Androgenetische Alopezie - boris

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Androgenetische Alopezie - boris
ÜBERSICHTSARTIKEL AIM                                                                                                                                                            900

                                                                       Pseudohormoneller Haarausfall und andere Simulatoren

                                                                       Androgenetische Alopezie
                                                                       Dr. med. Pierre A. de Viragh
                                                                       Universitätsklinik für Dermatologie, Inselspital, Universitätsspital Bern, und Privatpraxis, Zürich

                                                                                                       Die Diagnose einer androgenetischen Alopezie ist einfach, weil immer zutreffend,
                                                                                                       handelt es sich ja um einen physiologischen Alterungsprozess. Nur bei einer für
                                                                                         a r tic le
                                                                       Peer

                                                                                                       das Alter übermässigen Ausprägung ist eine Therapie notwendig. Wichtig ist dann
                                                                            re
                                                                                 v ie we               das Erkennen von Simulatoren der AGA, welche die Haarausdünnung über das
                                                                                      d

                                                                                                       ­genetisch Vorgegebene hinaus beschleunigen, oder eine konstitutionelle AGA imi-
                                                                                                        tieren, und nach ganz anderen Therapieansätzen verlangen.

                                                                                                       Einführung                                                                         male ist deswegen sinnlos (gängige Einteilungen: Ha-
                                                                                                                                                                                          milton-Norwood für den männlichen, Ludwig für den
                                                                                                       Die androgenetische Alopezie (AGA) ist mechanistisch
                                                                                                                                                                                          weiblichen Typ). Bei über der Norm liegender Ausprä-
                                                                                                       ein Telogeneffluvium, mit – bedingt durch unterschied-
                                                                                                                                                                                          gung kann die AGA behandelt werden, nicht ohne bei
                                                                                                       liche Androgensensitivität der Kopfhautregionen – pa-
                                                                                                                                                                                          Vorliegen von Hinweisen für eine Hormonstörung
                                                                                                       thognomischer elektiver Verteilung am Kopf; bei Mann
                                                                                                                                                                                          (schnelle Verschlechterung, Hirsutismus, Zyklusstö-
                                                                                                       und Frau ist die AGA zwar etwas unterschiedlich ausge-
                                                                                                                                                                                          rungen) weitergehende endokrinologische Untersu-
                                                                                                       prägt, aber bei beiden ist das Occipitum ausgespart
                                                                                                                                                                                          chungen zu veranlassen (Tab. 1) [1]. Simulatoren der
                                                                                                       («zentrale» oder «frontale» Verteilung, engl. «patter-
                                                                                                                                                                                          AGA (Tab. 2) können diese falsch als übermässig er-
source: https://doi.org/10.7892/boris.124990 | downloaded: 14.3.2020

