Akademische Weiterbildung für Polizeibeamt*innen - Das "Bochumer Modell" - MAKrim

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AKADEMISCHE WEITERBILDUNG FÜR POLIZEIBEAMT*INNEN – DAS «BOCHUMER MODELL»

Akademische Weiterbildung für Polizei-
beamt*innen – Das «Bochumer Modell»

                                                                                               Thomas Feltes *                 Astrid Klukkert **

Zusammenfassung
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Aus- und Fort-               relevanten kriminologischen Wissens. Eine systema-
bildung von Polizeibeamt*innen in Deutschland. Er                    tische, theorieorientierte Aufbereitung von Proble-
beschreibt die aufgrund des föderalen Systems un-                    men erfolgt genauso selten wie eine tiefergehende,
terschiedlichen Strukturen und kritisiert die nach au-               interdisziplinär angelegte Reflexion der Gründe und
ssen weitestgehend abgeschottete Ausbildung eben-                    Ursachen abweichenden Verhaltens, der Rolle und
so wie die sich daraus ergebenden Abhängigkeiten,                    Funktion der Polizei in der Gesellschaft, und des po-
welche zu einer in sich geschlossenen Subkultur                      lizeilichen Handelns. Diese Lücke schliesst der Bo-
führen. Die Vermittlung sogenannter Soft Skills, wie                 chumer weiterbildende Studiengang «Kriminologie,
angemessene Konfliktkommunikation, tritt dabei oft-                  Kriminalistik und Polizeiwissenschaft», der in dem
mals ebenso in den Hintergrund wie die Vermittlung                   Beitrag vorgestellt wird.

1. Polizeiausbildung in Deutschland                                  abschluss, vergleichbar mit dem Schweizer Realschul-
In Deutschland gibt es die Ausbildung für den mittle-                abschluss) zur Polizei zu gehen. Derzeit stellen wieder
ren Polizeivollzugsdienst (derzeit in 9 der 16 Bundes-               mehr Landespolizeien für die unterste Laufbahngrup-
länder), das Studium an einer Polizeifachhochschule                  pe (mittlerer Dienst) ein, mit teils sehr unterschiedli-
für den gehobenen Polizeivollzugsdienst1 sowie das                   chen Voraussetzungen. Einige Bundesländer bieten
Studium an der Deutschen Hochschule der Poli-                        zudem Absolvent*innen des sogenannten «mittleren
zei (DHPol), welches für den Zugang zum höheren
Dienst notwendig ist2. Mit der Fachhochschulaus-                     1   Zur Unterscheidung zwischen mittlerem und gehobenem Dienst
                                                                         vgl. https://www.polizei-der-beruf.de/mittlerer-dienst/ (zuletzt
bildung wurde Anfang der 1970er Jahre begonnen,
                                                                         11.05.2021).
was wesentlich mit der Einführung der sogenannten                    2   Mit Ausnahme bspw. der naturwissenschaftlichen Zweige in
«zweigeteilten Laufbahn» in mehreren Bundesländern                       kriminaltechnischen Laboren und vereinzelt, z. B. in Ermitt-
                                                                         lungsabteilungen Wirtschaftskriminalität oder Extremismus/
zusammenhing, die aus beamten- und besoldungs-                           Terrorismus der Landeskriminalämter, in welchen Sozial-,
rechtlichen Gründen einen Fachhochschulabschluss                         Islamwissenschaftler*innen oder Wirtschaftsprüfer*innen in-
                                                                         zwischen durchgängig Standard sind. Die Voraussetzungen und
für den Zugang zur Polizei erforderte. Bis dahin war es                  Auswahlverfahren der Länder unterscheiden sich hierbei nicht
                                                                         unerheblich. Jurist*innen mit zweitem Staatsexamen haben
üblich, nach acht oder neun Schuljahren (Hauptschul-                     grundsätzlich die Möglichkeit des Direkteinstiegs in den höhe-
                                                                         ren Dienst. Sie müssen dazu aber eine halbjährige «Einweisung»
                                                                         ohne Prüfung an der DHPol absolvieren. Alle Bundesländer stel-
*   Professor Dr. iur., M. A., Inhaber des Lehrstuhls für Krimino-       len inzwischen IT-, Cyber- und Wirtschaftskriminalist*innen mit
    logie und Polizeiwissenschaft an der juristischen Fakultät der       Bachelor-Abschluss direkt bei der Kriminalpolizei ein (Laufbahn-
    Ruhr-Universität Bochum (2002–2019), zuvor (1992–2002)               gruppe gehobener Dienst). Ein Ausbildungs-Direkteinstieg in den
    Rektor der Polizeihochschule Baden-Württemberg                       gehobenen Dienst ist derzeit nur in einigen wenigen Bundeslän-
** Dipl.-Krim., Dipl.-Geogr., Studiengangskoordination Master-           dern (z. B. Berlin, Bundeskriminalamt (BKA), Hamburg, Hessen,
   studiengang «Kriminologie, Kriminalistik und Polizeiwissen-           Schleswig-Holstein) möglich (Dank an Holger Plank für diese
   schaft», Juristische Fakultät Ruhr-Universität Bochum                 Informationen).

