin ein Arbeitszug mit Baumaterial ein, der
an den deutschen Zug gekoppelt werden sollte. Zur technischen Überwachung aller Reparaturen
schlossen sich der Expedition mehrere britische Eisenbahn-Ingenieure der Bahngesellschaft an, um
die Kräfte von Engländern, Deutschen und Chinesen zu koordinieren. In einer Besprechung aller
Offiziere ordnete Seymour an, wie Ziel und Zweck der Expedition nach seiner Einschätzung
ausschauten:
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1. Herstellung der Eisenbahnverbindung mit Peking, Schutz der europäischen und amerikanischen
   Gesandtschaften in der Stadt.

2. Unterstützung der chinesischen Regierung bei der Bekämpfung des sogenannten Boxeraufstands
   und Wiederherstellung von Ruhe und Frieden im Land.

3. Der ranghöchste Offizier jedes Eisenbahnzugs gleich welcher Nationalität ist ab sofort als dessen
   Befehlshaber zu respektieren. Alle Anordnungen, die seinen Zug betreffen, werden nur an ihn
   gerichtet.

4. Zur Sicherung der Züge während der Nacht und bei Fahrtunterbrechung am Tag sind Feldwachen
   und Posten nach einem Plan aufzustellen.

5. Zur Sicherung der rückwärtigen Verbindung werden auf sämtlichen Stationen Etappen-
   Kommandos zurückgelassen, die der Reihe nach alle Nationen betreffen. Weil die Engländer die
   meisten Kräfte zur Verfügung haben, machen sie den Anfang.

Gegen 14 Uhr rollten alle drei Züge ab Losa auf Strecke mit den Deutschen als Schlusslicht und
Nachhut. Um 16 Uhr tauchte ein vierter Zug mit 200 Russen und 58 Franzosen am Horizont auf. Das
internationale Expeditionskorps konnte nun folgende Gliederung aufweisen:

Oberbefehl: Vice-Admiral Sir Edward H. Seymour
Chef des Stabes: Captain Jellicoe

                                                        Offiziere      Mannschaften
                           Chef Kapitän zur See
        Deutsche                                           23                489
                              Von Usedom
       Amerikaner            Captain McCaIIa                3                108
                              Vice-Admiral
       Engländer                                           62                853
                           Sir E. H. Seymour
                          Capitaine de vaisseau
       Franzosen                                            4                153
                               de Marolles
                           Tenente di vascello
        Italiener                                           2                40
                           Giovanni Giovannini
        Japaner           Fregatten-Kapitän Mori            2                52
      Österreicher         Seekadett Prochaska              1                25
                            Kapitän II. Ranges
         Russen                                             6                306
                                Tschagin
       insgesamt                                           103              2026

Das deutsche Landungskorps setzte sich zusammen wie folgt:

Stab mit Kommandeur: Kapitän zur See von Usedom Adjutant: Leutnant zur See Freiherr von Kottwitz
Marine-Stabsarzt Dr. Schlick
Assistenz-Arzt Dr. Presuhn
Marine-Oberzahlmeister-Aspirant Raschdorf
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INFANTERIE

1. HERTHA-Kompanie mit Führer Kapitän-Leutnant Hecht, Oberleutnants zur See Bunnemann und
Schnabel, Leutnant zur See Berendes, Stückmeister Gersch, insgesamt 124 Köpfe.

2. HANSA-Kompanie mit Führer Kapitän-Leutnant Schlieper, Oberleutnants zur See von Zerssen und
Röhr, Leutnants zur See Schultz, Hilmers, Becker. Stückmeister May, insgesamt 123 Köpfe.

3. KAISERIN AUGUSTA-Kompanie Führer Korvetten-Kapitän Buchholz, Oberleutnant zur See von
Bülow, Leutnants zur See Schütte, Kettler. Stückmeister Wehde sowie 28 Mann von SMS HERTHA,
insgesamt 119 Köpfe.

4. GEFION-Kompanie mit Führer Kapitän-Leutnant Weniger, Oberleutnants zur See von Krohn und
Lustig, 82 Mann, dazu von Österreich-Ungarn Seekadett Prochaska und 27 Mann, insgesamt 133
Köpfe.

