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Amt und Gemeinde 66. Jahrgang, Heft 3–4, 2016 € 6, – Reformation „DIE SONNE, DER TAG, DAS LICHT DER KIRCHE“. Die Rechtfertigungslehre als Zentrum der Theologie Martin Luthers Ulrich H. J. Körtner 180 Luthers Satanologie Max Suda 194 Zum „Nutzen und Aufbau der Kirchen“. 450 Jahre Zweites Helvetisches Bekenntnis Matthias Freudenberg 200 „Gemalte Rechtfertigung“ in Ranten. Die Gesetz und Gnade-Bilder von Lucas Cranach und Wenzel Aichler Gottfried Adam 213 Geistliches Leben bei den Reformatoren. Anregungen für heute. Ernst Hofhansl 230 Und weitere Beiträge Evangelischer Presseverband Herausgeber: Bischof Michael Bünker
INHALT Editorial .......................................................................................... 177 Robert Schelander „DIE SONNE, DER TAG, DAS LICHT DER KIRCHE“. Die Rechtfertigungslehre als Zentrum der Theologie Martin Luthers ................................................................................ 180 Ulrich H. J. Körtner Luthers Satanologie ....................................................................... 194 Max Suda Zum „Nutzen und Aufbau der Kirchen“. 450 Jahre Zweites Helvetisches Bekenntnis ................................. 200 Matthias Freudenberg „Gemalte Rechtfertigung“ in Ranten. Die Gesetz und Gnade-Bilder von Lucas Cranach und Wenzel Aichler ................. 213 Gottfried Adam Geistliches Leben bei den Reformatoren. Anregungen für heute. ................................................................... 230 Ernst Hofhansl *** Das Gasthaus. Andacht zu Psalm 23. ........................................... 251 Karl Schiefermair Superintendent – kein Titel sondern Ruf. ...................................... 254 Lars Müller-Marienburg EmK – eine mutige Kirche! ............................................................ 257 Stefan Schröckenfuchs
*** Anhang AutorInnen .............................................................................................. 263 Jahresregister 2016 ................................................................................ 264 Impressum .............................................................................................. 266
MITEINANDER Editorial D as 500-jährige Reformationsjubi- läum beschäftigt uns in den Kirchen und in den theologischen Forschungsstät- In den Vorbereitungen auf das Reforma- tionsjubiläum wurde immer wieder dar- auf hingewiesen, dass in Bezug auf die ten. Viele Veranstaltungen und Ausstel- Person Martin Luthers dessen „dunkle lungen wurden für dieses Jahr vorbereitet Seiten“ nicht vergessen werden dürfen und viele Vorträge und wissenschaftliche und diese angemessen vorkommen sollen. Beiträge verfasst, welche sich mit den Vielfach ist dabei an die judenfeindlichen Umwälzungen der Reformationszeit und Spätschriften Luthers erinnert worden. ihren Wirkungen nicht nur auf religiöses Max Suda, pensionierter systematischer Leben und die Kirchen, sondern auch auf Theologe der Evangelisch-Theologischen Kunst und Kultur, Politik und Gesellschaft Fakultät, erinnert an eine andere, dunkle beschäftigen. Wir haben in diesem Heft Seite Luthers, die uns „erschrecken“ muss einen bunten Strauß von diesen litera- und soll: Luthers Ausführungen über den rischen Auseinandersetzungen mit dem Teufel, die so zahlreich sind, dass Suda Thema Reformation im weiteren Sinne von einer Satanologie bei Luther spricht. dokumentiert. Suda zeigt an einigen Beispielen wie Lu- ther im Hinblick auf den Satan denkt und Zum Teil sind es neue Blicke auf schein- argumentiert. Auch in Luthers Kirchenlie- bar Altbekanntes. Die Rechtfertigungs- der findet er Bezüge zum Teufel, wenn im lehre gilt als zentraler theologischer Be- Lied „Ein feste Burg“ „der alt böse Feind“ griff der Reformation. Ulrich Körtner, genannt wird. Suda zeigt, wie Luther in systematischer Theologie an der Evan- seinen Teufelsvorstellung von Augustinus gelisch-Theologischen Fakultät, zeigt an- her denkt. Die Schlussfolgerungen des hand von Luthers Kleinem Katechismus Autors über die weitreichenden Folgen wie die Rechtfertigungslehre die Grund- von Luthers Teufelsvorstellungen: Mit- struktur dieses theologischen Textes bil- schuld an Judenverfolgung und Antise- det und wie sehr Luther „rechtfertigungs- mitismus, dieser Vorwurf wird vielleicht theologisch denkt und argumentiert“. Die nicht von allen Leserinnen und Lesern Rechtfertigungslehre wird zu Recht als geteilt, aber ein wichtiger Hinweis für „impulsgebende Mitte der Reformation“ ein ausgewogenes Gedenken ist der Bei- angesehen. trag allemal. Amt und Gemeinde 177
Nach so viel Aufmerksamkeit für Martin interpretiert sie theologisch und kunst- Luther öffnet ein weiterer Beitrag den geschichtlich, um zum Schluss in einer Blick für die konfessionelle Weite der ganzheitlichen Weise eine meditativ ge- Reformation. Mit seinem Beitrag über führte Lesung / Betrachtung des Bildes das zweite Helvetische Bekenntnis erin- zu präsentieren. nert Matthias Freudenberg, Professor für Systematische Theologie mit Lehraufträ- Ernst Hofhansel, ehemaliger Pfarrer der gen an der Universität in Saarbrücken und evangelischen Pfarrgemeinde Neunkir- der Kirchlichen Hochschule in Wupper- chen und Senior der Michaelsbruder- tal/Bethel, an das nach dem Heidelberger schaft, greift in seinem Beitrag über das Katechismus am weitesten international geistliche Leben bei den Reformatoren die verbreitete reformierte Bekenntnis und Aufforderung ecclesia semper reformanda damit an jene Bekenntnisgrundlage, wel- auf und fragt, wo wir in der Kirchenge- che der reformierten Kirche in Österreich schichte und in der Bibel Reformimpulse ihren Namen gab: Evangelisches Kirche finden? Damit lenkt er unsere Aufmerk- Helvetischen Bekenntnisses (H. B.). Sach- samkeit über jene Personen, welche wir kundig führt der Autor in die inhaltlichen im engeren Sinne als Reformatoren be- Grundzüge des Bekenntnisses ein und for- zeichnen, hinaus auf all jene, „die von muliert Impulse für gegenwärtiges Leben Anfang an die Christenheit in Gemeinden in der Gemeinde und Kirche. und Kirchen kritisch beobachtet haben und gegebenenfalls Veränderungen und Die Reformation fand nicht nur Nieder- Korrekturen verlangten“. Anregungen für schlag in theologischen Texten, sondern geistliches Leben findet der Autor in vie- hat ihr Anliegen auch bildlich zum Aus- len Gestaltungen kirchlichen Lebens in druck gebracht. Gottfried Adam, Emeri- der Geschichte, welche mit der bekann- tus für evangelische Religionspädagogik ten viergliedrigen Formel zur Vielfalt und der Evangelisch-Theologischen Fakultät Einheit kirchlichen Lebens: Martyria, Lei- in Wien greift das bekannte Bild von Lu- turgia, Diakonia und Koinonia umfasst cas Cranach mit dem Titel „Gesetz und werden können. Gnade“, welches „den zentralen theologi- schen Lehrsatz der Reformation von der Drei kleinere Beiträge dokumentieren ak- ‚Rechtfertigung allein aus Glauben‘ auf tuelles geistliches Leben und personelle gekonnte Weise in ein Bild umgesetzt“, kirchliche Veränderungen. Auch hier zeigt auf und verbindet es mit einem Gesetz sich, wie reformatorisches Erbe im Hin- und Gnade Fresko an der Pfarrkirche zu blick auf gesellschaftliches und politisches Ranten bei Murau in der Steiermark. Der Leben unserer Zeit bedacht wird. Ober- Entstehungszeitraum der Rantener Bil- kirchenrat Schiefermair spricht in einer der liegt ebenfalls im 16. Jahrhundert. Andacht über Psalm 23 vor der Konferenz Adam geht den Bildmotiven nach und der Referentinnen und Referenten für Bil- 178 Amt und Gemeinde
