AkademieAktuell - Bibelübersetzer Schwerpunkt Der Österreichische - Bayerische Akademie der Wissenschaften
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Ausgabe 03/2017 – ISSN 1436-753X AkademieAktuell Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Schwerpunkt Der Österreichische Bibelübersetzer Ein neues Akademievorhaben zwischen Tradition und Innovation Bayerische Akademie der Wissenschaften
EDITOR I A L Liebe Leserinnen, liebe Leser! „ D E R MA N N , D E R nicht Luther sein konnte“: Das war ein unbekannter Verfasser aus Österreich, der bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahr- hunderts weite Teile der Bibel in die Volkssprache übersetzte. Dabei handelt es sich um eine, wenn nicht sogar die zentrale Etappe deutsch- sprachiger Bibelübersetzung vor Luther. Das umfangreiche Werk dieses Österreichischen Bibelübersetzers steht seit 2016 im Mittelpunkt eines neuen Vorhabens, das die Bayerische und die Berlin-Brandenburgische ABB.: J. AMENDT / BADW Akademie der Wissenschaften gemeinsam durchführen. Zwölf Jahre verbleiben nun dem Team um Professor Freimut Löser (Augsburg), um die Fülle der überlieferten Handschriften zu erforschen und zu edieren – eine Projektlaufzeit, die heute keineswegs selbstver- ständlich ist. Möglich wird dies durch eine Finanzierung im Rahmen des Akademienprogramms, der derzeit größten geisteswissenschaftlichen Fördermaßnahme in Deutschland. Rund 65 Millionen Euro jährlich stellen Bund und Länder gemeinsam für die Erschließung, Sicherung und Vergegenwärtigung des kulturellen Erbes zur Verfügung. Das Projekt Der Österreichische Bibelübersetzer zeigt in vielerlei Hinsicht exemplarisch, wie ein solches Langfristvorhaben im Akademienprogramm heute strukturiert sein kann. Geforscht wird an zwei Arbeitsstellen in Augsburg und Berlin, das Projekt ist sowohl mit deutschen Universitäten, Bibliotheken und Archiven als auch international vernetzt. Der Forschungsansatz bewegt sich zwi- schen Germanistik, Theologie, Kunstgeschichte, Kirchengeschichte und Philosophie und ist damit dezidiert für eine trans- und interdisziplinäre Kooperation geschaffen. Ein wichtiger Bestandteil ist zudem die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Und schließlich werden die Werke des Österreichischen Bibelübersetzers in avancierter Form bereitgestellt: Neben der gedruckten Ausgabe steht künftig – mit erheblichem Mehrwert für Forschung und Öffentlichkeit – auch eine dynamische digitale Edition. Dem gesamten Autoren- und Projektteam gilt mein herzlicher Dank für die Konzeption des Schwerpunktthemas dieser Ausgabe. Den Leserinnen und Lesern wünsche ich viele interessante Erkenntnisse auf den Spuren des österreichischen Anonymus. Prof. Dr. Thomas O. Höllmann Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Ausgabe 03/2017 – ISSN 1436-753X Unser Titel AkademieAktuell ABB.: MICHAEL BERWANGER / TAUSENDBLAUWERK.DE Zeitschrift der Bayerischen Akad Akademie der Wissenscha Wissenschaften Wie der Österreichische Bibelübersetzer aussah und wo er genau herkam, ist unbekannt. Unser Titel sowie die Doppelseiten zwischen den Themenblöcken zeigen daher eine künstlerische Annäherung an einen anonymen Autor. Der Maler bediente sich kubistischer Elemente – wie in der klassischen Moderne bei Schwerpunkt Der Österreichische Braque, Feininger, Delaunay –, um Anmutungen gegenständ- licher Malerei zu erhalten, ohne konkret sein zu müssen. Bibelübersetzer Ein neues Akademievorhaben zwischen Neben Acryl- und Ölfarben kamen Sand, Holz und andere Natur- Tradition und Innovation Bayerische materialien in Assemblage-Technik zum Einsatz. Akademie der Wissenschaften 03-2017 Akademie Aktuell 3
Heft 6 2 INHALT Aus g a b e 0 3 - 2 01 7 A KTU EL L TH EMA 6 Werke, die die Welt veränderten Der Österreichische Bibelübersetzer – 3.000 Gäste beim Tag der offenen Tür zwischen Tradition und Innovation Präsentationskonzert zu den ersten Richard-Strauss-Bänden 10 Ein geheimnisvoller mittelalterlicher Bibelübersetzer aus Österreich 7 Über LRZ-Hotspots ins freie Ein neues Vorhaben im Akademien- BayernWLAN programm nimmt die Arbeit auf Tagung der Internationalen Thesaurus- Von Freimut Löser Kommission 20 Die deutsche Bibelübersetzung Die Akademie zu Gast in Eichstätt vor Luther Zusammenarbeit in der AG Die Geschichte der deutschen Sprache eHumanities der Akademienunion ließe sich unschwer auch als Geschich- te der deutschen Bibelübersetzung erzählen Von Jens Haustein und Martin Schubert 28 Verteidigung der Laienbibel: Der Öster- reichische Bibelübersetzer stellt sich vor Was wissen wir über den Anonymus, der in der ersten Hälfte des 14. Jahrhun- derts große Teile der Bibel ins Deutsche übersetzte? ABB.: K. NEUNERT / BADW; SCHAFFHAUSEN, STADTBIBLIOTHEK, COD. GEN. 8 Von Freimut Löser Der Österreichische Bibelübersetzer – Gottes Wort deutsch 36 Das Gesamtwerk des Österreichischen Bibelübersetzers Die Forschungen der letzten Jahrzehnte und Funde in Archiven und Bibliotheken haben geholfen, das Werk des bislang Namenlosen ins Licht der Forschung zu rücken Von Gisela Kornrumpf 6 20 4 Akademie Aktuell 03-2017
44 Die heilige Familie unter den Räubern Der Österreichische Bibelübersetzer – Zwei unterschiedliche Traditionen Hybride Edition der vorlutherischen Bibelübersetzung: Bibel und Apokryphen im Werk 70 Wie entsteht eine Edition? des Österreichischen Bibelübersetzers Bei der Edition mittelalterlicher Von Kurt Gärtner Handschriften gilt es, besondere Herausforderungen zu meistern 51 Mer puch zemachen ist dehain ende. Von Elke Zinsmeister Das „Alttestamentliche Werk“ des Österreichischen Bibelübersetzers 76 Von der Handschrift ins World Wide Zur Arbeit an der Buchedition des Web – Die digitale Edition „Alttestamentlichen Werks“ mit unter- Derzeit entsteht eine dynamische schiedlichen Übersetzungs- und digitale Edition des Gesamtwerkes Erklärungstypen sowie zwei Über- mit erheblichem Mehrwert lieferungszweigen für Forschung und Öffentlichkeit Von Klaus Wolf und Magdalena Terhorst Von Angila Vetter 56 Das „Evangelienwerk“ – Gegenstand, 80 Lernen für ein Leben in der Wissenschaft Handschriften, Forschung Einblicke in den Arbeitsalltag Das breit überlieferte Werk ist erst der Hilfskräfte („HiWis“) im neuen ansatzweise erforscht Akademievorhaben Von Uta Goerlitz Von Sarah Maria Altendorfer, Sandra ABB.: BSB MÜNCHEN; BIBLIOTHÈQUE NATIONALE DE FRANCE / WWW.GALLICA.BNF.FR; ÖBÜ Camehl, Marlies Grasse und Karen Wenzel 62 Viel versprechende Spuren, komplexe Ausgangslage: der „Psalmenkommentar“ NAMEN Das Werk stellt das Editionsteam vor 86 Kurz notiert erhebliche Herausforderungen Von Gabriele Sieber Von Freimut Löser und Angila Vetter VO RSC H AU 88 Termine Oktober bis Dezember 2017 I N FO 90 Auf einen Blick Impressum 51 62 80 03-2017 Akademie Aktuell 5
