Alternative Leistungsbeurteilungssysteme im Geographie und Wirtschaftskunde-Unterricht - unipub
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Alternative Leistungsbeurteilungssysteme im Geographie und Wirtschaftskunde-Unterricht Ein Modell eines erfahrungspunktebasierten Leistungsbeurteilungssystems durch den Einsatz von Gamification DIPLOMARBEIT zur Erlangung des akademischen Grades eines Magisters der Philosophie an der Karl-Franzens-Universität Graz erarbeitet von Miroslav GASIC am Institut für Geographie und Raumforschung. Begutachter: Ao.Univ.-Prof. Mag.phil. Dr.rer.nat Gerhard LIEB Graz, Oktober 2020
Vorwort Die vorliegende Diplomarbeit stellt für mich den Abschluss einer langen und durchwachsenen Schullaufbahn dar. Als Sohn bosnischer Migranten absolvierte ich meine gesamte schulische Laufbahn in Österreich und wusste wie viele Jugendliche den Wert von Bildung nicht zu schätzen. Später entschied ich mich, nach der neunten Schulstufe eine Lehre zu machen und meine schulische Laufbahn abzuschließen. Heute bin ich überzeugt, dass der Unterricht einiger Lehrerinnen und Lehrer großen Einfluss auf diese Entscheidung hatte. Mein Bildungsweg war ein großer Faktor für meine Studienwahl und bildet den Kern meiner Motivation als Lehrer. Ich möchte jenen Schülerinnen und Schülern, die systemisch benachteiligt sind, Freude am Lernen vermitteln, die ich erst als junger Erwachsener für mich entdecken konnte. Um mein Ziel zu erreichen, sind Fachdidaktik und insbesondere innovative Lehrmethoden unumgänglich. Besonders spannend dabei finde ich die Möglichkeit, innerhalb vorhandener Rahmenbedingungen an Neuerungen zu arbeiten. Als ich im Jahr 2014 Christian Hascheks EXP-Based-Grading-System kennenlernte, war ich überzeugt, etwas Besonderes im Bereich der Leistungsbeurteilung gefunden zu haben. Das System kombinierte zwei Themenbereiche, die mir auf den ersten Blick inkompatibel schienen: Brett- und Gesellschaftsspiele und Leistungsbeurteilung. Für mich war ab diesem Zeitpunkt klar, dass ich mich im Rahmen meiner Diplomarbeit genauer mit Leistungsbeurteilung auseinandersetzen und in weiterer Folge Hascheks EXP-Based-Grading-System erproben möchte. Ich hoffe, dass die Erkenntnisse, die hier verschriftlicht worden sind, das Feld der alternativen Leistungsbeurteilung weiter vorantreiben und andere dazu ermutigen, ihre eigenen Ideen und Theorien umzusetzen und anzuwenden. An dieser Stelle möchte ich mich bei meinem Betreuer Herrn Prof. Dr. Gerhard Lieb und meiner Betreuerin Frau Prof. Dr. Maria-Elisabeth Pietsch bedanken. Sie haben mich nicht nur während meines Studiums in zahlreichen fachdidaktischen Kursen und Seminaren unterstützt, sondern mich auch ermutigt, mein Interesse im Bereich der erfahrungspunktebasierten Leistungsbeurteilung in einer wissenschaftlichen Arbeit umzusetzen. Zudem danke ich meinen Eltern, meiner Schwester und natürlich meinen Freundinnen und Freunden, die mich jahrelang immer wieder in meiner Berufs- und Studienwahl bekräftigt und bestärkt haben. Vielen Dank!
Inhaltsangabe 1. Einleitung .........................................................................................................................1 1.1. Problemstellung und Zielsetzung der Diplomarbeit ...........................................................2 1.2. Aufbau..............................................................................................................................3 1.3. Hypothese und Forschungsfragen .....................................................................................4 1.4. Arbeitsgrundlagen und –methoden....................................................................................5 2. Theoretische Grundlagen des erfahrungspunktebasierten Benotungssystems .....................6 2.1. Begriffe und Definitionen ..................................................................................................7 2.2. Rechtliche Grundlagen der Leistungsbeurteilung in österreichischen Schulen ...................8 2.3. Aktuelle Erkenntnisse zu Gamification ............................................................................ 11 2.3.1. Grundlagen der Gamification ......................................................................................... 11 2.3.2. Auswirkung von Gamification auf Motivation ................................................................. 13 2.3.2.1.Motivierende Aspekte der Gamification und Core Drives nach CHOU ............................ 13 2.3.2.2.Die vier Freiheiten nach OSTERWEIL ............................................................................ 17 2.3.2.3.Intrinsische und extrinsische Motivation und die Selbstbestimmungstheorie nach DECI und RYAN ....................................................................................................................... 18 2.3.3. Aktuelle Beispiele gelungener Gamification im Lern- und Bildungsbereich ..................... 19 2.3.3.1.Gamification und Lernen am Beispiel des Sprachenlerntools Duolingo ........................... 20 2.3.3.2.Gamificationgeleitetes Lernen im Unterricht am Beispiel von „Legende von Zyren“ ....... 22 2.3.3.3.HASCHEKs XP-Based-Grading-System und Socialcube ................................................. 26 3. Modell eines erfahrungspunktebasierendes Leistungsbeurteilungssystems im Geographie- und Wirtschaftskundeunterricht (adaptiert nach HASCHEK) .......................................... 28 3.1. Funktionsweise ............................................................................................................... 28 3.2. Rechtliche Einordnung des erfahrungspunktebasierten Leistungsbeurteilungssystems ..... 33 3.3. Vorteile und mögliche Risiken der Methode .................................................................... 35 4. Empirische Studie im Rahmen des zweiten Schulpraktikums im Unterrichtsfach Geographie und Wirtschaftskunde .................................................................................. 38 4.1. Aufbau des Unterrichtsmoduls, Operationalisierung der Unterrichtsinhalte und Basiskonzepte der Unterrichtssequenz ............................................................................ 39 4.2. Methodik beim Erstellen der Fragebögen und Durchführen der Interviews ..................... 43 5. Diskussion der Ergebnisse und des Feedbacks ................................................................ 45 5.1. Feedback der Klassenlehrerinnen ................................................................................... 47 5.2. Auswertung der Fragebögen der Schülerinnen und Schüler ............................................ 51 5.3. Persönliche Reflexion über Anwendung und Zeitaufwand der Methode ........................... 54 6. Resümee und Ausblick .................................................................................................... 57