dungs-, Erziehungs- und Schulfragen in falls neu in das Amt als Superintendent den Gliedkirchen der EKD die Aufnahme der Evangelisch-methodistischen Kirche von Flüchtlingen in Österreich an. Lars in Österreich eingeführt wurde, erinnert Müller-Marienburg entfaltet anlässlich an den „Reformator“ John Wesely und der Predigt zu seiner Amtseinführung als er zeigt wie dieser auch gegenwärtiges Superintendent in Niederösterreich den methodistisches Leben beeinflusst. ■ Ruf und Auftrag, den dieses Amt an ihn stellt. Stefan Schröckenfuchs, der eben- Robert Schelander Amt und Gemeinde 179
R E F O R M AT I O N „DIE SONNE, DER TAG, DAS LICHT DER KIRCHE“ Die Rechtfertigungslehre als Zentrum der Theologie Martin Luthers1 Von Ulrich H. J. Körtner 1. Die Stellung der Recht doctrinae nostrae)“2. Er ist für den Re- fertigungslehre innerhalb formator „die Sonne, der Tag, das Licht der Theologie Luthers im der Kirche (Ipse sol, dies, lux Ecclesiae et ökumenischen Vergleich omnis fiduciae iste articulus)“3. Er ist die Sonne, welche die Kirche erleuchtet, und Die1Rechtfertigungslehre steht im Zen- der Artikel mit dem sie steht und fällt.4 trum der Theologie Martin Luthers. Er Die Zentralstellung der Rechtfertigungs- selbst bezeichnet den Artikel von der lehre innerhalb seiner Theologie betont Rechtfertigung als „das zentrale Lehr- Luther auch, indem er sie zum „Meister stück unserer Lehre (principalem locum und Fürst, Herr[n], Leiter und Richter über alle Arten von Lehren“ erklärt, „der 1 Vortrag auf dem Symposium „Luther im Widerstreit 2 WA 40 III,335,5–10 (Vorlesung über die Stufen- der Konfessionen“, 5.–7.10.2016, veranstaltet von p salmen 1532/33, Auslegung von Ps 130). der Evangelisch-Theologischen Fakultät und der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität 3 Ebd. Wien. 4 Vgl. WA 40 III,352 1–3. 180 Amt und Gemeinde
alle kirchliche Lehre bewahrt und lenkt ten Artikel, wie sie bei Luther vorliegt, und unser Gewissen vor Gott aufrichtet“5. ist ohne jeden Vorläufer.“7 Lohse folgt damit dem Urteil Ernst Bernhard Lohse urteilt: Wolfs, der die Rechtfertigungslehre als „Es war das erste Mal in der gesam- „Mitte und Grenze“ 8 von Luthers Theo- ten Theologie- und Dogmengeschichte, logie beurteilt hat. Beide teilen die Sicht- daß sich für einen Theologen die ent- weise Albrecht Ritschls und der Schule Karl scheidende Wahrheit des christlichen Holls, welche die neuere Lutherforschung Glaubens in solcher Weise auf einen be- geprägt hat9. Man versteht Luthers Recht- stimmten Artikel konzentrierte. Weder fertigungslehre freilich nicht, wenn man für Augustin noch für Petrus Lombardus von ihrem eschatologischen Kontext ab- noch für Thomas von Aquin oder für sieht, auf den in jüngerer Zeit insbesondere Bonaventura – um nur diese zu nen- Albrecht Peters hingewiesen hat.10 Je mehr nen – läßt sich das gesamte theologische die Erwartung des Jüngsten Gerichts in der Denken von einem solchen Zentrum her, Moderne verblasste, desto mehr büßte die wie auch immer man dieses definieren Rechtfertigungslehre in ihrer traditionellen wollte, bestimmen. Schon gar nicht hat reformatorischen Gestalt an Überzeugungs- die Rechtfertigungslehre in der Zeit vor kraft ein. Gerade weil die Rechtfertigungs- dem 16. Jahrhundert eine auch nur ir- lehre für Luther zentral und aufs engste mit gend vergleichbare Bedeutung gehabt allen anderen dogmatischen Lehrstücken in wie bei Luther.“6 einer Weise verwoben ist, die ihresgleichen sucht, stürzt die neuzeitliche Infragestel- Zwar war die Lehre von Sünde und Gnade lung des Gerichtshorizontes die Lutherre- seit Augustin und dem pelagianischen zeption in große Verlegenheit, aus der die Streit durch die gesamte abendländische neuere evangelische Theologie unterschied- Kirchengeschichte intensiv reflektiert liche Auswege gesucht hat, etwa indem die worden. Einzelne Aspekte, die Luther in Rechtfertigungserfahrung psychologisie- seiner Rechtfertigungstheologie neu be- rend zur Erfahrung des bedingungslosen handelt hat, findet man auch schon bei Angenommenseins umgedeutet wurde. Auf scholastischen Theologen. „Aber eine der- artige Konzentration auf einen bestimm- 7 Ebd. 8 Vgl. Ernst Wolf, Die Rechtfertigungslehre als Mitte und Grenze reformatorischer Theologie, in: ders., 5 „Articulus iustificationis est magister et princeps, Peregrinatio II. Studien zur reformatorischen Theolo- dominus, rector et iudex super omnia genera doctri- gie, zum Kirchenrecht und zur Sozialethik, München narum, qui consevat et gubernat omnem doctrinam 1965, S. 11–21. ecclesiasticam et erigit conscientiam nostram coram 9 Vgl. Karl Holl, Was hat die Rechtfertigungslehre Deo“ (WA 39 I,205,2–5 [Promotionsdisputation von dem modernen Menschen zu sagen?, in: ders., Ge- Palladius und Tielemann, 1537]). sammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. III: 6 Bernhard Lohse, Luthers Theologie in ihrer histo- Der Westen, Tübingen 1928, 558–567. rischen Entwicklung und in ihrem systematischen 10 Vgl. Albrecht Peters, Rechtfertigung (HST 12), Zusammenhang, Göttingen 1995, S. 275. Gütersloh 1984, bes. S. 199 ff, 232 ff. Amt und Gemeinde 181