Artillerie, Pioniere, Sanitätspersonal: Leutnants zur See Pfeiffer, Blockhuis, Marine-Stabsarzt Dr.
Schlick, Marine-Oberassistenz-Arzt Dr. Presuhn, Marine-Oberzahlmeister-Aspirant Raschdorf, vier
Maschinengewehre mit Bedienung, Handwerker, Sanitätspersonal, insgesamt 55 Köpfe.

                                                      Karikatur der australischen
                                                      Zeitung SYDNEY BULLETIN mit
                                                      folgendem Wortlaut: SCHWEIN
                                                      CHINA – "Ich lass' mich nicht
                                                      abschlachten!" --- Im
                                                      Hintergrund grinsen die alliierten
                                                      Metzger in ihren
                                                      Matrosenuniformen und
                                                      symbolisieren die verschiedenen
                                                      Landungskorps.

Die allgemeine Ausrüstung dieses internationalen Expeditionskorps war lediglich für einen
Bahntransport, geringe Marschleistungen und längeren Aufenthalt in Peking bemessen. Die
feldmarschmässige Ausrüstung der deutschen Truppen: Offiziere trugen weisse Tropen-Uniform oder
blaue Bordjacketts, Tropenhelm, hohe Stiefel oder Gamaschen, Säbel und Revolver, Doppelglas und
Rucksäcke aus Segeltuch mit einem Reserve-Anzug, Schuhzeug, wollene Decke, wasserdichte
Unterlage, Moskitonetz, Trinkwasser-Filter und persönliche Bedarfsartikel. Mannschaften hatten blaue
Wollhemden und Hosen oder leinenes Arbeitszeug, Tropenhelm, niedrige Schuhe mit Segeltuch-
Gamaschen, Brotbeutel, Feldflasche und im Rucksack ähnliche Gegenstände wie die Offiziere.
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Moslem Kansu Krieger
                                                                 gehörten zur Armee des
                                                                 Generals Tung Fu-hsiang
                                                                 während des Kampfs
                                                                 gegen die Alliierten. Ihre
                                                                 Grausamkeiten gegen die
                                                                 Europäer waren
                                                                 unvorstellbar.

Als Bewaffnung diente das Infanteriegewehr M 7184 mit Seitengewehr, in der Patronentasche und im
Rucksack 120 Patronen. Je sechs Rotten führten Schanzzeug mit allem Zubehör. Weil das
Gewehrmodell veraltet war und noch mit rauchstarkem Pulver feuerte, waren die deutschen Soldaten
stark benachteiligt im Vergleich zu ihren ausländischen Kameraden, denen durchweg moderne
Gewehre mit rauchfreien Patronen zur Verfügung standen. Es zeigte sich im Einsatz, dass die
Deutschen bereits nach Abgabe weniger Schüsse wegen ihres Pulverdampfs den Gegnern als
willkommene Zielscheiben dienten! Die chinesischen regulären Einheiten konnten gleichfalls mit
moderner Bewaffnung (aus Europa geliefert) aufwarten und wussten diesen Vorteil zu nutzen.
Grössere Schussweite, höhere Treffsicherheit und geringe Rauchentwicklung kamen den Chinesen
zugute.

Nur eine Landkarte zur Hand
Beim Expeditionskorps gab es nur eine genaue Landkarte der Region im Besitz der umsichtigen
Japaner. Die Truppe hatte zunächst Proviant für nur acht Tage mitgenommen, und Reserve-
Ausstattungen blieben in Tientsin ausgelagert (Kleidung, Hängematten usw.). Am dritten
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Expeditionstag lieferte man Nachschub für weitere acht Tage sowie 80 Schuss Reserve-Munition für
jeden Mann. Am Abend des 11. Juni gab es den ersten Schusswechsel mit chinesischen Banden
dicht vor Tschöng-ko-tschwang und tags darauf rollten die Züge bis Lang-fang. Dort hatten die Boxer
alle Wassertürme (für die Dampflokomotiven) zerstört.