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AKADEMISCHE WEITERBILDUNG FÜR POLIZEIBEAMT*INNEN – DAS «BOCHUMER MODELL»

           Bildungsabschlusses» (Realschule bzw. zehn Schul-         dung bei ständig wachsenden Anforderungen im
           jahre, vergleichbar mit der Schweizer Sekundarschule)     Polizeidienst zu wahren. Die Unterschiedlichkeit
           die Möglichkeit, über eine vorgeschaltete «Fachober-      der Einrichtungen und der Ausbildungsinhalte in den
           schule Polizei» in zwei Jahren die Voraussetzungen für    16 Bundesländern, bei der Bundespolizei und beim
           ein Fachhochschul (FH) -Studium zu erwerben.              Bundeskriminalamt (BKA) kann ebenso wie die sehr
              Nach einer ersten Orientierungsphase begann            unterschiedliche Dozierendenstruktur an dieser Stel-
           man Mitte der 1990er Jahre, den Hochschulcha-             le nicht beschrieben werden.9 Eine Kontinuität so-
           rakter der Polizeifachhochschulen und ihren be-           wohl in der Lehre als auch in der angewandten For-
           sonderen Stellenwert zu erkennen.3 Studieninhalte,        schung und eine Weiterentwicklung der Lehrinhalte
           Studienabläufe und Strukturen wurden im Laufe der         wird oftmals durch einen hohen Anteil an (Teilzeit-)
           Zeit immer wieder angepasst und verändert, zuletzt        Lehrbeauftragten erschwert. Die ständige Anpassung
           wesentlich durch die Umstellung auf die Bachelor-         der Lehrinhalte und der Ausbildungsschwerpunkte
           Struktur im Rahmen des Bologna-Prozesses zu Be-           an die veränderten Anforderungen an den Polizei-
                                       ginn der 2000er Jahre.4       dienst und an neue Polizeistrukturen sollten ebenso
 Innerhalb relativ kurzer Zeit Dabei blieb das Grund-                wie die Stärkung der Eigenverantwortlichkeit, Kre-
   (vier Hochschul- und zwei problem bestehen: Inner-                ativität und Selbstständigkeit der Studierenden eine
Praxissemester) soll ein Bündel halb relativ kurzer Zeit             wichtige Rolle spielen. Tatsächlich aber hat sich in
unterschiedlichster praktischer (vier Hochschul- und zwei            den vergangenen 10–15 Jahren das Studium an den
 Fähigkeiten und theoretischer Praxissemester)5 soll ein             Fachhochschulen immer mehr weg von einem Stu-

    Kenntnisse vermittelt und Bündel unterschiedlichs-               dium und hin zu einer Ausbildung entwickelt, bei
                                       ter praktischer Fähigkeiten   der die eher schulische Wissensvermittlung vor dem
           angeeignet werden.
                                       und theoretischer Kennt-      eigenständigen Denken und einer wissenschaftlich
           nisse vermittelt und angeeignet werden. Fraglich ist      fundierten Professionalisierung steht. So hat auch
           auch, ob dieses Studium den komplexen Anforde-            eine Integration des Praktikums unter Verantwor-
           rungen in Einsatzsituationen gerecht werden kann, in      tung der Hochschulen, wie es hochschulrechtlich
           denen innerhalb von Sekundenbruchteilen Entschei-         notwendig wäre, kaum stattgefunden.
           dungen getroffen werden müssen, die auch über Le-
           ben und Tod entscheiden. Menschen(rechts)bildung          3   Feltes T. (1999). Qualitätssicherung in der Polizeiausbildung:
           und die für den Polizeidienst ebenfalls notwendige            Brauchen wir eigenständige Polizeihochschulen? In: Die Polizei,
                                                                         90, 7/8, S. 207–212; ders. (1994): Die Fachhochschulausbildung
           Empathie können, ebenso wie angemessene kom-                  der Polizei auf dem Prüfstand – Reformansätze und neue Modelle.
                                                                         In: Kriminalistik 11, S. 756–760.
           munikative Fähigkeiten zur Konfliktbearbeitung,
                                                                     4   Vgl. beispielhaft Nordrhein-Westfalen https://www.hspv.nrw.de/
           nicht im Hörsaal und auch kaum im Praktikum                   studium/bachelorstudiengaenge/pvd (zuletzt 11.05.2021).
           vermittelt werden. Die Unterscheidung zwischen            5   Das Studium gliedert sich bspw. in Baden-Württemberg in das
                                                                         Grundpraktikum (1. Semester), das Grundstudium (2.+3. Semes-
           «schnellem und langsamem Denken» (Kahnemann)                  ter), das Hauptpraktikum (4. Semester) sowie das Hauptstudium
           und die sich daraus ergebenden Konsequenzen wer-              (5.+6. Semester).
                                                                     6   Feltes T., Jordan L. (2017). Schnelles und langsames Denken im
           den vielen Polizeibeamt*innen erst im Laufe ihrer             Polizeiberuf. Ein Beitrag zu Risiken und Nebenwirkungen poli-
           Tätigkeit bewusst.6 Hinzu kommt die Diskussion, ob            zeilicher Sozialisation. In: «Handbuch Polizeimanagement», hrsg.
                                                                         von J. Stierle, D. Wehe und H. Siller. Springer-Verlag Heidelberg,
           «Polizist*in-Sein» ein «Erfahrungsberuf» ist, den man         S. 255–276.
           eigentlich nicht an einer Hochschule erlernen kann,       7   Feltes T., Punch M. (2005). Good People, Dirty Work? Wie die
                                                                         Polizei die Wissenschaft und Wissenschaftler die Polizei erleben.
           sondern nur in der Praxis.7
                                                                         In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 88, 1,
              Zu spät wurde auch erkannt, dass jegliche Po-              S. 26–45. Feltes T. (2007). Polizeiwissenschaft in Deutschland.
                                                                         Überlegungen zum Profil einer neuen Wissenschaftsdisziplin. In:
           lizeireform bei der Ausbildung ansetzen muss und              Polizei & Wissenschaft 4, S. 2–21. Feltes T. (2002). Scientia Ante
           nicht die Ausbildung anschliessend an eine Struktur-          Portas. Flüchten oder Standhalten? Zur Perspektive einer Polizei-
                                                                         wissenschaft in Deutschland. In: Die Polizei, 93, 9, S. 245–250.
           reform angepasst werden kann.8 Eine der grössten
                                                                     8   Feltes T. (1997). Eine Reform der Polizei beginnt mit einer Re-
           Herausforderungen der Polizeihochschulen ist es,              form der Ausbildung – Anmerkungen zu den zukünftigen Anfor-
                                                                         derungen an die Polizei und den sich daraus ergebenden Anforde-
           den über die Jahre hinweg kontinuierlichen Anstieg            rungen an die Ausbildung. In: Die Polizei 88, 4, S. 115–119.
           von Studierenden auch strukturell zu verkraften und       9   Vgl. dazu für die 1990er Jahre Feltes T., Huser D. Die Ausbil-
                                                                         dung für den gehobenen Polizeivollzugsdienst an den Fachhoch-
           gleichzeitig den vorhandenen und in den letzten
                                                                         schulen des Bundes und der Länder – Ergebnisse einer bundeswei-
           Jahren entwickelten Qualitätsstandard der Ausbil-             ten Umfrage. In: Die Polizei 1994, S. 233–243.