ihrer Basis wird der Mensch ermutigt, sich Korsch feststellt, mit innerer Notwendig- selbst anzunehmen wie er ist – wobei die keit scheitern musste.12 verflachende Lesart dieser Denkfigur dar- Die Besonderheit der Rechtfertigungs- auf hinausläuft, den für Luther zentralen lehre Luthers und ihrer theologischen Zen- Gedanken der lebenslangen Buße, also der tralstellung zeigt sich im Vergleich mit der Umkehr zu einem neuen Lebenswandel, der spätmittelalterlichen katholischen Theo- wiederum ohne die Erwartung des Rich- logie – von Korsch, dem Sprachgebrauch tergottes am Ende der Zeiten nicht zu ver- der Reformationszeit als „altgläubig“13 stehen ist, unter den Tisch fallen zu lassen. bezeichnet –, die der Rechtfertigungslehre Ohne eine klare Bestimmung des zen- einen anderen Ort als Luther zugewiesen tralen Ortes der Rechtfertigungslehre in- hat. Die katholische Ortsbestimmung ist nerhalb der Theologie Luthers lässt sich durch das Rechtfertigungsdekret des Tri- freilich auch in ökumenischen Dialogen enter Konzils erneuert und fortgeschrie- keine tragfähige Einigkeit über ein ge- ben, im Kern aber nicht verändert wor- meinsames Verständnis der Rechtfer- den. Auch die Gemeinsame Erklärung tigung des Gottlosen allein durch den zur Rechtfertigungslehre hat zu keiner Glauben finden. Soweit auch andere Tra- substantiellen Veränderung geführt. Ge- ditionsstränge reformatorischer Theolo- meinsam erklären die beteiligten Kirchen gie den Einsichten Luthers folgen – was in Nr. 18 zwar, die Rechtfertigungslehre doch zumindest für die Theologie Cal- sei „nicht nur ein Teilstück der christli- vins gilt –, trifft dieses Urteil nicht nur chen Glaubenslehre. Sie steht in einem auf den lutherisch-römisch-katholischen wesenhaften Bezug zu allen Glaubens- Dialog zu, sondern gilt auch für das Ge- wahrheiten, die miteinander in einem in- spräch der römisch-katholischen Kirche neren Zusammenhang zu sehen sind.“14 mit anderen reformatorischen Kirchen. Dann aber heißt es abschwächend, die Die Gemeinsame Erklärung zur Recht- Lehre von der Rechtfertigung sei lediglich fertigungslehre von Lutherischem Welt- „ein unverzichtbares Kriterium, das die bund und römisch-katholischer Kirche gesamte Lehre und Praxis der Kirche un- aus dem Jahr 1999 ist bei genauerer Be- ablässig auf Christus hin orientieren will. trachtung das Dokument eines Scheiterns. Wenn Lutheraner die einzigartige Bedeu- Es dokumentiert den Versuch, „über den tung dieses Kriteriums betonen, verneinen Sinn der Rechtfertigungslehre unabhän- sie nicht den Zusammenhang und die Be- gig von deren theologischer Systemstelle deutung aller Glaubenswahrheiten. Wenn Einigkeit zu erzielen“11, der, wie Dietrich Katholiken sich von mehreren Kriterien 12 Vgl. ebd. 11 Dietrich Korsch, Glaube und Rechtfertigung, in: 13 Ebd. Albrecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 14 Vgl. auch Anhang (Annex) zur Gemeinsame offiziel- 2005, S. 372–381, hier S. 372. len Feststellung, Nr. 3. 182 Amt und Gemeinde
in Pflicht genommen sehen, verneinen sie der Menschwerdung zu verbreiten.18 Die nicht die besondere Funktion der Recht- Rechtfertigungslehre ist der formelhafte fertigungsbotschaft.“ (Nr. 18) Inbegriff für das Heilswerk Christi und Wie wir bereits sahen, kann auch Lu- seine theologische Entfaltung, bei der ther den Artikel von der Rechtfertigung Luther freilich auf die Begrifflichkeit als Leiter (rector) und Richter (iudex) der Rechtfertigungslehre auch verzich- über alle anderen Lehrstücke bezeich- ten kann, wie man sich exemplarisch an nen. Jedoch ist die Rechtfertigungslehre Luthers Kleinem Katechismus und hier bei ihm keineswegs bloß ein Kriterium insbesondere an seiner Auslegung des – und sei es auch „ein unverzichtbares“ Apostolischen Glaubensbekenntnisses – und schon gar nicht ein Kriterium ne- vor Augen führen kann. Zwischen Glau- ben allen möglichen anderen, sondern bensvollzug und Glaubensverständnis das inhaltliche Zentrum aller Theologie. bzw. zwischen Rechtfertigung als Grund- Sie steht nicht nur in einem wesenhaften vorgang des christlichen Glaubens und Bezug zu allen übrigen Glaubensinhal- Rechtfertigungslehre als seiner Interpre- ten, sondern sie ist – mit Ernst Wolf ge- tation ist also zu unterscheiden. Der Sa- sprochen – „der formelhafte Ausdruck che nach aber gilt für Luther, dass die der neuen Christusverkündigung“15 bzw. Rechtfertigung mit dem Glauben, genauer „nichts anderes als der recht verstandene gesagt: in Gestalt des Glaubens empfan- Glaube an Christus“16, wie Paul Althaus gen wird. schreibt. Letztlich setzt Luther Theologie Zusammengefasst gilt für Luther in und Rechtfertigungslehre gleich.17 denkbar umfassendem Sinn, dass der Ge- Ganz im Sinne Luthers erklärt Me- rechte aus Glauben leben wird, wie Pau- lanchthon in seinen Loci Communes lus in Röm 1,17 schreibt, dabei Hab 2,4 von 1521, Christus erkennen heiße, seine zitierend. Im Unterschied zur katholi- Wohltaten an uns Menschen erkennen schen Gnadenlehre, welche die den Glau- anstatt sich wie die Scholastiker über die ben weckende Anfangsgnade und die den beiden Naturen Christi oder die Arten weiteren Heilsprozess vollendende Gnade unterscheidet, sieht Luther die Gnade Got- tes im Akt des Glaubens und in ihrer gan- zen Fülle gegeben. Darum fügt er in seiner 15 Ernst Wolf, Die Christusverkündigung bei Luther, in: ders., Peregrinatio [I]. Studien zur reformatorischen Übersetzung von Röm 3,28 ein „allein“ Theologie und zum Kirchenproblem, München 21962, S. 30–80, hier S. 30, Anm. 2; vgl. ders., hinzu. Das sola fide ist als Zuspitzung a. a. O. (Anm. 8), S. 19. des sola gratia zu verstehen. Und gerade 16 Paul Althaus, Die Theologie Martin Luthers, in dieser Zuspitzung unterscheidet sich Gütersloh 61983, S. 196. 17 Vgl. Walter Mostert, Luthers Rechtfertigungsleh- re – Luther als Theologe, in: ders., Erfahrung als Kriterium der Theologie. Theologische Brocken aus 18 Vgl. Philipp Melanchthon, Loci Communes 1521. drei Jahrzehnten (1966–1995), hg. v. Karl Adolf Bau- Lateinisch – Deutsch, übers. v. Horst Georg Pöhl- er u.a., Zürich 2008, S. 99–107, hier S. 99. mann, Gütersloh 1993, S. 23. Amt und Gemeinde 183
das sola gratia bei Luther vom vor- wie Zwischen der Hoffnung auf die Über- vom nachreformatorischen katholischen macht der göttlichen Gnade und der An- Gnadenverständnis. kündigung des Gerichtes nach den Werken Dieses betrachtet die Rechtfertigung besteht eine unausgeglichene Ambiva- lediglich als Teilmoment im Heilsprozess, lenz. Sie hängt wiederum damit zusam- der in der Erlangung des ewigen Lebens men, dass Gott und Menschen auf dem zu seinem Ziel kommen soll. Dank der Weg zum Heil zusammenwirken müssen. göttlichen Gnade, die dem Menschen ein- Auch wenn diese Möglichkeit allein durch gegossen wird, gelangt der Mensch zum Gottes zuvorkommende Gnade eröffnet Glauben, der durch die Liebe geformt und wird, kann doch der Mensch mit Blick auf so auf das Ziel des Heilsprozesses ausge- den von ihm zu leistenden Anteil niemals richtet wird. Die Gnade wird sakramental seines endgültigen Heils gewiss sein.19 vermittelt, und zwar nicht nur einmalig, Seine Hoffnung kann sich allein auf die sondern beständig neu, weil der Glau- Verkündigung der Kirche und auf seine bende auf seinem Weg zur Vollendung Zugehörigkeit zu ihr als Institution der sa- immer wieder Rückschläge erleidet. Die kramentalen Gnadenvermittlung stützen. Rechtfertigung erstreckt sich nicht auf den Die Glaubwürdigkeit der Kirche und die Glauben allein, sondern auf das gesamte Zuverlässigkeit ihrer Lehre müssen un- Leben aus Glauben, der in der Liebe tä- terstellt werden, bevor sich