Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik - Was Deutschland für Sicherheit, Verteidigung und Frieden tun muss - DGAP ...
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Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik BERICHT Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik Was Deutschland für Sicherheit, Verteidigung und Frieden tun muss Dr. Claudia Major Dr. Christian Mölling Forschungsgruppenleiterin Forschungsdirektor und Leiter des Sicherheitspolitik, Stiftung Programms Sicherheit und Vertei- Wissenschaft und Politik (SWP) digung, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) Dr. Constanze Stelzenmüller Fritz Stern Chair on Germany and transatlantic relations am Center on the United States and Europe, Brookings Institution
28 September 2021 Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik BERICHT Für das offene und global vernetzte Deutschland hängen • Neue Waffentechnologien (z.B. Hyperschallraketen, die Sicherheit der Welt und die der europäischen Nach- KI, autonome Systeme, weltraumgestützte Systeme, barschaft untrennbar mit der eigenen zusammen. Insbe- biotechnologische Materialien), teils in Kombination sondere nach dem Fall der Mauer 1989 haben unter dem mit „alten“ aber modernisierten Waffensystemen wie Schirm der Vereinten Nationen gewachsene normative Nuklearwaffen; Ordnungen den Wohlstand, die Sicherheit und das An- • Informations-Operationen (Propaganda, Desinforma- sehen des vereinigten Deutschlands gemehrt, allen vor- tion) mit Hilfe neuer Medientechnologien an die Europäische Union und das von der Sicherheitsga- rantie der USA getragene westliche Bündnis. Kein Land in Kriege, Krisen und interne Konflikte finden nicht nur an Europa hat so von der Erweiterung der EU und der Einfüh- Europas Grenzen statt (Israel-Palästina, Syrien, Arme- rung des Euros profitiert wie Deutschland. Die Energie- nien, Nordafrika), sondern in Europa selbst: von Belarus partnerschaft mit Russland und die Handelspartnerschaft über die Ukraine und den Balkan bis in das östliche Mittel- mit China haben dazu beigetragen, Deutschland zum wirt- meer. Ihre Auswirkungen beeinträchtigen Europa auf viel- schaftlichen Motor Europas zu machen. Die Erweiterung fältige Weise: über Lücken in den Wertschöpfungsketten der NATO schließlich machte die ehemaligen deutschen oder Fracht- und Gastransitrouten, über Migrations- und Frontstaaten zum geografischen Mittelpunkt des europäi- Fluchtbewegungen und über Versuche, Diaspora-Popula- schen Bündnisgebiets. tionen politisch zu instrumentalisieren. Oft stehen hinter lokalen Konfliktparteien Drittmächte wie China, Russland, In Deutschland wurde diese Entwicklung doppelt falsch der Iran, die Türkei oder Saudi-Arabien. So wird die euro- gelesen, wie der Diplomat Thomas Bagger angemerkt hat: päische Nachbarschaft zunehmend zum Schauplatz einer als Beleg für eine globale Konvergenz in Richtung des west- Konkurrenz von Groß- und Regionalmächten, deren Sog lichen Modells und als Beweis dafür, dass sich die deutsche sich Europa und Deutschland kaum entziehen können. Dies Erfahrung einer friedlichen Beilegung des Kalten Krieges trifft insbesondere zu, wenn Alliierte in diesen Konflikten verallgemeinern lässt. Aus diesen Missverständnissen zo- beteiligt sind, etwa die Türkei. gen viele Deutsche den Fehlschluss, dass sie in einem ange- messenen und stabilen Status quo leben, der den Einstieg in AUSTRAGUNGSORT DES eine umfassende Abrüstung erlaube. Die Schattenseite der SYSTEMWETTBEWERBS wirtschaftlichen Verflechtung etwa bei der Abhängigkeit vom Handel mit China wollten sie nicht sehen. Noch we- Längst ist auch Europa selbst zum Austragungsort und niger wollten sie wahrhaben, dass Partner zu Rivalen und Objekt des Systemwettbewerbs zwischen Demokratien Gegnern werden können, wie dies bei Russland spätestens und Autokratien geworden. China, Russland und die Tür- seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 der kei verfolgen unterschiedliche Ziele, aber es ist unverkenn- Fall ist. Schließlich ignorierte Deutschland viel zu lange die bar, dass alle drei Länder zunehmend als Rivalen oder gar Kritik seiner Partner an den strategischen Nebenwirkun- Gegner des Westens agieren. Dabei instrumentalisieren sie gen der deutschen Wirtschaftspolitik, etwa mit Blick auf Differenzen innerhalb der NATO oder der EU. Sie tragen bi- Vorhaben wie Nord Stream 2. An all diesen Fehleinschät- laterale Konflikte in diese Organisationen und spielen Ak- zungen krankt die deutsche Sicherheitspolitik bis heute. teure und Öffentlichkeiten innerhalb der Mitgliedstaaten gegeneinander aus. Sie unterstützen innerstaatliche Ex- EINE NEUE, GEFÄHRLICHE ÄRA tremisten und verhindern Solidarität und gemeinsames Handeln. In letzter Konsequenz steht dadurch die Zukunft Inzwischen ist offensichtlich, dass die historische Kons- des Westens, des europäischen Projekts und der Demokra- tellation, die Deutschland in der Zeit nach Ende des Kal- tie in Deutschland auf dem Spiel. ten Krieges in so einmaliger Weise schützte, an ihr Ende kommt. Mit großer Geschwindigkeit wachsen neue Gefah- Die bestehenden Sicherheitsordnungen in Europa (NATO, ren und Bedrohungen für Deutschlands Sicherheit heran, EU und OSZE) werden aber auch von den eigenen Mitglie- durch die bereits bestehende Bedrohungen wie Kriege, dern in Frage gestellt. Im Falle der OSZE sind es autokrati- Staatszerfall, Terrorismus und die Proliferation von Mas- sche Regierungen wie die in Russland, die ihre Legitimität senvernichtungswaffen in ihrer Wirkung noch verstärkt reduzieren. Die EU wird durch den Brexit und autoritäre werden: und nationalistische Regierungen wie in Ungarn und Polen geschwächt. Die NATO wiederum leidet unter amerikani- • Chinas globale Dominanzstrategie und Russlands terri- schen Ambivalenzen; wobei es auch nicht hilft, wenn ein torialer Revisionismus; französischer Präsident das Bündnis für politisch „hirntot“ • Amerikas Ambivalenz gegenüber seiner bisherigen Rol- erklärt. Aber auch Deutschlands politische Akteure tragen le als globaler Sicherheitsgarant; große Verantwortung: Sie haben es jahrzehntelang unter-