Während einer Besprechung aller leitenden Offiziere hob der Admiral den Ernst der Lage hervor.
Kapitän Tschagin teilte mit, dass nach einer soeben empfangenen Nachricht 1800 russische Truppen
am 11. Juni Port Arthur verlassen hätten, um von Tongku aus das Expeditionskorps zu verstärken:
notfalls in Fussmärschen. Vom amerikanischen Kommandeur war zu hören, dass ihm ein
zuverlässiger Kuli neueste Informationen aus Peking überbracht habe aus der Gesandtschaft seines
Landes: ein chinesischer General der regulären Armee, Tung-fu-hsiang, hätte den Befehl erhalten alle
ausländischen Streitkräfte am Vordringen nach Peking zu hindern. Die technischen Experten (Pioniere
und Bahnbau-Ingenieure) betonten, dass eine lückenlose Sicherung der Gleise zwischen Tientsin und
Peking Vorrang haben müsse in der gegenwärtigen Zwangslage und eine weitere Verstärkung der
Fusstruppe (ohne die Bahn als Rückhalt) nicht verantwortet werden könne. Am meisten
Kopfzerbrechen bereitete jetzt die Wasserversorgung der Lokomotiven.

Am 14. Juni gegen 10 Uhr, als die deutschen Abteilungen in einem Dorf nahe der Bahnstrecke mit
Zeugwäsche beschäftigt waren, stürmten plötzlich etwa 1000 Boxer aus einem Nachbardorf gegen
den Zug der Engländer. Nach einer halben Stunde war das Gefecht mit schweren Verlusten der
Chinesen beendet, da deutsche Verstärkungen prompt zu Hilfe kamen. Die Bewaffnung der Boxer
bestand nur aus Schwertern und Lanzen, doch ihre Todesverachtung schien grenzenlos. Ihre Führer
peitschten die Massen mit Tänzen und Gesang auf. Es gehörte zur Indoktrination beim Gegner, allen
Kämpfern Unverwundbarkeit zu versprechen, falls genügend Heldenmut demonstriert würde im Dienst
der vaterländischen Ideale. Dass dies geglaubt wurde, bezeugt ein Fall, in dem ein schwer
verwundeter junger Boxer in gebrochenem Englisch einen deutschen Offizier bat, ihm mit dem Säbel
den Hals zu durchschneiden, denn er sei verwundet, also ein schlechter Mensch, und dürfe sich
deshalb nie wieder bei seiner Familie sehen lassen.

                                                                       Bahnstrecke der Truppen
                                                                       von Admiral Seymour ab
                                                                       der Küste in Richtung
                                                                       Peking. Auf halber
                                                                       Entfernung (Anping)
                                                                       blieben sie stecken
                                                                       zwischen zerstörten
                                                                       Gleisen.

Während dieses Angriffs mussten fünf Italiener ihr Leben lassen. Sie hatten sich "verschossen" und
wurden von den Boxer auf entsetzliche Weise verstümmelt. Bei Tagesanbruch des 15. Juni fuhr
Leutnant zur See Hilmers mit einem Zug zurück nach Tientsin, um dringend Nachschub (Proviant,
Munition) anzufordern und dem Geschwader-Chef einen ausführlichen Lagebericht zu überbringen.
Kapitän zur See von Usedom beklagte vor allem den Mangel an Kavallerie, der jede Aufklärung im
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Vorfeld unmöglich machte. Mittlerweile liess Admiral Seymour die einzelnen Zugbesetzungen
umorganisieren zur Erleichterung der Befehlsstrukturen: Eisenbahnzug Nr. 1 (Engländer und
Amerikaner), Nr. 2 (Engländer und Japaner), Nr. 3 (Deutsche, Russen, Österreicher) Nr. 4
(Franzosen, Italiener), Nr. 5 (Pioniere, Bahn-Ingenieure). Deutsche und Russen verstanden einander
auf Anhieb vorzüglich, und mit den Österreichern bzw. Ungarn kam man genau so gut zurecht.

Abends kehrte Leutnant Hilmers zurück und meldete, dass er seinen Auftrag nicht erfüllen konnte
wegen zu starker Gleiszerstörungen. Das Expeditionskorps war somit auf Selbsthilfe angewiesen und
so gut wie abgeschnitten. Die Fachleute vom technischen Bereich erkundeten mit ihrem Arbeitszug,
dass die Wiederherstellungsarbeiten an den Gleisen und Brücken mindestens mehrere Tage
beanspruchen dürften. Schweren Herzens entschied sich Admiral Seymour, unter diesen Umständen
die Bahnbeförderung aufzugeben und Fussmarsch für alle anzuordnen.