der Mensch tig ist. Sie kann daher erst im Jüngsten überhaupt in ein persönliches Gottesver- Gericht zum Anschluss gelangen. Wäh- hältnis gestellt sieht. Zwar erklärt das rend der gesamten Dauer des irdischen kirchliche Lehramt, dass Gott durch das Lebens kann es darum keine definitive natürliche Licht der menschlichen Ver- Heilsgewissheit geben, sondern lediglich nunft aus der Schöpfung gewiss erkannt die Hoffnung auf endgültige Annahme werden kann,20 doch steht die Gewissheit durch Gott, die sich auf den Glauben der natürlichen Gotteserkenntnis offenbar an die Übermacht der göttlichen Gnade auf schwankendem Boden, wenn sie erst stützt. Dieser Glaube stützt sich auf die durch das kirchliche Lehramt definiert Lehre der Kirche, die zwar Glaubensge- werden muss.21 Diese Probleme finden wissheit, aber eben keine Heilsgewissheit bei Luther eine neue Lösung. vermittelt. Luther erkannte, dass dieses Verständ- 19 Walter Mostert, Zur Frage der Heilsgewissheit in der tridentinisch-katholischen Theologie und bei Luther, nis der Heilsvermittlung mit gravierenden in: ders., a. a. O. (Anm. 17), S. 109–125, hier S. 117, Problemen behaftet ist. Zunächst stellt wirft die Frage auf: „Hat die Ungewissheit ihren Grund im Sakrament oder ist nicht vielmehr das sich die Frage, weshalb sich der Mensch Sakrament eine Folge der Ungewissheit?“ in seinem Leben um eine gottwohlgefäl- 20 Vgl. DH 3004 (1. Vatikanum). Die Aussage wird in lige Lebensführung bemühen soll, wenn der dogmatischen Konstitution des 2. Vatikanums (DV 6) sowie im Katechismus der Katholischen sein ewiges Schicksal am Ende doch aus- Kirche (KK Nr. 36) aufgegriffen und wörtlich zitiert. schließlich von der Gnade Gottes abhängt. 21 Vgl. W. Mostert, a. a. O. (Anm. 19), S. 121. 184 Amt und Gemeinde
Ich werde im Folgenden (2) zunächst setzen ist mit der im Glauben bestehenden die Rechtfertigungslehre Luthers in ihren Heilsgewissheit.23 Diese Gewissheit gilt Grundzügen darstellen. Dass die Recht- unbedingt, weil sie in der Unbedingtheit fertigungslehre bei Luther auch dort des göttlichen Willens gründet und nicht zentral ist, wo er auf ihre Terminologie vom menschlichen Willen abhängt, dessen verzichtet, möchte ich in einem weiteren Freiheit in der Frage des Heils von Luther Schritt (3) an Luthers Kleinem Katechis- – der hier Augustin folgt – ausdrücklich mus zeigen, der zu den lutherischen Be- bestritten wird. Während das katholische kenntnisschriften gehört und somit auch Modell Gnadengewissheit und Heilsge- für das heutige Luthertum ein Schlüssel- wissheit unterscheidet, fallen beide bei text ist. Sodann (4) möchte ich anhand Luther zusammen. Die Rechtfertigung – von Calvins Auseinandersetzung mit dem und das heißt die Anerkennung und An- Rechtfertigungsdekret des Trienter Kon- nahme des Sünders durch Gott – ist nicht zils zeigen, dass die Rechtfertigungslehre nur seine Gerechtsprechung, sondern auch nicht nur für Luther und das Luthertum, seine Gerechtmachung. Sie ist also glei- sondern für die Reformation insgesamt chermaßen imputativ wie effektiv. Die die „impulsgebende Mitte“22 gewesen ist. Gerechtmachung geschieht nicht erst in Abschließend (5) gehe ich auf Luthers der Zukunft, sondern schon in der Ge- These ein, nach welcher der durch den genwart, nämlich dort, wo der Mensch Glauben gerechtfertigte Sünder gerecht das Evangelium von Jesus Christus als und Sünder zugleich ist, handelt es sich Zuspruch der ihm persönlich geltenden doch bei ihr nicht um ein vernachlässig- Sündenvergebung vernimmt. bares Detail von Luthers Rechtfertigungs- Glauben heißt nichts anderes, als dass lehre, sondern um einen zentralen As- einem Menschen der Zuspruch der Verge- pekt derselben, der auch im ökumenischen bung zur persönlichen Gewissheit wird. Gespräch der Gegenwart zu den weiter- Wo dies geschieht, ist sein Gottesverhält- hin strittigen Aussagen reformatorischer nis grundlegend erneuert und zurecht- Theologie gehört. gebracht. Dieses Geschehen aber ist ex- klusiv als Handeln Gottes zu begreifen, das im Unterschied zu allem menschli- 2. Grundzüge der Recht chen Handeln eindeutig gut und bestän- fertigungslehre Luthers dig ist. Gott handelt durch sein Wort, das Luther formal als Zusage (promissio) Für Luthers Verständnis der Rechtferti- charakterisiert,24 die im Unterschied zu gungslehre ist der Gedanke zentral, dass die Rechtfertigung des Sünders gleichzu- 23 Vgl. W. Mostert, a. a. O. (Anm. 19), S. 112. 24 Siehe v.a. WA 7,24,5–21 (Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520). Vgl. Oswald Bayer, 22 Berndt Hamm, Was ist reformatorische Rechtferti- Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende gungslehre?, ZThK 83, 1986, S. 1–38, hier S. 38. in Luthers Theologie (FKDG 24), Darmstadt 21989. Amt und Gemeinde 185
menschlichen Worten, Versprechen und Bewahrheitung dessen, was schon hier Gelübden unumstößlich ist. und jetzt dem Glaubenden gewiss ist. Gottes Zuspruch der Vergebung aber Wie die neuere Lutherforschung ge- wird als solcher nur verstanden, wo ein zeigt hat, bestand der reformatorische Mensch zugleich die eigene Vergebungs- Durchbruch Luthers darin, dass der Be- bedürftigkeit in ihrem vollen Ausmaß er- griff der Gerechtigkeit für ihn gegenüber kennt. Das Evangelium ist nicht versteh- der philosophischen und juristischen Be- bar ohne das Gesetz, das die göttliche deutung des Begriffs eine ganz neue Be- Forderung an den Menschen enthält, die deutung gewann. Diese neue Bedeutung er als Sünder jedoch nicht erfüllen kann. ging Luther an Röm 1,17 und dem Kon- Mit Walter Mostert gesprochen: „Nur text dieser Bibelstelle auf. Seine revolu- deshalb, weil es Sündengewissheit gibt, tionäre Erkenntnis bestand darin, dass die gibt es auch Heilsgewissheit, ohne dass Gerechtigkeit Gottes nicht als Eigenschaft Letztere freilich als eine Folge der Ersten Gottes im Sinne der traditionellen Gottes- zu verstehen wäre.“25 Weil die menschli- lehre und ihrer Metaphysik zu verstehen che Selbsterkenntnis nicht ohne wahre ist, sondern als Wirken Gottes am sün- Gotteserkenntnis, d. h. nur in der Gegen- digen Menschen. Diese Einsicht aber ist wart Gottes, möglich ist, fallen Sünden- bei Luther grundlegend christologisch gewissheit und Heilsgewissheit bei Lu- bestimmt, wie Eberhard Jüngel richtig ther zusammen. Zugleich schärft Luther feststellt: aber ein, dass Gesetz und Evangelium, „Der Gebrauch eines Wortes entscheidet die unbedingte göttliche Forderung und über seine Bedeutung. Und der neutes- der unbedingte göttliche Zuspruch strikt tamentliche Gebrauch der Begriffe un- voneinander zu unterscheiden sind. Wird serer Sprache ist nach Luthers Einsicht das Evangelium als neues Gesetz (nova grundsätzlich dadurch bestimmt, daß lex), nämlich als Gesetz Christi missver- sie auf Jesus Christus bezogen werden. standen, kann es niemals die Quelle von Jesus Christus macht aber nicht nur Heilsgewissheit sein. das Seiende neu (2Kor 5,17), sondern Das Wort Gottes ist nicht nur eine Ver- er gibt auch den Vokabeln eine neue heißung oder ein Versprechen, dessen Ein- Bedeutung.“26 lösung in der Zukunft gewiss ist, sondern ein Zuspruch, der sprachphilosophisch Oder um Luther selbst zu Wort kommen als performativer Sprechakt beschrieben zu lassen: „omnia vocabula in Christo no- werden kann. Indem Gott den Sünder ge- vam significationem accipere“27. rechtspricht, macht er ihn zugleich ge- recht. Was für die Zukunft als Vollendung 26 Eberhard Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfer- des Heils erhofft wird, ist die endgültige tigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens, Tübingen 62011, 61. 27 WA 39 II,94,17 f. (Disputation de divinitate et huma- 25 W. Mostert, a. a. O. (Anm. 19), S. 124. nitate Christi, 28.2.1540). 186 Amt und Gemeinde