7. Arbeitsgrundlagen .......................................................................................................... 61 7.1. Fachliteratur .................................................................................................................. 61 7.2. Internetressourcen .......................................................................................................... 61 8. Appendix .......................................................................................................................... I 8.1. Stundenvorbereitungen und Lösungen............................................................................... I 8.2. Musterlösung eines Schülers ......................................................................................... VIII 8.3. Fragebogen ................................................................................................................... XV 8.4. Interviews ......................................................................................................................XIX 8.4.1. Fragen für Interview 1 ...................................................................................................XIX 8.4.2. Fragen für Interview 2 ................................................................................................... XX 8.4.3. Transkripte der Interviews .............................................................................................XXI 8.4.3.1.Transkript 1 ...................................................................................................................XXI 8.4.3.2.Transkript 2 ................................................................................................................. XXV
Abbildungs- Diagramm- und Tabellenverzeichnis Abbildung 1: CHOUs Octalysis – Übersicht über die motivierenden Aspekte der Gamification ...... 14 Abbildung 2: CHOUs Octalysis – Analyse von Facebook anhand der acht „Core Drives“ .............. 15 Abbildung 3: Duolingo – einfache Aufgabe ................................................................................... 20 Abbildung 4: Duolingo – Fortgeschrittene Aufgabe....................................................................... 20 Abbildung 5: Duolingo – Grafisch dargestellte Erfahrungspunkte.................................................. 21 Abbildung 6: Duolingo – Champion-Trophäe................................................................................. 21 Abbildung 7: Duolingo – Trophäen und Bestenliste ....................................................................... 22 Abbildung 8: Legende von Zyren – Kapitelübersicht ...................................................................... 23 Abbildung 9: Legende von Zyren – Charakterentwicklung ............................................................. 24 Abbildung 10: Involvierte Spielelemente und motivationsfördernde Aspekte des Projekts „Die Legende von Zyren“ .............................................................................................. 26 Abbildung 11: Übersicht über Lernziele und Punkteverteilung aus Sicht einer Schülerin oder eines Schülers ................................................................................................................ 30 Abbildung 12: Übersicht über Bonuspunkte aus Sicht eines Schülers ............................................. 31 Abbildung 13: Ranking nach User und EXP aus Sicht eines Schülers ............................................. 32 Abbildung 14: Übersicht über gesamte Klassenleistung im Vergleich zur anderen Klasse aus Sicht einer Schülerin oder eines Schülers........................................................................ 32 Abbildung 15: Beispiel für numerale Verteilung des Fragebogens .................................................. 43 Abbildung 16: Beispiel für umgekehrte Verteilung des Fragebogens .............................................. 44 Abbildung 17: Lügenitem .............................................................................................................. 44 Abbildung 18: Beispiel für umgekehrte Verteilung des Fragebogens .............................................. 53 Diagramm 1: Anzahl der durchschnittlichen positiven und negativen Antworten der 5S und der 5T .. ...................................................................................................................................................... 52 Tabelle 1: Übersicht über Erfahrungspunkte, Level und Zahlennoten ............................................. 29 Tabelle 2: Operatoren des Anforderungsbereichs I, II, III ............................................................... 40 Tabelle 3: Übersicht der operationalisierten Lernziele des Themenmoduls „Der Mensch und dessen wirtschaftlichen Bedürfnisse“ ...................................................................................... 41 Tabelle 4: Ergebnisse der 5T .......................................................................................................... 46 Tabelle 5: Ergebnisse der 5S .......................................................................................................... 47 Tabelle 6: Korrekturzeiten des Probelaufs ...................................................................................... 56