Fussmarsch statt Bahnfahrt
Der Admiral schlug dem Führer des deutschen Kontingents vor, mit 200 Mann deutscher und
russischer Truppen in Richtung Tung-an-hsien zu marschieren, etwa 20 Kilometer weit, um den dort
tätigen Bürgermeister zum Vorgehen gegen die Boxer und zum Einschreiten gegen die
Bahnzerstörungen zu drängen. Kapitän von Usedom äusserte dagegen ernste Bedenken:
Tagesmarsch 40 km, möglicherweise Kämpfe vor Ort, sonstige Komplikationen. Seymour sah das ein.
Angesichts der Aussichtslosigkeit einer baldigen Reparatur der Bahnlinie zwischen Tientsin und Lang-
fang ordnete der Admiral den sofortigen Rückzug nach Losa an, zumindest als Etappenziel.

Gegen 18 Uhr erschienen erneut umfangreiche Boxer-Horden. Um sie zu verjagen, ging ein deutsch-
russisches Kommando gegen sie vor und der Feind büsste 13 Tote ein neben zahlreichen
Verwundeten. Um 22 Uhr, als eine russische, beim Auffüllen des Lokomotiv-Tenders Nr. 3 beschäftigt
gewesene Arbeiterabteilung zurückkehrte, fielen von der Postenlinie, die zu ihrer Bedeckung nach
vorn aufgestellt war, einige Schüsse. Es wurde alarmiert, und die Engländer in den vorderen Waggons
des Zugs Nr. 2, der neben dem deutschen Zug stand, eröffneten ohne Befehl in der Dunkelheit das
Feuer auf die Russen, obwohl ihnen bekannt sein musste, dass Verbündete an der Arbeit waren.
Ergebnis: zwei tote Russen, mehrere Verwundete.

Admiral Seymour hatte sich inzwischen anders besonnen und wollte den geplanten Rückzug lieber
vorerst abbremsen. Kapitän zur See von Usedom stellte mit grosser Besorgnis fest, dass der Boxer-
Aufstand jetzt auch die reguläre chinesische Armee erfasst hatte. Nur die Regierungstruppen
verfügten über Kavallerie zur Aufklärung, und diese Reiter liessen sich immer häufiger blicken. Am 17.
Juni waren die Taku Forts eingenommen worden. Nach vielfältigen Gefechten mit dem
Expeditionskorps erlitten die Regierungstruppen und Boxer Verluste in Höhe von 200 bis 300 Mann.
Zahlreiche erbeutete Banner verrieten, dass die Generale Yung-lu und Tung-fu-hsiang hier Regie
führten. Sie kommandierten schätzungsweise 4000 Mann (ohne die Boxer) gegenüber 800 Mann
beim Expeditionskorps.

Die Verluste der Verbündeten betrugen sieben Tote und 45 Verwundete. Um 20 Uhr 30 Minuten
vereinigten sich alle Teile des Expeditionskorps an der Eisenbahnbrücke südlich von Yang-tsun, wo
sich im Verlauf des 18. Juni folgendes ereignet hatte: Am frühen Morgen war plötzlich Kanonendonner
zu vernehmen, der darauf schliessen liess, dass bei Tientsin Kämpfe ausgebrochen waren.
Vormittags unternahm ein englisches Detachement von Marine-Infanteristen zur Beschaffung von
Lebensmitteln einen Vorstoss zum Dorf Yang-tsun. Ein Zug der HANSA-Kompanie unter Oberleutnant
zur See Röhr drang sogar bis zum Fluss Pei-ho vor und überraschte dort mehrere Dschunken, die
unterhalb der grossen Bahnbrücke am linken Ufer festgemacht hatten und mit dem Verladen von
Eisenbahn-Baumaterial beschäftigt waren.
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Weiterfahrt mit Dschunken
Ein Teil des Detachements überschritt mit Oberleutnant Röhr den Fluss und näherte sich unbemerkt
den Wasserfahrzeugen. Die übrigen See-Soldaten gingen unter dem Schutz des Deichs auf dem
rechten Ufer vor und eröffneten überraschend das Feuer. Die aus Boxern zusammen gesetzte
Besatzung floh auf das linke Ufer und geriet in das Feuer der dort stehenden Abteilung einer HANSA-
Kompanie. Die Männer gingen an Bord der Dschunken und eroberten vier im Handstreich. Die
Chinesen zählten 14 Tote, die Deutschen hatten weder Tote noch Verwundete zu beklagen.