September 2021 29 BERICHT Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik lassen, die Gesellschaft über die realen Herausforderungen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufzuklären. Sie haben den deutschen Verteidigungsbeitrag in Frage ge- Empfehlungen stellt und die Bundeswehr unterfinanziert. Und trotz ihrer Angesichts der Verschlechterung der strategischen Bekenntnisse zu EU und NATO betreiben sie Projekte mit Lage muss die neue Bundesregierung die Kraft Russland und China wie Nord Stream 2, die Europa und das zu einer Erneuerung der deutschen Sicherheits- Bündnis spalten. politik finden. Ansonsten droht Deutschland der Verlust von Handlungsspielräumen und die Verein- Die unübersehbaren Fliehkräfte im Bündnis und in der EU nahmung durch strategische Herausforderer. Da- machen Deutschland zu dem Punkt, an dem die europäi- her sind drei Dinge notwendig: Gleich zu Beginn der sche Ordnung aus den Angeln gehoben werden könnte. Die Legislaturperiode sollte die neue Bundesregierung Tatsache, dass die Bundestagswahl im September und der einen sicherheitspolitischen Bewusstseinswandel damit verbundene Macht- und Generationenwechsel in mit praktischen Maßnahmen anstoßen. Dieser soll- der deutschen Politik schon im Vorfeld zum Gegenstand te zweitens in veränderten Prozessen und neue Insti- von Desinformations-und Propagandakampagnen wur- tutionen münden. In einem dritten Schritt gilt es, die den, ist ein Beleg dafür. Deutschland erlebt überdies seit bestehenden Politiken anzupassen und zu schärfen; Jahren eine massive Einflussnahme von ausländischen Ak- das gilt insbesondere für den Umgang mit hybriden teuren, vom legalen Einkauf in kommunale oder private In- Bedrohungen, Krisenprävention und Stabilisierung, frastrukturen und Innovationssysteme bis zu illegalen Cy- die nukleare Ordnung und neue Technologien. berangriffen. Hybride Bedrohungen werden aber erst seit 2020 von der deutschen Regierung als eigenständiges The- Strategische Kultur und institutionelle ma behandelt – mit Federführung im Bundesinnenminis- Reformen terium. Damit gehört Deutschland zu den Nachzüglern in EU und NATO. Die Afghanistankrise hat unterstrichen, was bereits durch die COVID-19-Pandemie seit 2020 und die WAS IST ZU TUN? Flutkatastrophe im Sommer 2021 deutlich geworden war: Der deutsche Staat ist nicht in der Lage, große Deutschland hat in den vergangenen Jahren begonnen, die Krisen bestmöglich zu antizipieren, dafür zu planen Kluft zwischen Wunschdenken und Wirklichkeit in seiner und sie zu bewältigen. Wenn sie gleichzeitig auftre- Sicherheitspolitik zu verkleinern. Bei den EU-Sanktionen ten, ist er erst recht überfordert. Abstimmungen und gegen Russland nach der völkerrechtswidrigen Annexion Entscheidungen unter den zuständigen Ministerien der Krim 2014 hat die Bundesregierung die Führung über- und Agenturen (Nachrichtendienste, Krisenstäbe) nommen. Sie hat sich auch bei der Bündnisverteidigung in gelingen nur unzureichend. Das Ressortprinzip auf der NATO und in internationalen Militäreinsätzen stärker Bundesebene und die föderalen Strukturen sowie engagiert. Der Verteidigungshaushalt ist erheblich an- fehlende Kooperation mit privaten Akteuren behin- gestiegen, von 32 Milliarden Euro 2014 auf knapp 47 Mil- dern das Handeln der Regierung und des Gesamt- liarden Euro 2021. Und dennoch bleibt der Eindruck, dass staates. (siehe auch Aktionsplan Strukturen) Deutschland vor allem auf äußeren Druck reagiert—und auch dann noch zu wenig und zu spät. 1. Strategische Kultur lebendiger gestalten In Deutschland können sich die politischen Akteu- re nur wenige Handlungsoptionen überhaupt vor- stellen, als legitim ansehen und öffentlich vertreten. Es mangelt an Vorstellungskraft, politischem Wil- len und Verantwortungs- und Risikobereitschaft, um problemangemessene Politiken zu entscheiden und die Strukturen und Prozesse so zu gestalten, dass die erforderlichen Instrumente und Ressourcen bereit- stehen. Doch wenn Probleme in den Planungen nicht berücksichtigt werden, dann stehen für ihre Bewäl- tigung auch keine angemessenen Instrumente zur Verfügung (Masken, Kommunikationsinfrastruktur oder schnelle Krisenreaktionsverbände). Dann kann die Sicherheit in diesen Situationen nicht oder nicht
30 September 2021 Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik BERICHT bestmöglich gewährleistet werden. In einer akuten Kri- 2. Einen handlungsfähigen Bundes- sensituation engt dieser vielfältige Mangel den Hand- sicherheitsrat (BSR) schaffen lungsspielraum der politischen Akteure also so stark ein, dass sie nicht angemessen agieren können. Die wichtigste institutionelle Reform ist die Neukon- zeption des Bundessicherheitsrats, der bisher fast nur Das liegt an der spezifischen gesellschaftlich-kultur- über Rüstungsexporte entscheidet, als einem zent- ellen Dimension, der so genannten strategischen ralen Koordinationsinstrument der Bundesregierung. Kultur. Sie bestimmt, welchen Grundannahmen die Si- Dies ist notwendig, um zu allen sicherheitspolitischen cherheitspolitik eines Landes folgt und gibt den Rah- Themen ressortübergreifende Abstimmungen und Ent- men dafür vor, worüber man politisch streiten und scheidungen herstellen zu können. Je nach Thema soll- entscheiden kann, und welche Handlungsoptionen un- ten auch die Bundesländer eingebunden werden, deren vorstellbar sind. In Deutschland ist dieser Rahmen der Bedeutung für die Sicherheit im nicht-militärischen Be- denkbaren Ziele und Mittel und damit der Handlungs- reich steigt. Denn die Länder und Kommunen entschei- spielraum eingeschränkter als bei unseren engsten den darüber, wer Zugang zu kritischen Infrastrukturen Partnern. Der Grund hierfür sind historisch bedingte wie Datennetzen, Wasser- und