1. Einleitung Die vorliegende Diplomarbeit befasst sich mit einem alternativen Leistungsbeurteilungssystem, dem erfahrungspunktebasierten Leistungsbeurteilungssystem oder EXP-Based-Grading-System (Experience-Points-Based-Grading-System), welches von Christian HASCHEK entwickelt und im Rahmen dieser Diplomarbeit modifiziert wurde, um den Anforderungen des Geographie und Wirtschaftskunde-Unterrichts an allgemeinbildenden höheren Schulen in Österreich gerecht zu werden. Viele Reformpädagoginnen und Reformpädagogen widersprechen im Generellen der Leistungsbeurteilung, weil sie die Meinung vertreten, dass Schulnoten einen negativen Stressfaktor für Schülerinnen und Schüler darstellen und Lernerfolg und Persönlichkeitsbildung entgegenwirken. Dieser Standpunkt wird seit Jahrzehnten hitzig debattiert und aufgrund dessen werden Rahmenbedingungen für Leistungsbeurteilung von politischen Vertreterinnen und Vertretern häufig verändert. Tatsache ist, dass Leistungsbeurteilung mit Ausnahme der ersten beiden Schulstufen in Österreich in Worten und Ziffern gesetzlich vorgegeben und unvermeidlich ist. Diese Art von Leistungsbeurteilung stellt oftmals eine große Herausforderung für Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler dar. Es bestehen unterschiedliche Ansichten und teilweise Wissenslücken unter Lehrerinnen und Lehrern, in welchem Ausmaß welche Schulleistungen in die Note einfließen müssen und dürfen. Einige greifen aufgrund dieser Problematik auf altbekannte Leistungsbeurteilungsmethoden wie Lernzielkontrollen und Schularbeiten zurück und benoten die Mitarbeit der Schülerinnen und Schüler oftmals nach Bauchgefühl und im schlechtesten Fall nach persönlicher Sympathie. Zudem werden bei Tests und Schularbeiten aufgrund der einfachen Überprüfbarkeit oftmals lediglich Wissensfragen gestellt und die persönliche Meinung und Individualität der Schülerinnen und Schüler werden nicht berücksichtigt. Diese Sachverhalte entmutigen Experimentierfreudige bei der Wahl von Beurteilungswerkzeugen und verhindern in weiterer Folge Innovationen in der Notengebung beziehungsweise Leistungsbeurteilung. Schülerinnen und Schüler können auch unter der Leistungsbeurteilung leiden. Erzählungen von unfairer und willkürlicher Benotung seitens der Lehrkräfte sind weit verbreitet und für viele ein Auslöser von Frustration. Fehlende Transparenz in Bezug auf die Zusammensetzung der Schulnote trägt dazu bei, dass die Schülerinnen und Schüler schlechter einschätzen 1
können, welche Fähigkeiten und Kompetenzen sie besitzen und demonstriert haben, beziehungsweise in welchen Bereichen sie sich weiter verbessern können. Aufgrund dieser Entwicklungen im österreichischen Schulsystem wird im Rahmen dieser Diplomarbeit der Versuch gewagt, ein erfahrungspunktebasiertes Leistungsbeurteilungssystem im Geographie und Wirtschaftskunde-Unterricht zu implementieren, welches viele der oben genannten Probleme in Angriff nimmt. Um einen wissenschaftlichen Umgang mit dem Thema zu ermöglichen, wurde eine Unterrichtssequenz im Fach Geographie und Wirtschaftskunde an einem Grazer Gymnasium unterrichtet und die Leistungen der Schülerinnen und Schüler mit einer modifizierten Version von HASCHEKs EXP-Based-Grading-System beurteilt um festzustellen, ob das System im Vergleich zu herkömmlichen Leistungsbeurteilungssystemen Vorteile bietet. 1.1.Problemstellung und Zielsetzung der Diplomarbeit Ziel dieser Diplomarbeit ist eine Untersuchung der möglichen Implementierung von Gamification in der Leistungsbeurteilung. Dabei wird besonderes Augenmerk auf den Einfluss von Gamification auf die Lernmotivation der Schülerinnen und Schüler, die Benutzerfreundlichkeit des Systems und die Transparenz der Leistungsfeststellung und –beurteilung gelegt. Gegen Ende der Ausarbeitung dieser Diplomarbeit und nach Beendigung des Versuchs an einem Grazer Gymnasium wurde beim Recherchieren eine ähnliche Bachelorarbeit mit dem Titel „Motivierende und transparente Leistungsbeurteilung mit Hilfe von Gamification - Eine Untersuchung von XP-basierter Leistungsbeurteilung“ von Barbara PILLWEIN aus dem Jahr 2017 entdeckt. PILLWEIN untersucht im Rahmen ihrer Arbeit, inwiefern HASCHEKs Form der Leistungsbeurteilung in der Sekundarstufe I einsetzbar ist. Dies zeigt, dass das Thema der erfahrungspunktebasierten Leistungsbeurteilung im akademischen Raum immer mehr Aufmerksamkeit erregt und vermehrt im Fokus von Forschungsarbeit steht. Ähnliche Forschungsansätze sind als Bereicherung zu sehen, daher wird in Kapitel 6 „Resümee und Ausblick“ unter anderem auf PILLWEINs Erkenntnisse eingegangen, um aufzuzeigen, inwiefern die Erkenntnisse vergleichbar sind und inwieweit Widersprüche bestehen. 2
1.2.Aufbau Diese Diplomarbeit gliedert sich in fünf Teile. Das erste Kapitel gibt Einblick in das erfahrungspunktebasierte Leistungsbeurteilungssystem, enthält Hypothesen und Forschungsfragen, welche im Rahmen dieser Arbeit beantwortet werden und gibt an, welche Arbeitsgrundlagen und Methoden für die wissenschaftliche Ausarbeitung verwendet wurden. Die theoretischen Grundlagen der Arbeit sind im zweiten Kapitel beschrieben. Dieses befasst sich mit den rechtlichen Grundlagen der Leistungsbeurteilung an österreichischen Schulen, definiert den Begriff Gamification, zeigt die Funktions- und Wirkungsweise von Gamificationelementen auf und gibt Beispiele für deren Verwendung im Kontext des Lernens und Unterrichtens an Schulen. Im dritten Kapitel wird das in dieser Arbeit verwendete Leistungsbeurteilungssystem genauer beschrieben. Dafür wird zunächst die Funktionsweise der erfahrungspunktebasierten Leistungsbeurteilung erklärt, diese wird mit den gesetzlichen Vorgaben in Österreich abgeglichen und es werden mögliche Vorteile und Risiken der Methode betrachtet. Im Anschluss wird Einblick auf weitere mögliche Features und Funktionen gegeben, welche in Zukunft implementiert werden könnten. Im vierten Kapitel wird der im Rahmen dieser Diplomarbeit durchgeführte empirische Schulversuch genauer beleuchtet. Dabei werden zuerst Grundlagen des Unterrichtsmoduls sowie dessen Platz im Jahresplan, Lehrplanbezug, Basiskonzepte und Operationalisierung der Unterrichtsinhalte geklärt. Daraufhin wird der Aufbau der für die Analyse verwendeten Fragebögen und Interviews beschrieben. Im fünften Kapitel werden die Fragebögen der Schülerinnen und Schüler und die Interviews mit den Lehrkräften der Schule ausgewertet. Abschließend werden die erlangten Ergebnisse diskutiert, analysiert und interpretiert. Zusätzlich werden die Zugänglichkeit und Anwendung der Methode persönlich reflektiert und bei Bedarf werden Verbesserungsvorschläge ausgearbeitet und weitere Maßnahmen zur Implementierung vorgeschlagen. Abschließend werden alle Erkenntnisse, welche beim Erarbeiten dieser Diplomarbeit gesammelt wurden, zusammengefasst und die Forschungsfragen beantwortet. 3