Die Wegnahme der Dschunken fand etwa vier Kilometer entfernt von der internationalen Streitmacht
statt. Der Erfolg der Aktion war überaus willkommen, denn nach den folgenden Gefechten mussten
etwa 150 alliierte Verwundete transportiert werden (auf dem Wasserweg). Gegen 16 Uhr traf das Gros
der Expedition an der Brücke ein.

Am Morgen des 19. Juni kam es zur Bestattung der alliierten Gefallenen in einem gemeinsamen Grab,
dessen Spuren man so gut wie möglich verwischte, um eine Verstümmelung der Leichen durch die
Chinesen zu verhindern. Admiral Seymour teilte seinen Offizieren mit, dass unter den veränderten
Bedingungen ein Rückmarsch längs des Pei-ho Flusses unvermeidlich geworden sei. Die Beförderung
der Verwundeten, des Proviants und des Gepäcks sollte mit den erbeuteten Dschunken erfolgen. Man
war sich klar darüber geworden, dass die konzentrierte chinesische Armee als neuer Gegner (neben
den Boxern) zuschlagen würde. Mangel an Proviant und Munition war bald zu befürchten, aktuelle
Informationen zur politischen und militärischen Lage fehlten, alle Bahnverbindungen fielen aus.

Die Männer entluden ihre Eisenbahn-Waggons auf die Dschunken. Franzosen und Italiener
übernahmen eine Dschunke, Engländer und Amerikaner zwei Fahrzeuge zu Wasser, Deutsche und
Russen die vierte Dschunke. Ein grosser Teil der Ausrüstungen musste zurück gelassen werden
wegen Platzmangel an Bord. Sogar der Proviant liess sich nicht komplett verstauen. Tientsin schien
hart bedrängt, wie der heftige Kanonendonner verriet.

                                                             Karikatur der französischen
                                                             Publikation CRI DE PARIS zum
                                                             Boxer-Aufstand: "Barbarentum
                                                             und Zivilisation". Wer tötet wen
                                                             mit welchem Recht?

Die Marschkolonnen setzten sich gegen 16 Uhr 30 Minuten in Bewegung: Vorn Engländer und
Japaner, dann Franzosen und Italiener, später Amerikaner, Russen und Österreicher-Ungarn.
Deutsche Kompanien formierten sich zur Nachhut als Rückendeckung. Wegen des niedrigen
Wasserstands auf dem Fluss liefen die Dschunken oft auf Grund und mussten mühsam flott gemacht
werden. Abends sah man die Flammen der von den Boxern angezündeten alliierten Eisenbahnzüge
am Horizont lodern. Weitermarsch am 20. Juni mit Tagesanbruch. Gegen acht Uhr zeigten sich
reguläre chinesische Einheiten.

Zunächst gingen die Engländer, die an der Spitze marschierten, zum Angriff über. Amerikaner und
Franzosen eilten zur Verstärkung herbei. Ein längeres Feuergefecht folgte. Der Feind schoss mit
rauchfreiem Pulver aus guter Deckung und zog sich nach 90 Minuten in umliegende Dörfer zurück. Es
gelang den Verbündeten durch gemeinsame Anstrengungen die Chinesen etwas später zu vertreiben.
Die HANSA-Kompanie konnte ein vom Gegner zurück gelassenes Geschütz übernehmen, eine
Schnellfeuer-Kanone von Krupp Kaliber 5,6 cm. Allerdings feuerten die Chinesen gegen 17 Uhr
wiederum mit Kruppschen Schnellfeuer-Kanonen.

Die deutschen Einheiten hatten am 21. Juni zwei Tote und 13 Verwundete nach 10 Stunden in
Feuergefechten. Kolonne Seymour erging es schlimmer: Fünf englische Offiziere waren verwundet,
unter ihnen Captain Jellicoe, Kommandant des Schlachtschiffs CENTURION und Chef des Stabes bei
Admiral Seymour. Kapitän zur See von Usedom wurde von Seymour gebeten den Captain zu
ersetzen, ein Beweis grossen Vertrauens. Je näher man der Stadt Tientsin kam, desto heftiger griffen
die Chinesen das Expeditionskorps an. Die Deutschen verfügten jetzt noch über 80 Schuss je Mann,
die Alliierten hatten weniger übrig. Der Admiral entschloss sich nun zu Nachtmärschen, weil die
Chinesen aus Aberglauben nachts Auseinandersetzungen zu vermeiden versuchten.