Gottes Gerechtigkeit aber ist nun, wie am Kreuz erleidet. Der Kreuzestod ist Luther 1545 in seiner Vorrede zum ersten zugleich der Sieg Gottes über den Tod, Band der Wittenberger Ausgabe seiner der in der Auferstehung Christi zum Vor- lateinischen Schriften festgehalten hat, schein kommt. So wird der Mensch durch als iustitia passiva zu verstehen, nicht als Christus gerechtfertigt. Weil die Rechtfer- iustitia activa. Mit aktiv ist die Gerechtig- tigungslehre christologisch begründet und keit gemeint, die der Mensch durch sein zu verstehen ist, gilt nach Luther, dass in eigenes Handeln und seine eigene Le- diesem Lehrstück alle anderen Glaubens- bensführung erwerben könnte – was ihm artikel enthalten sind.29 aber aufgrund seines Sünderseins faktisch Luthers rechtfertigungstheologisch nicht gelingt und niemals gelingen kann. strukturierte Christologie interpretiert die Hingegen ist die passive Gerechtigkeit altkirchliche Zweinaturenlehre soterio- jene Gerechtigkeit, die ihm von Gott al- logisch. Mit einem Begriff Rudolf Bult- lein zugeeignet wird und die der Mensch manns kann man auch sagen, Luther in- nur empfangen kann. terpretiert sie existential.30 Das heißt, dass Bei Luther wie bei Paulus, auf den Lu- Luther den Gedanken der communicatio ther sich beruft, besteht der Unterschied idiomatum – des Austauschs der Eigen- zwischen der Gerechtigkeit Gottes und schaften zwischen göttlicher und mensch- der Gerechtigkeit des Menschen, wie licher Natur in Christus auf das Verhältnis Eberhard Jüngel ausführt, „darin, daß zwischen Christus und den Glaubenden meine Gerechtigkeit, wenn sie zustande überträgt. Christus hat mit uns getauscht, käme, immer nur meine eigene Gerech- d. h. „unsere sündige Person hinwegge- tigkeit wäre, während Gottes Gerechtig- nommen und uns seine unschuldige und keit gerade darin ihre Eigenart hat, daß siegreiche Person gegeben“31. Luther sie eine sich mitteilende, eine von Gott spricht bildhaft vom „fröhlichen Wechsel“ auf den Menschen übergehende Gerech- oder von einer „fröhlichen Wirtschaft“ tigkeit ist“28. zwischen Christus, dem Bräutigam, und Die von Gott auf den Menschen über- dem Menschen als seiner Braut.32 Auf gehende Gerechtigkeit wird nicht zum diese Weise interpretiert Luther die pau- Besitz oder Habitus, sondern bleibt un- linische Aussage: „Ich lebe, doch nun verfügbare Gabe. Sie ist und bleibt eine fremde Gerechtigkeit (iustitia aliena), 29 Vgl. WA 40 I,441,30–33 (Galaterkommentar 1531/35, Auslegung von Gal 3,13). nämlich die Gerechtigkeit Jesu Christi, 30 Vgl. Rudolf Bultmann, Neues Testament und der vor Gott an die Stelle des Sünders Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, 3. Aufl., hg. v. tritt. Er erfüllt Gottes Auftrag und somit Eberhard Jüngel (BEvTh 96), München 1988. seinen Willen – das Gesetz – ganz, indem 31 WA 40 I,443,23 f.: „Sic feliciter commutans nobis- er die Sünde der Welt trägt und den Tod cum suscepit nostram peccatricem et donavit nobis suam innocentem et vitricem personam.“ 32 Vgl. WA 7,25,26–26,12 (Von der Freiheit eines 28 E. Jüngel, a. a. O. (Anm. 26), 54. Christenmenschen, 1520). Amt und Gemeinde 187
nicht ich, sondern Christus lebt in mir“ als Summe der Theologie Luthers lesen.34 (Gal 3,20). Da er ebenso wie Luthers Großer Kate- Luthers existentiale Christologie setzt chismus (1529) in die Sammlung der Be- nicht nur die Möglichkeit des Personen- kenntnisschriften der lutherischen Kirche tausches, sondern zugleich die Unter- aufgenommen wurde, ist er zugleich ein scheidung zwischen Person und Werk Schlüsseltext lutherischer Theologie. voraus. Es ist dies freilich eine Unter- Für Luthers Theologieverständnis ist scheidung, die nicht natürlicherweise be- die Unterscheidung zwischen Gesetz steht, sondern eine solche, die von Gott und Evangelium fundamental. Auf rechte getroffen und am sündigen Menschen Weise zwischen beiden unterscheiden zu im Rechtfertigungsgeschehen vollzogen können, ist für den Reformator das ent- wird. Ohne die Möglichkeit dieser Unter- scheidende Kriterium aller Theologie.35 scheidung bestünde für den Sünder gar Der Aufbau von Luthers Katechismen keine Hoffnung auf Rechtfertigung. Weil folgt dieser Unterscheidung, indem im aber Gott diese Unterscheidung vollzieht, ersten Hauptstück das Gesetz in Form wird der Mensch nun ganz ohne Werke einer Auslegung des Dekalogs und im des Gesetzes gerechtgesprochen und ge- zweiten Hauptstück das Evangelium in rechtgemacht. Das menschliche Handeln Gestalt einer Interpretation des Aposto- aus Glauben ist darum, wie Luther immer lischen Glaubensbekenntnisses entfaltet wieder betont, keineswegs überflüssig. Es wird. kommt aber bei Luther „nur als nachlau- Die Auslegung des Credos erfolgt fende Darstellung der Wirklichkeit der durchgängig von der Rechtfertigungslehre Gnade, nicht als Realisierung derselben her. So wird bereits das Bekenntnis zu zur Anschauung“33. Gott dem Schöpfer rechtfertigungstheo- logisch interpretiert. Von Gott geschaf- fen und am Leben erhalten zu werden, 3. Die rechtfertigungs geschieht „alles aus lauter Veterlicher, theologische Grund Göttlicher güte und Barmhertzigkeit, one struktur von Luthers alle mein verdienst und wirdigkeit“36. Die Kleinem Katechismus Auslegung des zweiten Credo-Artikels Dass Luther auch dort rechtfertigungs- 34 Siehe ausführlich Albrecht Peters, Kommentar zu theologisch denkt und argumentiert, wo Luthers Katechismen, Bd. 2: Der Glaube: Das Apo- er auf die Begrifflichkeit der Rechtferti- stolikum, hg. v. Gottfried Seebaß, Göttingen 1991; Gunther Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften gungslehre weitgehend verzichtet, lässt der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische sich beispielhaft an Luthers Kleinem Ka- und systematische Einführung in das Konkordien- buch, Bd. 1, Berlin/New York 1996, S. 286 ff. techismus (1529) zeigen. Man kann ihn 35 Vgl. WA 40/I,207,17f. (Galaterkommentar 1531/35). 36 BSELK 870,15–16 (Kleiner Katechsimus = BSLK 33 D. Korsch, a. a. O. (Anm. 11), S. 374. 511,3–5). 188 Amt und Gemeinde
