Andreas Zieger - Dr. med. Andreas Zieger
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Wachkoma Nicht nur reine Kopfsache, sondern Herzensangelegenheit! Andreas Zieger Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik Mitglied der Ethikkommission Medizin und Gesundheitswissenschaften CvO Universität Oldenburg Vorsitzender des Vereins Neuro-Netzwerk Weser-Ems e.V. c/o Paritätischer Oldenburg/Ammerland Oldenburg AbschiedsEnquete „Die ersten 20 Jahre“ für Primarius Dr. Johann Donis - 20. Februar 2020 – ÖWG Wien
20 Jahre Österreichische Wachkoma Gesellschaft und Apallic Care Unit Wien Eine notwendige, wichtige, politisch gewollte, neu entwickelte Institution in der von Franz Gerstenbrand 1967 begründeten Tradition: • „Jeder Apalliker ist rehabilitations- und remissionsfähig“, getragen von Betroffenen, Angehörigen und Fachleuten im prosperierenden Sozial- und Gesundheitswesen, mit der Entwicklung von • neuen Pflege- und Therapietechnologien • und der Entstehung von Frühreha-Phase B-Stationen und –einrichtungen, aber immer auch eine Gratwanderung im Spannungsfeld • von veränderten sozialpolitischen Gesetzen und Vorgaben (z.B. Sparmaßnahmen) • von neuen „Märkten“ und „Wertschöpfungsketten“ im Gesundheitswesen. Was wird aus der Langzeitbetreuung und -versorgung?
Habe auch ich unterzeichnet! Anfrage an die Kommission: • Welche sachlichen und politischen Gründe? Keine Antwort erhalten! Ausdruck verschärfter wirtschaftliche Rahmenbedingungen: • neoliberale Wertschöpfungsketten im Sozial-/Gesundheitswesen • schleichender Abbau von Sozialleistungen und Solidaritätsprinzip
Übersicht I Kurzer Rückblick auf meine letzten 32 Jahre (mit ÖWG) II Kritik und Überwindung des defektmedizinischen Modells III Vom Wiedererwachen des „emotional“ Geistigen - alte und neue Forschungsbefunde IV „Herzenssache“ Heart-Brain-Connection - Ein Herzschlag vom Bewusstsein entfernt! V Quo vadis „Zukunft“?
I Meine letzten 32 Jahre, davon 19 mit der ÖWG Seit 1988: Klinische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Koma/Wachkoma als Neurochirurg und forschender Arzt 1995/96: EU-BIOMED-Konferenzen in London/Bonn zum „PVS“ 1994-1997: Interdisziplinäres Koma-Forschungsprojekt, Universität Oldenburg: „Wirksamkeit von sensorischen/dialogischen Interventionen im Koma nach SHT“ 2000: Interdisziplinäre Habilitation „Klinische Neurorehabilitation und Neuroethik“ (Psychologie/Universität Oldenburg) Dez. 2001: Eingeladener Experte vom Magistrat der Stadt Wien zur Anhörung „Versorgungsbedarf von Menschen im apallischen Syndrom“ Okt. 2003: Berufung in den Wissenschaftlichen Beirat der ÖWG Von 1997 bis Ende 2014: Ärztlicher Leiter der Neurologischen Phase B- Frührehaklinik am Evangelischen Krankenhaus Oldenburg • zuletzt mit Intensivstation und Beatmung Bis 2016: Vorträge zu den Jahrestagungen der ÖWG
Memorandum 2000 Damit war schon fast alles gesagt! Das Ziel jeder (Früh-)Rehabilitation ist Teilhabe am Leben!