Energieversorgung oder oder parteipolitische und gesellschaftliche Normen und Häfen erhält. Weltanschauungen. Politischen Entscheidern schlägt deshalb erheblicher Widerstand entgegen, wenn sie Der neue BSR sollte sich in einen Kabinettsausschuss Politikansätze außerhalb des allgemein akzeptierten als Beratungs- und Entscheidungsgremium und ein Se- Rahmens verfolgen wollen. Solche Ansätze werden in kretariat zur Unterstützung gliedern. Im Kabinettsaus- den Planungen selten berücksichtigt. schuss würden Ministerinnen und Minister regelmäßig über strategische Themen beraten und verbindliche Deshalb ist es legitim und notwendig, dass die nächste Entscheidungen fällen. Das Sekretariat als permanen- Bundesregierung es sich zum Ziel macht, die nationa- te Unterstützungsstruktur hätte die Aufgabe, Themen le Strategiefähigkeit zu stärken, also die Fähigkeit, an- aus der Arbeit der Bundesregierung aufzugreifen und gemessene sicherheitspolitische Ziele zu definieren und dem Ausschuss vorzulegen. Es sollte aber auch selbst- die Mittel für die Umsetzung bereitzustellen. Die dafür ständig Themen auf die Agenda setzen können. Das erforderlichen Veränderungen in der strategischen Kul- Sekretariat sollte zur Hälfte mit Fachkräften aus den tur Deutschlands sind allerdings schwer zu erreichen. am BSR beteiligten Ministerien besetzt werden, zur Es braucht nicht nur die Einsicht der politischen Akteu- anderen Hälfte mit Praktikerinnen und Praktikern und re, sondern auch den Willen, diese gewünschten Ver- Fachleuten aus Wissenschaft und Privatwirtschaft. änderungen in die Öffentlichkeit zu tragen und sie an Dieses Sekretariat sollte von einer Co-Leitung aus poli- dieser Willensbildung aktiv zu beteiligen. tischen Beamten und wissenschaftlichen Experten ge- führt werden, um aus beiderlei Perspektiven beraten zu In einem föderalen Land wie Deutschland ist die Macht können. auf verschiedene Ebenen verteilt. Veränderungen der sicherheitspolitischen Problemwahrnehmung, Ziele, Der erste Schritt zum Aufbau des neuen BSR ist, einen Mittel und Lösungen sind nur möglich, wenn Regie- Koordinator oder eine Koordinatorin im Rang eines rung, Parlament, die sicherheitspolitische Community Staatssekretärs zu berufen und eine Task Force für den und die Zivilgesellschaft an diesem Wandel teilnehmen Aufbau und die kommissarische Arbeit einzurichten. können. Sonst blockieren sie ihn. Wichtige thematische Zuarbeit kann die Sicherheits- politische Kommission leisten (siehe die nächste Emp- Entscheidend für dauerhafte Veränderungen von Re- fehlung). Auf der Grundlage ihrer Vorschläge sollte der gierungshandeln sind Institutionen und Prozesse, die BSR nach ungefähr zwei Jahren eine nationale und fö- regierungsgemeinsames Handeln zur Regel machen. derale Sicherheitsstrategie vorlegen. Probleme müssen regierungsgemeinsam als solche er- kannt werden, Lösungen gemeinsam entschieden und Instrumente koordiniert eingesetzt werden. Dadurch, dass Regierung und Bürokratie ihr Handeln immer wie- der auf den verschiedenen staatlichen Ebenen, und gegenüber der Öffentlichkeit erklären, können sie auch dazu beitragen, den Rahmen der überhaupt vorstellba- ren Ziele und Mittel zu erweitern.
September 2021 31 BERICHT Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik 3. Sicherheitspolitische Kommission aus in die Bevölkerung reichen. einrichten Das Parlament könnte eine jährliche nationale Sicher- Als eine seiner ersten Handlungen sollte der BSR eine heitswoche im Bundestag abhalten. unabhängige Sicherheitspolitische Kommission ein- setzen. Diese ist zusammengesetzt aus Parlamenta- Die Bundesregierung sollte vorzugsweise während der riern, Experten, und Ministerialbeamten. Sie erarbeitet Sicherheitswoche einen jährlichen Umsetzungsbericht innerhalb eines Jahres einen Bericht zu den Risiken und zur Nationalen Sicherheitsstrategie vorlegen, eingelei- Chancen, auf die eine gesamtstaatliche Sicherheits- tet durch eine Grundsatzrede von Kanzler oder Kanzle- politik vorbereiten muss, und Empfehlungen für Poli- rin zur Sicherheitspolitik. tikinhalte, Strukturen und Instrumente. Damit liefert die Kommission wichtigen inhaltlichen Input für die na- In seiner derzeitigen Ausschussstruktur spiegelt der tionale Sicherheitsstrategie und die übrige Arbeit des Bundestag nicht die Vernetzung von Innen-, Außen-, BSR. Verteidigungs-, Wirtschaftspolitik und Entwicklungs- zusammenarbeit wider, die aber für eine strategische Die Kommission sollte danach jedes Jahr die Fortschrit- deutsche Sicherheitspolitik notwendig ist. Der Bundes- te bei der Umsetzung der Sicherheitsstrategie bewer- tag sollte einen Sicherheitspolitischen Ausschuss ein- ten. Ihre Berichte können einen Beitrag zum Aufbau richten. Dieser neue Ausschuss würde die Arbeit des einer „Community“ aus Experten, Politikern und Prak- Bundessicherheitsrats begleiten und parlamentarisch tikern in Ministerien und bei Privatakteuren leisten. kontrollieren. Diese Konstruktion gewährleistet, dass Dies wird dazu führen, dass die Regierung ihre Sicher- eine größere Handlungsfähigkeit der Exekutive nicht heitspolitik besser erklärt und eine öffentliche Debatte auf Kosten ihrer demokratischen Legitimität und der fördert, was wiederum Voraussetzung für die Weiter- Kontrollrechte der Parlamentarier geht. Dieser Aus- entwicklung der strategischen Kultur ist. schuss sollte Abgeordnete aus allen relevanten Aus- schüssen beteiligen. 