1.3.Hypothese und Forschungsfragen Um eine wissenschaftliche Ausarbeitung der Thematik zu gewährleisten ist es von größter Wichtigkeit, eine angemessene Hypothese zu erstellen. • Es wird vermutet, dass das erfahrungspunktebasierte Leistungsbeurteilungssystem zu einer messbaren Leistungssteigerung führt und die Schülerinnen und Schüler dadurch intrinsisch motiviert werden, bessere Schulnoten zu erhalten. • Ebenso wird vermutet, dass Schülerinnen und Schüler durch Vergleichen ihrer Leistungen mit anderen Mitschülerinnen und Mitschülern zusätzlich intrinsisch motiviert werden. • Zudem wird vermutet, dass die Schülerinnen und Schüler von erhöhter Transparenz bei der Beurteilung von Leistungen profitieren und dadurch ihre eigenen Fähigkeiten besser einschätzen können. • Des Weiteren wird vermutet, dass Schülerinnen und Schüler aufgrund der Tatsache, dass sie jederzeit Fehler und somit ihre Note ausbessern können, alle Abgaben zeitgemäß einreichen und ein Teil der Schülerinnen und Schüler ihre Abgaben im Nachhinein ausbessern, um möglichst gute Abschlussnoten zu erhalten. Mit Bedacht auf obengenannte Hypothesen wurden Forschungsfragen formuliert, welche im Rahmen dieser Diplomarbeit wissenschaftlich aufgearbeitet und beantwortet werden. Die Forschungsfragen lauten wie folgt: • Welche Grundlagen muss ein Leistungsbeurteilungssytem erfüllen, um legal im Geographie und Wirtschaftskunde-Unterricht an österreichischen Schulen implementiert zu werden? • Inwiefern eignen sich Gamificationaspekte zum Beurteilen von Leistungen im schulischen Kontext? • Wie wirkt sich das erfahrungspunktebasierte Leistungsbeurteilungssystem auf die Lern- und Arbeitsmotivation von Schülerinnen und Schülern aus? • Wie nehmen Schülerinnen und Schüler die Transparenz und Übersichtlichkeit der Leistungsbeurteilung mittels des erfahrungspunktebasierten Leistungsbeurteilungssystems wahr? 4
• Wie kann mit dem erfahrungspunktebasierten Leistungsbeurteilungssystem Leistungsdruck von den Schülerinnen und Schülern genommen werden? • Wie wirkt das erfahrungspunktebasierte Leistungsbeurteilungssystem auf erfahrene Lehrkräfte beziehungsweise lassen sich diese auf eine Leistungsbeurteilung mittels Erfahrungspunkten ein? Erkenntnisse, die aus diesen Forschungsfragen resultieren, werden in Kapitel 6 „Resümee und Ausblick“ im Detail behandelt. 1.4.Arbeitsgrundlagen und –methoden Für die Erarbeitung dieser Diplomarbeit werden zunächst Vokabular und Fachbegriffe geklärt, die für das Verständnis der Arbeit notwendig sind. Daraufhin wird ein theoretischer Korpus mit Hilfe von STRAHINGER et al.s „Gamification und Serious Games - Grundlagen, Vorgehen und Anwendungen.“ kreiert, da dieser Sammelband gute Einblicke in die Grundlagen von Gamification bietet. Dann werden motivierende Aspekte der Gamification anhand von CHOUs Octalysis, den vier Freiheiten des Spiels nach Scot OSTERWEIL, gefolgt von der Selbstbestimmungstheorie von DECI und RYAN und die dazugehörige Theorie der intrinsischen und extrinsischen Motivation beleuchtet. Abschließend werden diverse Beispiele für gelungene Gamification im Bildungs- und Lernbereich wie das Sprachenlerntool Duolingo, gamificationunterstütztes Lernen in Dr. Kathrin KNAUTZs „Legende von Zyren“ und Leistungsbeurteilung mittels Christian HASCHEKs XP-Based- Grading-System gegeben. Basierend auf den theoretischen Erkenntnissen wird ein Unterrichtsmodul gestaltet, mit dessen Hilfe die Forschungsfragen ausgearbeitet werden sollen. Zum Erstellen des Moduls werden das Schulunterrichtsgesetz (SchUG) und die Leistungsbeurteilungsverordnung (LBV) der Republik Österreich berücksichtigt. Ebenfalls werden mögliche Chancen und Risiken der Methode erwägt und diskutiert. Das zur Erarbeitung gestaltete Unterrichtsmodul mit Schwerpunkt auf Wirtschaftskunde basiert auf Kapitel drei „Der Mensch und seine wirtschaftlichen Bedürfnisse“ aus „Durchblick 5 kompetent“ des Westermann Verlags. Beim Erstellen werden, unter Berücksichtigung der Leitsätze von „Die kompetenzorientierte Reifeprüfung Geographie und Wirtschaftskunde - Richtlinien und Beispiele für Themenpool und Prüfungsaufgaben“ des 5
Bundesministerium für Bildung und Frauen (BMBF) und HINSCH et al.s „Semestrierter Lehrplan AHS, Sekundarstufe II. Ergebnis der ministeriellen Arbeitsgruppe“, Lernziele formuliert, welche mittels Leistungsfeststellung durch Gamification abgeprüft und zuletzt benotet werden. Diese Unterrichtssequenz wurde im Mai 2018 in der Sekundarstufe II in zwei fünften Klassen eines Grazer Gymnasiums getestet und das erarbeitete Leistungsbeurteilungssystem wurde angewendet. Der Erfolg der Leistungsbeurteilungsmethode wird auf drei Arten festgestellt. Erst werden die Benutzerfreundlichkeit und Übersichtlichkeit der Methode analysiert. Dann wird die allgemeine Akzeptanz der Schülerinnen und Schüler gegenüber dieser Art von Leistungsbeurteilung und dessen Auswirkung auf Lernmotivation betrachtet. Dies wird mittels eines Fragebogens, welcher nach Mag. Birgit PILSHOFERs „Wie erstelle ich einen Fragebogen? - Ein Leitfaden für die Praxis“ erstellt wurde, quantitativ überprüft. Hierbei stellt eine der beiden Schulklassen die Hauptgruppe und die andere die Vergleichsgruppe dar. Nach Abschluss des Probelaufs und der Notenverteilung wurde mit beiden Lehrerinnen des Geographie und Wirtschaftskunde-Unterrichts der Klassen ein qualitatives Interview geführt, das auf das generelle Leistungsniveau der Klassen, erste Reaktionen auf das EXP-Based- Grading-System, dessen Chancen und Risiken und Leistungen der Schülerinnen und Schüler genauer eingeht. 2. Theoretische Grundlagen des erfahrungspunktebasierten Benotungssystems In diesem Kapitel findet sich der theoretische Korpus dieser Diplomarbeit. Zunächst werden relevante Begrifflichkeiten und Definitionen gegeben. Im Anschluss werden die rechtlichen Rahmenbedingungen bezüglich Leistungsbeurteilung in Österreich betrachtet. Daraufhin wird versucht, das Konzept von Gamification zu umrahmen. Dafür werden erst Grundlagen von Gamification gegeben und daraufhin deren Auswirkungen auf die Lern- und Arbeitsmotivation der Lernenden betrachtet. Abschließend folgen Beispiele, wie Gamificationmechanismen heutzutage beim Lernen verwendet werden und inwiefern diese im Unterricht Einzug gefunden haben. 6