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AKADEMISCHE WEITERBILDUNG FÜR POLIZEIBEAMT*INNEN – DAS «BOCHUMER MODELL»

    In einem Positionspapier zur Weiterentwicklung       stunden für die Dozierenden nur schwer umsetzbar
der Fachhochschule der Polizei Baden-Württem-            ist. So veranstaltet der «Arbeitskreis Empirische Poli-
berg10 hatte Thomas Feltes 1993 deutlich gemacht,        zeiforschung», der wesentlich von Dozierenden der
dass die Fachhochschulausbildung der Polizei             Polizeifachhochschulen getragen wird, regelmässige
grundlegend reformiert werden muss, um mit der           Tagungen und hat eine eigene Veröffentlichungsrei-
gesellschaftlichen Entwicklung mitzuhalten. Die          he für (auch) empirische Studien.13
Lehre war und ist weitestgehend noch heute cha-              Im Verlauf der vergangenen 30 Jahre gab es ver-
rakterisiert durch eine starke Verschulung und kaum      schiedene Ansätze und Untersuchungen zur Neu-
Differenzierungsmöglichkeiten im Laufe des Studi-        strukturierung der Polizei14 und zu den Anforderun-
ums. Es existieren wenig wissenschaftliche Ansätze       gen an den Beruf des*der Polizist*in.15 Auf dem Weg
im Sinne einer vertieften Beschäftigung mit einem        zu einer bürgerorientierten, gemeindenahen Polizei-
bestimmten Thema und der Entwicklung von Eigen-          arbeit spielt die Reform der polizeilichen Ausbildung
initiative. Geblockte Leistungsnachweise, die das        eine wichtige Rolle, ebenso wie für die Frage, wie
Schwergewicht auf Wissen und weniger auf Anwen-          demokratisch vorbereitet Polizeibeamt*innen ihren
dung, Reflektion und eigenständiges Denken legen,        Dienst aufnehmen.16 Die Be-
verstärkten diese Tendenz.                               deutung des Berufsverständnis- [I]m Bereich der (anwendungsbe-
    Auch die in den 1990er Jahren geforderte Öff-        ses der Polizei für die Zufrieden- zogenen) Forschung [...] werden
nung der Fachhochschulen nach aussen ist nicht           heit der Polizeibeamt*innen, inzwischen an allen Fachhochschu-
realisiert worden, sondern eher das Gegenteil: Die       für deren Alltagshandeln und
                                                                                             len der Polizei empirische Projekte
polizeilichen Einrichtungen wurden zunehmend             damit für das Sicherheitsge-
                                                                                             ebenso wie theoriebezogene Studien
verselbstständigt und teilweise auch zu «Akademi-        fühl der Bürger*innen wird
en» (wie in Niedersachsen und Hamburg) erklärt,          allerdings noch immer unter-
                                                                                             vorangetrieben.
eine Kooperation mit Universitäten oder anderen          schätzt, ebenso wie der Zusammenhang zwischen
Fachhochschulen findet kaum statt. Ebenso wenig          Ausbildung und Führungsstrukturen in der Polizei.
gab es eine Stärkung der Eigenständigkeit der Fach-      Zu einer guten Ausbildung passt nur ein demokra-
hochschulen oder eine Öffnung für weitere Studi-         tisches, kooperatives System, das auf Selbstständig-
engänge und externe Studierende, wie sie für den         keit ausgelegt ist. Gut ausgebildete Beamt*innen,
Bereich der allgemeinen öffentlichen Verwaltung          die ihre Fähigkeiten nach der Ausbildung aufgrund
ansatzweise praktiziert wurde. Dies gilt auch und
besonders für die Deutsche Hochschule der Polizei
                                                         10 Verfügbar unter https://www.thomasfeltes.de/images/Positionspa-
(DHPol) in Münster, die nach wie vor nur über einen         pier_Feltes_zur_Weiterentwicklung_der_FH_Pol_BW_1993_txt.
Fachbereich (Polizei) verfügt, was hochschulrecht-          pdf (zuletzt 11.05.2021).