4. Sicherheitspolitik demokratisieren Dies würde einen umfassenden sicherheitspolitischen Neue Lösungen und sicherheitspolitische Weiterent- Ansatz ermöglichen und verteidigungspolitische Fra- wicklung werden möglich, wenn Regierung, Parteien gen besser mit internationaler politischer Analyse und Parlament eingeübte Argumentationen und reflex- verbinden. Sicherheits- und verteidigungspolitischen artige Reaktionen überwinden und stattdessen Posi- Themen würden so mehr Gewicht und Reichweite tionen erklären und begründen müssen. Bürgerinnen erhalten. und Bürger sollten an der Entwicklung von politischen Optionen und Zukunftsvisionen teilnehmen. Eine den REFORM DER POLITIKEN Herausforderungen angemessene Sicherheitspolitik kann nur entstehen, wenn die Zivilgesellschaft sie ver- steht, akzeptiert und im besten Fall unterstützt. Das 1. Stärken der NATO und EU verzahnen gilt insbesondere für Präventionsmaßnahmen. Folgen- de Möglichkeiten bieten sich an: Die globalen und regionalen Sicherheitsinstitutionen wie die Vereinten Nationen und die Organisation für Si- Die Zivilgesellschaft sollte eingebunden werden, vor cherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bewir- allem bei der Entwicklung von Zukunftsvisionen und ken immer weniger, weil sie durch Konflikte unter den dem Erarbeiten von politischen Optionen. Ihre Erkennt- Mitgliedern blockiert werden. Deutschland sollte eine nisse und Vorschläge sollten als Input in die Arbeit der weitere Erosion dieser Institutionen nach Kräften ver- sicherheitspolitischen Kommission und die nationale hindern. Aber wirkliche Handlungsfähigkeit im Sinne Sicherheitsstrategie einfließen. Dafür könnten Regie- gestalterischer Optionen bieten zurzeit vor allem EU rung und Parlament ein sicherheits-und friedenspoliti- und NATO. sches Jahr oder Semester ausrufen. Deren Umsetzung könnten die Bundeszentrale für politische Bildung so- In Europa sind derzeit 21 Staaten gleichzeitig Mitglieder wie die Landeszentralen, politischen Stiftungen, Mi- von NATO und EU, und trotzdem nutzen sie das gemein- nisterien, Schulen, Universitäten, Medien und andere same Potenzial der beiden Institutionen nicht aus. Das Institutionen mit interaktiven und partizipativen Ver- Verhältnis zwischen EU und NATO ist von Misstrauen anstaltungen begleiten, die über die Hauptstadt hinaus und Desinteresse, bisweilen auch von Konkurrenzden- in die Länder und über die Expertengemeinschaft hin- ken geprägt. In Deutschland bekennen sich politische
32 September 2021 Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik BERICHT Akteure oft einseitig zu einer Institution und schreiben und technologischen Kristallisationspunkt erhal- ihr Bedeutungen zu, die zu den eigenen Weltanschau- ten. Die EJF sollte 50 Prozent der konventionellen ungen passen, anstatt beide Organisationen für eine Fähigkeiten bereitstellen, die für die kollektive Ver- umfassende Sicherheitspolitik zu nutzen. teidigung in Europa und das militärische Krisenma- nagement erforderlich sind. Damit wird automatisch Tatsächlich sind diese ideologischen oder kategori- auch die Handlungsfähigkeit der EU gestärkt, denn schen Rollenzuschreibungen ein Hindernis für mehr Si- die nationalen Streitkräfte stehen sowohl der EU als cherheit. Den rasant wachsenden Herausforderungen auch der NATO zur Verfügung. kann Europa nur dann erfolgreich begegnen, wenn es die unterschiedlichen Kompetenzen beider Organisa- • Zur Umsetzung der gemeinsamen Zielvorstellung tionen gemeinsam einsetzt. Dafür bedarf es der Be- sollen der NATO-Planungsprozess und die EU-Ko- reitschaft, ideologische Positionen zu überwinden. Die operationsinstrumente CARD (Coordinated Annual NATO ist die stärkste Militärallianz der Welt, wenn sich Review on Defence), PESCO (Permanent Structured die Alliierten politisch einig sind. Aber je mehr Euro- Cooperation) und EVF (Europäischer Verteidigungs- pas Sicherheit nicht nur auf klassischen militärischen fonds) beitragen. Die Grundlagen dafür sind bereits Fähigkeiten aufbaut, sondern auch den Schutz kriti- gelegt. Die Bundesregierung sollte dem techno- scher Infrastrukturen, Resilienz, Prävention, das Ma- logisch-industriellen Bereich besonderes Gewicht nagement komplexer Konflikte und die Nutzung neuer beimessen. Hier konkurrieren amerikanische und Technologien erfordert, desto mehr rücken die Hand- europäische Firmen, und Europa pocht auf größt- lungsoptionen der EU in nicht-militärischen Bereichen mögliche Autonomie. Aus militärischer Sicht kommt ins Blickfeld. Die Union besitzt einzigartige Instrumen- es für die Schlagkraft der westlichen Streitkräfte auf te in den Bereichen ziviles Krisenmanagement, Klima- technologische Überlegenheit und Interoperabili- wandel und im Technologiebereich über Regulierung, tät an. Deshalb sollten NATO-Alliierte gezielt in EU- Standardisierung und die Setzung von Entwicklungs- Projekte einbezogen werden und umgekehrt. anreizen. • Notwendige und verlässliche Partner finden sich Die Bundesregierung sollte sich nachdrücklich für aber auch außerhalb von EU und NATO. Wichtig ist einen qualitativen Sprung in der Verzahnung von EU dies vor allem für das sicherheitspolitische Enga- und NATO einsetzen. Das politische Fenster für gro- gement in Regionen wie Asien. Hier sollte die Bun- ße Veränderungen schließt sich im Sommer 2022: Bis desregierung weitere Partnersysteme schmieden, dahin wollen EU und NATO ihre strategischen Grund- etwa mit Australien. Das kann sowohl im Rahmen lagen neu definieren. Deutschland sollte sich für eine informeller Formate und Koalitionen der Willigen möglichst kohärente Analyse der Lage und Zukunft geschehen als auch in Form einer Zusammenarbeit der europäischen Sicherheit einsetzen. Dazu sollte es mit bestehenden regionalen Formaten. die 21 Staaten, die zugleich der EU und der NATO an- gehören, überzeugen, die Ergebnisse, die bis dahin bei • Institutionelle Veränderungen sollte es auch auf na- den Beratungen in der EU erzielt wurden, als gemeinsa- tionaler Ebene geben; Im Auswärtigen Amt sollten me Grundlage in den gerade beginnenden Prozess bei die getrennten Strukturen für EU und NATO durch der NATO einzubringen. Auch das Vereinigte Königreich eine Abteilung Euro-Atlantische Sicherheit ersetzt dürfte dieses Kohärenzziel unterstützen. werden. Im Verteidigungsministerium sollte dies in den Abteilungen Politik, Planung und Ausrüstung • Aufbauend auf ihrer gemeinsamen Analyse sollten gespiegelt werden. Das Ziel ist, anstelle von