2.1.Begriffe und Definitionen Nachfolgend werden Fachtermini erläutert, welche für das Verständnis der Arbeit notwendig sind. • Leistung – „etwas Geleistetes; geleistete körperliche, geistige Arbeit; unternommene Anstrengung und das erzielte Ergebnis“ (DUDEN.DE, 2019) • Leistungsbeurteilung oder Leistungsfeststellung – „Leistungsfeststellungen bilden die Grundlage der Leistungsbeurteilung, die üblicherweise in Form von Noten erfolgt“ (BMBF, 2007) • Mitarbeit im Unterricht – „Die Feststellung der Mitarbeit des Schülers im Unterricht umfaßt [sic] den Gesamtbereich der Unterrichtsarbeit in den einzelnen Unterrichtsgegenständen und erfaßt [sic]: a. in die Unterrichtsarbeit eingebundene mündliche, schriftliche, praktische und graphische Leistungen, b. Leistungen im Zusammenhang mit der Sicherung des Unterrichtsertrages einschließlich der Bearbeitung von Hausübungen, c. Leistungen bei der Erarbeitung neuer Lehrstoffe, d. Leistungen im Zusammenhang mit dem Erfassen und Verstehen von unterrichtlichen Sachverhalten, e. Leistungen im Zusammenhang mit der Fähigkeit, Erarbeitetes richtig einzuordnen und anzuwenden.“ (RIS, 2020a, S.2-3) • Rollenspiel - „spielerisches Hineinversetzen in fremde Rollen a. Soziologie: Lehr- oder Therapiemethode b. Spiel c. Simulation von Konfliktsituationen und Gesprächen zu Schulungs- oder Einstellungszwecken“ (WORTBEDEUTUNG.INFO, 2019) • Quest – „Quests sind Aufgaben, die der Anwender in einer vorgegebenen Zeit erfüllen muss. Das können Rätsel oder Fleißaufgaben sein. Die Quest-Aufgaben bauen in vielen Fällen aufeinander auf, wobei der Kompetenzgewinn verstärkt wird. Wenn Quests mit anderen Usern zusammen absolviert werden müssen, fördern sie auch die Teamfähigkeit.“ (PETROVA, 2019) • Erfahrungspunkte oder Incentives – „Incentives sind Anreize, die dazu anregen, weitere Aktionen in der Anwendung auszuführen. Am besten geht das durch Belohnungen für erzielte Resultate. Bei gamifizierten Anwendungen werden Incentives wie Erfahrungspunkte, Preise oder andere Auszeichnungen, die den User für seine Leistung belohnen, eingesetzt. So kann der Nutzer wertschätzen, was ihm die nächste Aktion in der Anwendung bringt.“ (PETROVA, 2019) • Rangliste – „Durch Ranglisten entsteht eine Art Wettbewerb zwischen den Anwendern, da sie den Fortschritt der anderen sehen und so Vergleiche zu dem eigenen Status ziehen können. Durch den Vergleich keimt ein Konkurrenzgedanke auf.“ (PETROVA, 2019) • Level – „Niveau, Rang, den etwas erreicht hat, auf dem sich etwas bewegt, Schwierigkeitsstufe, besonders bei Computerspielen.“ (DUDEN.DE, 2019) 7
2.2.Rechtliche Grundlagen der Leistungsbeurteilung in österreichischen Schulen Um ein Leistungsbeurteilungskonzept anwenden zu können, muss zunächst geklärt werden, ob es im rechtlichen Rahmen der Republik Österreich legal ist. Nachfolgend wird auf die Leistungsbeurteilungsverordnung (LBV) und das Schulunterrichtsgesetz (SchUG) Österreichs eingegangen und es werden Informationen zu den rechtlichen Verpflichtungen einer Lehrkraft in Bezug auf die Leistungsfeststellung gegeben. Die Leistungsbeurteilungsverordnung und das Schulunterrichtsgesetz wurden der Homepage des Rechtsinformationssystem des Bundes (RIS) entnommen. Das österreichische Schulunterrichtsgesetz, im Folgenden abgekürzt mit SchUG, gibt den rechtlichen Rahmen aller schulischen Ereignisse in Österreich vor. Mit Leistungsbeurteilung befassen sich die Paragraphen 18 bis 23. Spezifisch notwendig für das Erarbeiten eines erfahrungspunktebasierten Leistungsbeurteilungssystems im Rahmen dieser Diplomarbeit ist nur §18 des SchUG. Dieser wird nachfolgend im Detail besprochen. Alle weiteren Paragraphen des SchUG, welche sich mit Leistungsbeurteilung befassen, werden nicht angeführt, da diese auf §18 zurückverweisen oder spezifischere Aspekte wie die Gestaltung von Jahres- und Abschlusszeugnissen, Beurteilung von Fehlstunden, Leistungsbeurteilung einzelner Schulstufen oder Wiederholungsprüfungen definieren. An dieser Stelle wird auf detaillierte Ausführungen dieser Paragraphen verzichtet, da sie keinen weiteren Erkenntnisgewinn bieten und eine genauere Aufarbeitung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Allem voran wird an dieser Stelle §18 des SchUG zitiert und anschließend wird zusammenfassend formuliert, wie Leistungsbeurteilung gemäß des SchUG auszusehen hat. Zunächst verlangt §18 Absatz 1 folgendes: (1) Die Beurteilung der Leistungen der Schüler[innen und Schüler] in den einzelnen Unterrichtsgegenständen hat der Lehrer [oder die Lehrerin] durch Feststellung der Mitarbeit der Schüler[innen und Schüler] im Unterricht sowie durch besondere in die Unterrichtsarbeit eingeordnete mündliche, schriftliche und praktische oder nach anderen Arbeitsformen ausgerichtete Leistungsfeststellungen zu gewinnen. Maßstab für die Leistungsbeurteilung sind die Forderungen des Lehrplanes unter Bedachtnahme auf den jeweiligen Stand des Unterrichtes. (RIS, 2020b, S.13-14) Des Weiteren verlangt Absatz 2 desselben Paragraphen die Benotung von Leistungen mit Noten von Sehr gut (1) bis Nicht genügend (5): 8
(2) Für die Beurteilung der Leistungen der Schüler[innen und Schüler] sind folgende Beurteilungsstufen (Noten) zu verwenden: Sehr gut (1), Gut (2), Befriedigend (3), Genügend (4), Nicht genügend (5). In der Volksschule und der Sonderschule (Primarschule) ist der Beurteilung der Leistungen durch Noten eine schriftliche Erläuterung hinzuzufügen. In der Sonderschule (Sekundarstufe I) sowie an der Mittelschule kann das Klassenforum oder das Schulforum beschließen, dass der Beurteilung der Leistungen durch Noten eine schriftliche Erläuterung hinzuzufügen ist. (RIS, 2020b, S.14) Weiters wird in Absatz 3 der Gegenstand der Beurteilung definiert: (3) Durch die Noten ist die Selbständigkeit der Arbeit, die Erfassung und die Anwendung des Lehrstoffes, die Durchführung der Aufgaben und die Eigenständigkeit des Schülers [oder der Schülerin] zu beurteilen. (RIS, 2020b, S.14) Zur Vervollständigung wird noch auf Absatz 4 und 5 von §18 verwiesen, um alle allgemeinen und nicht fach- oder schulspezifischen Grundlagen der Leistungsbeurteilung im SchUG abzudecken. (4) Vorgetäuschte Leistungen sind nicht zu beurteilen. (5) Das Verhalten des Schülers [oder der Schülerin] in der Schule (§ 21) darf in die Leistungsbeurteilung nicht einbezogen werden. (RIS, 2020b, S.14) Zusätzlich zum SchUG ist eine Begutachtung der Leistungsbeurteilungsverordnung sinnvoll, welche nachfolgend mit LBV abgekürzt wird, da diese detailliert auf Leistungsbeurteilung eingeht. Überschneidungen der LBV und des SchUG wie beispielsweise in §2 Absatz 1 der LBV und §18 Absatz 1 des SchUG betreffend der Lehrplanorientierung werden im Nachfolgenden nicht erneut beleuchtet. An dieser Stelle wird auf §14 der LBV, welcher Beurteilungsstufen an österreichischen Schulen umfasst, eingegangen. Alle anderen Paragraphen der LBV sind entweder irrelevant für die Ausarbeitung dieser Diplomarbeit oder bereits im Paragraphen der SchUG inkludiert. (1) Für die Beurteilung der Leistungen der Schüler[innen und Schüler] bestehen folgende Beurteilungsstufen (Noten): Sehr gut (1), Gut (2), Befriedigend (3), Genügend (4), Nicht genügend (5). (2) Mit „Sehr gut“ sind Leistungen zu beurteilen, mit denen der Schüler [oder die Schülerin] die nach Maßgabe des Lehrplanes gestellten Anforderungen in der Erfassung und in der Anwendung des Lehrstoffes sowie in der Durchführung der Aufgaben in weit über das Wesentliche hinausgehendem Ausmaß erfüllt und, wo dies 9