bringt das reformatorische solus Christus dern der individuelle Glaube dessen, der zur Geltung, und die Auslegung des drit- mit Luthers Worten bekennen kann: „Ich ten Artikels bekräftigt das sola fide und glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt das sola gratia, betont Luther doch, „das allen Kreaturen“.39 Die Schöpfungsaussage ich nicht aus eigener vernunfft noch krafft hat also den Charakter eines persönlichen an Jhesum Christum, meinen / Herrn, Bekenntnisses, welches den Glauben, dass gleuben oder zu im kommen kan. Son- Gott die Welt erschaffen hat und erhält, dern der heilige Geist hat mich durchs mit dem individuellen Glauben und sei- Evangelium beruffen, mit seinen gaben ner Glaubenserfahrung verschränkt. Die erleuchtet, im rechten glauben geheiligt Erhaltung der Schöpfung – dogmatisch ge- und erhalten“37. sprochen: die conservatio mundi – wird als An die Auslegung des Apostolikums individuelle Glaubenserfahrung bekannt. schließt sich im dritten Hauptstück die Der Glaubende ist gewiss, dass ihm Gott Auslegung des Vaterunsers an, also die nicht nur „Leib und Seele, Augen, Ohren Lehre vom Gebet. Das vierte Hauptstück und alle Glieder gegeben hat“, sondern behandelt die Taufe, das fünfte das Abend- dass er sie auch „noch erhält; dazu Klei- mahl. In beiden Katechismen behandelt der und Schuh, Essen und Trinken, Haus Luther in einem Zusatz die Beichte.38 und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und Während im Konkordienbuch (1580) alle Güter; mit allem was not tut für Leib der Zusatz im Großen Katechismus auf und Leben, mich reichlich und täglich ver- das Lehrstück vom Abendmahl folgt, ist sorgt, in allen Gefahren beschirmt und vor der entsprechende Zusatz im Kleinen allem Übel behütet und bewahrt“40. Wenn Katechismus zwischen die Lehrstücke Luther hinzufügt, das alles geschehe nicht über Taufe und Abendmahl eingescho- nur „aus lauter väterlicher, göttlicher Güte ben worden. und Barmherzigkeit“, sondern auch „ohn Die rechtfertigungstheologische Pointe all mein Verdienst und Würdigkeit“, so von Luthers Interpretation des Apostoli- ist darin schon die Aussage der Rechtfer- kums zeigt sich schon darin, dass sie mit tigung des sündigen Menschen und seine den Worten „Ich glaube“ beginnt – ganz Annahme als Geschöpf Gottes allein aus wie das Apostolikum selbst. Schlüssel zur Gnade (sola gratia) enthalten. Impliziert Schöpfungslehre ist also nicht eine allge- ist aber auch das sola fide, nicht nur weil meine Betrachtung der Natur, nicht die Denkfigur der natürlichen Theologie, son- 39 Wie Walter Mostert feststellt, ist die „Beziehung auch der natürlichen Gotteserkenntnis auf die Sote- 37 BSELK 872,16–19 (Kleiner Katechismus = BSLK riologie [..] ein Hauptmerkmal der neueren katho- 511,46–512,5). lischen Theologie“. Er verweist besonders auf Karl 38 Kleiner Katechismus: „Wie man die einfeltigen sol Rahner. „Gerade aber wo sich diese Theologie so in leren Beichten (BSELK 884,23–888,9 [= BSLK strukturelle Nähe zur reformatorischen Theologie 517,8–519,34]); Großer Katechismus: „Ein kurtze begibt, setzt sie sich desto schärfer deren kritischem Vermanung zu der Beicht“ (BSELK 1158,1–1162,18 Licht aus“ (a. a. O. [Anm. 19], S. 115 f.) [=BSLK 725,30–733,24]). 40 Schreibweise hier und im Folgenden modernisiert. Amt und Gemeinde 189
die Auslegung des ersten Credoartikels mit gerechtfertigt ist, an dem hat Gott – in dem „Ich glaube“ beginnt, sondern auch Christus – bereits das Gericht vollzogen, den Gedanken der Gerechtigkeit aus den wie sich auch in der Auslegung des dritten Werken zurückweist, wenn Luther schließt: Credoartikels zeigt. „für all das ich ihm zu danken und zu loben Wie schon gesagt, verzichtet Luther im und dafür zu dienen und gehorsam zu sein Kleinen Katechismus weitgehend auf die schuldig bin.“ Den assertorische Charak- Terminologie der Rechtfertigungslehre. ter des persönlichen Glaubensbekentnis- Die Termini „Rechtfertigung“, „rechtfer- ses, das doch zugleich mit allen anderen tigen“ und „gerechtfertigt“ kommen nicht Glaubenden geteilt wird, unterstreichen die vor, wohl aber, wie gesehen, der Begriff Worte am Schluss jedes Glaubensartikels: der Gerechtigkeit. Der Glaubende soll „Das ist gewisslich wahr“. unter Christus leben und ihm in ewiger Die Auslegung des zweiten Artikels Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit setzt mit der Zweinaturenlehre und der dienen. Der Gedanke wird in der Ausle- Jungfrauengeburt ein. Beide stehen aber gung der Taufe wieder aufgegriffen. Die in Parenthese, sind sie doch eingerahmt Taufe bedeutet nach Luther, dass „der von dem Bekenntnis: „Ich glaube, dass Je- alte Adam“ in den Getauften „durch täg- sus Christus sei mein Herr“. Entscheidend liche Reue und Buße soll ersäuft werden ist, dass er den Glaubenden, der sich als und sterben“ und gleichzeitig täglich „ein „verlorenen und verdammten Menschen“ neuer Mensch“ in ihnen auferstehen soll, bezeichnet, durch sein Leiden und Sterben „der in Gerechtigkeit und Reinheit vor von allen Sünden erlöst hat, „damit ich Gott ewiglich lebe“. Auch wenn Luther an sein eigen sei und in seinem Reich unter beiden Stellen – in der Credo-Auslegung ihm lebe und ihm diene in ewiger Gerech- wie im Hauptstück über die Taufe – nicht tigkeit, Unschuld und Seligkeit, gleichwie näher ausführt, was unter der Gerechtig- er ist auferstanden von den Toten, lebet keit zu verstehen ist, ergibt sich doch aus und regieret in Ewigkeit“. Zunächst fällt dem Gesamtzusammenhang des Katechis- auf, dass die Auferstehung Jesu und die mus, dass es nicht um die Gerechtigkeit sessio ad dextra in Verbindung mit dem als menschliches Vermögen, sondern um neuen Leben aus Glauben und nicht iso- die Gerechtigkeit geht, die dem Menschen liert als objektive Heilstatsache angespro- um Christi willen von Gott zuteil wird. Es chen wird. Christi Auferstehungsleben ist die Gerechtigkeit des neuen Menschen ist präsent im Leben des gerechtfertigten die iustitia aliena, von der Luther in an- Sünders aus Glauben, der teilhat am Le- deren Zusammenhängen spricht. ben des Auferstandenen. Die Himmel- Die Auslegung des dritten Artikels fahrt wird nicht eigens ausgedeutet, und des Apostolikums stellt heraus, dass der auch die Wiederkunft Christi zum Jüngs- Glaube nicht das Werk des Menschen, ten Gericht ist kein eigener Gegenstand sondern des Heiligen Geistes ist. Er ist der Auslegung. Wer durch den Glauben es auch, der „die ganze Christenheit auf 190 Amt und Gemeinde
