Hört die Signale - Das Symptom als Botschaft
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft H. S. Füeßl Somatischer Querschnittsbereich Isar-Amper-Klinikum gemeinnützige GmbH Klinikum München-Ost Psychotherapie – Psychosomatik – Psychiatrie - sprechende Medizin heute München, 17. Februar 2011 Präsentation, Stand November 2008, Martin Spuckti Seite 1
Der Begriff Symptom Symptom (griechisch σύμπτωμα symptoma): „Zufall, Begebenheit, Begleiterscheinung“ Zeichen, das auf Erkrankung oder Verletzung hinweist • vom Arzt erfasst - Befund • vom Patienten selbst erfahren – Beschwerde, Klage Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Vom Symptom zur Diagnose Deutliches Symptom, sicherer Befund, klare Diagnose: Kropf (Struma) Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Vielfältige Symptome – unklare Ursache • Schmerzen: Kopf, Hals, Brust, Rücken, Bauch, Gelenke, Becken, Genitale • Schweißausbrüche, Mundtrockenheit, Juckreiz, Kribbeln, Gefühlsstörungen • Appetitlosigkeit, Übelkeit, Blähungen, wechselndes Stuhlverhalten, • Luftnot, Kloßgefühl, Schluckstörungen, Herzrasen, Herzstolpern • Infektneigung, Husten, blockierte Nase, belegte Stimme • Ohrgeräusche, Hör- und Sehstörungen, Schwindel, Störungen von Geruch und Geschmack • Störungen von Blasenentleerung, Potenz, Libido • Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Leistungsknick, Schlafstörungen • Konzentrationsstörungen, Stimmungsschwankungen, Antriebsminderung Bei 15 - 50% der Patienten in der Praxis bleibt die Ursache der Beschwerden unklar Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Diagnostische Unsicherheit bei Ärzten … Störungen der Köperfunktion ohne organpathologischen Nachweis • Funktionelle Beschwerden, Syndrome • Befindlichkeitsstörung • Somatoforme Störungen • Somatisierungsstörungen • Somatoforme Körperstörungen • Medizinisch nicht erklärte Körpersymptome • Hypochondrie • Gesundheitsangststörung • Undifferenzierte Somatisierungsstörung • Undifferenzierte autonome Funktionsstörung • Anhaltende somatoforme Schmerzstörung Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
….und Patienten • Angst vor schwer wiegenden Erkrankungen, vor allem Krebs • Neigung zu vermehrter Körperbeobachtung • Wiederholte Darbietung körperlicher Symptome • Drängen nach Ursachenforschung • Forderung nach wiederholten medizinischen Untersuchungen trotz negativer Ergebnisse • Widerstand gegen eine mögliche psychogene Ursache Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Königsweg zur Diagnose • Anamnese unter Einziehung biographischer und psychosozialer Aspekte • Patienten ausreden lassen • Aktives zuhören • Sachliche, aber empathische Atmosphäre • Organisierendes Aufnehmen der Symptomklage • Beachtung kontextualer Zusammenhänge Gute Arzt-Patienten-Kommunikation Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Die „Sprechstunde“ Wer spricht – wer hört zu? Sind es Stunden? Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Unzufriedenheit mit der modernen Medizin • „Er hat gar nicht mit mir gesprochen!“ 90% der Patienten wollen mehr Gespräch mit dem Arzt • Doctor shopping, Zweitmeinung, Entscheidungsnot • Befunde über Befunde, aber keine Erklärungen • Bedürfnisbefriedigung bei alternativen Behandlern Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Konsultationsdauer beim Allgemeinarzt Land mittl. Dauer (SD) (min) Deutschland 7,6 (4,3) Spanien 7,8 (4,0) England 9,4 (4,7) Niederlande 10,2 (4,9) Belgien 15,0 (7,2) Schweiz 15,6 (8,7) Insgesamt 10,7 (6,7) Deveugele et al. BMJ 2002 Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Wie viel Zeit hat der Patient zum Sprechen? Spontane Redezeit für den Patienten bei der Visite: In den USA: 18 Sekunden In Deutschland: 103 Sekunden aber: nach durchschnittlich 1:43 min (SD 88 s) signalisierte der Patient eine Gesprächsübernahme durch den Arzt Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Wird man wirklich „zugemüllt“? Mittlere spontane Gesprächszeit von 501 Patienten zu Beginn des ersten Arztgesprächs in Berliner hausärztlichen Praxen T. Bär, Dissertation Charité Berlin 2009 Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Arzt und Patient im Hamsterrad? 1006 niedergelassene Ärzte der Primärversorgung Koch et al. DÄ 2007; 104: A2584 Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Arzt und Patient im Hamsterrad? Dauer Einzelkontakt pro Besuch in Deutschland: 7,8 Minuten Barmer GEK Arztreport 2010 Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Arbeitstag von Ärzten im Krankenhaus Durchschnittliche tägliche Arbeitszeit 659 min • Besprechungen 220 min (34%) • Schreibtischarbeit 200 min (30%) • OP und praktischen Tätigkeiten 80 min (12%) • Gespräche mit Patienten 79 min (12%) • Gespräche mit Angehörigen 6 min (1%) • Lehre und Forschung 40 min (6%) • Pausen 33 min (5%) Durchschnittliche Dauer Einzelkontakt pro Patient 4 min 17 s pro Angehörigen 20 s B. Hontschik Frankfurter Rundschau 27.06.2009 Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Verdrängung der Sprache durch Technik Die Medizin ist stumm, sie spricht nicht. Paul Lüth, 1974 Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