Das legendäre Kommando: GERMANS TO THE FRONT
Wahrend der Finsternis marschierten die Kolonnen Admiral Seymours so lautlos wie möglich unter
dem Schutz des Deichs neben den Dschunken stromabwärts. Dass die Chinesen scharf
beobachteten, zeigten Feuersignale, die von Dorf zu Dorf weiter gegeben wurden. Dann entstand
gegen zwei Uhr nachts an der Spitze eine Stockung, und Gewehrfeuer wurde laut. Von vorn nach
hinten gaben die Männer den Befehl weiter: GERMANS TO THE FRONT! Kapitän von Usedom
schickte sofort seinen Adjutanten zur Aufklärung nach vom, dem vom Führer der Vorhut mitgeteilt
wurde, dass deutsche Verstärkung dringend benötigt werde. Inzwischen war bereits ein
entsprechender Befehl von Admiral Seymour durch einen Seekadetten an Kapitän von Usedom
übermittelt worden. Er rückte sogleich mit seinen vier Kompanien nach vom und meldete sich beim
Admiral. Der Engländer bat den deutschen Führer mit seinen Männern bei der Vorhut zu bleiben.
Zugleich äusserte der Admiral den Wunsch, falls er selbst fallen oder verwundet kampfunfähig werden
sollte, den Oberbefehl über das gesamte Expeditionskorps Kapitän von Usedom anzuvertrauen. Die
Amerikaner waren sofort einverstanden und begrüssten den Auftrag.

Die deutschen Kompanien übernahmen die Spitze und erreichten gegen vier Uhr morgens das am
Fluss gelegene Dorf Huo-kia-tsui ohne Widerstand. Auf der gegenüber liegenden Seite des an dieser
Stelle nur 60 Meter breiten Pei-ho wurden plötzlich die Wälle des Arsenals (Waffen- und Munitions-
Depot) von Hsiku im Dämmerlicht sichtbar, besetzt mit Schützen und einigen Kanonen. Die Eröffnung
des feindlichen Feuers sollte dadurch verzögert werden, dass der mit Admiral Seymour
marschierende britische Konsulats-Dolmetscher Campbell über den Fluss hinüber rief, um die
Chinesen aufzufordern sich friedlich zu verhaften, weil kein Kriegszustand zwischen China und den
Verbündeten existiere und weil die westlichen Truppen lediglich durchmarschieren wollten ohne
aggressive Absichten. Die Chinesen reagierten schroff abweisend und begannen dann zu schiessen,
sodass der Dolmetscher nur mit grosser Mühe Deckung fand.

Nach mehrstündigen Kämpfen durfte der Admiral schliesslich mit seinen Männern die Besatzung des
Depots in die Flucht schlagen. Das gesamte Arsenal erwies sich als ein ausgedehnter Platz, den in
einer Gesamtlänge von drei Kilometern ein äusserer, etwa fünf Meter breiter und sechs Meter hoher
Lehmwall umgab. Im Innenbereich fand man drei weitere umwallte Plätze: das Artillerie-Magazin
(Lager für Eisen-Munition) der Arsenal-Kern sowie das Barackenlager. Nach Norden und Osten bot
der Pei-ho Fluss Schutz, im Süden vielfältig bewässerte Felder und nach Westen lag eine kahle
Ebene aus Sandboden.

Zur Beute zählten grosse Vorräte an Geschützen, Handfeuerwaffen, Munition und technischem Gerät,
dazu auch Berge von Reis. Die Chinesen sammelten sich jedoch bald zum Gegenangriff, um das
Arsenal zurück zu gewinnen. Es war zu beobachten, dass die Truppenführer ihre Untergebenen mit
Hetzpeitschen antrieben! Erst gegen 17 Uhr schwieg das feindliche Feuer der Geschütze. Nach 46
Stunden hatten die Deutschen erstmals wieder Gelegenheit zum Abkochen und Ausruhen, Ihre
Verluste: sechs Tote, unter ihnen Kapitän-Leutnant Buchholz, Führer der KAISERIN AUGUSTA
Kompanie, sowie 16 Verwundete (am 22. Juni). Der Admiral zeigte sich bewegt über die
hervorragende Tapferkeit des Marine-Offiziers und zollte ihm hohe Anerkennung in einem
Tagesbefehl.