lich eigentlich unzulässig ist.11 Der deutsche Wissen-   11 https://www.dhpol.de/ (zuletzt 11.05.2021).
                                                         12 https://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/2843-13.html
schaftsrat betrachtete in einem Gutachten 2013 das          (zuletzt 16.05.2021).
Promotionsrecht der DHPol kritisch und kam zu der        13 https://empirische-polizeiforschung.de (zuletzt 11.05.2021).
Überzeugung, «dass die strukturellen Voraussetzun-       14 So z. B. durch die Firma Mummert und Partner 1995 in Baden-Würt-
                                                            temberg, https://www.archivportal-d.de/item/74G6Q3UZK6EZFV
gen für die Vergabe von vier unterschiedlichen Dok-         FYYBWLOHEIFEKWGQ23 (zuletzt 15.05.2021); s. dazu den Eva-
torgraden an der DHPol derzeit nicht vorliegen»12.          luationsbericht zur Polizeireform in Baden-Württemberg von 2017,
                                                            verfügbar hier: https://www.petrahaeffner.de/aktuelles/aktuelles-de-
   Auch wurden Strukturveränderungen durch Pri-             tail/gruene-zu-evaluation-polizeireform.html (zuletzt 16.05.2021).
                                                            s. a. Diederichs O. (1997). Berliner Polizeireformen - Organi-
vatisierungsbestrebungen im Bereich der öffentli-
                                                            sationsveränderungen durch Unternehmensberatung. In: CILIP,
chen Sicherheit ebenso wenig aufgegriffen wie eine          Bürgerrechte und Polizei, Heft 56, 1, https://archiv.cilip.de/alt/
                                                            ausgabe/56/mummert.htm (zuletzt 16.05.2021).
Europäisierung des Studiums und der Ausbau der
                                                         15 Z. B. das sogenannte «Saarbrücker Gutachten», verfügbar hier: http://
Fortbildungsangebote.                                       www.felix-verlag.de/index.php/11-diverses/67-saarbruecker-gutach-
                                                            ten-das-berufsbild-des-polizeivollzugsbeamten (zuletzt 11.05.2021)
    Etwas positiver ist die Entwicklung im Bereich der
                                                            oder für den Bereich der Kriminalpolizei: Schulz, A. (2018). Aufgaben
(anwendungsbezogenen) Forschung zu sehen. Hier              und Tätigkeiten von Kriminalist*innen in Deutschland: Eine empiri-
                                                            sche Bestandsaufnahme und Bewertung, Holzkirchen.
werden inzwischen an allen Fachhochschulen der
                                                         16 Zu Rassismus und Rechtsextremismus in der Polizei vgl. die Beiträge
Polizei empirische Projekte ebenso wie theoriebe-           bei Feltes T., Plank H. (Hrsg.) (2021). Rassismus, Rechtsextremis-
                                                            mus, Polizeigewalt. Beiträge für und über eine rechtschaffen(d)e, demo-
zogene Studien vorangetrieben, auch wenn dies bei
                                                            kratische Bürgerpolizei. Band 14 der Reihe «Polizieren. Polizei, Wissen-
einer wöchentlichen Belastung von 18 Vorlesungs-            schaft und Gesellschaft», Frankfurt, Verlag für Polizeiwissenschaft.

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AKADEMISCHE WEITERBILDUNG FÜR POLIZEIBEAMT*INNEN – DAS «BOCHUMER MODELL»

              von strukturellen Problemen nicht angemessen ein-       möglich. Diese auch bei ideologisch unterschied-
              setzen können, sind schneller frustriert, resignieren   licher Interpretation und Sichtweise inzwischen
              schneller oder werden zu Zyniker*innen. Auch die        akzeptierte Auffassung bedeutet, dass es sinnvoll
              im Vergleich zu anderen Berufsgruppen hohen An-         und notwendig ist, den Blick über den Tellerrand
              teile an psychischen Erkrankungen, Alkohol-, Dro-       der eigenen Disziplin hinaus zu richten. Nur wer
              gen- und Beziehungsproblemen sowie Suiziden ma-         die Denk- und Arbeitsweise der jeweils anderen
              chen deutlich, dass dieser Beruf besonders fordernd     Profession kennt und versteht, kann im Alltag pro-
              und anspruchsvoll ist, was aber in Aus- und Fortbil-    blem- und konfliktangemessen sowie zielorientiert
              dung und auch in der Art und Weise, wie die Poli-       kommunizieren. Erst dann können verlässliche und
              zei «geführt» wird, nicht ausreichend berücksichtigt    nachhaltige Lösungen für gemeinsame Probleme ge-
              wird. So sind entsprechende Hilfsangebote (Super-       funden und Konflikte vermieden werden19. Polizeiar-
              vision, Coaching, psychosoziale Weiterbildung) rar,     beit ist nicht etwas, das am Rande der Gesellschaft,
              und wer sie annimmt, läuft Gefahr, als «Weichei»        unbeeinflusst von wissenschaftlichen Überlegun-
              verschrien zu werden.17 «Indianer kennen keinen         gen, stattfindet – im Gegenteil.
              Schmerz» – dies gilt immer noch in vielen Bereichen        Daher wird kriminologisches und sozialwissen-
              der Polizei.18                                          schaftliches Wissen fortwährend benötigt und gefor-
                                                                      dert. Bedingt durch den permanenten Wandel un-
            2. Fort- und Weiterbildung der Polizei                    serer Gesellschaft unterliegen auch abweichendes
            Kriminologische Kenntnisse werden heutzutage bei          Verhalten und Kriminalität in ihren verschiedensten
            der Polizei erwartet und benötigt. Entsprechendes         Ausprägungen der Veränderung. Ihnen effektiv zu
            Grundlagenwissen fehlt aber oftmals, auch weil in         begegnen, bedarf einer Einbindung der Kriminali-
            der Polizeiausbildung zu viele unterschiedliche In-       tätsbekämpfung in allgemeine gesellschaftliche und
                                            halte vermittelt wer-     kommunale Entwicklungen sowie eines Verbundes
  Bedingt durch den permanenten den und keine Zeit                    damit betrauter Akteur*innen aus Polizei und so-
Wandel unserer Gesellschaft unter- für eine vertiefte Be-             zialen Berufen. Aus diesen Überlegungen heraus
    liegen auch abweichendes Ver- schäftigung bleibt.                 wurde 2005 der Masterstudiengang «Kriminologie,
 halten und Kriminalität in ihren Polizeibeamt*innen                  Kriminalistik und Polizeiwissenschaft» an der Ruhr-