Beitrag I Anfangszeiten II Aufbruch und Humanisierung III Professionalisierung, Ausdifferenzierung und Anerkennung - Wiedererwachen - Fortschritte in der Versorgung IV In Zeiten des Umbruchs – Teilhabe und Patientenwohl als Ziel Nachzulesen unter: http://www.a-zieger.de/Dateien/Publikationen-Downloads/Artikel-Zieger-Wachkoma-im-Wandel-Zeitschrift-NOT- 1_2018-mit-Lit.pdf
II Kritik und Überwindung des defektmedizinischen Modells „Die Krise der modernen Medizin ist keine ökonomische, sondern eine geistige!“ Hess & Hess-Cabalzar 2000 „Überall wo sich Leben entdecken lässt, können wir auch einen Geist ausmachen. Das Leben ist die untere Grenze des Bewusstseins.“ (Noe 2010, S. 58-63)
Neurosemantischer Reduktionismus – defizitäres Menschenbild – rein quantitatives (verobjektiviertes) Verständnis von „Bewusstsein“ Glasgow Coma Scale Wakefulness (Vigilanz) Response Es fehlt das limbische System: Drei Kriterien, selektiert „Rudimentäres affektives Bewusstsein“ aus einer Vielzahl von 6 x Schmerzreize! bzw. emotionales „Gedächtnis“ offenen / verborgenen Negative Affekte und emotionale Körpertonus, Regungen, Unmutsreaktion Reaktionsmöglichkeiten: Reaktionen: Abwehr, Rückzug, Stress Lächeln, Seufzen, Stöhnen, Vegetative Negation „emotionaler“ Reaktionen: Atmung, Herz, Tränenfluss, Verhaltensantworten mit Ausnahme der Schmerzreaktion (Affektgedächtnis) Stressreaktionen, Schreie …
CRS-R Ähnlich GCS: - 6 Items Kalmar & - Differenzierter als GCS Giacino - zahlreiche Schmerzreize 2004 - Vorgegebener Ablauf mit strengen Kriterien und Regeln Dt. „Goldstandard“ Fassung Maurer 2002 Keinerlei Berücksichtigung von Zeichen emotionaler Reagibilität!
III Vom Wiedererwachen des „emotional“ Geistigen „Wiedereinführung des Seelischen und Subjektiven in die NeuroMedizin“ (Zieger 2002)
„The Battle for the Injured Brain“ (1980): • Komadauer verschlimmert die Schädigung • frühe Intervention notwendig • Viele können profitieren! Mc Cullagh Unorthodoxer Untersuchungsgang entgegen dem Mainstream 2013 Eine Fallgeschichte professioneller • Beobachtungen, langsam, am Patientenbett Voreingenommenheit • Einbeziehung der Beobachtungen von Angehörigen 2013 for Ted Freeman Entwicklung einer Coma Exit Chart • „harte“ und „weiche“ Zeichen für affektiv- Kritik an der „PVS“-Semantik: „Die Möglichkeit von emotionale Reagibilität in der Koma-Remission unbewusster mentaler Aktivität bei jedem PVS- Patienten wirkt sich auf Einstellung, Umgang und Überfällige Revision des Vorurteils Kommunikation mit solchen Patienten aus …“ durch Neue Bildgebung und Forschung: (2004, p. 84) • Bedeutung emotionaler Reaktionen (covert behavior)
Coma Exit Chart Freeman 1980, 1996 Untersuchungsdomänen der GCS • Augen • Motorische Antwort „hard signs“ • Sprache zusätzlich • Emotionale Reaktionen, Mimik, Verhalten „soft signs“ Beachtung der von Angehörigen und Familienmitgliedern früh wahrgenommenen subtilen körperlichen Regungen und emotionalen Reaktionen
Körpersemantik in frühen Remissionsphasen des apallischen Syndroms (Wachkoma) Vollbild I Primitive II Nachgreifen VS/UWS Psychomotorik MCS- Keine emotionalen Primitivemotionen Unmutsäußerungen Reaktionen Angst Furchtgrinsen Augen geöffnet Optisches Fixieren Optisches Folgen SWR ermüdungszeitl. SWR (Übergang) SWR tageszeitlich Nur Primitivmotorik Grobe gerichtete Nachgreifen Keine Spontanmotorik Massenbewegungen Abwehrbewegungen Zieger 2002, modifiziert nach Gerstenbrand 1967, 1990
“If affective feelings can exist without cognitive awareness (…), then it is possible that the instinctual emotional actions (….) may indicate some level of mentality remaining in PVS patients.” „Rudimentäres affektives Bewusstsein“ im VS/Wachkoma!