                                                                                                       ned» alopecia) (Abb. 1A). Dies ist im Gegensatz zum dif­
                                                                                                                                                                                          scheinen lassen, was zu therapeutischen Fehlschlägen,
                                                                                                       fusen Telogeneffluvium, welches die Gesamtheit der
                                                                                                                                                                                          und daraus zu therapeutischem Defätismus oder zu
                                                                                                       Haarfollikel betrifft (Abb. 1B). Die genaue Wirkweise der
                                                                                                                                                                                          unnötigen Untersuchungen führt. Hierbei sind immer
                                                                                                       Androgene nach dem Eintritt in die Haarfollikelzellen
                                                                                                                                                                                          auch die individuellen Unterschiede im Reaktionsmus-
                                                                                                       ist unbekannt, sei es, dass sie in normaler Menge vorlie-
                                                                                                                                                                                          ter auf die Androgene und die Kofaktoren des Haar-
                                                                                                       gen und entsprechend der genetischen Empfindlichkeit
                                                                                                                                                                                          wachstums aufgrund genetischer Unterschiede anzu-
                                                                                                       ihre Wirkung am Haarfollikel entfalten, oder sei es bei
                                                                                                                                                                                          erkennen – nicht alle werden bei gleichen Umständen
                                                                                                       absoluter oder relativer Hyperandrogenie. Dabei verhält
                                                                                                                                                                                          mit einem Haarausfall reagieren, und nicht alle werden
                                                                                                       sich der Effekt am Kopf gegenläufig zur Wirkung am
                                                                                                                                                                                          auf die gleiche Therapie gleich ansprechen [2].
                                                                                                       Körper (Glatze versus Bart usw.). Bei Polymorphismen
                                                                                                       zahlreicher beteiligter Gene und deswegen individuel-
                                                                                                       ler Unterschiede (Affinität und Aktivität der Androgen-
                                                                                                                                                                                          Simulatoren der AGA
                                                                                                       rezeptoren, Aktivität der 5α-Reduktase, Aromatase,
                                                                                                       ­Lipoxygenase, Steroid-Sulfatase usw.) lösen sie am Kopf,                          Diffuses Telogeneffluvium
                                                                                                       mit jedem Haarzyklus zunehmend, eine charakteristi-                                Um eine Haarausdünnung subjektiv überhaupt zu be-
                                                                                                       sche Miniaturisierung der Follikel aus: Verminderung                               merken, muss diese objektiv bereits bedeutsam sein (je
                                                                                                       des Durchmessers der betroffenen Haare und so in der                               nach Schätzung 20–50% der Haare). Eine übermässige
                                                                                                       Lupenuntersuchung unterschiedliche Haarkaliber («An-                               AGA kann fälschlich angenommen werden, wenn die
                                                                                                       isotrichose») sowie Verkürzung ihrer Wachstumsphase                                bisher inapparente in normalem Ausmass altersge-
                                                                                                       (Anagen) mit frühem Übertritt in die Ruhephase (Telo-                              recht ablaufende Haarausdünnung, durch ein diffuses
                                                                                                       gen) und dadurch Verkürzung der Haarlänge.                                         Telogeneffluvium akzentuiert wird, mit inspektorisch
                                                                                                       Als physiologischer Prozess kann die AGA selten als ers-                           noch normal scheinender Haarmenge okzipital. Das Te-
                                                                                                       tes Zeichen der Pubertät erscheinen (präpubertäre AGA)                             logeneffluvium kann akut oder subakut ablaufen und
                                                                                                       oder während dieser auftreten (adoleszente AGA). Spä-                              führt dann mehr oder weniger schnell zur globalen
                                                                                                       testens ab Ende der Pubertät liegt sie bei allen in diskre-                        Haarverminderung. Wenn ein Trichogramm zur Ob-
                                                                                                       ter Form vor und akzentuiert sich sichtbar über die                                jektivierung der Haarausfallsquote nicht möglich ist,
                                                                                                       Jahre. Die Diagnose einer AGA ohne Angabe der Ausprä-                              muss anamnestisch eine schleichende von einer
                                                                       Pierre A. de Viragh             gung und ohne Abgleichung mit dem für das Alter Nor-                               schnellen Verschlechterung der Haare unterschieden

                                                                       SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM                       2018;18(44):900–906
                                                                       Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission.       See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
Androgenetische Alopezie - boris
Übersichtsartikel AIM                                                                                                                                                             901

                                Abbildung 1: A: Fortgeschrittene AGA, Haarausfall unter Aussparung des Occipitums. B: Diffuses Telogeneffluvium,
                                ­Haarausfall mit Einbezug des Occipitum.

                                Tabelle 1: Laboruntersuchungen bei Haarausfall. Hormonuntersuchungen sind kostspielig und bei regelmässigem Zyklus
                                selten indiziert.