Eine Bestandsaufnahme im Arsenal überraschte die Verbündeten mit bemerkenswerten Schätzen,
und zwar im einzelnen: 20 Kruppsche 10,5 cm Schnellfeuer-Kanonen U30 (in Kisten verpackt), 80
Kruppsche 8,7 cm Schnellfeuer-Kanonen U30 (davon vier montiert), 26 ältere Kruppsche
Feldgeschütze C/79, 10 Kruppsche 5,7 cm Schnellfeuer-Kanonen, 10 Grusonsche 5,3 cm
Schnellfeuer-Kanonen, dazu zahlreiche Geschütze Modell Nordenfeldt sowie unterschiedliche
Schnellfeuer- und Revolver-Kanonen neben den Maschinengewehren. Tausende moderner
Handfeuerwaffen (Modell Mannlicher, deutsche Infanterie-Gewehre M/98 und M 71/84) Revolver,
Säbel, Zelte, Lazarett-Ausrüstungen. Mehrere Millionen Gewehr-Patronen und reichlich Geschütz-
Granaten. Zur Verpflegung: etwa 100 Tonnen Reis.

In der Nacht vom 24. zum 25. Juni zeichneten sich am Himmel Raketen-Signale in Richtung Tientsin
ab, ebenso Scheinwerfer-Lichtkegel. Am Morgen des 25. Juni gegen sechs Uhr konnten Admiral
Seymours Einheiten endlich die europäische Niederlassung und die Tatarenstadt von Tientsin
erkennen, nachdem ein heftiger Sandsturm abgeflaut war. Man erkannte deutlich, dass aus einem
Fort in südöstlicher Richtung auf Tientsin geschossen wurde, genauer gesagt aus dem Pagoda Fort.
Gegen neun Uhr früh tauchte in südöstlicher Blickrichtung eine grössere Truppenmasse auf, bei der
es sich wahrscheinlich um chinesisches Militär handelte wie stets zuvor. Schliesslich verrieten die
weisse Röcke beim Näherkommen, dass europäische Soldaten endlich zu Hilfe kamen!

Retter in Not: Kommandeur Oberst Schirinski, der mit seinen Russen von Tientsin zum Entsatz
aufgebrochen war. Und gegen 10 Uhr preschte eine amerikanische Reiter-Patrouille heran. Zuletzt
grüssten gemeinsam Russen, Engländer, Amerikaner und eine Kompanie deutscher See-Soldaten
Admiral Seymour mit seinen Leuten. 2000 Mann hatten sich eingefunden. Zu einer gründlichen
Vernichtung der chinesischen Waffenlager im Arsenal blieb jetzt keine Zeit, sodass allein die
Munitionsvorräte in die Luft gejagt wurden. Um drei Uhr früh am 26. Juni begann der Abmarsch nach
Tientsin, wo jeder Verteidiger dringend auf seinem Platz ausharren musste. Um neun Uhr rückten die
vereinigten Kontingente in Tientsin ein, ohne weiter behelligt zu werden. Praktisch war somit der
Schlusspunkt für die Seymour-Expedition gesetzt.

Eine wehmütige Bilanz für alle
Das Expeditions-Korps des englischen Admirals hatte ohne Zweifel seinen eigentlichen Zweck
verfehlt, den Entsatz der europäischen Gesandtschaften in Peking. Als einzigen Erfolg bezeichnete
Admiral Seymour in seinem Bericht an die britische Admiralität mit Recht die Zerstörung des Arsenals
von Hsiku und der dort lagernden Bestände an Munition. Gesamtverluste des Korps: 295 Mann (14
Prozent), zwei Offiziere, 63 Mann Gefallene. 20 Offiziere und 210 Mann Verwundete. Die Verluste auf
deutscher Seite erwiesen sich als die stärksten (17 Prozent): Ein Offizier und 11 Mann Gefallene.
Sechs Offiziere und 61 Mann Verwundete (mit später fünf zusätzlichen Toten).