institu- die Stäbe von EU und NATO gemeinsam definieren, tionellen Logiken die sicherheitspolitischen Ziele in welches Niveau von Fähigkeiten in Europa erreicht den Vordergrund zu stellen. werden muss, um das gesamte Konfliktspektrum (mit Ausnahme der nuklearen Abschreckung) abzu- • Die bereits geplante Bundeswehrreform sollte in decken. Zu diesem Ambitionsniveau leisten sowohl den Aufbau der EJF eingebettet werden. Deutsch- die EU, die NATO als auch die Mitgliedsstaaten indi- land kann die Umsetzung der EJF fördern, indem viduell ihren Beitrag. es das Rahmennationenkonzept (FNC) wieder auf- leben lässt und um den Bereich Rüstung und Be- • Die militärischen Beiträge der Europäer zum Am- schaffung erweitert. So sollte Deutschland nicht bitionsniveau (und damit der europäische Pfeiler in nur Anlehnungspartnerschaften im Bereich der mi- der NATO) sollten über eine European Joint Force litärischen Strukturen, sondern auch bei der rüs- (EJF) einen sichtbaren politischen, militärischen tungsindustriellen Basis anbieten. Dies würde der
September 2021 33 BERICHT Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik weiteren Renationalisierung im Verteidigungsbe- • Um bei ihren Verbündeten glaubwürdig zu sein, soll- reich in Europa entgegenwirken und die industrielle te Deutschland am Zwei-Prozent-Ziel der NATO Abhängigkeit von der übrigen Welt reduzieren. Auf festhalten und deutlich machen, dass es die Vor- diese Weise würde Deutschland helfen, eine leis- gaben bis 2024 erfüllen wird. Gelingt dies, vergrö- tungsfähige verteidigungstechnologische und in- ßert die höhere Glaubwürdigkeit auch den Einfluss dustrielle Basis auf europäischer Ebene zu erhalten. Deutschlands in der NATO. Die neue Bundesregie- rung kann dies nutzen, um für eine Überarbeitung 2. Planungssicherheit und Mittelverwendung der Ausgabenmetrik und -bereiche zu werben. verbessern Dabei sollte Berlin den Fokus der zu erbringenden Leistungen auf Klima, Cybersicherheit und Innova- In Deutschland ist die Diskussion um die angemessene tion erweitern. Ein Teil der Ausgaben (0,5 Prozent Finanzierung von Sicherheit und Verteidigung auf den des BIP) sollte dabei für gemeinsame Projekte mit Streit reduziert, ob das Zwei-Prozent-Ziel der NATO EU- und NATO-Staaten sowie mit anderen Partnern sinnvoll ist. Deutschland hat dessen Erfüllung wieder- (zum Beispiel Australien) reserviert werden. Dies holt zugesagt, bleibt aber weit davon entfernt. Auch würde zugleich zur Konsolidierung der Industrien im Rahmen der EU hat Deutschland eine kontinuierli- und Ausrüstungen in Europa beitragen. che Steigerung seiner Verteidigungsausgaben verspro- chen. • Darüber hinaus kann der Bundestag mit einem Bundeswehrplanungsgesetz Planungssicherheit Der einseitige Fokus auf Ausgabensteigerungen – und schaffen und so die Effizienz der eingesetzten hier vor allem für militärische Mittel – ist mit Blick auf Steuergelder steigern. Ein Planungsgesetz sollte das erweiterte Bedrohungsspektrum allerdings nicht festschreiben, dass langfristige Projekte, über deren mehr angemessen. Trotzdem darf die Bundesregierung Notwendigkeit Konsens besteht, über einen länge- nicht den Verdacht aufkommen lassen, sie betone nur ren Zeitraum (fünf bis zehn Jahre) finanziert werden. deswegen die Notwendigkeit einer größeren Effizienz Welche Projekte dies sind, legt der Bundestag fest. der Ausgaben und die Einbeziehung nicht-militärischer Bereiche von Sicherheit, weil sie sich weiterhin vor Zah- • Weil es in der Bundeswehr jedoch auch an vielen lungen drücken und Trittbrettfahrer der USA und ande- kleinen Anschaffungen fehlt, die es nie auf Priori- rer NATO-Länder bleiben wolle. tätslisten schaffen, aber im Ernstfall fehlen, sollte der Bundestag zudem eine Vollausstattungsinitia- Hinzu kommt ein interner Organisationsaspekt: Auch tive für vier Jahre starten und finanziell hinterlegen. wenn Deutschland seine Verteidigungsausgaben ste- Dies würde auf das Zwei-Prozent-Ziel der NATO an- tig erhöht, passieren diese Steigerungen kurzfristig und gerechnet und rasch die Einsatzfähigkeit der Bun- sind oft nur für das nächste Jahr gesichert. Die Bun- deswehr verbessern. deswehr kann dieses Geld nicht sinnvoll in langfristi- ge Projekte investieren, wenn sie nicht weiß, ob für die 3. Nukleare Ordnung, Abschreckung und gesamte Laufzeit des Projektes die erforderlichen Mit- Rüstungskontrolle mitgestalten tel verfügbar sind. Die Frage der angemessenen Fi- nanzierung hat also mindestens zwei Dimensionen: ob Die Bedeutung von Nuklearwaffen steigt weltweit, und Deutschlands NATO- und EU-Zusagen verlässlich sind, gleichzeitig wächst die Komplexität der nuklearen Ord- Berlin also Wort hält; und ob die Bundeswehr verläss- nung. Neue Akteure sind hinzugetreten. Zudem sind lich planen kann. Die derzeitige Finanzierung stellt bei- nukleare und konventionelle Fähigkeiten zunehmend des in Frage. mit neuen Technologien verwoben. Diese Entwicklung birgt erhebliche Unsicherheiten, insbesondere wenn • Die neue Bundesregierung muss sehr rasch die neuartige konventionelle Fähigkeiten mit modernisier- Weichen so stellen, dass sie die unterschiedlichen ten Atomwaffen kombiniert werden. Ansprüche (sinnvolle Beträge und ein breiterer Si- cherheitsfokus) zusammenbringen kann, denn die Erschwert wird die Situation durch die zunehmende NATO will ihr neues strategisches Konzept bereits Schwächung der Rüstungskontrolle. Das Ende des INF- 2022 vorlegen. Hier stehen die Themen Bedrohungs- Vertrags über landgestützte Mittelstreckenraketen, die situation und Lastenteilung sowie insbesondere das Unsicherheiten über die langfristige Zukunft des Ver- Spektrum von Sicherheitsrisiken und -instrumenten trags über strategische Atomwaffen (New START) und in den Bereichen Klima, Gesundheit und Technolo- die Aushöhlung des Atomwaffensperrvertrags erhöht gie auf der Agenda. das Risiko von Fehlkalkulationen. Die rasche nukleare