A KTU E L L Julian Riem und Lukas Kuen beim vierhändigen Spiel des Klavier- arrangements von „Macbeth“. Werke, die die Welt veränderten Präsentationskonzert zu den MIT E I N E M Festkolloquium feierten die Akade- ersten Richard-Strauss-Bänden mie und das Deutsche Museum den Abschluss zweier großer Editionen: An der LMU München AM 21 . J U N I FAN D in der LMU München vor rund 500 bzw. seit 2012 am Deutschen Museum wurden Zuhörern ein Konzert statt, bei dem die ersten beiden die Schriften von Nicolaus Copernicus in elf Bän- Editionsbände des Akademieprojekts „Kritische Ausgabe den ediert, an der Akademie entstand die histo- der Werke von Richard Strauss“ in musikalisch attraktiver risch-kritische Gesamtausgabe der Werke von und instruktiver Weise vorgestellt wurden. Es erklang, Johannes Kepler mit insgesamt 26 Bänden. Die gesungen von Sarah Yorke und gespielt von Julian Riem Editionen liefern neue Einblicke in das Schaffen und Lukas Kuen, eine Auswahl von Strauss-Liedern aus der beiden Astronomen, die unsere Sicht der Welt dem neuen, den op. 10 bis 29 gewidmeten Band, inklusive grundlegend veränderten. Die Kepler-Ausgabe bislang unbekannter Fassungen. Anschließend spielten wurde bis 2008 im Akademienprogramm ge- die beiden Pianisten – wohl als öffentliche Urauffüh- fördert, die Publikation hat die Deutsche For- rung – das von Strauss selbst angefertigte und im ersten schungsgemeinschaft unterstützt. Der Projekt- Tondichtungsband erstmals edierte Arrangement der Ton- abschluss mit der Digitalisierung der Ausgabe dichtung „Macbeth“ für Klavier zu vier Händen. Die drei und der Erstellung des Registerbandes wurde von Bandherausgeber Andreas Pernpeintner, Stefan Schenk der Akademie realisiert. n und Walter Werbeck veranschaulichten die Editionsweise und präsentierten die Online-Plattform mit ihrem ergän- Zur Kepler-Ausgabe: https://kepler.badw.de zenden Open-Access-Angebot. n Zur Copernicus-Gesamtausgabe: www.deutsches-museum.de/ presse/presse-2017/copernicus-ausgabe Infos: www.richard-strauss-ausgabe.de 3.000 Gäste beim Tag der offenen Tür ME H R E R E TAU S EN D Münchnerinnen und Münchner wollten am 20. Mai „Wissenschaft erleben!“. Unter diesem Motto öffnete die Akademie ihre Türen und präsentierte das breite Spektrum ihrer Forschung. Akademiepräsident Thomas O. Höllmann zeigte sich begeistert von dem Ansturm: „Diese Gästezahl ist natürlich gigantisch. Viel wichtiger aber war, dass sich unsere Besucherinnen und Besucher wirklich für die Inhalte interessieren und sich an den Projektständen intensiv über die Forschung der Aka- demie informiert haben.“ Besonders gut kam auch das Familienprogramm an: „Angesichts des großen Interesses unserer jungen Gäste mache ich mir keine Sorgen um den wissenschaftlichen Nachwuchs“, so Höllmann. n Ein ausführlicher Bericht über den Tag der offenen Tür folgt in Ausgabe 04/2017 von „Akademie Aktuell“. 6 Akademie Aktuell 03-2017
A KTU E L L Über LRZ-Hotspots ins freie BayernWLAN S E IT MA I strahlen über 2.500 WLAN-Access- Points des Leibniz-Rechenzentrums der Akademie das Netz @BayernWLAN aus. Das LRZ nutzt dafür die vorhandene Infrastruktur im Münchner Wissen- schaftsnetz. Rund um Wissenschaftsstandorte in der Münchner Innenstadt, in Großhadern und Mar- tinsried, in Garching und Freising sowie an vielen entfernten Wissenschaftsstandorten wie Berchtes- gaden oder Triesdorf kann man sich kostenlos und ohne Account im BayernWLAN einloggen. BayernWLAN ist eine Initiative des Bayerischen Die Akademie zu Gast in Eichstätt Staatsministeriums der Finanzen, für Landesent- wicklung und Heimat. Die BayernWLAN-Hotspots 201 6 WÄH LTE DI E Gesellschaft für deutsche Sprache „post- strahlen auch das weltweite Wissenschaftsnetz faktisch“ zum Wort des Jahres; Oxford Dictionaries entschied eduroam aus – ein Service, von dem reisende An- sich für „post-truth“. Diagnostiziert wird damit nicht nur, dass gehörige von Universitäten und Hochschulen pro- „fake news“ verbreitet werden und Populisten die angebliche fitieren. „Über das exzellent ausgebaute Münchner „Lügenpresse“ attackieren, sondern auch, dass Experten pauschal Wissenschaftsnetz können wir ad hoc eine große verdächtigt werden, „gekauft“ zu sein. Über Herausforderungen Zahl an Hotspots für BayernWLAN zur Verfügung und Perspektiven dieser Entwicklung diskutierten am 9. Juni 2017 stellen. Die Verbindung von BayernWLAN und Christoph Neuberger (LMU München/BAdW), Julia Bönisch (Chef- eduroam ist eine Win-win-Situation für Wissen- redakteurin von SZ.de), Klaus-Dieter Altmeppen (KU Eichstätt- schaftler, Studierende und Bürger, die nur durch Ingolstadt), Simon Hegelich (TU München) und Stefan Primbs die äußerst erfolgreiche Kooperation zwischen (Bayerischer Rundfunk) bei einer öffentlichen Podiumsdiskussion Wissenschaftsministerium, Finanzministerium, in Eichstätt (v. l. n. r.). Universitäten und Hochschulen möglich ist“, so Helmut Reiser, stellvertretender Leiter des LRZ und Seit 2012 lädt die Akademie einmal jährlich gemeinsam mit einer Abteilungsleiter Kommunikationsnetze. n bayerischen Universität zu einer Podiumsdiskussion über ein aktuelles Thema aus Wissenschaft und Forschung ein. In Eich- Weitere Infos mit Karte der LRZ-Access-Points in Bayern: stätt fand vorab auch eine universitätsöffentliche Sitzung der www.lrz.de/services/netz/wlan/bayernwlan Akademiemitglieder statt. n ABB.: S. BOLZ / INSTITUT FÜR MUSIKWISSENSCHAFT, LMU; K. NEUNERT / BADW; I. LEICHT / BADW Tagung der Internationalen Zusammenarbeit in der AG Thesaurus-Kommission eHumanities der Akademienunion AM 7. U N D 8 . J U L I trafen sich 21 Delegierte DI E IT- ABTEI LU NG der Bayerischen Akademie aus 16 Ländern zur Sitzung der Internationalen der Wissenschaften beteiligt sich an der Erar- Thesaurus-Kommission in München, die turnus- beitung und Diskussion von Technologien und gemäß alle drei Jahre stattfindet. Besprochen neuen technischen Standards, so auch in der wurden Fragen der Publikation des Thesaurus Arbeitsgruppe „Persistente Identifikatoren“ der AG linguae Latinae, der weiteren Planungen auch im eHumanities der Akademienunion. Ein Papier mit Hinblick auf eine bevorstehende Evaluierung, die technischen Empfehlungen der Arbeitsgruppe wird Personalentwicklung, Finanzen usw. In diesem demnächst erscheinen. Schon vor kurzem haben Rahmen fand zudem die Sitzung des Projektbei- Eckhart Arnold und Stefan Müller einige grundle- rates statt. Der Begegnung mit den Mitarbeitern gende Überlegungen zu diesem für die Zitierbar- und Mitarbeiterinnen des Wörterbuches dienten keit digitaler Publikationen und Forschungsdaten ein kleines Rahmenprogramm und ein Empfang relevanten Thema veröffentlicht. n in den Räumen der Akademie. n Literatur: E. Arnold, S. Müller, Wie permanent sind Permalinks?, in: Informationspraxis 3, 1 (2017) Lesen unter: tiny.badw.de/2JVv 03-2017 Akademie Aktuell 7