möglich ist, deutliche Eigenständigkeit beziehungsweise die Fähigkeit zur selbständigen Anwendung seines Wissens und Könnens auf für ihn neuartige Aufgaben zeigt. (3) Mit „Gut“ sind Leistungen zu beurteilen, mit denen der Schüler [oder die Schülerin] die nach Maßgabe des Lehrplanes gestellten Anforderungen in der Erfassung und in der Anwendung des Lehrstoffes sowie in der Durchführung der Aufgaben in über das Wesentliche hinausgehendem Ausmaß erfüllt und, wo dies möglich ist, merkliche Ansätze zur Eigenständigkeit beziehungsweise bei entsprechender Anleitung die Fähigkeit zur Anwendung seines Wissens und Könnens auf für ihn neuartige Aufgaben zeigt. (4) Mit „Befriedigend“ sind Leistungen zu beurteilen, mit denen der Schüler [oder die Schülerin] die nach Maßgabe des Lehrplanes gestellten Anforderungen in der Erfassung und in der Anwendung des Lehrstoffes sowie in der Durchführung der Aufgaben in den wesentlichen Bereichen zur Gänze erfüllt; dabei werden Mängel in der Durchführung durch merkliche Ansätze zur Eigenständigkeit ausgeglichen. (5) Mit „Genügend“ sind Leistungen zu beurteilen, mit denen der Schüler [oder die Schülerin] die nach Maßgabe des Lehrplanes gestellten Anforderungen in der Erfassung und in der Anwendung des Lehrstoffes sowie in der Durchführung der Aufgaben in den wesentlichen Bereichen überwiegend erfüllt. (6) Mit „Nicht genügend“ sind Leistungen zu beurteilen, mit denen der Schüler [oder die Schülerin] nicht einmal alle Erfordernisse für die Beurteilung mit „Genügend“ (Abs. 5) erfüllt. (RIS, 2020a, S.10) In anderen Worten bedeutet das, dass Leistungsbeurteilung an österreichischen Schulen im Generellen dem Lehrplan des Unterrichtsfaches folgen muss. Die Lehrkraft muss dabei die Mitarbeit in Form von mündlichen, schriftlichen und praktischen Leistungen im Unterricht miteinbeziehen, sofern die Leistungen von den Schülerinnen und Schülern selbst- und eigenständig durchgeführt wurden. Nicht zu beurteilen sind Fehlverhalten in der Schule und vorgetäuschte Leistungen. Des Weiteren muss die Verteilung von Schulnoten nach den Beurteilungsstufen Sehr gut (1), Gut (2), Befriedigend (3), Genügend (4), Nicht genügend (5) erfolgen. Die Abgrenzungen der einzelnen Beurteilungsstufen sind aber nicht klar formuliert und unterliegen der individuellen Auslegung einzelner Lehrkräfte. Die genaue Vorgangsweise bei der Leistungsbeurteilung ist demnach nicht gesetzlich vorgegeben. Daraus wird schlussgefolgert, dass jede Lehrerin und jeder Lehrer ein individuelles Leistungsbeurteilungssystem verwenden kann, sofern es keine Merkmale aufweist, die den oben genannten Punkten widersprechen 10
2.3.Aktuelle Erkenntnisse zu Gamification Um den derzeitigen Wissenstand über Gamification angemessen zu erfassen, bietet sich zunächst das 2017 erschienene Sammelwerk „Gamification und Serious Games - Grundlagen, Vorgehen und Anwendungen.“ von STRAHINGER et al an. Die Autoren untersuchen zwar den Einfluss von Gamificationmethoden in Betrieben, jedoch können ihre Erkenntnisse auch für den Bildungsbereich angewendet werden. 2.3.1. Grundlagen der Gamification Als Ausgangspunkt eignen sich Prof. Dr. Stefan STIEGLITZs Forschungsergebnisse. Seine Arbeit mit dem Titel „Enterprise Gamification – Vorgehen und Anwendung“ gibt einen umfangreichen Einblick in die Grundlagen von Gamification, ihre derzeitige Verwendung und ihre Wirkungsweise. Kurz gefasst ist Gamification das Implementieren von spielerischen Elementen in nichtspielerischen Aktivitäten. Diese spielerischen Ansätze sind seit Jahrzehnten im Vormarsch und werden häufig auch unbewusst eingesetzt. Die am meisten verbreitete Form von Gamification ist das Sammeln von Punkten. Dazu gehören beispielsweise Loyalty-Programme oder Sammelpass-Aktionen von diversen Einzelhändlern (STIEGLITZ, 2017). STIEGLITZ nennt Beispiele, an denen man erkennt, welchen Einfluss Gamification auf das Verhalten der Nutzerinnen und Nutzer hat: „…Gamification [kann] auch gezielt eingesetzt werden, um das Verhalten von Personen in ihrem normalen Alltag zu beeinflussen. Ein Beispiel hierfür ist, spielerische Elemente zu nutzen, um ein energiesparendes Verhalten anzuregen. Hierzu gehören unter anderem wettbewerbliche Ansätze („Sie verbrauchen mehr Strom als eine bestimmte Vergleichsgruppe“). Auch kann das Streben nach Perfektion (Mastery) genutzt werden. So kann es eine Zielstellung sein, beim Autofahren möglichst energieeffizient bzw. abgasarm zu fahren und am Abschluss jeder Fahrt eine Analyse über das eigene Fahrverhalten zu erhalten (solcherlei Anwendungen gibt es bereits im Car Sharing). Eine andere Domäne, in der Verhaltensbeeinflussung eine Rolle spielt, ist der Gesundheitssektor. In der jüngeren Vergangenheit sind vermehrt Endgeräte und Applikationen auf den Markt gekommen, die einer Optimierung des eigenen gesundheitlichen Verhaltens dienen sollen (hierzu zählen Schritt- und Kalorienzähler, Blutdruckmesser). Diese Ansätze binden stark spielerische Elemente ein, indem Benchmarking betrieben wird, unmittelbare Feedbacks zur Bewegung und Ernährung gegeben.“ (STIEGLITZ, 2017, S. 11) Wenn diese spielerischen Elemente in einem internen betrieblichen Kontext genutzt werden, wie zur Verbesserung der Arbeits- und Lernprozesse, spricht STIEGLITZ von Enterprise Gamification. Er beschreibt die Sinnhaftigkeit wie folgt: 11