Erden beruft, sammelt, erleuchtet, heiligt gründlichen Kritik unterzog.41 In seiner und bei Jesus Christus erhält im rechten, Streitschrift von 1547, die den Titel „Ge- einigen Glauben“. Die Kirche ist nicht die gengift“ trägt, bringt Calvin den Gegensatz Vermittlerin des Heils, sondern der Raum, und damit auch die durch Luther erstmals in welchem die glaubensstiftende Kommu- klar ausformulierte Rechtfertigungslehre nikation des Evangeliums stattfindet, die auf den Punkt, nachdem sich zuvor das aber das alleinige Wirken des göttlichen Tridentinum in seiner sechsten Sitzung Geistes ist und bleibt. Durch das Evan- 1546 ausdrücklich gegen Luthers Lehre gelium werden die Glaubenden berufen, von der Rechtfertigung des Sünders allein durch das Evangelium wird ihnen stets aufs durch den Glauben und Calvins Lehre von Neue die Sündenvergebung zugesprochen der Erwählungsgewissheit gewandt hat. und ihr Glaube gestärkt, der nun auch vol- Für Luther bedeutet Glaube unbedingte ler Zuversicht dem Jüngsten Tag entgegen Heilsgewissheit (certitudo), die freilich sieht. Luther sagt nichts von einem dop- von jeder äußeren Sicherheit (securitas) pelten Gerichtsausgang – den er allerdings zu unterscheiden ist. Nach Calvin grün- voraussetzt – und spricht nicht vom Schre- det die Gewissheit des Glaubens in der cken des Jüngsten Tages, sondern allein bedingungslosen Gnadenwahl Gottes. Da- von der Gewissheit, dass der Heilige Geist gegen erklärt das Konzil zu Trient, nie- „mich und alle Toten auferwecken wird mand könne mit solcher Gewissheit (cer- und mir samt allen Gläubigen in Christus titudo) des Glaubens wissen, dass er die das ewige Leben geben wird“. In diesen Gnade Gottes erlangt habe.42 Es sei eine Worten kommt noch einmal klar zum Aus- Irrlehre zu behaupten, „daß diejenigen, druck, was es bedeutet, dass bei Luther die wahrhaft gerechtfertigt wurden, völlig Glaube und Heilsgwissheit in eins fallen. ohne jeden Zweifel bei sich selbst feststel- len müßten, sie seien gerechtfertigt, und daß nur der von den Sünden losgespro- 4. Die Rechtfertigungslehre chen und gerechtfertigt werde, der fest als impulsgebende Mitte glaube, er sei losgesprochen und gerecht- der Reformation fertigt worden, und daß allein durch die- sen Glauben [sola fide] die Lossprechung Dass die Rechtfertigungslehre nicht nur und Rechtfertigung vollendet werde“43. im Zentrum der Theologie Luthers steht, sondern für die Reformation insgesamt eine Schlüsselstellung einnimmt, sei an- 41 Calvin-Studienausgabe, hg. v. Eberhard Busch u.a., Bd. 3: Reformatorische Kontroversen, Neukirchen- hand von Calvins Stellungnahme zur tri- Vluyn 1999, S. 137 ff. dentinischen Rechtfertigungslehre gezeigt. 42 Lateinischer Text: „cum nullus scire valeat certitu- Calvin war der erste evangelische Theo- dine fidei, cui non potest subesse falsum, se gratiam Dei esse consecutum“ (zitiert nach Calvin-Studien- loge, der das 1546 verabschiedete Recht- ausgabe, a. a. O. [Anm. 41], S. 126). fertigungsdekret des Trienter Konzils einer 43 Zitiert nach a. a. O. (Anm. 41), S. 125. Amt und Gemeinde 191
Calvin kontert: „Die Zerstörung des sind“48. Es ist diese Bedingungslosigkeit Glaubens und die Aufhebung der Gewiß- der rechtfertigenden Gnade Gottes, die heit ist ein und dasselbe.“44 Wenn die rö- den Systembruch mit der katholischen mische Kirche lehrt, dass der Mensch erst Kirche und ihrer Lehre markiert. dann gerechtfertigt wird, wenn er zum Ge- Luthers Formeln „allein durch den horsam gegenüber Gott und zur Erfüllung Glauben“, „allein aus Gnaden“, „Chris- seiner Gebote gebessert werde, würde die tus allein“, „allein die Schrift“ finden sich Argumentation des Apostels Paulus auf wörtlich bei Calvin wieder. Dennoch darf den Kopf gestellt. Dass Rechtfertigung die reformierte Reformation nicht allein und Heiligung zusammengehören, steht an ihrer Übereinstimmung mit Luther für Calvin außer Frage, beides ist aber gemessen werden, wie es auch histo- nicht dasselbe.45 Und keinesfalls sei der risch nicht sachgemäß ist, „den Begriff Glaube im reformatorischen Sinne mit des Reformatorischen auf die Rechtfer- einer fraglosen Selbstsicherheit zu ver- tigungslehre und die daraus unmittelbar wechseln. „Weit entfernt, daß für uns die abgeleitete Kirchenkritik zu begrenzen.“49 Zuversicht des ewigen Lebens […] sicher Sehr wohl aber kann man in der Recht- und unerschüttert feststeht!“46 Solange fertigungslehre „die impulsgebende Mitte der Glaubende nur auf sich selbst schaut, der Reformation“50 finden. Das ist, wie kann es weder Gewissheit noch Sicherheit Calvins Antwort auf das Tridentinum geben. Der Hauptpunkt der Kontroverse zeigt, keineswegs eine unhistorische Be- dreht sich um die Frage, auf welche Weise hauptung späterer Generationen, sondern der Mensch vor Gott gerechtfertigt wird. entspricht zumindest Calvins eigenem Calvins Antwort lautet: „Gott ist uns des- Verständnis von Reformation und Ge- halb gnädig, weil er mit uns durch den Tod genreformation. Christi versöhnt ist. Wir werden deshalb Auch wenn in der gegenwärtigen Re- vor ihm selbst als gerecht beurteilt, weil formationsforschung richtigerweise die unsere Ungerechtigkeiten durch jenes Op- Verbindungslinien zwischen Spätmittel- fer gesühnt sind.“47 Der Grund der Recht- alter und Reformation stärker als in der fertigung besteht einzig und allein in der Vergangenheit betont werden, lässt sich freien und gnädigen Annahme durch Gott. die reformatorische Theologie nach mei- Dieser Grund liegt außerhalb des glau- nem Dafürhalten nicht befriedigend als benden Menschen (extra nos): „weil wir Ergebnis eines Transformationsprozesses allein in Christus [in solo Christo] gerecht erklären, dass schon in den unterschied- lichen Ausformungen spätmittelalterli- cher Theologie angelegt war. Mit Berndt 44 A. a. O. (Anm. 41), S. 169. Lateinischer Text (a. a. O., S. 168): „fidem destrui, simul ac tollitur certitudo“. 45 A. a. O. (Anm. 41), S. 149 f. 48 A. a. O. (Anm. 41), S. 151. 46 A. a. O. (Anm. 41), S. 149. 49 B. Hamm, a. a. O. (Anm. 22), S. 38. 47 A. a. O. (Anm. 41), S. 155. 50 Ebd. 192 Amt und Gemeinde