TH EMA 10 Ein geheimnisvoller mittelalterlicher Bibelübersetzer aus Österreich Von Freimut Löser 20 Die deutsche Bibelübersetzung vor Luther Von Jens Haustein und Martin Schubert 28 Verteidigung der Laienbibel: Der Österreichische Bibelübersetzer stellt sich vor Von Freimut Löser 36 Das Gesamtwerk des Österreichischen Bibelübersetzers Von Gisela Kornrumpf 44 Die heilige Familie unter den Räubern Von Kurt Gärtner 51 Mer puch zemachen ist dehain ende. Das „Alttestamentliche Werk“ des Österreichischen Bibelübersetzers Von Klaus Wolf und Magdalena Terhorst 56 Das „Evangelienwerk“ – Gegenstand, Handschriften, Forschung Von Uta Goerlitz 62 Vielversprechende Spuren, komplexe Ausgangslage: der „Psalmenkommentar“ ABB.: MICHAEL BERWANGER / TAUSENDBLAUWERK.DE Von Freimut Löser und Angila Vetter 70 Wie entsteht eine Edition? Von Elke Zinsmeister 76 Von der Handschrift ins World Wide Web – Die digitale Edition Von Angila Vetter 80 Lernen für ein Leben in der Wissenschaft Von Sarah Maria Altendorfer, Sandra Camehl, Marlies Grasse und Karen Wenzel
TH EMA D ER Ö STER R EIC H ISC H E B I B EL Ü B ERSETZER Einführung Ein geheimnisvoller mittelalterlicher Bibelübersetzer aus Österreich Eine der zentralen Etappen deutschsprachiger Bibelübersetzung vor Luther: Bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstand das umfangreiche Werk eines Anonymus aus Österreich. Sein für die deutsche Geistesgeschichte so bedeutsames Schaffen wird nun in einem Akademievorhaben erforscht und Wissenschaft und Öffentlichkeit in einer hybriden Edition zur Verfügung gestellt. Die älteste erhaltene Handschrift des „Evangelienwerks“ des Österreichischen Bibelübersetzers umfasst noch 333 Blätter mit rund 400 Randillustrationen. Sie entstand um 1330/40 und befindet sich heute in der Stadtbibliothek Schaffhausen (hier f. 30r). 10 Akademie Aktuell 03-2017
ABB.: SCHAFFHAUSEN, STADTBIBLIOTHEK, COD. GEN. 8 / WWW.E-CODIZES.UNIFR.CH 11
TH EMA D ER Ö STER R EIC H ISC H E B I B EL Ü B ERSETZER Eine rätselhafte Gestalt mit Notnamen Dass dieser für die deutsche Geistesgeschichte und für die Geschichte des Deutschen so be- deutsame Mann nicht namentlich benannt werden kann, hat einen Grund: Er nennt seinen eigenen Namen nicht. Das ist nicht unbedingt ungewöhnlich, sondern in der mittelalterlichen Geschichte von Bibelverdeutschungen eher die Regel. Lange wurden auch Texte, die er ver- Von Fre i mut Lö se r fasste, irrtümlich einem anderen zugeschrie- ben. So galt sein „Psalmenkommentar“ in der Forschung als Werk seines Zeitgenossen Heinrich von Mügeln, des bekannten Sang- „D E R MAN N , D E R nicht Luther sein konnte“ spruchdichters und Chronisten. – so war ein Artikel in der „Welt“ über einen Mann betitelt, der im Mittelpunkt eines neuen, Nach einzelnen verstreuten Forschungsan- im Akademienprogramm geförderten Projekts sätzen des letzten Jahrhunderts hat erst die der Bayerischen und der Berlin-Brandenburgi- jüngere Forschung die Zusammenhänge schen Akademie der Wissenschaften steht. Die erkannt und gebündelt. Wir wissen heute, Fachforschung nennt diese geheimnisumgebe- dass das Œuvre, von dem die Rede ist, vielfältig ne und faszinierende Gestalt den „Österreichi- intertextuell verbunden ist, dass der Verfasser schen Bibelübersetzer“, weil sein eigentlicher sich immer wieder selbst zitiert und in einem Name (bisher?) nicht bekannt ist. neuen Werk oft auch ältere eigene Werke be- nutzt. Diese Zusammenhänge fügen sich inein- Und richtig ist: Unter den vorreformatorischen ander wie Kettenglieder. Wir haben insgesamt Bibelübersetzungen nehmen die Arbeiten des das Werk eines Mannes vor uns, der – darauf Österreichischen Bibelübersetzers aus dem deuten zahlreiche Hinweise in den Texten und 14. Jahrhundert eine herausragende Stellung die Überlieferung der Handschriften – wohl im ein. Sein Werk stellt zweifellos eine, wenn nicht Herzogtum Österreich an der Grenze der Diö- sogar die zentrale Etappe deutschsprachiger zesen Salzburg und Passau arbeitete und seine Bibelübersetzung vor Luther dar. Bekannt umfangreichen Schriften in der ersten Hälfte sind bislang vor allem umfangreiche Über- des 14. Jahrhunderts verfasste. setzungen einer Reihe von Büchern aus dem Alten Testament („Alttestamentliches Werk“), Meilenstein der deutschen Bibelgeschichte ein eigenständiger, sehr umfangreicher und ausgiebig kommentierter Psalter („Psalmen- Die umfangreichen Übersetzungen einzelner kommentar“) sowie das neutestamentliche historischer und prophetischer Bücher aus „Evangelienwerk“. In Verbindung mit diesen dem Alten Testament („Alttestamentliches manchmal kürzer, manchmal länger kom- Werk“) stellen sich neben den eigenständigen mentierten Büchern der Bibel stehen meh- „Psalmenkommentar“, der zur Erklärung der rere Traktate, unter ihnen insbesondere drei einzelnen Psalmen auf das lateinische Werk Adversus Judaeos-Traktate, sowie ein Büchlein des zeitgenössischen Franziskaners Nikolaus vom Antichrist und ein weiteres vom Jüngsten von Lyra († 1349) zurückgreift. Was man also Gericht. von Luther gesagt hat, trifft auch schon auf den Österreichischen Bibelübersetzer zu: Si Lyra Dazu treten eigene deutsche Vorreden zu den non lyrasset, Lutherus non saltasset („Hätte Lyra einzelnen Übersetzungen und eine lateinische nicht auf der Leier gespielt, hätte Luther nicht Verteidigungsschrift, in denen der Übersetzer tanzen können“). Sind die alttestamentlichen sein Vorgehen rechtfertigt. Er nimmt sich ganz Bücher sparsam glossiert, trifft man in den bewusst und sehr selbstbewusst das Recht Evangelien auf überbordend reiche Erklärun- heraus, die Bibel als Laie für die Laien in die Volkssprache zu übertragen und sie dabei auch auszulegen. Wenn man ihn angreift, weiß er Rechts: Das prachtvoll geschmückte Folio 12v sich zu wehren, denn er ist „nicht aufs Maul aus dem „Evangelienwerk“ des Österreichischen gefallen“, und bei seinen Übersetzungen orien- Bibelübersetzers in der Handschrift K1 tiert er sich an der Zielsprache, denn er schaut, der Stiftsbibliothek Klosterneuburg (Cod. 4). wie später noch schärfer Luther, „den Leuten aufs Maul“. 12 Akademie Aktuell 03-2017