Hinweise aus der damaligen Literatur: N = 12 Koma-Patienten: Vergleich neutraler Reiz vs eigener Name; Messung vegetativer Reaktionen: Herzrate (HR), Fingerpulsamplitude (FPA) und Elektrodermale Aktivität (EDA) Fallbericht über einen 20-jährigen Koma-Patienten nach schwerem SHT Monitoring mittels • Analyse der Herzratenvariabilität • EEG-korrliert
Kleine Auswahl aus frühen eigenen Forschungsbefunden: Forschungsfragen (qualitativ und quantitativ): • Wie reaktionslos sind Patienten im Koma/Wachkoma? • Über welche emotionalen Reaktionspotenziale verfügen sie? • Welche Indikatoren/Körpersignale sprechen dafür?
Time Sequence Plot von Pat. EM, 17 Jahre, Koma nach SHT (GCS 5-6) Synchronisationsvorgänge und Resonanzen von veg. Oszillationen Alarm und Absaug- geräusche am Neben- bett: Lernen im Koma? Ansprache von Eltern am Bett: Beziehungsemotionen HF Stressreaktion EMG - Muskelspannung
Ereigniskorrelierte „mimische“ Reaktionspotentiale im frontalen EMG unter dialogischer Intervention bei Pat. SF (GCS 3-5) Dialogische Intervention der Mutter: k „Zwinker, wenn Du mich hörst!“ Standardreize Standardreize A B A Frontales EMG – Augengruß?
Angehörigen-induzierte Aktivitätsänderungen im EEG-Power-Spektrum bei Pat. KA, GCS 5-7 „Beruhigung“ „Entspannung“, „Aufmerksamkeit“, Umweltoffenheit Sägezahnartige, ins EEG durchschlagende L front inf Muskelbewegungen (Beugen und Strecken): unruhiges Angehörige Körperbeben“ im R front inf: emotionale Stress Fixieren, Kopfwenden Verarbeitung, Prosodie, vertraute Stimmen …
Ereigniskorrelierte β-Aktivierung im EEG-Powerspektrum unter therapeutischer Intervention bei Pat. KA (GCS 5-7) Interventionsereignisse Interventions- L ereignisse: (1) Ansprechen mit eigenen Namen (2) Zeigen des R Fotos einer geliebten Person 1 (Kind) 2 3 (3) Spiegeln des eigenen Gesichts
Erfassung von „Körpersemantik“ Zieger 2002 Offenes äußeres Verhalten Verdecktes inneres Verhalten • Beobachtung (in Ruhe) • Messung von autonomen vegetativ- • klinische Befunderhebung emotionalen und elektrokortikalen Körpersignalen/Reizantworten • Reizapplikation/Stimulation • in Ruhe und Interventionsbegleitend • Interventionen, z.B. Musik, Klang Angehörigenbesuch … • Hautwiderstand, HR, HRV • Gezielte Suche nach Eigenaktivitäten • EMG, pEEG, cEEG, MEG („Selbstaktualisierungen“) und ereignis- • fMRT, PET korrelierten Reizantworten • Dokumentation (z.B. Scores, Video) Messungen im ABA-Design „Emergente Spuren von Bewusstheit …“
Nicht ein abstrakt bestimmtes/gemessenes „Bewusstsein“ ist entscheidend, sondern kommunikativ mit der Umwelt/Angehörigen in Kontakt/Beziehung treten zu können!