                                Systematisch zu untersuchen                                               ANA, TSH, Ferritin inkl. CRP und ALAT (um Ferritinerhöhungen bei
                                                                                                          Hepatopathien oder Entzündungen auszuschliessen), Zink, aktives
                                                                                                          Vitamin B12 (Holotranscobalamin), B
                                                                                                                                            ­ iotin. Im Kontext: Syphilis-/HIV-
                                                                                                          Screening.
                                + bei Adipositas (nüchtern)                                               SHBG. HOMA-Index oder Insulinresistenz.
                                + bei Verdacht auf Endokrinopathie, v.a. bei Zyklusunre-                  – Ä ltere Patientin bei Tumorverdacht: Testosteron total, DHEAS
                                gelmässigkeit                                                                (von Zyklus unabhängig).
                                (Blutentnahme in der follikulären Zyklusphase, vorzugs-                   – Junge Patientin: zusätzlich LH/FSH, E2, ­A ndrostendion, 17-OH-
                                weise 3.–5. Tag, morgens, nüchtern, ggf. nach einer Pil-                     Progesteron, Prolaktin. Ggf. endovaginaler Ultraschall der Ovarien
                                lenpause von mindestens zwei Spontanzyklen.)                                 zum Ausschluss von PCO (häufigste Ursache).

                                + bei Verdacht auf hypoöstrogenes Effluvium durch KOK                     E2 (hier keine Pillenpause! Blutentnahme jederzeit, idealerweise nach
                                                                                                          der Menstruationspause, vor Beginn des nächsten Pillenzyklus).
                                ALAT = Alanin-Aminotransferase; ANA = antinukleärer Antikörper; CRP = C-reaktives Protein; DHEAS = Dehydroepiandrosteronsulfat; E2 = Östra-
                                diol; FSH = Follikel-stimulierendes Hormon; KOK = kombinierte Kontrazeption; LH = luteinisierendes Hormon; PCO = polizystische Ovarien;
                                SHBG = Sexualhormon-bindendes Globulin.

                                                                                                                   werden. Bei schneller Progression werden mögliche Ur-
Tabelle 2: Simulatoren der androgenetischen Alopezie.                                                              sachen für ein Telogeneffluvium durch die angezeigten
Telogeneffluvium, diffus Subakut                                                                                   Untersuchungen ausgeschlossen (Tab. 1 und 3). Bei
                                Akut                                                                               Durchführen eines Trichogramms ist die korrekte In-
Hormonelle Effluvien            Pseudohormonelle Alopezie                                                          terpretation wesentlich. Der normale Haarausfall (Haar­
                                Hypoöstrogene Alopezie                                                             erneuerung im Mosaik) erfolgt wellenartig mit Phasen
                                Iatrogene androgenetische Alopezie                                                 verstärkten und verminderten Ausfalls; dessen «Am­
Anageneffluvium                 Chemotherapie-induzierte Alopezie, permanent                                       plitude» schwankt zwischen 15 und 20% Telogenhaa-
                                Alopecia areata incognita                                                          ren. Eine Verminderung unter 15% ist gleichbedeutend
Vernarbende Alopezien           Fibrosierende Alopezie                                                             mit einer Verstärkung über 20%. Einer kahl werdenden
                                – frontal (M. Kossard)
                                – zentral (M. Trüeb)                                                               Patientin «gutes Haar» zu bescheiden, nur weil ihr Telo-
                                Traktionsalopezie                                                                  genwert z.B. bei 5% liegt, ist eine grobe Falscheinschät-
                                Druckalopezie                                                                      zung. Diese Fehlinterpretation kann sowohl bei der
 Konstitutionelle               Kongenitale temporale trianguläre Alopezie                                         AGA wie auch dem diffusen Effluvium passieren.
­Effluvien/Alopezien            Chronisches Telogeneffluvium                                                       Häufige Ursache für einen globalen Haarausfall ist der
                                Psychopathologien                                                                  Mangel an einem Mikronährstoff. Wichtigster Mangel
                                Genetische Syndrome
                                                                                                                   ist hierbei der Eisenmangel auch ohne Anämie; er ist

SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM                       2018;18(44):900–906
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Androgenetische Alopezie - boris
Übersichtsartikel AIM                                                                                                                                                                902