ABB.: STIFTSBIBLIOTHEK KLOSTERNEUBURG, COD. 4 D ER Ö STER R EIC H ISC H E B I B EL Ü B ERSETZER TH E MA 03-2017 Akademie Aktuell 13
TH EMA D ER Ö STER R EIC H ISC H E B I B EL Ü B ERSETZER gen. Sie sind zudem nicht einzeln nacheinan- wo zu seiner Zeit Ketzerverfolgungen stattfan- Der genaue Ort seines Wirkens der erzählt, sondern miteinander harmonisiert, den) ist der Übersetzer um die „rechte“ Gestalt ist unbekannt, doch der Öster- um einen einheitlichen Bericht der von den seiner Texte und deren Auslegung bemüht. reichische Bibelübersetzer lebte Evangelisten auf unterschiedliche Weise dar- Infolgedessen verbindet er seine Übersetzungen und arbeitete wohl im Raum gestellten Ereignisse zu erzielen. Liturgische mit Kommentaren, glossiert die Texte erklärend des heutigen Österreich. Hinweise erlauben es zudem, die Texte im Stil und fügt zur Erläuterung apokryphe und legen- von Tageslesungen zu nutzen. Um dem gerecht darische Überlieferungen ein. In den Vorreden zu werden, spricht man vom „Evangelienwerk“. verteidigt er sein Vorgehen vehement gegen ABB. AUS: F. P. KNAPP, DIE LITERATUR DES SPÄTMITTELALTERS, 1999, INNENSPIEGEL Angriffe seitens seiner Gegner und sichert sich Das übersetzerische Werk des Österreichischen durch die Berufung auf geistlich-gelehrte Berater Bibelübersetzers weist zahlreiche intertextuelle ab, obgleich sich in seinem Werk seine eigene Bezüge auf und zeichnet sich nicht nur durch lateinisch-theologische Ausbildung zeigt. Im seinen sprachlichen Rang aus, sondern durch umfangreichen Traktatwerk geht er gegen Ketzer den programmatischen Anspruch auf eine und Aberglauben an, wendet sich aber auch – fundierte Bibellektüre auch für Laien. Wie wir aus darin ein Kind seiner Zeit – gegen die Juden. seinen häresiologischen Traktaten und Verteidi- gungsschriften wissen, sieht sich der anonyme Die Überlieferung: Kostbare Schätze und Übersetzer in einen Zweifrontenkampf verstrickt: schlichte Gebrauchshandschriften Er wird von klerikalen Gegnern angegriffen, die ihm als Laien das Recht bestreiten, die Bibel zu Die überlieferten Handschriften und Frag- übersetzen oder gar zu kommentieren. Und er mente der einzelnen Werkteile sind insgesamt selbst greift „Häretiker“ an, die die Bibel und äußerst zahlreich und teils auch kunsthisto- deren Auslegung für sich in Beschlag nehmen wollen. Im Kampf gegen solche zeitgenössischen ketzer gerade in seiner Umgebung (z. B. in Krems, 14 Akademie Aktuell 03-2017
D ER Ö STER R EIC H ISC H E B I B EL Ü B ERSETZER TH E MA risch höchst relevant. Vom „Alttestamentlichen rung der biblischen Bücher gearbeitet, er hat Werk“ gibt es nur wenige Handschriften; das sich immer wieder verteidigt, er hat in Trakta- „Evangelienwerk“ hingegen (bislang 27 voll- ten Stellung bezogen. Er hat sein ganzes Leben ständige Handschriften und Fragmente) sticht in den Dienst der ihm selbst aufgetragenen durch zwei verschiedene Fassungen und sehr Aufgabe gestellt. So gesehen ist ein Langzeit- kostbare illustrierte Handschriften heraus. Vom forschungsprojekt, auch wenn es wie erhofft „Psalmenkommentar“ sind bislang mehr als zwölf Jahre laufen wird, kurz. Der Bibelüberset- 70 Textzeugen bekannt. Er existiert in Fassun- zer spricht sehr dezidiert für sich und von sich – gen mit und ohne Kommentar, die sich zudem das Forschungsunternehmen beruht auf Team- durch drei verschiedene Vorreden unterschei- arbeit. Der Bibelübersetzer hat sich auf den Rat den. Die Überlieferung des Gesamtwerkes ist und die Hilfe gelerter berufen – dem Projekt im 14. Jahrhundert schon erstaunlich breit, stehen ein Projektausschuss und ein Beirat wenn leider auch fragmentarisch, und kulmi- zur Seite. Der Bibelübersetzer sagt, dem Spott niert dann deutlich im 15. Jahrhundert. Sie kon- seiner Gegner über seinen Status entgegnend, zentriert sich auf den bairisch-österreichischen er sei an hohen schulen nicht gestanden, habe Raum, hat aber auch Ausläufer in Schwaben aber zuhause genug gelernt. Das Projekt ist in und in Bibliotheken des östlichen Mitteleu- großen Teilen an einer hohen schule zuhause: ropas. Den Weg in die Frühdrucke hat nur der Ein Kooperationsvertrag mit der Universität „Psalmenkommentar“ gefunden. Augsburg sichert die Langfristperspektiven. Die Zusammenarbeit erfolgt, gerade im IT-Bereich, Komplexe Überlieferungsbedingungen auch über eine gemeinsame Stellenstruktur. Die Bezüge all dieser deutschen Texte unter- Organisationsstruktur und Forschungsziel einander, die Tatsache einer gemeinsamen Verfasserschaft und ihr Stellenwert für die Die Trägerschaft der an der Universität Augs- Geistesgeschichte sind in den vergangenen burg untergebrachten mehrköpfigen Arbeits- Jahrzehnten immer deutlicher geworden. Dass gruppe (Leitung Freimut Löser) obliegt der sie trotz ihrer hohen Bedeutung bislang nicht Bayerischen Akademie der Wissenschaften in ediert wurden, liegt an den Eigenheiten der Kooperation mit der Berlin-Brandenburgischen Verfasserschaft und an den komplexen Über- Akademie der Wissenschaften. Die Arbeitsstelle lieferungsbedingungen. Die umfangreichen, stark rezipierten Texte haben sich im Verlauf der Abschriften in verschiedene Fassungen, Exzerpte und sekundäre Umarbeitungen ausdifferenziert. Die editorische Repräsentation stellt vor beson- dere Herausforderungen und ist nur durch eine Gruppe von Bearbeitern zu bewältigen. Das gilt in noch höherem Maß als für das „Evangelienwerk“ für die Edition des besonders zahlreich überlieferten „Psalmenkommentars“. Parallel kommen die Editionen der damit in Verbindung stehenden noch nicht edierten, kürzeren Traktate hinzu. Insgesamt belaufen sich die in zwei Modulen kritisch zu edierenden und zu kommentierenden Texte auf jeweils etwa 1.600 Handschriftenseiten pro Modul. Langzeitprojekt zweier Akademien und der Universität Augsburg Martin Luther hat sich im be- rühmten Sendbrief vom Ziel des interakademischen Projektes ist es, Dolmetschen (1530) geäußert. ABB.: BSB MÜNCHEN / GOOGLE BOOKS die überlieferten Werke des Österreichischen Der Österreichische Bibelüber- Bibelübersetzers kritisch zu edieren und zu setzer musste seine Überset- kommentieren, wobei digitale wie gedruckte zungen in eigenen programma- Präsentationsformen nebeneinanderstehen tischen Schriften verteidigen. werden. Der Österreichische Bibelübersetzer hat – das wird in seinen Vorreden deutlich – unermüdlich an der Übersetzung und Erklä- 03-2017 Akademie Aktuell 15