Admiral Seymour gab am 27. Juni seiner Anerkennung über die Leistungen der deutschen Offiziere
und Mannschaften in einem an den Chef des deutschen Kreuzer-Geschwaders gerichteten Schreiben
folgenden Inhalts Ausdruck:

"Obwohl es für mich nicht am Platze sein dürfte, über die Haltung eines Offiziers zu berichten, der
meinem Befehl nicht untersteht, so kann ich diesen Brief nicht abfassen, ohne Eurer Exzellenz sowohl
meine persönliche Bewunderung über die Fähigkeit und die nie versagende Energie, die Kapitän zur
See von Usedom während der ganzen Expedition entfaltete, als auch meine hohe Wertschätzung
seiner Verdienste zum Ausdruck zu bringen.

Die am 18. Juni im Gefecht von Lang fang vereinigte Streitmacht unterstand seinem Befehl, während
ich einige Meilen entfernt war. Bei diesem entschlossenen Angriff auf uns, dem ersten, in dem
Kaiserliche Truppen mit den Boxern zusammen trafen, wurde Kapitän zur See von Usedom
verwundet. Seinen geschickten Befehlen und Anordnungen zur Zurückziehung der Eisenbahnzüge,
die notwendig geworden war, dürfte es zuzuschreiben sein, dass ein Missgeschick vermieden wurde.

Da Kapitän Usedom von allen Offizieren an Rang nach mir der älteste war, habe ich zu meinem
Vorteil viel mit ihm beratschlagt und ihn auch offiziell zu meinem Nachfolger in der Führung der
Expedition ernannt, wenn ich fallen sollte. Ich war mir bewusst, dass unsere gemeinsamen Interessen
hierdurch nicht leiden würden.

Als mein Flaggschiff-Kapitän durch eine Verwundung an der Ausübung seines Dienstes gehindert
wurde, bat ich Kapitän von Usedom mir die Ehre zu erweisen, die Position als Chef des Stabes bei mir
zu übernehmen. Er kam dieser Aufforderung nach und war für mich von grösstem Wert. Was den Mut
und die vorbildliche Disziplin betrifft, die von allen Offizieren und Mannschaften Seiner Kaiserlichen
Majestät bewiesen wurden, so vermag ich nur zu sagen, dass sie der grossen Traditionen des
Deutschen Reichs vollauf würdig waren."

                                           ____________

Anmerkung: Seit rund hundert Jahren hält sich hartnäckig die angeblich historisch belegte Legende,
dass während der Belagerung von Pekings europäischen Gesandtschaften die Engländer dringend
um deutsche militärische Unterstützung baten mit dem dramatischen Kommando GERMANS TO THE
FRONT. Dies hat sich in Wahrheit nie so zugetragen.

Wie der Bericht des Admiralstabs der Deutschen Marine von 1903 exakt dokumentiert, rief der
britische Vice-Admiral Sir Edward H. Seymour, Oberkommandierender eines internationalen
Expeditionskorps mit deutscher Marine-Infanterie, seine deutschen See-Soldaten in einer
verzweifelten Gefechtslage "nach vorne an die Spitze" (der kämpfenden Einheiten) mit
bewundernswertem Erfolg. Das zitierte Gefecht fand weit weg von Peking statt in ländlicher
Umgebung.
Nachdem Admiral Seymour mit seinem Expeditionskorps nicht zum befohlenen Ziel Peking vordringen
konnte, weil seine Truppen-Züge durch zahllose Gleiszerstörungen der Boxer-Guerillas lahmgelegt
worden waren, fanden anglo-amerikanische Militärkreise schnell einen Spottnamen für den
erfolglosen Kommandeur: ADMIRAL NIMMERWIEDERSEHN (eine Lautmalerei in englischer
Sprache: SEYMOUR gleich SEEN-NO-MORE). Mit anderen Worten sinngemäss: Der Admiral war mit
seinen Männern vorübergehend von der Landkarte verschwunden und tauchte viel zu spät wieder
auf...

Quellen

Die Kaiserliche Marine während der Wirren in China 1900 und 1901 (Herausgegeben vom
Admiralstab der Marine, Berlin 1903)

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