                                                                                                                   durch Nichtverordnen einer Erhaltungstherapie;
Tabelle 3: Differentialdiagnose des subakuten oder akuten Telogeneffluviums. Dieses
                                                                                                                   schliesslich bleiben die Umstände, welche zum Haar-
tritt 2–3 Monate nach einem das Haarwachstum schwächer oder heftiger kompromittie-
renden Ereignis in Erscheinung, wo die Haarfollikel frühzeitig in die Ruhephase Telogen                            ausfall/Eisenmangel geführt haben, bestehen (Vegeta-
getrieben werden. Beim Anageneffluvium erfolgt ein eigentlicher Haarausfall innert                                 rismus, Menorrhoe, Absorptionsstörung). Die Indika-
2–3 Wochen nach einer direkten Schädigung des Haarfollikels, z.B. nach akuter
Vergiftung, Chemotherapie oder bei Alopecia areata.                                                                tion zum Abklären eines Eisenmangels richtet sich
                                                                                                                   nach den Regeln der inneren Medizin. Erinnert sei an
Post partum und Absetzen der «Pille», nach Abstillen
                                                                                                                   das Haar als träges System: eine Verbesserung erkennt
Hypo- und Hyperthyreose (CAVE: Dysthyroïdie postpartal)
                                                                                                                   man erst nach 9–12 Monaten.
Postinfektiös / Fieber >39 °C oder chronischer Infekt (inkl. HIV, Lues)
Psychische und physische Traumata, inkl. chirurgische Eingriffe
Kollagenosen (bei 7% Erstsymptom von systemischem Lupus)                                                           Pseudohormonelle Alopezie
Aggressive Reduktionsdiät und Kachexie/Anorexie                                                                    Einzelne Patienten zeigen eine nur zentral mässig ver-
Malnutrition, inkl. Vegetarismus, Magenbanding, Koffeinexzess usw., parenterale
                                                                                                                   stärkte Haarausdünnung mit schleichendem Verlauf,
Ernährung
Chronische Krankheiten (inkl. Krebserkrankung, ggf. noch unerkannt)
                                                                                                                   charakteristisch für eine klassische AGA; auch im Tri-
Leichte Vergiftungen                                                                                               chogramm ist objektiv der Haarausfall nur zentral ak-
Medikamente                                                                                                        tiv. Im Labor zeigt sich ein Eisenmangel und/oder ein
                                                                                                                   Vitamin-B12-Mangel. Hier kann die alleinige Korrektur
                                                                                                                   des Mangels die AGA umkehren. Diesen «pseudohor-
                                bei der menstruierenden Frau sehr häufig und muss
                                                                                                                   monellen Haarausfall» kann man bei Eisenmangel mit
                                systematisch gesucht werden. Bei jungen Männern im
                                                                                                                   der eingeschränkten Funktion zweier haarrelevanter
                                Wachstum, oder bei intensivem Sport, ist er auch nicht
                                                                                                                   Enzyme im Androgenmetabolismus erklären: Vermin-
                                selten. Die Bedeutung des Eisens im Gewebe ist lange
                                                                                                                   derte Aktivität der eisenabhängigen Aromatase zur
                                unterschätzt worden, nicht nur für die Haare. Wir wis-
                                                                                                                   Synthese von Östrogen und verminderte Hemmung
                                sen jedoch heute um die zahlreichen eisenabhängigen
                                                                                                                   der 5α-Reduktase durch Metaboliten der eisenabhängi-
                                Enzyme von DNA-Synthese (z.B. Ribonukleotid-Reduk-
                                                                                                                   gen Lipoxygenase. Beide führen im Teufelskreis zu ei-
                                tase) und Zellzyklus (z.B. c-Myc), welche beim schnell
                                                                                                                   ner lokalen relativen Hyperandrogenie und Hypoöst-
                                proliferierenden Haarfollikel eine bedeutsame Rolle
                                                                                                                   rogenie (Abb. 2). So kommt es bei einem (prä-)latenten