TH EMA D ER Ö STER R EIC H ISC H E B I B EL Ü B ERSETZER Historische Ansicht von Krems, wo zur Zeit des Bibelübersetzers in Augsburg steht in enger Kooperation mit denburgischen Akademie der Wissenschaften Ketzerverfolgungen stattfanden. einer weiteren, kleineren Arbeitsgruppe an der und ihrer Vorgängerinnen erarbeitet worden Kupferstich in Matthäus Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wis- sind. Es ist vernetzt mit der Berliner, Münchner Merians und Martin Zeillers senschaften in Berlin (Leitung Jens Haustein, und Augsburger Bibliotheks- und Universitäts- „Topographia Germaniae“. Universität Jena, und Martin Schubert, Universi- landschaft, mit verwandten Projekten aus dem tät Duisburg-Essen). Das Gesamtprojekt, das im Bereich der Akademieforschung sowie nationa- Akademienprogramm der Union der deutschen len und internationalen Forschungsaktivitäten. Akademien der Wissenschaften gefördert wird, Besonders wichtig ist dabei die Zusammen- ist auf vier Arbeitsphasen mit Förderfristen arbeit mit der Österreichischen Akademie der von je drei Jahren angelegt, nach denen jeweils Wissenschaften (Arbeitsstelle um Christine externe Evaluationen stattfinden. Glaßner). ABB.: UB DÜSSELDORF; STIFTSBIBLIOTHEK REIN, COD. 204; WWW.ZVDD.DE / BSB MÜNCHEN Langfristig zielt das interakademische Vorhaben Drucklegung des „Alttestamentlichen Werks“ in zwei aufeinanderfolgenden Modulen auf die kommentierte Gesamtedition der Werke des Im ersten Schritt wird die Ausgabe des „Alttesta- Österreichischen Bibelübersetzers sowie die mentlichen Werks“ voraussichtlich schon nächs- Bereitstellung begleitender Editionsmaterialien. tes Jahr als klassische Buchedition erscheinen. Geplant ist neben der gedruckten Edition des Methodisch baut das Projekt damit auf einem Gesamtwerkes in Buchform auch eine digitale von der Deutschen Forschungsgemeinschaft Version. Das schließt im Vorfeld heuristisch- geförderten dreijährigen Vorgängerprojekt an kodikologische und textkritische Arbeiten eben- der Universität Augsburg auf, das der Edition des so ein wie den Nachweis von Vorlagen und ihrer „Alttestamentlichen Werkes“ (ohne Psalmen) Verarbeitung in den verschiedenen Textfassun- unter Beiziehung der damit eng vernetzten gen des anonymen Übersetzungswerkes. antihäretischen und chiliastischen Traktate („Vom Jüngsten Gericht“, „Über falsche Chris- Zusammenarbeit mit der Österreichischen ten“, „Fürstenspiegel“) galt. Der kritische Appa- Akademie der Wissenschaften rat verzeichnet sämtliche abweichende Lesarten (stets mit den entsprechenden Stellen der latei- Das Vorhaben fußt auf Materialien und Verfah- ren, die in früheren Vorhaben der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, der Berlin-Bran- 16 Akademie Aktuell 03-2017
D ER Ö STER R EIC H ISC H E B I B EL Ü B ERSETZER TH E MA nischen Bibel, der Vulgata) und zitiert die vom synopsen zu entwickeln, um der Forschung Bibelübersetzer für seine Glossen verwendete die in verschiedener Hinsicht wichtigen und Vorlage. Während der Arbeit an dieser Edition hochinteressanten Bearbeitungsschritte des wurden neue, nun einbezogene Texte des Bibel- Anonymus oder früher Redaktoren – eine Frage, übersetzers („Ecclesiastes“ und „Proverbia“) ent- die ebenfalls zu klären sein wird – zugäng- deckt. Zudem sind bei der Revision des kritischen lich und darüber hinaus das stark inter- und Textes neue Entdeckungen im Quellenbereich intratextuell geprägte Verfahren transparent zutagegetreten: Als grundlegende Quelle der zu machen. Das Abschlussmodul des Projekts Kommentare des „Alttestamentlichen Werks“ (2022 bis 2027) soll dann der Erschließung des konnte die „Glossa ordinaria“ ermittelt werden, „Psalmenkommentars“ gewidmet sein. daneben wird die Rolle der „Historia scholastica“ immer deutlicher. Möglichkeiten der Digital Humanities nutzen und weiterentwickeln Links: Lange Zeit irrtümlich Die hybride Zukunft des „Evangelienwerks“ seinem Zeitgenossen Heinrich Die digitale Edition soll sowohl die Digitalisate von Mügeln zugeschrieben: der Parallel zur Drucklegung des „Alttestament- der Handschriften als auch die transkribier- „Psalmenkommentar“ des Ös- lichen Werks“ konzentriert sich die Arbeit in ten Texte, einen Versionenvergleich und den terreichischen Bibelübersetzers den beiden ersten Dreijahres-Phasen an den kritisch erstellten Text umfassen. So werden die in der Reiner Handschrift Cod. Forschungsstellen in Augsburg und in Berlin Inhalte für Interessierte sowie Forscherinnen 204. Hier das Postskript mit der auf die kommentierte kritische Edition des sehr und Forscher anderer Disziplinen gleicherma- Nennung Mügelns (fol. 224r). umfangreichen „Evangelienwerkes“, was auch ßen zugänglich gemacht. Die digitale Edition weitere Handschriftenrecherchen einschließt. birgt die Möglichkeit, nicht nur den Editions- Rechts: An das Werk des Fran- Bekannt sind 27 Überlieferungszeugen, die nä- text, sondern auch die einzelnen Arbeitsschrit- ziskaners Nikolaus von Lyra, das her einzuordnen sind; gleichzeitig werden die te wie Transkriptionen und Fassungsvergleiche er aus Handschriften kannte, Haupthandschriften transkribiert. Eine beim sowie die Digitalisate der einzelnen Hand- lehnte der Österreichische Österreichischen Bibelübersetzer grundsätzlich schriften und Fragmente der (Fach-)Öffentlich- Bibelübersetzer seinen „Psal- bestehende besondere editorische Herausfor- keit zur Verfügung zu stellen. So lassen sich menkommentar“ an. Im Bild die derung stellt die Notwendigkeit dar, Fassungs- die komplexen Überlieferungsbedingungen Postilla litteralis super psalteri- um, im Druck erschienen 1512. 03-2017 Akademie Aktuell 17
TH EMA D ER Ö STER R EIC H ISC H E B I B EL Ü B ERSETZER Besuch in Klosterneuburg mit Filmaufnahmen des ORF. Der Österreichische Bibelübersetzer Laufzeit: 2016 bis 2027 Träger: Bayerische Akademie der Wissenschaften und Berlin- Brandenburgische Akademie der Wissenschaften in Kooperation Leitung: Prof. Dr. Freimut Löser (Uni Augsburg), Prof. Dr. Jens Hau- stein (Universität Jena) und Prof. Dr. Martin Schubert (Universität Duisburg-Essen) Arbeitsstellen: Universität Augsburg, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Finanzierung: Akademienprogramm von Bund und Ländern Fördersumme: ca. 4,4 Mio. Euro https://bibeluebersetzer.badw.de https://transkribus.eu/Transkribus (Informationen zur Software Transkribus) der Einzeltexte ebenso wie die kunsthisto- Medienberichterstattung zum Projekt (Auswahl): risch relevanten Daten darstellen. Sie tragen gleichzeitig aus einer editorisch fokussierten F. Löser et al.: Deutsche Bibeln vor Martin Luther. Die Heilige germanistisch-mediävistischen Perspektive zur Schrift für Alle“. Öffentlicher Vortrag in der Stadtbibliothek Weiterentwicklung der Digital Humanities bei. Augsburg in der Vortragsreihe „Impulse. Forum Forschende Fakultät 