34 September 2021 Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik BERICHT Aufrüstung Chinas, das bisher wenig Bereitschaft zur ckung festhalten. Solange diese über nukleare Teil- Rüstungskontrolle zeigt, vergrößert das Problem. Ab- habe organisiert wird, sollte Deutschland die ihm rüstungsvorschläge wie der Kernwaffenverbotsvertrag dabei zukommende Rolle zuverlässig ausüben. Da- sind aussichtsloser denn je. Sie sind gut gemeint, haben zu gehört einerseits, in Deutschland die Herausfor- aber keine Chance auf Umsetzung, weil sie aus Sicht der derungen der nuklearen Ordnung zu benennen, die Nuklearstaaten keine überzeugende Alternative für de- Kosten und den Nutzen nuklearer Abschreckung für ren Sicherheitsinteressen aufzeigen. Zudem fehlt es an Deutschland transparent zu machen und mögliche Verifikationsmechanismen und Garantien, dass Nuk- Veränderungen, etwa durch neue US-Nukleardokt- learwaffen tatsächlich für immer abgeschafft sind. rinen, vorausschauend mitzudenken. Andererseits bedeutet das aber auch die Stationierung von US- Deutschland verfügt nicht über eigene Nuklearwaffen. Atombomben auf deutschem Boden sowie die Be- Für die nukleare Abschreckung hängt es von der NATO reitstellung von konventionellen Kampfflugzeugen, und den Beiträgen der USA, Frankreich und Großbri- die für den Transport dieser Nuklearwaffen zertifi- tannien ab. Damit kann Deutschland weder die Be- ziert sind. Aus politischen und technischen Gründen dingungen für nukleare Abschreckung noch die für sollte die neue Generation dieser Kampfflugzeu- Rüstungskontrolle und Abrüstung direkt bestimmen. ge in den USA beschafft oder geleast werden. So Die wesentliche Voraussetzung für beides, gesicherte wären sie auch bei einer Änderung der nuklearen Abschreckung und Abrüstung, ist die europäische und Abschreckung, etwa infolge einer veränderten US- transatlantische Einigkeit in der NATO. Doktrin, von militärischem Wert. Die NATO sieht sich inzwischen mit zwei miteinan- • Wichtig für die nukleare Ordnung und Abschreckung der verbundenen nuklearen Räumen konfrontiert: dem in Europa sind auch die europäischen Atommächte euro-atlantischen Raum, der durch das stetig wachsen- Frankreich und Großbritannien. Deutschland sollte de Nukleararsenal Russlands bedroht wird, und dem der Einladung Frankreichs zu einem strategischen asiatischen, in dem China Anspruch auf geopolitische Dialog über die Rolle der nuklearen Abschreckung in Dominanz erhebt. Strategische Stabilität kann nur im Europa und Frankreichs Beitrag dazu folgen. Dabei Dreieck USA-China-Russland definiert werden, wobei sollte es aber darauf hinwirken, dass nicht Frankreich die europäische Mitsprache eng begrenzt ist. Das rus- allein, sondern die europäischen Staaten gemein- sische Nuklearwaffenarsenal, insbesondere im Bereich sam die Prozesse und Inhalte eines solchen Dialogs der Mittelstreckenraketen, ist primär ein europäisches definieren. Die Vereinbarkeit mit der NATO muss ge- Problem, das chinesische primär ein US-Problem. währleistet bleiben. Zu den weiteren gemeinsamen Themen, bei denen auch das Vereinigte Königreich • Deutschland sollte in der nächsten Legislaturperio- einbezogen werden sollte, könnte die Frage gehö- de bei seinen NATO-Verbündeten für eine Abrüs- ren, was Europa dazu beitragen kann, das Risiko von tungsinitiative für nukleare Mittelstreckenraketen konventionellen oder nuklearen Auseinanderset- in Europa zu Wasser, zu Lande und in der Luft wer- zungen im Indopazifik zu verringern.. ben. Diese Waffenklasse sollte deshalb im Zent- rum stehen, weil ihr Überraschungspotenzial Europa 4. Krisenprävention und Stabilisierung unter Druck setzt und sie bereits in Friedenszei- besser aufstellen ten geeignet ist, die Europäer zu erpressen. Wenn Russland die unter Bruch des INF-Vertrages entwi- Seit dem Ende des Kalten Krieges wurden Krisenprä- ckelten und eingeführten nuklearfähigen Mittelstre- vention und Stabilisierung zu einer zentralen Aufgabe ckenraketen abrüstet, könnten die NATO-Staaten der deutschen Friedens- und Sicherheitspolitik. Doch anbieten, keine konventionellen Lenkwaffen in Euro- nach insgesamt erfolgreichen Einsätzen auf dem west- pa zu stationieren, die russische Raketenanlagen lichen Balkan (siehe auch Aktionsplan Westbalkan) und Kommandostellen treffen könnten. stellt das Scheitern der westlichen Aufbaumission in Afghanistan viele Grundannahmen dieser Orientierung • Eine Chance auf Gehör wird die neue Bundesregie- in Frage. Die USA hat die Ära des „State Building“ für rung allerdings nur haben, wenn sie glaubhaft ma- beendet erklärt. Die neue Bundesregierung muss dem chen kann, dass sie der gemeinsamen und gleichen nicht folgen, aber auch sie wird Ziele und Instrumente Sicherheit für alle NATO-Staaten absoluten Vorrang neu bewerten müssen. Vier Elemente sind zentral: gibt. Unilaterale Initiativen verbieten sich. Deutsch- land muss aktiv zur kollektiven Sicherheit beitragen • Gründliche Analyse der Operationen in Afgha- und am NATO-Grundsatz der nuklearen Abschre- nistan, Mali und anderen großen zivilen oder mi-
September 2021 35 BERICHT Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik litärischen Engagements. Ziel es, zu klären, unter flikten von der Sahelzone bis Syrien strukturelle welchen Umständen und mit welchen Mitteln Kri- Veränderungen zu bewirken. Die neue Bundesregie- senprävention und Stabilisierung erfolgreich sein rung sollte deswegen die Aufstellung eines euro- können. Auch die deutsche Öffentlichkeit wird nur päischen Stabilisierungskorps auf den Weg bringen dann neue Missionen akzeptieren, wenn überzeu- und selbst fünfzig Prozent der benötigten Fähigkei- gend dargelegt wird, dass diese eine begründete ten beitragen. Damit könnte es als zivile Rahmenna- Chance auf Erfolg haben. In Analyse und Kommu- tion nicht nur zur Stabilisierung in Krisen beitragen, nikation kann die Sicherheitspolitische Kommission sondern diese Operationen auch führen und ge- eine zentrale Rolle spielen. stalten. Zu diesem Zweck sollte Deutschland einen Personalpool von 5000 Spezialistinnen und Spezia- • Verständnis der Wirkungszusammenhänge vertie- listen bereitstellen, die, komplett oder in Teilen, den fen. Bis heute überschätzen viele Befürworter von Kern, die Führungsstruktur und die Logistik von grö- Krisenprävention und Stabilisierung die Wirksam- ßeren zivilen oder integrierten Operationen bilden keit von Missionen und unterschätzen deren Risiken. können. Dies würde es vielen kleineren Nationen er- Zudem halten einige Akteure den dezidiert friedens- lauben, sich mit einem sinnvollen Beitrag anzukop- politischen Anspruch von Krisenprävention und Sta- peln. bilisierung für nicht vereinbar mit dem Schutz von Menschen und Mission durch militärische Mittel. 