verschiedensten Ausprägungen der merken oftmals erst                  Universität Bochum gegründet, der im Folgenden
                                            später, wenn sie der      vorgestellt wird. Im Mittelpunkt dieses Studiums
                         Veränderung. «Praxisschock» er-              stehen der Anspruch an eine multiperspektivische
            eilt hat und sie mit der «realen» Welt konfrontiert       Wissensvermittlung der den Studiengang tragen-
            werden, dass sie mehr über Hintergründe und Ur-           den Themen sowie der interdisziplinäre Austausch
            sachen der Probleme, die sie bewältigen sollen,           zwischen den berufserfahrenen Studierenden. Or-
            wissen müssen – und auch wissen wollen. Für               ganisationales Lernen und institutioneller Wandel
            Polizeibeamt*innen gibt es vielfältige Fortbildungs-      können auch und besonders durch kriminologische
            angebote, die jedoch oftmals auf einen bestimmten         Weiterbildung erreicht werden.20
            Bereich oder aktuelle Probleme ausgerichtet sind.
            Eine systematische, theorieorientierte Aufbereitung       17 Behr R. (2009). Coaching und Supervision als Professionalisie-
            von Problemen und Erfahrungen erfolgt selten. Eine           rungsinstrument für Führungskräfte der Polizei. In: Barthel,
                                                                         Christian (Hg.): Personalentwicklung als Führungsaufgabe in der
            tiefergehende, interdisziplinär angelegte Reflexion          Polizei, Stuttgart (Richard Boorberg Verlag), S. 194–220.
            der Gründe und Ursachen abweichenden Verhal-              18 Vgl. Feltes T., Punch M. (s. Fussnote 7).
            tens, der Rolle und Funktion der Polizei in der Ge-       19 Feltes T. (2005). Kriminologie als interdisziplinäre Wissenschaft-
                                                                         spraxis – wie der Masterstudiengang «Kriminologie und Polizei-
            sellschaft und des eigenen polizeilichen Handelns            wissenschaft» an der juristischen Fakultät der Ruhr-Universität
                                                                         Bochum eine Brücke zwischen Theorie und Praxis schaffen will.
            erfolgt nicht, obwohl sich viele Praktiker*innen die
                                                                         In: Bewährungshilfe 52, 4, 2005, S. 359–369.
            Möglichkeit wünschen, berufs- und disziplinüber-          20 Vgl. Artkämper/Klukkert/Koch/Weigert (2021). Der Mas-
            greifend Praxisprobleme zu diskutieren und zu ana-           terstudiengang «Kriminologie, Kriminalistik und Polizeiwissen-
                                                                         schaft». Organisationales Lernen und institutioneller Wandel
            lysieren.                                                    durch kriminologische Weiterbildung? In: Ruch/Singelnstein
                                                                         (Hrsg.). Auf neuen Wegen – Kriminologie, Kriminalpolitik und
                Effektive Kriminalitätsbekämpfung ist nur im Ver-
                                                                         Polizeiwissenschaft aus interdisziplinärerer Perspektive, Festschrift
            bund von Polizei, Justiz, Politik und sozialen Berufen       für Thomas Feltes (S. 617–632). Berlin: Duncker & Humblot.

 52                                                                                                                        format magazine no 11
AKADEMISCHE WEITERBILDUNG FÜR POLIZEIBEAMT*INNEN – DAS «BOCHUMER MODELL»

3. Der Blended-Learning-Studiengang «Krimino-                       lichen Berufsfeldern mit einem Masterabschluss zu
logie, Kriminalistik und Polizeiwissenschaft» an                    graduieren. Das Studium vermittelt anwendungsbe-
der Ruhr-Universität Bochum21                                       zogene Ergebnisse der Wissenschaft interdisziplinär
Während in anderen Ländern vergleichbare Studien-                   fundiert und befähigt Studierende, kriminologische
gänge («Criminal Justice», «Criminology», «Police Sci-              Phänomene zu hinterfragen. Voraussetzung sind ein
ence») zum Angebot vieler renommierter Universitä-                  abgeschlossenes Hochschulstudium (mindestens
ten gehören, gab es, abgesehen von dem mit Diplom                   Bachelor of Arts (B. A.) bzw. 240 Kreditpunkte nach
abschliessenden «Aufbau- und Weiterbildungsstudi-                   dem ECTS22) sowie mindestens ein Jahr einschlägige
engang Kriminologie», der 1984 in Hamburg an den                    Berufserfahrung. Für Bewerber*innen mit weniger als
Start ging, bis zum Jahr 2005 in Deutschland keine                  240 Kreditpunkten, wie dies bei den grundständigen
Möglichkeit, Kriminologie grundständig zu studieren                 Bachelor-Studiengängen mit weniger als acht Semes-
und sich wissenschaftlich vertieft kriminologisch aus-              tern zumeist der Fall ist, besteht die Möglichkeit, sich
und fortzubilden. Der von den Autoren dieses Beitra-                weitere Leistungen anerkennen zu lassen.
ges 2005 entwickelte weiterbildende und berufsbeglei-               Eine Übersicht über Anrechnungsmöglichkeiten
tende Masterstudiengang «Kriminologie, Kriminalistik                weiterer (Fach-)Hochschulleistungen sowie ausser-
und Polizeiwissenschaft» ermöglicht jedes Jahr ca. 80               hochschulischer Leistungen verdeutlicht die folgen-
Studierenden, aus rund einem Dutzend unterschied-                   de Tabelle:

Abbildung 1: Anrechnung weiterer (Fach-)Hochschulleistungen sowie ausserschulischer Leistungen, Stand 12.05.2021 (Homepage des Master-
studiengangs «Kriminologie, Kriminalistik und Polizeiwissenschaft», Ruhr-Universität Bochum)