2.0“ (Forschungsarbeiten der Geisteswissenschaften Die parallel zur Drucklegung des „Alttestament- der Universität Augsburg), Mitschnitt vom 14.2.2017. lichen Werkes“ laufende Edition des umfangrei- https://livestream.com/uni-augsburg/impuls/videos/ chen und breit überlieferten „Evangelienwerks“ 149479108 wird von Beginn an als Hybridedition konzipiert, d. h. als gedrucktes Buch und Präsentation C. Riedl-Daser: „Rätselraten um frühe deutsche Bibelüber- im Web. Deswegen ist schon die Transkription setzung – Forschungsprojekt zu österreichischem Bibelüber- des handschriftlichen Textes kein reines Ab- setzer“, in: ORF, Sendung „Orientierung“ vom 16.10.2016. schreiben mehr: Die kodikologischen und http://religion.orf.at/tv/stories/2802944 paläographischen Parameter der Handschrift werden in Form eines TEI-konformen Taggings M. Heine: „Der Mann, der nicht Luther sein konnte“, in: Welt in die XML-Dokumente der Transkripte aufge- am Sonntag vom 25.9.2016. nommen. So werden sowohl das Layout der www.welt.de/print/die_welt/kultur/article158350462/ Seite (Initialen, Rubrizierungen, Spaltenanzahl, Der-Mann-der-nicht-Luther-sein-konnte.html Miniaturen) als auch die Spezifika der einzelnen Graphen (Superskripte, Abbreviaturen, Nomina „Dieser Unbekannte übersetzte die Bibel vor Luther.“ sacra) und die intratextuelle Strukturierung des Martin Schubert erklärt den Bibelübersetzer, in: www.welt.de Werktextes berücksichtigt. Außerdem werden ABB.: ÖBÜ vom 6.4.2016. Spuren des Schreibprozesses wie Tilgungen www.welt.de/videos/video154080876/Dieser-Unbekannte- uebersetzte-die-Bibel-vor-Luther.html 18 Akademie Aktuell 03-2017
D ER Ö STER R EIC H ISC H E B I B EL Ü B ERSETZER TH E MA Der Bibelübersetzer musste sich noch gegen Angriffe verteidigen, er sei zu seiner Arbeit weder be- fugt noch befähigt, weil er „nicht geweiht und ordiniert“ sei. Heute wird sich ein zünftiger Mittel- altergermanist (hoffentlich) nicht verteidigen müssen, wenn er in theologischen Gebieten „wildert“ – vorausgesetzt, er holt sich Rat und Hilfe bei theologischen Fachleuten. Überhaupt sind die Aufgaben, vor die der Österreichische Bibelüber- setzer die Forschung stellt – situ- iert mindestens zwischen Germa- nistik, Theologie, Kunstgeschichte, Kirchengeschichte und Philosophie – wie geschaffen für die inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit. Diese kann und soll schon im Vor- feld der eigentlichen Edition er- folgen, denn eines der Ziele ist es, neben der Edition in Buchform auch eine Editionsplattform zu realisieren, auf der einzelne Sta- dien der Editionsentstehung, also auch Transkriptio-nen, Fassungs- editionen, Editions-texte ohne Kommentierung, und schließlich die Editionen der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Handschriften, deren Abbildungen (Streichung, Schwärzung, Expungierung), Über- noch nicht verfügbar sind, sollen ferner aus Pro- schreibungen und Einfügungen (interlinear, jektmitteln digitalisiert und in Abstimmung mit linear, marginal) dokumentiert. Damit können den Bibliotheken online publiziert werden. in der digitalen Edition des Gesamtwerks DER AUTOR des Österreichischen Bibelübersetzers neben Austausch mit Fachkollegen und Öffentlichkeit Prof. Dr. Freimut Löser, Inhaber der Dokumentation der jeweils annotierten des Lehrstuhls für Deutsche Textvarianz auch alle auffälligen Elemente Regelmäßige Tagungen mit Fachkollegen sor- Sprache und Literatur des des Layouts der Textzeugen angezeigt und gen für den notwendigen wissenschaftlichen Mittelalters an der Universität aufgerufen werden. Hierbei wird der Einsatz Austausch. Sie setzen das Œuvre des Österrei- Augsburg, leitet das im Aka- von Transkribus erprobt, eines Programms zur chischen Bibelübersetzers in einen europawei- demienprogramm geförderte Handschriften-(HTR), Bild-(Layout Analysis) und ten Vergleichsrahmen, der andere volkssprachi- Projekt Der Österreichische Strukturerkennung von Texten, betrieben und ge Bibelübersetzungen der Zeit thematisiert Bibelübersetzer der Bayerischen weiterentwickelt von der Universität Innsbruck sowie Gemeinsamkeiten mit und Unterschiede Akademie der Wissenschaften, sowie vom READ-Consortium. Diese aus dem zu Luther herausarbeitet. Berechtigte Fragen, das 2016 in Kooperation mit der dhmuc.-Workshop „Digitale Editionen und die einer interessierten breiteren Öffent- Berlin-Brandenburgischen Aka- Auszeichnungssprachen“ (21./22. 11.2016 an der lichkeit im Jahr 2017 naheliegen, verdienen demie der Wissenschaften mit BAdW) hervorgegangene Kooperation bietet wissenschaftlich ernstzunehmende Antworten Arbeitsstellen in Augsburg und beiden Partnern große Vorteile und geht neue (sprechen wir wirklich über einen „Mann, der Berlin die Arbeit aufnahm. Er ist Wege im Bereich der digitalen Edition. nicht Luther sein konnte“?). Tagungen und Vor- Präsident der internationalen tragsreihen stellen das Projekt einer breiteren Meister-Eckhart-Gesellschaft und Interdisziplinärer Forschungsansatz Öffentlichkeit vor. Der Bibelübersetzer schrieb zweiter Vorsitzender der Oswald bewusst als Laie für Laien; heute gehört Öf- von Wolkenstein-Gesellschaft. Die kommentierte kritische Hybridedition fentlichkeitsarbeit wesentlich zu den Aufgaben Seine Forschungsschwerpunkte schafft die Voraussetzungen für eine wissen- wissenschaftlicher Langfristprojekte. n sind u. a. deutschsprachige geist- schaftliche Auseinandersetzung mit dem liche Literatur des Mittelalters, Gesamtwerk des Österreichischen Bibelüberset- Sangspruch, Editionsphilologie zers für unterschiedliche Fächer und Disziplinen. und Überlieferungsgeschichte. 03-2017 Akademie Aktuell 19
Die Stiftsbibliothek von St. Gallen, der Wirkungsstätte Notkers III. von St. Gallen, ist bis heute Aufbewahrungsort zahl- reicher wichtiger Handschriften. 20 Akademie Aktuell 03-2017