„Soft skills“ stehen hoch im Kurs Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Gute Kommunikation ist alles! Das Missverständnis ist der kommunikative Normalfall aber ärztlich-kommunikative Kompetenz ist die wesentliche qualitative Determinante der Arzt-Patienten-Beziehung und des Behandlungserfolgs. Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Ursachen der Kommunikationsstörung 1 Medizinstudium • 90% naturwissenschaftliche und organmedizinische Kenntnisse • Anleitung zur Gesprächsführung fehlt • Dominanz von Technik und Befunden gegenüber der Sprache • Vernachlässigung der psychosozialen Dimension des Menschen • Ausbildung an kausal erklärbaren Kasuistiken mit klarer Ätiologie, Pathogenese, Diagnostik und Therapie • Vernachlässigung von Somatisierung, Multimorbidität, Individualität, Spiritualität Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Ursachen der Kommunikationsstörung 2 Klinische Weiterbildung • extremer Zeitdruck durch knappe Personalbemessung • Rückzug privatisierter Kliniken aus der Weiterbildungsfunktion – Medizin als Ware; • Fehlende Vorbilder durch Subspezialisierung • unangemessener Gesprächsrahmen • Gespräch über statt mit dem Patienten • Dokumentation, Bürokratie, Ökonomisierung • Druck der Leistungszahlen für die Facharztanerkennung • dominierendes und kontrollierendes Verhalten der Ärzte Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Ursachen der Kommunikationsstörung 3 Praxis (1) • Zwang zur raschen Durchschleusung von Patienten aus ökonomischen Gründen • Überbewertung technischer Leistungen im Vergleich zu Gespräch und Management einer Falles • verantwortungsvolle Begrenzung von technischen Leistungen wird nicht honoriert • „Medikalisierung“ von Befindensstörungen aus ökonomischen Gründen • „technische Ersatzhandlungen“ statt Gespräch Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Ursachen der Kommunikationsstörung 3 Praxis (2) • Wachsende Kontrolle und Gängelung des Arztes durch externe Mitspieler • Frustration des Arztes durch „Hamsterrad-Effekt“ • Zuhören ist anstrengender als Sprechen – Flucht in die Fachterminologie • Unzufriedenheit bis hin zum Burn-out Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Folgen der Kommunikationsstörung • Über- und Fehldiagnostik durch Versäumen der richtigen Fragen – ökonomische Folgen • Somatisierungsstörungen werden gar nicht oder sehr verspätet diagnostiziert • Je kürzer die Gesprächsdauer, um so weniger werden somatoforme Störungen als solche erkannt • Kathartische Wirkung des Gesprächs bleibt ungenützt Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Kasuistiken Drei exemplarische Fälle • Pathogener Arbeitsplatz • Eine Frage zu wenig • Diagnose aus dem Nachtkästchen Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Pathogener Arbeitsplatz • 56-jähriger Abteilungsleiter in einem mittelständischen Betrieb • Am Schreibtisch zusammengebrochen, Notarzt, Verdacht auf Herzinfarkt; Krankenhaus • Zittrig, kaltschweißig, hoher Blutdruck, heftige Brustschmerzen; EKG verdächtig; • Notfall-Koronarangiographie: keine Stenosen • nach 10 Tagen Entlassung mit Antihypertensiva • Reha-Aufenthalt; seitdem unklare Schmerzen Brust, Schultern und Rücken. Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Pathogener Arbeitsplatz Über vier Jahre hinweg chronische Schmerzen, mehrfache stationäre Aufenthalte Orthopädie, Neurologie, Schmerzklinik, Psychosomatik Biographische Anamnese: Seit drei Jahren vor dem Ereignis Ärger mit der Firmenleitung Über 1 Jahr hinweg von allen Kontakten, Aktivitäten, Telefon, Post usw. ausgeschlossen, aber täglich in der Firma kontrolliert anwesend; 8 Stunden allein am Schreibtisch „Ich halte das durch!“ Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Eine Frage zu wenig 67-jähriger Mann mit pAVK PJ-Student bemerkt lichtstarre Pupille links (direkt und konsensuell) Neurologisch unauffällig Diskussion auf Station: Adie-Syndrom? Argyll-Robertson-Phänomen Lues ZNS Blutung/Tumor Vierhügelplatte? Sicherheitshalber CCT Am nächsten Morgen in der Röntgenbesprechung nach ausführlichem Vortrag des klinischen Befundes …… Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Eine Frage zu wenig Glasauge links Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Diagnose aus dem Nachtkästchen 24-jährige Frau zur Abklärung von chronischen Durchfällen stationär aufgenommen Seit 2 Jahren immer wieder breiig-wäßrige Stühle Keine Blut, kein Schleim, keine Entzündungszeichen; keine tropischen Auslandsaufenthalte; Kein allgemeines Krankheitsgefühl; sehr schlank. Stuhl auf pathogene Keime, Sonographie Abdomen, Gastro-Koloskopie, H2-Atemtest , D-Xylose-Test, Dünndarmbiopsie, Gliadin-AK, Endomysium-AK Negativ Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Diagnose aus dem Nachtkästchen Bei Visite zufällig Nachttischschublade geöffnet: Berge von Kaugummi mit dem Aufdruck: Kann bei übermäßigem Verzehr abführend wirken Nach Beendigung der Angewohnheit Sistieren der Durchfälle Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Sparen am falschen Ende? Zuhören kostet Zeit aber Weghören kostet noch viel mehr! Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Faktoren der stationären Versorgung und deren Einfluss auf die Weiterempfehlung Arzt-Patient-Verhältnis β=0,34; Pflegepersonal-Patient-Verhältnis p
Positiv erlebte AP-Kommunikation steigert langfristig den Therapieerfolg 470 Patienten aus 7 Reha-Kliniken (orthopädisch, internistisch) sechs Monate nach Beendigung des stationären Reha-Aufenthalts Dibbelt et al. Rehabilitation 2010; 49: 315-25 Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Kommunikation ist immer vielschichtig nach Schulz von Thun Die Begleitumstände einer Informationsvermittlung sind für die Akzeptanz beim Hörer wichtiger als der Informationsinhalt Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Aspekte der Kontext der nonverbalen Kommunikation Die Qualität zwischenmenschlicher Kommunikation wird nur in geringem Maß durch sachliche Information, weit mehr durch emotionale und nonverbale Kommunikationselemente geprägt. Kappauf 2004 Von welchem Arzt möchten Sie behandelt werden? Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Nonverbale Kommunikation • Augenkontakt • Gesichtsausdruck • Berührung • Tonfall der Stimme • Gesten, Haltung • Abstand • Kleidung • Umstände im Untersuchungsraum Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Gemeinsame Wirklichkeiten bilden Gute Kommunikation mit einem Patienten erfordert die Ergründung der subjektiven Wirklichkeit des Patienten: • Woher kommt er? • Wo steht er? • Was bewegt ihn • Was wünscht er sich • Wie ist sein Erleben? „Der Glaube, es gebe nur eine Wirklichkeit, ist die gefährlichste Selbsttäuschung.“ Paul Watzlawick Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Ganzheitlicher Ansatz erforderlich „Krankheiten als solche gibt es nicht, wir kennen nur kranke Menschen.“ Ludolf von Krehl 1861-1937 Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Bekenntnis – statt eines Vorwurfs • Statt zuzuhören, habe ich gesprochen • Weil ich die falschen Fragen gestellte habe, habe ich nicht die richtigen Antworten erhalten • Ich habe meine Patienten missverstanden, weil ich die verschiedenen Botschaften des Sprechens nicht erkannt oder verwechselt habe • Statt Empathie zu zeigen, habe ich mich „professionell“ verhalten • Im Gespräch fehlten der richtige Anfang, eine klare Zielsetzung und ein konkreter Abschluss • Ich habe Zeitdruck erzeugt und Zeitdruck spüren lassen • Ich habe angeordnet statt zu motivieren • Ich habe Ängste verkannt und Ängste im Gespräch ausgelöst • Ich habe nicht verstanden, dass die Wirklichkeit meines Patienten und meine Wirklichkeit nicht identisch waren • Ich habe mir nicht bewusst gemacht, dass die Sprache das wichtigste Instrument des Arztes ist Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Fähigkeit zum Zuhören als Qualitätskriterium des Arztes "Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: Zuhören. Das ist doch nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder. Aber das ist ein Irrtum. ….. …Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme. …und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten.“ Michael Ende, Momo 1973 Füeßl: Hört die Signale – Das Symptom als Botschaft
Sie können auch lesen