„Ziel von Enterprise Gamification ist es, dass die Anwender durch verschiedene spielerische Ansätze eine höhere Motivation verspüren, Aufgaben zu erledigen. Gamification basiert auf Elementen wie Punktelisten, High Scores, Auszeichnungen, virtuellen Gütern oder verschiedenen Spielebenen (Level). Dabei werden Grundbedürfnisse des Menschen angesprochen, wie der Wunsch nach Erfolg und Belohnungen (auch in Form von Ansehen und Reputation), das Streben danach, in Wettkämpfen überlegen zu sein oder ein bestimmtes Selbstbild zu vermitteln und die eigene Bekanntheit zu erhöhen.“ (STIEGLITZ, 2017, S. 4) An dieser Stelle wird auf die von STIEGLITZ erwähnten Grundbedürfnisse des Menschen eingegangen und aufgezeigt, wie diese durch Gamification angesprochen beziehungsweise befriedigt werden. STIEGLITZ erläutert diesen Effekt: „Gamifizierungselemente wirken, weil sie grundsätzliche Bedarfe oder Begehrlichkeiten des Menschen ansprechen. Hierbei sind zum einen Antriebe zu nennen (Wiegand und Stieglitz 2014), die aus einem eher intrinsischen Bedürfnis heraus entstehen, wie bspw. der Wunsch nach sozialem Austausch und der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Hierzu zählt auch das Streben nach der Perfektion bestimmter Fähigkeiten (Mastery) oder der Wunsch, etwas Nützliches und Relevantes tun zu wollen, Herausforderungen zu meistern und unabhängig und selbstverantwortlich agieren und gestalten zu können. Zu unterscheiden sind diese Motive von extrinsischen Anreizen, wie dem Wunsch nach sozialer Anerkennung (bspw. durch das Siegen in Wettbewerben), Belohnungen, Bekanntheit, Zugewinn von Einfluss und Macht oder Privilegien (Dale 2014).“ (STIEGLITZ, 2017, S. 4) Folgend argumentiert STIEGLITZ, dass Gamification-Ansätze hauptsächlich intrinsisch motivieren und extrinsische Motivatoren nebensächlich sind. Er nennt in weiterer Folge Beispiele und Bereiche, in denen Gamification bereits zum Vermitteln von Wissen verwendet wird. Ein weiterer Bereich, in dem Gamification-Ansätze erfolgreich implementiert wurden, ist die Aufnahme von Wissen. Sowohl im betrieblichen Kontext als auch in der klassischen Schul- und Universitätslehre gibt es inzwischen entsprechende Beispiele. Zu unterscheiden sind hier individuelle und kollektive Lernsituationen. Bei der individuellen Wissensaufnahme können sich einzelne Personen mit Fachinhalten beschäftigen und eigenständig Übungen durchführen. Unmittelbares Feedback, Benchmarking der Ergebnisse mit den Resultaten anderer Nutzer oder das Erreichen von neuen Wissensleveln sind Gamification-Elemente, die hier eine Rolle spielen können. (STIEGLITZ, 2017, S. 10). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Gamification laut STIEGLITZ verwendet wird, um gewünschtes Verhalten und gewünschte Verhaltensweisen zu belohnen und zu stärken. Punktelisten und der Vergleich zu anderen spielen dabei zentrale Rollen. Durch den Einsatz dieser Elemente werden Grundbedürfnisse wie der Wunsch nach sozialer Anerkennung befriedigt, was nachfolgend zu erhöhter Motivation führt. Diese Effekte können ebenfalls zur Wissensvermittlung genutzt werden. 12
2.3.2. Auswirkung von Gamification auf Motivation In diesem Unterkapitel werden die motivierenden Aspekte von Gamification und deren Wirkungsweise auf den Menschen erläutert. Um eine ausgewogene Betrachtung auf die Thematik zu gewährleisten, werden in weiterer Folge die Arbeit von Yu-Kai CHOU, einem Gamificationforscher, die vier Freiheiten des Spiels nach OSTERWEIL und die Selbstbestimmungstheorie nach DECI und RYAN angeführt. 2.3.2.1.Motivierende Aspekte der Gamification und Core Drives nach CHOU Wie STIEGLITZ argumentiert ist Gamification effektiv, weil sie Menschen dazu motiviert, Aufgaben zu erfüllen. Die Erkenntnisse von Yu-Kai CHOU, einem Pionier der Gamification, welcher sich seit mehr als zehn Jahren mit Gamification beschäftigt, eignen sich besonders, um die zugrundeliegenden Prozesse von Gamification und deren Auswirkung auf die menschliche Motivation aufzuzeigen. CHOU arbeitete unter anderem für globale Unternehmen wie LEGO, Google, Huawei, Porsche und hat dort zur Optimierung von Betriebsprozessen durch Gamification beigetragen. Gemäß CHOU ist Gamification ein Werkzeug zum Erstellen von Prozessen, welches sich hauptsächlich mit der menschlichen Motivation befasst. Er nennt diesen Vorgang „Human- Focused-Design“. Das Gegenstück dazu wäre „Function-Focused-Design“, welches sich hauptsächlich auf die Effizienz von Prozessen spezialisiert. CHOU beschreibt „Function- Focused-Design“ als eine Fabrik, die davon ausgeht, dass Menschen ihre Aufgaben erfüllen, weil sie es müssen. „Human-Focused-Design“ hingegen beachtet, dass Menschen in einem System Gefühle, Unsicherheiten und Gründe dafür haben, wenn sie bestimmte Aufgaben nicht erledigen. Deswegen wird bei Zweiterem versucht, bei der Optimierung von Prozessen auf die Gefühle und die Motivation von Menschen einzugehen. (vgl. CHOU, 2014) CHOU erklärt weiter, dass dieser Prozess heutzutage als Gamification bezeichnet wird, weil die Spieleindustrie, die erste war, welche „Human-Focused-Design“ gemeistert hat. Spiele erfüllen als Produkt keinen anderen Zweck als die Spieler und Spielerinnen zufriedenzustellen. Deswegen hat es CHOU sich zur Aufgabe gemacht die motivierenden Strategien von Spielen zu untersuchen. Daraufhin entstand das Tool Octalysis zum Analysieren von Bedürfnissen und innerem Antrieb oder wie CHOU sie bezeichnet „Core 13
Drives“. Dieses wird genutzt die motivierenden Aspekte von Prozessen, oder genauer von Gamificationprozessen, genauer zu betrachten. (vgl. CHOU, 2014) CHOUs acht „Core Drives“ sind: 1. „Epic Meaning & Calling“, 2. „Development & Accomplishment“ 3. “Empowerment of Creativity & Feedback“ 4. „Ownership & Possession“ 5. „Social Influence & Relatedness“ 6. „Scarcity & Impatience“ 7. „Unpredictability & Curiosity“ 8. „Loss & Avoidance“ Abbildung 1: CHOUs Octalysis – Übersicht über die motivierenden Aspekte der Gamification Quelle: CHOU, 2014 14
Mit Hilfe von Abbildung 1 „CHOUs Octalysis – Übersicht über die motivierenden Aspekte der Gamification“ wurden die „Core Drives“ visualisiert und nachfolgen werden sie genauer beschrieben. „Epic Meaning & Calling“ sind für CHOU das Bedürfnis, etwas zu erstellen, das größer ist als das Individuum. Im Spielekontext wird man zur Heldin oder zum Helden. In der Realität kann sich das in vielen Aspekten zeigen, wobei ein bekanntes Beispiel die Online- Enzyklopädie Wikipedia ist, in der Millionen von Nutzerinnen und Nutzern kostenlos Wissen zu Verfügung stellen. Weiter kann man darin auch den Antrieb erkennen, etwas zu verbessern und die Entwicklung seines Feldes voranzutreiben. Beispiele hierfür sind die Forschung an Universitäten und die Entwicklung von Betriebsprozessen durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Abbildung 2: CHOUs Octalysis – Analyse von Facebook anhand der acht „Core Drives“ Quelle: CHOU, 2014 15