D ER Ö STER R EIC H ISC H E B I B EL Ü B ERSETZER TH E MA Forschungskontext Die deutsche Bibel- übersetzung vor Luther Unschwer ließe sich die Geschichte der deutschen Sprache auch als Geschichte der deutschen Bibel- übersetzung erzählen, steht doch die Bibel mit am Ursprung der Verschriftung der Volkssprache. Diese entwickelt sich entlang von Übersetzungen aus dem Lateinischen, wobei die Heilige Schrift stets besondere Beachtung findet. St. Galler Paternoster: Die Von Je ns H aust e i n u n d M art i n Sch u be rt erste deutsche Übersetzung des Vaterunsers ist in einem St. Galler Codex (Cod. 911) aus dem späten 8. Jhdt. ein- S C H O N DAS Ä LTE STE erhaltene Buch mit getragen (S. 320). nennenswertem deutschen Anteil, die in St. Gallen liegende sogenannte „Abrogans“- Handschrift aus dem späten 8. Jahrhundert (Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 911), ist ent- standen, um den Benutzern das Verständnis des Bibeltexts zu erleichtern: Ein lateinisches Synonymenwörterbuch biblischer Begriffe wurde hier ins Althochdeutsche übertragen, sodass man zu jedem enthaltenen Wort aus der lateinischen Bibel – der Vulgata – sowohl eine lateinische Entsprechung als auch meh- rere deutsche Begriffe nachschlagen kann. Das kleinformatige, auf übriggebliebenen Perga- mentresten geschriebene Buch zeigt, dass es sich um eine Gebrauchshandschrift ohne be- sonderen Statuswert handelt. Aber sie enthält noch einen weiteren entscheidenden Eintrag: Auf einer der letzten Seiten ist eine deutsche Übersetzung des Vaterunsers enthalten („St. Galler Paternoster“). Es wird also hier ein, ABB.: STIFTSBIBLIOTHEK ST. GALLEN; STIFTSBIBLIOTHEK ST. GALLEN, COD. 911 wenn auch kleiner, Teil des biblischen Textes übersetzt, um ihn denen zugänglich zu ma- chen, die kein Latein beherrschen. Der Umfang der Bibel hat dazu geführt, dass sich die mittelalterlichen Übertragungen normalerweise auf einen Ausschnitt, etwa ein Buch der Bibel, konzentrierten. Bis zum Ausgang des Mittelalters liegen zahlreiche Bibelübersetzungen und Bibeldichtungen vor, meist der wichtigsten Bücher wie der Genesis, des Psalters, der Evangelien oder der Apokalyp- se (Offenbarung) des Johannes. 03-2017 Akademie Aktuell 21
TH EMA D ER Ö STER R EIC H ISC H E B I B EL Ü B ERSETZER Die Karolingerzeit In karolingischer Zeit finden die Evangelien besonderes Interesse. Erstes Beispiel ist die sogenannte „Lateinisch-althochdeutsche Tatian-Bilingue“, die im zweiten Viertel des 9. Jahrhunderts, wohl im Kloster Fulda unter dem Abt Hrabanus Maurus, entstand. Dieses zweisprachige Werk verarbeitet den Evange- lientext des Syrers Tatian, der im 2. Jahrhun- dert eine Zusammenfassung der vier Berichte der Evangelisten in einen fortlaufenden Text, eine sogenannte „Evangelienharmonie“, vorgenommen hatte. Die deutsche Übertra- gung, die dem Lateinischen sehr eng folgt, entstand in einem großangelegten Projekt: Sechs Schreiber erstellten gemeinsam eine Abschrift, die eine lateinische Fassung und den althochdeutschen Text zeilengenau ne- Der St. Galler Codex (Cod. 56) beneinander zeigt (Stiftsbibliothek St. Gallen, von Tatians „Evangelien- Cod. 56). harmonie“ wird durch große Kanontafeln eingeleitet, Bereits im 9. Jahrhundert entstehen zudem die als Register zum Bibeltext dichterische Übertragungen des Evangeliums dienen (hier S. 5). in verschiedenen Formen. Der „Heliand“ (Hei- land) aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts setzt das Leben Jesu in altsächsische Stabreim- verse um – ein Versuch, den Einheimischen ihm durchkorrigiert wurden, zeigen mit Vor- im niederdeutschen Bereich den Bibeltext und Nachreden und lateinischen Zwischen- durch eine Form nahezubringen, die sie von überschriften, wie der deutsche Text komplett ihren Sängern gewohnt waren. In der helden- der lateinischen Buchkultur angepasst wurde. liedartigen Darstellung werden Merkmale des In der Vorrede lobt Otfrid die deutsche Spra- ABB.: STIFTSBIBLIOTHEK ST. GALLEN, COD. 56 / WWW.E-CODIZES.UNIFR.CH; BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK, CGM 10, FOLIO 10R eigenen kulturellen Umfelds, etwa das ge- che: Weil sie schön und regelhaft erscheint, nealogische Standesdenken, ohne Weiteres in ist es auch gerechtfertigt, das Wort Gottes den heiligen Text inkorporiert. Inhaltlich folgt in ihr wiederzugeben. Er setzt sich aber auch auch der „Heliand“-Dichter dem Tatian, er zeigt mit den Schwierigkeiten auseinander, die das außerdem Einflüsse verschiedener lateinischer Aufschreiben deutscher Texte bereitet – schon Evangelienkommentare. ein Laut wie das „w“, der im Lateinischen nicht vorkommt, ist ja erst einmal nicht darstellbar, Das Evangelienbuch und er nutzt dafür die Folge von zwei „u“ (vgl. des Otfrid von Weißenburg das englische „double-u“). Ganz ähnlich arbeitet Otfrid von Weißenburg Prosaübertragungen des Notker von St. Gallen in seinem „Evangelienbuch“. Die in den 860er Jahren entstandene, ausführlich kommentierte Unter den Prosaübertragungen des frühen Evangeliendichtung richtet sich aber insbeson- Mittelalters ist diejenige Notkers III. von dere an seine Mitbrüder innerhalb des Klosters St. Gallen († 1022) hervorzuheben. Der Lehrer und nicht wie der „Heliand“ an religiöse Laien. und gelehrte Autor erarbeitet – wohl in der Otfrid nutzt dabei als Erster den Endreim für Absicht, seine Schüler über die Muttersprache ein umfassendes deutschsprachiges Werk. In ans Latein heranzuführen – Übersetzungen seiner geschickt durchkonstruierten Schrift, des Psalters (auch des Hiob, der aber verloren die er über den biblischen Bericht hinaus bis ist), von Kommentaren und von Schullektüre zum Jüngsten Gericht fortsetzt, schwingt er (Boethius, Martianus Capella u. a.). An seiner sich streckenweise zu auskomponierten, durch Psalterübertragung ist festzustellen, wie er, Refrains gegliederten Kapiteln auf, etwa zum anders als die seinerzeit üblichen Wort-für- Lob des Kreuzes oder zum Jüngsten Gericht, Wort-Übersetzungen, die sprachliche Einheit womit er neue, hymnenartige Formen im Deutschen realisiert. Die Handschriften, die aus Otfrids Zeit überliefert sind und zum Teil von 22 Akademie Aktuell 03-2017
D ER Ö STER R EIC H ISC H E B I B EL Ü B ERSETZER TH E MA des deutschen Textes anstrebt und sich dafür tisch wichtigen Kernbegriffe auf Latein. Da die an der Syntax der Zielsprache orientiert. Die beiden äußeren Spalten jeweils in Paraphrase sehr gewandte Übertragung des Psalters wird und Kommentar unterteilt sind, werden dem durch eingeschobene deutsche Kommentie- Betrachter fünf verschiedene Textebenen rungen und Erläuterungen erschlossen. Zu zugleich geboten; er soll den gemeinsamen seiner intensiven Auseinandersetzung mit Aufbau überblicken und sich in wechselnder der deutschen Sprache gehört darüber hinaus Lektüre hin- und herwenden. Hier ist die Über- eine systematische Beschäftigung mit der setzung kein Hilfsmittel zum Verständnis des deutschen Grammatik. Zur besseren Lesbar- Lateinischen, sondern Teil eines zusammen- keit führt er ein Akzentsystem für die Schrei- gehörenden, Sprachgrenzen übergreifenden bung des Deutschen ein. Notker eröffnet die literarischen Werks. Dieses auch vom Layout lange Reihe der vorlutherischen Psalterüber- her anspruchsvolle Werk wurde fleißig rezipiert setzungen, in der die ebenfalls kommentierte und bis ins 16. Jahrhundert vervielfältigt, wobei Psalterübersetzung des Österreichischen