Hamm möchte ich lieber von Emergenz osforschung steht, stellt in Rechnung, dass sprechen. Emergenz bedeutet im Blick man das Neue nicht ohne das Bisherige auf die Reformation die „Verbindung von verstehen kann, betont aber, dass sich das Kontinuität und qualitativem Sprung“51, Neue eben nicht lückenlos kausal ablei- der im Ergebnis doch zu Brüchen mit ten lässt, weil das Ganze mehr ist als die den bestehenden kirchlichen und theolo- Summe seiner Teile, so dass man doch gischen Verhältnissen geführt hat, zum von einer überraschenden, sprunghaften systemsprengenden Bruch nicht nur mit Zäsur sprechen muss.53 Ähnlich argumen- dem hierarchischen Prinzip in der Kirche tiert der Reformationshistoriker Heiko A. und der Unterscheidung von Klerikern Oberman: Wer Luther ganz in der Kon- und Laien, sondern vor allem auch im tinuität der franziskanisch-nominalisti- Heilsverständnis und in der Rechtferti- schen Theologie und ihrer Metaphysik gungslehre. Verglichen mit der spätmit- verstehen wolle, werde der Innovations- telalterlichen Barmherzigkeitstheologie, kraft des Wittenberger Reformators nicht welche die Mitwirkung des Menschen an gerecht. „Auf der Grundlage dieser Prä- seinem Heil auf ein Minimum reduzierte, missen wird uns […] auch die intensivste ist der Schritt zur Rechtfertigungslehre Forschung keinerlei Erkenntnisse über Luthers, wonach der Mensch rein gar Luthers Denken liefern.“54 nichts zu seinem Heil beisteuern kann, Kritisch ist allerdings die Frage zu stel- sondern allein aufgrund der göttlichen len, inwieweit die protestantische Theo- Gnade und allein aufgrund seines Glau- logie der Gegenwart für sich in Anspruch bens an das ihn von seiner Sünde frei- nehmen kann, die grundlegenden Einsich- sprechende Wort gerettet wird, einerseits ten der Reformation festzuhalten und auf „eine fast schon logische Fortsetzung“ sachgemäße Weise weiterzudenken. Im und andererseits doch „ein kontingenter Blick auf den neuzeitlichen Protestantis- qualitativer Sprung“52. Die Reformation mus ist im Gefolge von Ernst Troeltsch bedeutet demnach nicht eine kontinuier- vielfach von Tranformationsprozessen liche Weiterentwicklung von Gedanken die Rede. Wo bei diesen Transformatio- der spätmittelalterlichen Theologie, son- nen zentrale Einsichten der Reformation dern führt im Ergebnis durchaus zum bewahrt oder möglicherweise verlassen Abbruch bisheriger Prozesse und zum werden, ist eine Frage, der ich hier nicht Beginn von qualitativ neuen Entwick- weiter nachgehen werde.55 ■ lungen. Der komplexe, systemtheoretisch begründete Emergenzbegriff Hamms, der in sachlicher Nähe zu Modellen der Cha- 53 B. Hamm, a. a. O. (Anm. 22), S. 16 f. 54 Heiko A. Oberman, Zwei Reformationen. Luther und 51 Berndt Hamm, Die Emergenz der Reformation, in: Calvin – Alte und Neue Welt, Berlin 2003, S. 49. ders. / Michael Welker, Die Reformation – Potentiale 55 Siehe dazu Ulrich H.J. Körtner, Reformatorische der Freiheit, Tübingen 2008, S. 1–27, hier S. 12. Theologie im 21. Jahrhundert (ThSt NF 1), Zürich 52 Ebd. 2010. Amt und Gemeinde 193
R E F O R M AT I O N Luthers Satanologie Nicht nur an entlegenen Stellen seines Werks, sondern in seinen zwei Hauptwerken und sogar im Reformationslied „Ein feste Burg“ will uns Luther die Kenntnis des Teufels beibringen. Von Max Josef Suda L uther wird im Jahre 2017 als Anfän- ger der Reformation, als Lichtgestalt und als Wiederentdecker des Evangeli- er nicht thun mit meinem odder eins an- dern worten?“1 Hierbei handelt es sich nicht um eine ums gefeiert. Das ist vollkommen berech- versprengte Einzelaussage des Reforma- tigt. Wir dürfen aber auch seine dunklen tors. Vielmehr durchzieht die Erwähnung, Seiten nicht vergessen oder verdrängen. Benennung und Auseinandersetzung Eine seiner dunkelsten ist, dass er angeb- mit dem Satan Luthers gesamtes Werk. lich den Satan sehr gut gekannt hat. Das kann weniger gefeiert werden. Er sagt es 1 WA 26, 500a, 24–26 (Ich zitiere stets nach: Luther, aber von sich selber: „Es ist mir ernst, Martin: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883 ff. unter Benutzung der bei Chadwyk-Healy, Denn ich kenne den Satan von Gotts gna- 2001, erschienenen 2 CD-Roms) [Abk. = WA plus Band-, Seiten- und z. T. Zeilenziffern] Das Zitat steht den ein gros teil, kan er Gotts wort und in der Schrift „Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis“ schrifft verkeren und verwirren, was solt aus dem Jahre 1528. 194 Amt und Gemeinde
Das muss erschrecken! Im Gesamtwerk werke benannt)2 erwähnt er den Teufel Luthers gibt es laut CD-Recherche fol- oder den Satan 87 Mal. – Der Große Ka- gende Treffer: diabolus (mit allen Fällen) techismus gehört immerhin in der Evan- 5 191 mal, Satan (mit allen Fällen, auch gelischen Kirche A. B. Österreichs und Sathan mit allen Fällen) 8 216 mal, teu- in anderen Lutherischen Kirchen zu den fel (mit allen Fällen, auch teuffel, teüfel Bekenntnisschriften! Ja, wird dann wieder und teüffel mit allen Fällen) 14 085 mal. jemand sagen: Wer studiert denn schon Zusammengezählt kommt also der Teufel den Großen Katechismus Luthers? Viel- in Luthers Gesamtwerk (ohne Einrech- leicht die eine oder andere Pfarrerin, der nung der Anmerkungen in der Weimarer eine oder andere Pfarrer … Aber auch im Ausgabe) 27 492 mal vor! „Teufel“ und Kleinen Katechismus kommt der Teufel „Satan“ gebraucht Luther fast gleichbe- 15 Mal vor. Den haben schon viele Luthe- deutend. Nur wenn ein Bezug auf den raner gelernt oder durchgearbeitet. hebräischen Text der Bibel vorliegt, be- Noch mehr evangelischen Christen kommt der Name bzw. Begriff des Satans und Christinnen ist freilich das Luther- an einigen Stellen eine Bedeutungsnu- lied „Ein feste Burg“ geläufig (Evange- ance. („Satan“ = Widersacher, wird von lisches Gesangbuch, Nr. 362). Wir singen der griechischen Bibel mit „diabolos“ es nicht nur zum Reformationstag; sogar wiedergegeben, das seinerseits die Ety- im Religionsunterricht wird es häufig ge- mologie von „Teufel“ ist.) Nicht einge- lernt. Dort kommt schon in der ersten rechnet sind hierzu die mancherlei Deck- Strophe „der alt böse Feind“ vor. Damit namen für den Teufel (z. B. „der Fürst meint Luther nicht etwa einen seiner theo- dieser Welt“). – Ich komme gleich darauf logischen oder politischen Gegner aus zu sprechen! der Reformationszeit, z. B. den Kaiser, Mir ist kein Theologe untergekommen, auch nicht den regierenden Papst oder das der den Teufel so gut kennt und so viel Papsttum insgesamt, sondern den Teufel. vom Teufel schreibt wie Luther. Höchst- Wieso ist dieser „alt böse“? Er ist nicht wahrscheinlich gibt es auch keinen. Diese etwa ein schwacher alter Mann – ganz im umfangreiche Beschäftigung mit dem Gegenteil: Dieser Feind ist höchst aktiv. Satan kann und muss man Satanologie Nicht jung, aber auch nicht biologisch nennen. alt. Warum dann „alt“? Er ist ganz, ganz Ja, wird jemand sagen: Wer liest schon alt. Wahrscheinlich wirkt er in Luthers das Gesamtwerk Luthers? Natürlich nur Vorstellung schon seit Urzeiten. Luther sehr wenige. Aber auch im Großen Ka- techismus (diesen hat Luther neben „De 2 WA Briefe 8, 99, 7–8 aus 1537 („Nullum enim servo arbitrio“ in einem Brief an Capito agnosco meum iustum librum, nisi forte de Servo arbitrio et Catechismum.“) [„Ich anerkenne nämlich vom 9. Juli 1537 als eines seiner Haupt- keines meiner Bücher als recht, außer etwa jenes über den geknechteten Willen und den Katechismus.“] Amt und Gemeinde 195
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