   Seit Beginn des (kostenpflichtigen) Studienange-                 der Studieninhalte im Bochumer Studienangebot.
botes konnten rund 700 Teilnehmende den Studien-                    Die interdisziplinäre Zusammensetzung der rund
gang erfolgreich abschliessen.                                      20 Lehrenden, die alle über langjährige Erfahrung in
   Kriminalität als komplexes gesellschaftliches Phä-
nomen erfordert ebenso komplexe wie fachüber-
                                                                    21 Eine ausführliche Darstellung der Akkreditierung und der Geschich-
greifende Ansätze zur Analyse und Strategieentwick-                    te des Bochumer Studiengangs findet sich bei Feltes T. (2005).
                                                                       Kriminologie als interdisziplinäre Wissenschaftspraxis – wie der
lung. Die kriminologische Forschung konzentriert
                                                                       Masterstudiengang «Kriminologie und Polizeiwissenschaft» an der
sich zunehmend auf die strukturelle Vernetzung                         juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum eine Brücke zwi-
                                                                       schen Theorie und Praxis schaffen will. In: Bewährungshilfe 52, 4,
von präventiven und repressiven Tätigkeiten und                        2005, S. 359–369 sowie Feltes/Fischer/Sapelza (2013). Die Bo-
auf die räumliche Verankerung dieser Massnahmen                        chumer Masterstudiengänge «Kriminologie und Polizeiwissenschaft»
                                                                       & «Criminal Justice, Governance and Police Science. In: MSchrKrim
und geht wesentlich von interdisziplinären Ansätzen                    2013 «Zur Lage der Kriminologie in Deutschland», S. 252–261.
aus. Dementsprechend liegt hier ein Schwerpunkt                     22 European Credit Transfer and Accumulation System.

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AKADEMISCHE WEITERBILDUNG FÜR POLIZEIBEAMT*INNEN – DAS «BOCHUMER MODELL»

         Theorie und Praxis verfügen, verdeutlicht diesen An-                 Ausgangspositionen und in der Diskussion fächer-
         satz, der eine nicht unerhebliche Herausforderung                    übergreifender Lösungsansätze.
         für die Studierenden darstellt. Aufgrund der Interdis-                  Das Bochumer Studium besteht aus neun Mo-
         ziplinarität der einzelnen Studienjahrgänge23 zeigen                 dulen24, in denen zusammen mit der Masterarbeit
         sich erhebliche Synergieeffekte durch Kooperation                    60 Kreditpunkte erworben werden. Dies entspricht
         und Kommunikation im Rahmen des Studiums, vor                        einem sogenannten «Workload» von 1500 Stunden.
         allem in besserem Verständnis der unterschiedlichen                  Die Module verteilen sich auf insgesamt 18 Monate;

         Abbildung 2: Studienverlaufsplan des Masterstudiengangs «Kriminologie, Kriminalistik und Polizeiwissenschaft» (Ruhr-Universität Bochum,
         Stand 11.05.2021)

         anschliessend wird innerhalb von sechs Monaten                       können seit einigen Jahren auch Absolvent*innen des
         die Masterarbeit gefertigt (s. Studienverlaufsplan).                 Masterstudiums dort promovieren.
             2016 wurde der Studiengang um den Bereich                           Das im Masterstudiengang vermittelte Wissen
         Kriminalistik erweitert, nachdem immer wieder                        soll dazu befähigen, die eigene Institution sowie
         Vertreter*innen aus Polizei- und Justizpraxis den                    die persönliche Tätigkeit in dieser konstruktiv-
         Wunsch geäussert hatten, einen weiterbildenden                       kritisch zu hinterfragen, um entsprechende struk-
         Studiengang in Kriminalistik anzubieten, da die drin-                turelle Schwachstellen erkennen, diese aufzeigen
         gend notwendige wissenschaftliche Fortbildung von                    und an einer lösungsorientierten und nachhalti-
         Kriminalist*innen in Polizei, Justiz und auch privaten
         Sicherheitsdiensten nicht gewährleistet sei. Die Anpas-              23 Von den im Jahr 2021 graduierten Studierenden hatten 58 % einen
                                                                                 ersten Abschuss in Verwaltungswissenschaften (hauptsächlich Po-
         sung erfolgte mit der Reakkreditierung25 im Jahr 2018.                  lizei), 20 % in Sozialer Arbeit / Sozialpädagogik, 5 % in Rechtswis-
         Somit besteht seit Einstellung des Kriminalistik-Studi-                 senschaften und 17 % in den Bereichen Strafvollzug, Psychologie,
                                                                                 Soziologie, Lehramt, IT, Medizin oder anderes.
         engangs an der Humboldt-Universität Berlin Anfang
                                                                              24 Eine ausführliche Modulübersicht findet sich auf der Website des
         der 1990er Jahre erstmals in Deutschland wieder die                     Studiengangs https://www.makrim.de/ (zuletzt 11.05.2021).
         Möglichkeit, kriminalistische Inhalte an einer Univer-               25 Studiengänge müssen in Deutschland nach einer ersten Akkredi-
                                                                                 tierung in mehrjährigen Abständen reakkreditiert werden. Dabei
         sität und unter wissenschaftlicher Anleitung zu studie-                 werden durch eine beauftragte Akkreditierungsagentur die Eig-
                                                                                 nung des Studiengangs für die betreffende Zielgruppe, der Bedarf
         ren. Aufgrund einer Änderung der Promotionsordnung
                                                                                 für dieses Angebot, die konzeptionelle Umsetzung sowie die Wei-
         der juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum                   terentwicklung des Studiengangs überprüft.