„Development & Accomplishment“ sind das Bedürfnis nach persönlichem Fortschritt, dem Meistern von Herausforderungen um das Erlangen von Trophäen oder Belohnungen dafür. Gemäß CHOU ist dieses Bedürfnis am einfachsten zu befriedigen, indem Punkte verteilt und Bestenlisten erstellt werden. “Empowerment of Creativity & Feedback“ sind das Bedürfnis danach, sich kreativ ausleben zu können, das Ergebnis der Kreativität zu sehen und von anderen Rückmeldung beziehungsweise Anerkennung für die erbrachte Leistung zu erhalten. Als Beispiel wird LEGO-Spielen oder Malen genannt, da diese in sich selbst zufriedenstellende Aktivitäten sind. „Ownership & Possession“ sind der Antrieb, etwas zu besitzen und zu sammeln. Wenn Spielerinnen und Spieler das Gefühl haben etwas zu besitzen, werden sie daran arbeiten, es zu behalten und wenn möglich auszubauen. Ein Beispiel hierfür ist das Sammeln von Treuepunkten, Briefmarken oder anderen Objekten. „Social Influence & Relatedness“ sind alle Motivatoren, die durch soziale Elemente entstehen. Dazu zählen Akzeptanz, Betreuung durch einen Mentor, Freundschaft, Rivalität, Wettbewerb und Neid. Als Beispiel nennt CHOU, dass man, wenn ein Freund oder eine Freundin etwas Großartiges erreicht hat, motiviert ist, ebenfalls etwas Großartiges zu vollbringen. Dazu gehört ebenfalls das Bedürfnis nach Vertrautem. „Scarcity & Impatience“ ist das Bedürfnis etwas haben zu wollen, weil man es nicht sofort haben kann oder weil es schwer erreichbar ist. Dies wird beispielsweise von Unternehmen mit „Limited Editions“ genutzt. „Unpredictability & Curiosity“ spricht das Bedürfnis an herauszufinden, was als Nächstes passiert. Aufgrund dieses Motivators lesen viele gerne Bücher oder sehen Filme. Dies ist auch die Grundlage von Spielsucht und wurde jahrzehntelang als Hauptgrund für das Spielen und Sammeln von Punkten betrachtet. „Loss & Avoidance“ beschreibt das Bedürfnis, bereits Erlangtes nicht zu verlieren beziehungsweise Negatives zu vermeiden. Dies kann beispielsweise der Verlust der Position auf einer Rangliste sein oder das Gefühl, eine einmalige Chance zu verpassen. 16
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass man mittels CHOUs Octalysis einen ausführlichen Überblick über die Gamificationaspekte von Produkten, Plattformen und Methoden erlangen kann. Dafür wird jedem der acht „Core Drives“ ein Wert von 0-10 zugeordnet und die Ergebnisse grafisch dargestellt. Dies ist für die Überlegung außerordentlich wichtig, welche Aspekte einer Methode auf Menschen motivierend wirken können. Anhand von Abbildung 2 kann man erkennen, wie eine solche Analyse mittel Octalysis aussieht. (vgl. CHOU, 2014) CHOU nutzt diese Theorie hauptsächlich für die Betrachtung von Spielen, Social-Media- Plattformen und Unternehmensprozessen, jedoch kann man seine Theorien ohne Vorbehalte auch auf den schulischen Kontext und Lernmotivation übertragen. 2.3.2.2.Die vier Freiheiten nach OSTERWEIL Scot OSTERWEIL, ein Designer von kommerziellen und pädagogisch wertvollen Lernspielen, plädiert dafür, dass es in der menschlichen Natur liegt, zu spielen. Ebenso liegt es in der menschlichen Natur, sich Herausforderungen zu stellen und diese zu meistern. Damit eine Verbindung dieser beiden natürlichen Antriebe gewährleistet werden kann, müssen die vier Freiheiten des Spiels und Lernens gegeben sein. OSTERWEIL definiert diese in einem Vortrag an der Harvard Business School in Cambridge, Massachusetts wie folgt: • „The Freedom to Experiment“: Die Spielerinnen und Spieler müssen die Gelegenheit haben, zu experimentieren und selbstständig an verschiedenen Lösungswegen für Problemstellungen zu arbeiten. • „The Freedom to Fail“: Die Spielerinnen und Spieler können und dürfen Fehler machen. Wenn das Spiel dadurch eingeschränkt wird, dass man keine Fehler machen darf, gehen wertvolle Gelegenheiten zum Lernen verloren. • „The Freedom to Try on Identities“: Die Spielerinnen und Spieler können neue Rollen annehmen, diese frei ausleben und dadurch Herausforderungen aus anderen Perspektiven betrachten. • „The Freedom of Effort“: Die Spielerinnen und Spieler dürfen entscheiden, wann, wie intensiv und wie viel sie spielen möchten. Sobald sie ein externer Einfluss zum Spielen zwingt, entsteht keine Spielsituation, sondern eine Arbeitssituation. (vgl. OSTERWEIL, 2007) 17
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass OSTERWEILs vier Freiheiten des Spiels einen außerordentlich positiven Einfluss auf Lernen haben können. Gut gestaltete Gamificationprozesse sollten diese Freiheiten dementsprechend berücksichtigen, damit das Spiel und somit der natürliche spielerische Antrieb von Menschen erhalten bleibt und genutzt werden kann. 2.3.2.3.Intrinsische und extrinsische Motivation und die Selbstbestimmungstheorie nach DECI und RYAN Nach DECI und RYANs Selbstbestimmungstheorie steht im Mittelpunkt jeder Motivation das menschliche Selbst, das sie als sich ständig wandelndes Resultat der persönlichen Entwicklung bezeichnen. Die Forscher untersuchten, inwiefern Motivation von einem selbst, also selbstbestimmt, oder von externen Faktoren wie Belohnungen oder im schulischen Kontext von Schulnoten entsteht. Diese beiden Arten der Motivation werden in der Fachliteratur üblicherweise als intrinsische und extrinsische Motivationsfaktoren bezeichnet. Nach DECI und RYAN sind Zeichen für intrinsische Motivation interessengeleitete Handlungen, die von keinen externen Faktoren beeinflusst werden. Es folgt die Definition der Autoren: „Intrinsische Motivation beinhaltet Neugier, Exploration, Spontaneität und Interesse an den unmittelbaren Gegebenheiten der Umwelt. Evident wird sie im Bestreben, eine Sache voll und ganz zu beherrschen“. (DECI und RYAN, 1993, S.225) Der Gegensatz dazu sind folglich extrinsische Motivationsfaktoren, die „in Verhaltensweisen sichtbar [werden], die mit instrumenteller Absicht durchgeführt werden, um eine von der Handlung separierbare Konsequenz zu erlangen. Extrinsisch motivierte Verhaltensweisen treten in der Regel nicht spontan auf; sie werden vielmehr durch Aufforderungen in Gang gesetzt, deren Befolgung eine (positive) Bekräftigung erwarten läßt [sic], oder die auf andere Weise instrumentelle Funktion besitzen.“ (DECI und RYAN, 1993, S.225). Daraus lässt sich schließen, dass jede Art der Leistungsbeurteilung an sich extrinsisch motiviert ist, da positives Verhalten mit guten Schulnoten belohnt wird. „Intrinsisch motivierte Handlungen repräsentieren den Prototyp selbstbestimmten Verhaltens. Das Individuum fühlt sich frei in der Auswahl und Durchführung seines Tuns. Das Handeln stimmt mit der eigenen Auffassung von sich selbst überein. Die intrinsische Motivation erklärt, warum Personen frei von äußerem Druck und inneren Zwängen nach einer Tätigkeit streben, in der sie engagiert tun können, was sie interessiert“ (DECI und RYAN, 1993, S.227) 18
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