5. Exportkontrolle von Rüstungsgütern Entwicklung braucht aber einen sicheren Rahmen. und Technologie neu ordnen Das Verständnis für Potenziale und Grenzen der Kri- senprävention kann über einen partizipativen Lern- Deutschland spielt in der EU und international eine zen- prozess verbessert werden: ein Labor zur Zukunft trale Rolle als Hersteller, Kooperationspartner und Ex- von Krisenprävention und Stabilisierung für Vertre- porteur von Rüstungsindustriegütern. Im Bereich der ter der Politik, der Institutionen und der Zivilgesell- klassischen Rüstungsexporte wird Deutschland je- schaft. doch als unzuverlässig wahrgenommen. Trotz klarer (und restriktiver) Vorgaben sind die Entscheidungen für • Strategische Planung: Weder national noch inter- Exporte und Verbote und deren Grundlagen intranspa- national gehen die Akteure der Frage nach, wie ihr rent. Deutschland gefährdet damit seine eigene indus- künftiges Engagement für Krisenprävention und triell-technologische Basis, die von Exporten abhängig Stabilisierung aussehen können und was sie dafür ist, sowie die Kooperationsfähigkeit mit Partnern. brauchen werden – sie lassen sich überraschen und setzen dann die Instrumente ein, die ad hoc verfüg- Hinzu kommt, dass klassische Kriegswaffen aus tech- bar sind. Die neue Bundesregierung sollte hier lang- nologischer Sicht nur noch eine geringe Rolle spielen. fristig – etwa mit einem Horizont bis 2040 – planen, In komplexen Waffensystemen gewinnen einzelne (zu- auf welche Konflikte sich Deutschland einstellen meist digitale) Technologien erheblich an Bedeutung. muss, welche Ziele es erreichen will und welche Mit- Diese „emerging and disruptive technologies“ (EDT) tel dafür notwendig sind. Ein erster Schritt dazu ist sind ein viel größeres sicherheitspolitisches Problem, die Gründung einer Arbeitsgruppe mit strategischen da sie die Leistung von Waffensystemen erheblich stei- Planern des Auswärtigen Amtes und des Bundes- gern. Hinzu kommt, dass militärische Anwendungen verteidigungsministeriums, wo bereits Projekte der nur noch ein kleiner Bereich in einem großen Feld der strategischen Vorausschau existieren. Andere Mi- Sicherheitsanwendungen sind. Die bestehenden Ex- nisterien und zivile Akteure können hinzukommen. portkontroll- und Technologieregime sind schon seit Eine solche integrierte Planung und Abstimmung längerer Zeit nicht mehr in der Lage, neue technologi- der Instrumente hätte Vorbildcharakter auch für die sche Entwicklungen zu erfassen und zu regulieren. EU, die NATO und die Vereinten Nationen. Vorschlä- ge dazu sollten im Zuge der Arbeiten am strategi- Die neuen Technologien führen auch in besonderer schen Kompass der EU (bis Ende 2021), dem „Civilian Weise zu Zielkonflikten zwischen wirtschaftlichen und Compact“ der EU bis 2023 und dem strategischen sicherheitspolitischen Interessen: Künstliche Intel- Konzept der NATO bis 2022 eingebracht werden. ligenz oder Quantencomputer verbindet, dass sie in den nächsten fünf bis 20 Jahren eine wichtige Quel- • Europäisches Stabilisierungskorps: Schon heu- le von Wohlstand für die Länder sein werden, die die- te wären Tausende von zivilen und militärischen se Technologien kontrollieren. Zugleich wird bei diesen Expertinnen und Experten vom Ingenieur bis zum Technologien ein hohes Schadenspotenzial vermutet, Polizeiausbilder erforderlich, um in komplexen Kon- wenn sie in Konflikten zum Einsatz kommen, sei es im
36 September 2021 Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik BERICHT militärischen Kontext, gegen Infrastrukturen oder zur • Deutschland muss in Zukunft seine Rüstungsex- gezielten gesellschaftlichen und sozialen Einflussnah- portpolitik sicherheitspolitisch begründen und me. Dass Staaten sehr unterschiedliche Positionen dazu damit auch für seine Bürger wie für internationa- haben, wie die richtige Balance zwischen wirtschaft- le Partner verlässlicher und nachvollziehbarer ge- lichen und sicherheitspolitischen Interessen aussieht, stalten: Wann sind Lieferungen von Waffen und bremst die Versuche, die Kontrollansätze in Europa an- Technologie gerechtfertigt, und welchen sicher- zugleichen. heitspolitischen Nutzen haben sie für Deutschland? Inwieweit versteht die Bundesregierung Rüstungs- Gleichzeitig gewinnt die Frage, wie sich Staaten den Zu- exporte als sicherheitspolitisches Instrument, um gang zu diesen Technologien und die Kontrolle über sie deutsche Interessen und politischen Einfluss zu sichern können, eine erhebliche politisch-strategische unterstützen? Bedeutung. Die neuen Technologien sind ein wesent- liches Feld der geostrategischen Auseinandersetzung, • Die neue Bundesregierung sollte die Exportpolitik insbesondere zwischen den USA, der EU und China. in eine Länder- und Regionalstrategie einbetten Deutschlands Partner in EU und NATO drängen bei mili- und einen systematischen Chancen/Risiken-An- tärischen Systemen auf Regeln, die den Export gemein- satz verfolgen: Eine nach Sicherheitslage und -Inte- samer Entwicklungen erleichtern. Zugleich konkurrieren ressen differenzierte Länder- und Regionalstrategie die Europäer aber auch untereinander. Die USA wiede- würde es erlauben, Rüstungsexporte explizit