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AKADEMISCHE WEITERBILDUNG FÜR POLIZEIBEAMT*INNEN – DAS «BOCHUMER MODELL»

gen Weiterentwicklung mitwirken zu können. Als           selbst Polizeibeamt*innen, die ansonsten eher kos-
Multiplikator*innen in systemrelevante Institutionen     tenlose dienstliche Aus- und Fortbildungsangebote
sollen die Studierenden zur Etablierung einer kritisch   gewohnt sind, anfallende Studiengebühren nicht
reflektierenden Fehlerkultur in der Polizei beitragen.   scheuen. Hinzu kommt eine intensive Betreuung
   Der Nutzen und die erworbenen Kompeten-               und Beratung durch die am Lehrstuhl für Krimino-
zen werden von dem überwiegenden Teil der Ab-            logie angesiedelte Verwaltung des Studiengangs.
solvierenden bei den regelmässig durchgeführten          Dieser obliegt die Abwicklung des Auswahlverfah-
Evaluationen des Studiengangs positiv bewertet.          rens ebenso wie die Organisation der Online- und,
So gaben rund 87 % der Absolvent*innen an, dass          sofern möglich, Präsenzveranstaltungen, der stu-
diese erworbenen Kompetenzen im Rahmen ihrer             dienbegleitenden      Prüfungen
Berufstätigkeit anwendbar seien. 84 % bewerteten         (zuletzt auch online) und der Durch das Distance-Learning-
die Befähigung zur fachübergreifenden Verknüpfung        Masterarbeit,     einschliesslich Angebot können breitere Interes-
von Kenntnissen, Fähigkeiten und berufspraktischen       der prüfungsrechtlichen As- sengruppen erreicht werden als bei
Fertigkeiten als sehr gut bzw. gut und ebenfalls 84 %    pekte. Die Mitarbeitenden einem reinen Präsenzstudiengang.
fühlen sich sehr gut oder gut zur Reflexion auf wis-     kümmern sich auch um in-
senschaftlicher Ebene befähigt. In einer Befragung       dividuelle Lösungen, wenn für Studierende auf-
der ersten zehn graduierten Jahrgänge gaben 96 %         grund von beruflichen oder persönlichen Pro-
an, dass der Masterabschluss eine positive Verän-        blemen die Gefahr besteht, das Studium nicht
derung hinsichtlich ihres beruflichen Tätigkeitsbe-      fortsetzen zu können. Dadurch sind die Drop-Out-
reichs bewirkte. Bei 81 % der Graduierten kam es         Raten für einen Fernstudiengang relativ niedrig.
zu einem Zuwachs strategischer Aufgaben und bei
knapp zwei Dritteln zu einem Zuwachs an Perso-           5. Zusammenfassung und Ausblick
nal- oder sonstiger Verantwortung. Bezogen auf das       Eine gute Aus- und Fortbildung von Polizei-
konkrete Tätigkeitsfeld konnte knapp ein Drittel der     beamt*innen ist die wesentliche Grundlage für eine
Studierenden einen Jobwechsel vollziehen und etwa        bürgernahe, demokratische Polizei, die sich als Men-
einem weiteren Viertel wurden durch den Dienst-          schenrechtsorganisation versteht. Der Schutz indivi-
herrn neue Aufgabenbereiche wie bspw. die oben           dueller Rechte ist aber unter den immer komplexer
genannten zugeteilt. Ferner erhielten zahlreiche         werdenden Bedingungen unserer ausdifferenzierten,
Absolvent*innen Zugang zu Dozierendentätigkeiten         multikulturellen und offenen Gesellschaft nur mög-
zumindest im Nebenamt, womit ihnen eine zentra-          lich, wenn zu der optimalen Aus- und Fortbildung
le Rolle in der Ausbildung des in die betreffenden       eine Führungsstruktur kommt, die bereit ist, Verant-
Institutionen eintretenden Nachwuchses zukommt.          wortung zu übernehmen. Gesellschaftliche Verän-
Sie nehmen damit als korporative Akteur*innen eine       derungsprozesse müssen dabei ebenso einbezogen
wichtige Multiplikator*innenfunktion ein26.              werden wie eine interdisziplinäre Zusammenarbeit
                                                         praktiziert werden muss.
4. E-Learning und Prüfungen in Pandemie-Zeiten              Die jüngste Diskussion in den USA nach dem
Der Bochumer Masterstudiengang kann davon pro-           Tod von George Floyd zu «Defund the police» hat
fitieren, dass die Lehre wesentlich auf E-Learning-      gezeigt, dass die Rollenverteilung, bei der die Poli-
Elemente aufgebaut ist. Durch das Distance-Lear-         zei für praktisch alle Unordentlichkeiten des Alltags
ning-Angebot können breitere Interessengruppen           rund um die Uhr zuständig ist, hinterfragt werden
erreicht werden als bei einem reinen Präsenzstudi-       muss. Diese Überforderung der Polizei spielt auch
engang. Berufserfahrene Studierende haben nur sel-       bei uns eine Rolle. Alex Vitale kommentiert das Pro-
ten die Möglichkeit, Präsenzvorlesungen an Univer-       blem wie folgt:
sitäten zu besuchen, was vor allem auf diejenigen           «We are told that the police are the bringers of justice. They
zutrifft, die in verantwortungsvolleren Positionen       are here to help maintain social order so that no one should be
tätig sind. Die freie Zeiteinteilung bei gleichzeiti-    subjected to abuse. The neutral enforcement of the law sets us all
ger klarer Struktur des Studienangebotes und ei-         free. This understanding of policing, however, is largely mythical.
nem planbaren Abschluss ist für die Studierenden
ein wesentlicher Aspekt, der auch dazu führt, dass       26 Vgl. Artkämper/Klukkert/Koch/Weigert (s. Fussnote 20).