Ära der Neuen Bildgebung (fMRT) Dissoziierte inselförmige kortikale und subkortikale Ruheaktivität im VS! z.B. Mittelhirn, Hypothalamus, Hirn- stamm, Mandelkern, Basalgangl., Thalamus, Insel, Gyrus fusiformis, Sehrinde …. beteiligt an unbewusster und emotionaler Verarbeitung und Reagibilität! Schiff et al 1999/2002
„Emotional“ aktivierbare kortikale Areale (fMRT) im VS/MCS Owen 2003 Gesund Vertraute Gesichter Wachkoma Wachkoma Vertraute Stimmen Laureys et al 2004 Gesund Solche Wachkoma Befunde wurden in mehreren vergleichbaren Studien bestätigt …
Schmerzverarbeitung im Wachkoma (VS/UWS)
Tennis imagery Räumliche Navigation fMRT „rudimentäres affektives Bewusstsein“ fMRT: Owen et al 2006
IV Heart-Brain-Connection - „Herzenssache“ Sympathikus Parasympathikus Beissner et al 2013 Überlebenswichtige bedarfs-, umweltereigniskorrelierte Balance der zentralen autonomen NetzwerkrRegulation „emotionales“ Band CAN Riganello et al 2019 Powerspektrum der HerzRatenzVarianz (HRV)-Analyse
Je höher das Maximum Je mehr Hirnstammbeteiligung des „emotionalen“ HF- desto längerer die Komadauer! Bandes, desto besser das Outcome (FIM)!
Neuroaffektive Regulation von emotionalen Ereignissen Porges 2018 A Sympathikus-System (und ARAS, Arousal): Flucht/Kampf B Parasympathikus, dorsales Vagussystem: Immobilisation/Erstarrung C Parasympathikus, ventraler „sozialer“ Vagus: Beruhigung … (HRV) Ncl. dorsalis vagi: Dorsales Vagus (Immobilisation, „Erstarrung“) bei allen Wirbeltieren Sozialer Vagus „Vagusbremse“ Ncl. ambiguus: • reguliert positive Emotionen Ventraler Ast „sozialer“ Vagus • Bindung, Sicherheit nur bei Primat • nonverbale Reaktionen und Mensch! • prosoziales Interaktions- Verhalten, trösten … Unbewusstes „Scanning“: lebensfreundlich vs. lebensbedrohlich?
Bestimmung durch HRV-Messung: • trennscharf und effektiv • einfache messtechnische Methode (CAN) • leicht anwendbar Riganello, Larroque, Laureys et al, Front. Neurol. 2018 • wenig kostenintensiv • sparsam Korrelation mit klinischer CRS-R ECG Multiple Scale Entropy Elektrokardiogramm Informationsinhalt nicht- linearer Signale zu unter- Peak detection Interbeat Intervals schiedlichen Zeitskalen Complexity Index
Einleitung und Förderung der Remission aus dem Koma/Wachkoma durch „Emotionale Transformation“ K O N T I N U U M
V Quo vadis „Zukunft“ der Langzeitversorgung? In den letzten 20 Jahren • Lebensverhältnisse von Menschen mit Bewusstseinsstörungen und ihren Angehörigen deutlich verbessert • Ausbau der Solidarsysteme • Entwicklung von Medizin, Pflege- und Versorgungstechnologien Gleichzeitig seit den 1970er Jahren im Zuge der Neoliberalisierung der Finanz- und Wirtschaftssysteme • Abbau von Sozialleistungen, Solidarität und Verteilungsgerechtigkeit • Feindlichkeit gegenüber Migranten, Andersgläubigen, Behinderten • Veränderungen der Würde-Wert-Systeme: wie „wertvoll“ sind Wachkoma-Patienten? • Kommerzialisierung in Medizin und Gesundheitswesen Umgang mit chronisch Schwerstkranken/Schwerbehinderten?
Kulturabhängig geprägte Grundeinstellungen 1) Calvinistisch/angloamerikanisch: eher nihilistisch, „lebensunwertes“ Leben 2) Christlich/humanistisch: eher optimistisch, „lebenswertes“ Leben tief positiv moralisch und emotional verankert, daher: - emotionale Körpersemantik ernstnehmen und einbeziehen - Kommunikation aufbauen, statt nach „Bewusstsein“ zu suchen! Leben im Wachkoma unter neoliberaler „Gesundheitswirtschaft“ und „Wertschöpfungsketten“: • nur ein „Spannungsfeld“, oder nicht doch ein „Systemsprenger“? „Die Schwachen und Kranken zu schützen ist die Würde der Gesunden“ (Klaus Dörner) Jede Gesellschaft hat die Medizin und Politik, die sie verdient! (Andreas Zieger)
Sie können auch lesen