allerdings auch Formen des Unverständnisses Bibelübersetzers mit über 70 erhaltenen in den Abschriften deutlich werden: Manche Handschriften und zwei Drucken die mit Ab- Kopisten schreiben alle Texte ineinander, wäh- stand Erfolgreichste war. len Einzelspalten aus, erweitern oder kürzen nach Gusto und vieles mehr. Williram von Ebersberg Die Vorauer Sammelhandschrift Ein besonders ausgefeiltes Werk schafft Willi- ram, der Abt des bairischen Klosters Ebersberg Viele Einzeltexte des 11. und 12. Jahrhunderts († 1085), auf der Grundlage des Hohelieds. Seine sind in der Vorauer Sammelhandschrift enthal- ten (Stiftsbibliothek Vorau, Cod. 276), die am Ende des 12. Jahrhunderts versucht, die geistli- che deutsche Dichtung möglichst umfassend Williram von Ebersberg: Hohe- zusammenzuführen. Sie enthält balladen- lied-Paraphrase. Die Handschrift artige Umdichtungen biblischer Stoffe aus Cgm 10 aus der zweiten Hälfte dem früheren 12. Jahrhundert („Die drei Jüng- des 11. Jhdts., die sich heute in linge im Feuerofen“, „Die Ältere Judith“), die der Bayerischen Staatsbiblio- den Erzählkern der Vorlage isolieren und sich, thek München befindet, zeigt mit starken dialogischen Anteilen, auf die wun- den „gegürteten“ Aufbau des dersame Handlung konzentrieren. Die „Altdeut- Werks, bei dem eine lateinische sche Genesis“, wohl noch aus dem späteren Paraphrase (links) und eine 11. Jahrhundert, folgt dem biblischen Buch, deutsche Übertragung (rechts) setzt aber eigene Schwerpunkte aktualisie- den Bibeltext einfassen (hier render Anverwandlung, wodurch etwa die fol. 10r). Hofhaltung Josephs in Ägypten einem mittel- alterlichen Hofstaat zu ähneln beginnt. Neben weiteren in Reimpaaren abgefassten Bearbei- tungen von biblischen Büchern („Altdeutsche Exodus“, „Jüngere Judith“) enthält der Codex auch die „Vorauer Bücher Mosis“, die in einigen Teilen („Vorauer Genesis“) stärker auf die theo- logisch-moralische Auslegung der dargestell- ten Geschichte abheben. Im „Leben Jesu“ der Frau Ava – sie ist die erste namentlich bekannte Autorin deutscher Literatur und stammt aus dem frühen 12. Jahrhundert – werden die Tat- sachenberichte des Erdenlebens wiedergege- ben, wobei Ava auf Darstellungen der Lehre sowie allgemein auf gelehrte Ausdeutungen Paraphrase ist auf eine dreispaltige Wiedergabe verzichtet und sich unprätentiös auf Aspekte der im Codex angelegt: Hier steht der Bibeltext Volksfrömmigkeit und der individuellen Ergrif- in der Mitte, eine lateinische Übertragung in fenheit durch das Gnadenwerk konzentriert. Hexametern links und eine Prosaübersetzung rechts. Diese rechte Spalte besteht aus einer deutsch-lateinischen Mischprosa. Sie enthält die theologischen Fachbegriffe und die dogma- 03-2017 Akademie Aktuell 23
TH EMA D ER Ö STER R EIC H ISC H E B I B EL Ü B ERSETZER Wende zum 13. Jahrhundert vollständig in sein „Evangelienwerk“ integriert hat. Der Heimesfurter hat außerdem in „Unser Vom späten 12. bis weit ins 13. Jahrhundert, vrouwen hinvart“ Tod und Himmelfahrt Marias der Blütezeit höfischer Literatur, sind uns nach dem apokryphen „Transitus Mariae“ des weniger direkte Bibelübersetzungen überlie- Pseudo-Melito dargestellt. fert, etwa die niederdeutsche „Himmelgartner Evangelienharmonie“ aus der Mitte des Um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstehen 13. Jahrhunderts. Es werden aber im Umkreis noch mehrere bedeutende und wirkungsmäch- der höfischen Klassik und mit ihren stilisti- tige Bibeldichtungen. Es erscheinen die umfang- schen Mitteln mehrere neutestamentliche reichen, auch als „Reimbibeln“ bezeichneten Apokryphen bearbeitet (vgl. dazu den Beitrag Weltchroniken, die eine Darstellung der Heils- von Kurt Gärtner auf S. 44–50), darunter das geschichte und ihrer bîwege [„Nebenwege“], Pseudo-Matthäus-Evangelium, die Hauptquel- d. h. gleichzeitigen Geschichte der heidnischen le für die volkssprachigen Marienleben, und Reiche, von der Schöpfung bis in die Gegenwart das quasi-kanonische Nikodemus-Evangelium, der Bearbeiter anstreben. Dazu gehören die um das von der Höllenfahrt und Auferstehung 1250 für König Konrad IV. (1228–1254) gedichtete Jesu berichtet. Zu den Bearbeitungen apokry- „Weltchronik“ des Rudolf von Ems und die für pher Stoffe gehören die vor 1200 von Konrad den Thüringer Landgrafen Heinrich von Meißen von Fußesbrunnen (Feuersbrunn bei Krems) (1215–1288) verfasste „Christherre-Chronik“. verfasste „Kindheit Jesu“, auf die auch der Für sie waren neben der Vulgata die „Historia Das „Evangelienwerk“ des Ös- Österreichische Bibelübersetzer zurückgreift, scholastica“ des Petrus Comestor († 1178) und terreichischen Bibelübersetzers sowie die vor 1220 von Konrad von Heimes- deren universalgeschichtliches Konzept Modell in der Stadtbibliothek Schaff- furt (Hainsfarth nordöstlich von Nördlingen) und Hauptquelle. Rudolfs „Weltchronik“ und die hausen (Cod. Gen. 8, fol. 8v). verfasste „Urstende“ (d. h. „Auferstehung“) „Christherre-Chronik“ sind in vielfältigen Kompi- Aus der Weihnachtsgeschichte: nach dem Nikodemus-Evangelium, das auch lationen überliefert, in denen die neutestament- die Heilige Familie im Stall von der österreichische Anonymus übersetzt und liche Geschichte in mehreren Handschriften Bethlehem. durch die Marienleben mit ihrem überwiegend apokryphen Material repräsentiert wird. Neben ABB.: STADTBIBLIOTHEK SCHAFFHAUSEN, COD. GEN. 8 / WWW.E-CODICES.UNIFR.CH; BERLIN, GEH. STAATSARCHIV PREUSS. KULTURBESITZ, XX. HA MSC. A 191 der Predigt in der Volkssprache bilden die Welt- chroniken für über 200 Jahre eine Hauptquelle für die Bibelkenntnis der Laien. Der Thüringer Heinrich von Hesler schuf zum einen mit seinem „Evangelium Nicodemi“ eine Nachdichtung des ungemein beliebten apo- kryphen Evangeliums. Zum andern griff er mit seiner „Apokalypse“ (um 1260) auf eines der be- liebtesten und ja auch bildmächtigsten Bücher der Bibel zurück. Ausgesprochen kenntnisreich für einen Laien und auch um die äußere Form seines Werks in der weiteren Überlieferung besorgt, verbindet er apokalyptische Bilder und die Kritik an den Umständen seiner Zeit geschickt miteinander. Das „Passional“ Zum Ende des 13. Jahrhunderts entsteht dann ein größeres Werk, das die Bestandteile von Bibelparaphrase und Legendenerzählung um- fassend zusammenführt: das „Passional“. In die- sem riesigen, über 100.000 Verse umfassenden Großwerk werden das Leben Jesu und Marias, die Legenden der Apostel und der Heiligen mit einer an den höfischen Epen geschulten Reim- und Verstechnik geschildert. Die Teile, die das 24 Akademie Aktuell 03-2017
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