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AKADEMISCHE WEITERBILDUNG FÜR POLIZEIBEAMT*INNEN – DAS «BOCHUMER MODELL»

         American police function, despite whatever good intentions they        den oder Diversitäts-Trainings zu drehen, sondern
         have, as a tool for managing deeply entrenched inequalities in a       grundlegend in Frage gestellt werden muss, wie sich
         way that systematically produces injustices for the poor, socially     die Polizei in den vergangenen 40 Jahren entwickelt
         marginal, and non-white».27                                            hat, kann Ausgangspunkt einer echten strukturopti-
            Man wird die Frage stellen müssen, ob die Polizei                   mierenden Diskussion sein.
         mehr damit beschäftigt ist, sich selbst und den Status
         quo zu beschützen, als die grundlegenden Proble-
         me zu benennen, geschweige denn anzugehen. Die                         27 Vitale Alex S. The End of Policing. Verso-Verlag London/Brook-
                                                                                   lyn, 2017, S. 28. S. dazu die Besprechung von Thomas Feltes im «Po-
         These von Vitale, dass es nicht ausreicht, an Stell-
                                                                                   lizei-Newsletter»: https://polizei-newsletter.de/wordpress/?p=1644
         schrauben wie Polizeiausbildung, Einsatzmetho-                            (zuletzt 15.05.2021).

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         diengang «Kriminologie, Kriminalistik und Polizeiwissenschaft».        Polizeiberuf. Ein Beitrag zu Risiken und Nebenwirkungen polizei-
         Organisationales Lernen und institutioneller Wandel durch krimi-       licher Sozialisation. In: «Handbuch Polizeimanagement», hrsg. von
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         S. 207–212; ders. (1994): Die Fachhochschulausbildung der Polizei
         auf dem Prüfstand – Reformansätze und neue Modelle. In: Krimina-       Internet
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         Feltes T. (2002). Scientia Ante Portas. Flüchten oder Standhalten?     11.05.2021).
         Zur Perspektive einer Polizeiwissenschaft in Deutschland. In: Die      Empirische Polizeiforschung (https://empirische-polizeiforschung.de,
         Polizei, 93, 9, S. 245–250.                                            11.05.2021).
         Feltes T. (2005). Kriminologie als interdisziplinäre Wissenschaft-     Polizei Baden-Württemberg. Unterscheidung zwischen mittlerem
         spraxis – wie der Masterstudiengang «Kriminologie und Polizeiwis-      und gehobenem Dienst (https://www.polizei-der-beruf.de/mittlerer-
         senschaft» an der juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum    dienst/, 11.05.2021).
         eine Brücke zwischen Theorie und Praxis schaffen will.                 Studieren an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung
         In: Bewährungshilfe 52, 4, 2005, S. 359–369.                           Nordrhein-Westfalen (https://www.hspv.nrw.de/studium/bachelor-
         Feltes T. (2007). Polizeiwissenschaft in Deutschland. Überlegungen     studiengaenge/pvd, 11.05.2021).
         zum Profil einer neuen Wissenschaftsdisziplin. In: Polizei & Wissen-   Wissenschaftsrat. Stellungnahme zur Akkreditierung der Deutschen
         schaft 4, S. 2–21.                                                     Hochschule der Polizei, Münster (Drs. 2843-13), Januar 2013
         Feltes/Fischer/Sapelza (2013). Die Bochumer Masterstudien-             (https://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/2843-13.html
         gänge «Kriminologie und Polizeiwissenschaft» & «Criminal Justice,      (zuletzt 16.05.2021).
         Governance and Police Science. In: MSchrKrim 2013 «Zur Lage der
         Kriminologie in Deutschland», S. 252–261.
         Feltes T., Huser D. Die Ausbildung für den gehobenen Polizeivoll-
         zugsdienst an den Fachhochschulen des Bundes und der Länder –
         Ergebnisse einer bundesweiten Umfrage. In: Die Polizei 1994,
         S. 233–243.

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Résumé
Formation continue académique destinée aux                de connaissances en matière de criminologie. Une
policières et policiers : le « modèle de Bochum »         résolution systématique et théorique des problèmes
Cet article aborde la formation de base et continue       est tout aussi rare qu’une réflexion approfondie et
des policières et policiers en Allemagne. Il décrit les   interdisciplinaire sur les causes des comportements
différentes structures induites par le système fédé-      inappropriés, sur le rôle et la fonction de la police
ral et porte un regard critique sur la formation, qui     dans la société, ainsi que sur l’action de la police.
est largement coupée du monde extérieur, ainsi que        L’université de Bochum entend combler ces lacunes
sur les dépendances qui en résultent, entraînant la       en proposant le cursus de formation continue « Cri-
création d’une sous-culture fermée. L’enseignement        minologie, criminalistique et sciences policières »
des soft skills, comme la capacité à communiquer          («Kriminologie, Kriminalistik und Polizeiwissen-
de manière appropriée en cas de conflit, passe sou-       schaft»), qui est présenté dans cet article.
vent au second plan, tout comme la transmission

Riassunto
Formazione continua accademica per agenti di              la trasmissione delle rilevanti conoscenze crimino-
polizia – Il «modello di Bochum»                          logiche. Raramente si procede ad affrontare i pro-
Questo articolo tratta della formazione e della for-      blemi in maniera sistematica e orientata alla teoria.
mazione continua degli agenti di polizia in Ger-          Allo stesso modo, è spesso assente una riflessione
mania. Al suo interno si descrivono varie strutture,      approfondita e interdisciplinare sulle cause dei com-
diverse tra loro nel contesto del sistema federale, e     portamenti inappropriati, sul ruolo e sulla funzione
si delinea una critica della formazione, sempre più       della polizia nella società e sull’operato della polizia.
isolata rispetto all’esterno, nonché delle relazioni di   Per colmare queste lacune, l’Università di Bochum
dipendenza che ne derivano e che portano a una            propone il corso di studi di formazione continua
subcultura di chiusura. Anche la trasmissione del-        «Kriminologie, Kriminalistik und Polizeiwissenschaft»
le cosiddette soft skills, ad esempio la capacità di      (Criminologia, criminalistica e scienze di polizia)
comunicare in modo adeguato in caso di conflitti,         presentato in questo articolo.
spesso viene lasciata in secondo piano, così come

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