als rum drängen auf einen viel vorsichtigeren Umgang mit Mittel politischer Einflussnahme in die deutsche Wissen und Technologien gegenüber potenziellen Geg- Außen- und Sicherheitspolitik einzubetten. Sie wä- nern, vor allem China. Schließlich strebt Deutschland, re Grundlage für rüstungsexportpolitische Be- wie andere Staaten auch, Kooperationen in anderen wertungen und öffentliche Begründungen. Die Regionen an, wie etwa im Indo-Pazifik. Dabei ist Tech- Strategie müsste Risiken und Chancen abwägen: nologiekooperation im Bereich von Sicherheit und Ver- Welche Verantwortung und Handlungsmöglichkei- teidigung eine attraktive Option, denn Europa hat hier ten hat Deutschland, wenn Rüstungsgüter in fal- interessante Produkte anzubieten. sche Hände geraten, etwa bei einem Staatsstreich, und wie wahrscheinlich sind solche Ereignisse? Hilfe- • Deutschland sollte sich im Verbund mit der EU, der stellung könnte ein exportpolitisches Ampelsystem NATO und G7-Partnern den Zugang zu Techno- bieten, das Exportländer entlang der vorhanden Ex- logien sichern (etwa durch Investitionen in Inno- portkriterien bewertet: Bei grünen Ländern bedarf vation), aber auch Rivalen den Zugriff verwehren es einer besonderen Begründung, nicht zu exportie- können (zum Beispiel durch Rückverlagerung von ren; bei roten braucht jeder Export einer besonde- Produktionsstätten, Investitionskontrollen oder ren Begründung; bei gelben Ländern bedarf es einer Lieferkettenschutz, siehe auch Aktionsplan Wirt- Einzelfallentscheidung. Die Einstufung sollte regel- schaft und Außenpolitik). Daraus resultieren folgen- mäßig geprüft werden. de Aufgaben, die vom neuen Bundessicherheitsrat behandelt und in der nationalen Sicherheitsstrate- • Verlässlichkeit kann die neue Bundesregierung auch gie erörtert werden sollten: durch ein Exportgesetz herstellen, das eine ein- heitliche gesetzliche Grundlage für den Export - definieren, welche Schlüsseltechnologien von Kriegswaffen, Rüstungsgütern und neue Ka- Deutschland national erhalten will, und welche tegorien (EDT) schafft. Es sollte auch Kontrollmaß- auf europäischer Ebene nahmen (z.B. zur Prüfung des Endverbleibs) und Sanktionsoptionen enthalten, zum Beispiel Möglich- - identifizieren und koordinieren, wie der Zugang keiten zur Stilllegung militärischer Ausrüstung. Bei zu Technologien und Innovation in Deutschland der Formulierung eines neuen Exportgesetzes muss und auf europäischer Ebene gesichert werden die Bundesregierung aber auch die möglichen finan- kann ziellen Folgen einer restriktiveren Politik für die Rüs- tungsindustrie und eventuelle Kompensationen für - definieren, wie der Zugang zu strategischen den Wegfall von Skaleneffekten bedenken. Technologien kontrolliert werden kann (access denial), in Deutschland, auf EU-Ebene und im • Schließlich sollte Deutschland eine internationale Rahmen der G7. Initiative für die Exportkontrolle von EDT starten und mitgestalten. Diese sollte darauf abzielen, ein Exportregime für kritische Technologien zu schaffen.
September 2021 37 BERICHT Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik 6. Resilienz in Deutschland, in Europa und im Bündnis stärken Schon längst üben andere Akteure nicht mehr nur in den engen Grenzen des Militärischen Druck auf Deutsch- land aus; das zeigen der Anstieg der Cyberangriffe auf kritische Infrastrukturen, die Manipulation der sozialen Medien und die Desinformationskampagnen im Zusam- menhang mit der Pandemie. Um Deutschland in solchen hybriden, vielschichtigen Konflikten schützen zu kön- nen, müssen zivile und militärische, private und staat- liche Akteure von der kommunalen Ebene bis hin zu EU und NATO enger zusammenarbeiten. Gerade die Zusam- menarbeit zwischen staatlicher und internationaler Ebe- ne (EU, NATO) und die Koordination zwischen der EU und der NATO sollten weiter intensiviert werden. • Die neue Bundesregierung sollte regelmäßige Übun- gen und Planspiele auf allen Ebenen abhalten. Solche Übungen helfen den Teilnehmenden, Prozesse und Vorgaben zu verstehen, Grauzonenfälle zu erfassen und auf Krisenfälle vorbereitet zu sein. National und europaweit sollten mehr sektorübergreifende Übun- gen durchgeführt werden. Innerstaatlich sollte das Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Ebenen (Kommunen-Land-Bund) und Akteuren (zivil, militä- risch, staatlich, privat) stärker geübt werden. • Die Institutionen, die von der Bundesregierung als kritisch für die Aufrechterhaltung des staatlichen Gemeinwesens eingestuft werden, sollten zudem einem Stress- und Funktionalitätstest unterzogen werden. Dies erlaubt, die Sicherheitsvorsorge auf den Ebenen Bund, Länder und Gemeinden zu über- prüfen und zu verbessern.
September 2021 BERICHT Impressum Rauchstraße 17/18 10787 Berlin Tel. +49 30 254231-0 info@dgap.org www.dgap.org @dgapev Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. (DGAP) forscht und berät zu aktuellen Themen der deutschen und euro- päischen Außenpolitik. Dieser Text spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren wider, nicht die der DGAP. Herausgeber Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. Fotos Autorinnen und Autoren ISSN 1866-9182 Seite 19 (oben) Unsplash, Massimo Virgilio Redaktion Bettina Vestring Seite 27 (oben) IMAGO, Poolfoto Seite 27 (unten) Malene Lauritsen Layout & Grafik Seite 39 (oben) Unsplash, Andrew Coop Carl-Friedrich Richter Seite 47 (oben) REUTERS, Aly Song Studio Friedrichter Seite 57 (oben) Unsplash, Alexandre Debieve Seite 67 (oben) Unsplash, Camilo Jimenez Design Konzept: Seite 75 (oben) Unsplash, Gustavo Quepon WeDo Seite 75 (unten) John Cairns Seite 83 (oben) Unsplash, Mikhail Serdyukov Seite 89 (oben) IMAGO, Jochen Tack Seite 89 (unten) Francesco Scarpa Seite 97 (oben) IMAGO, Xinhua Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Seite 97 (unten) Francesco Scarpa Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.
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