                                spielen, ganz unabhängig von der Eisenabhängigkeit
                                                                                                                   Eisenmangel zu einer verstärkten AGA [4]. Anderer-
                                der mitochondrialen Energiebereitstellung (immerhin
                                                                                                                   seits erklärt sich die Aktivierung einer AGA bei Vit­
                                wachsen dem Menschen täglich ca. 30 Meter Haar!).
                                                                                                                   amin-B12-Mangel durch die dann verminderte Methy-
                                Mit der «Schwellenhypothese» wird angenommen,
                                                                                                                   lierung und Inaktivierung der Androgenrezeptoren,
                                dass der individuelle Eisenbedarf und die Schwelle
                                                                                                                   mit dadurch verstärkter Androgenwirkung.
                                zum Haarausfall bei Patienten unterschiedlich sind [3],
                                eine Annahme, welche in Zeiten individualisierter Me-
                                dizin nicht mehr anstössig sein dürfte. Zusätzliche                                Hypoöstrogene Alopezie
                                Symptome eines möglichen Eisenmangels (Nagelbrü-                                   Östrogen hat eine das Haarwachstum direkt stimulie-
                                chigkeit, Fatigue, Stimmungsschwankungen usw.) be-                                 rende Wirkung, was auch in der Zellkultur nachgewie-
                                gründen die Entscheidung zur Behandlung mehr als                                   sen wird. Es erklärt das schöne Haar während der
                                der einfache Ferritinwert; dieser ist sowieso – daran sei                          Schwangerschaft und den Haarausfall im Östrogentief
                                wieder einmal erinnert – kein absoluter Wert, sondern                              nach der Niederkunft. Auch stimuliert das Östrogen
                                ein Schätz- und Wahrscheinlichkeitswert, im Kno-                                   die Testosteron-abbauende Aromatase. So kann jeder
                                chenmarksausstrich einen Eisenmangel vorzufinden.                                  Abfall des Östrogens bei Frauen zu einem diffusen,
                                Die Interpretation muss also im klinischen Kontext er-                             aber auch zu einem AGA-ähnlichen Haarausfall füh-
                                folgen. Bei Haarausfall ist ein Ferritin von mindestens                            ren: Menopause, Therapie mit Antiöstrogenen und An-
                                50–70 µg/l empfohlen. Die individuelle Schwelle                                    tiaromatasen, aber auch eine hormonelle Antikonzep-
                                schwankt erfahrungsgemäss im Patienten selbst, wo                                  tion      mit    einem    einfachen          Gestagen-Präparat
                                sie gegebenenfalls durch weitere Mangelzustände zu-                                (Minipille). Diese führen durch die Hemmung der Go-
                                sätzlich gesenkt wird. Häufige Ursachen, wenn keine                                nadotropine zu einer relativen Hypoöstrogenie. So
                                Verbesserung des Haarwuchses durch Eisen zu errei-                                 wirkt sich bei zur AGA-neigenden Patientinnen eine
                                chen ist, sind: (1.) Ungenügendes Anheben der Eisenre-                             Kontrazeption mit einer Minipillle während der Still-
                                serven (im besten Fall Anstieg des Ferritins um 0,25                               zeit, im postpartalen Östrogentief, ganz verheerend
                                pro Eisentablette, um 10 pro 100 mg i.v.-Eisen; Kon­                               aus. Auch der paradoxe verstärkte Haarausfall bei Ein-
                                trolle 3 Wochen nach der letzten Tablette, 8 Wochen                                zelnen selbst unter antiandrogener kombinierter Kon-
                                nach der Infusion), (2.) erneutes Abfallen des Eisens                              trazeption (KOK) erklärt sich hieraus, wo vor allem das

SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM                       2018;18(44):900–906
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Androgenetische Alopezie - boris
Übersichtsartikel AIM                                                                                                                                                             903

                                Abbildung 2: Mechanismus der pseudohormonellen Alopezie (Annahme). Testosteron wird einerseits durch die eisenabhän-
                                gige Aromatase zu Östradiol (proanagen, reguliert weiter die Aromatase auf) und andererseits durch die 5α-Reduktase (5αR)
                                zum potenterem Dihydrotestosteron (DHT) umgewandelt; die 5αR-Aktivität wird durch Metaboliten des Fettsäurestoffwechsels
                                gehemmt, welche von der eisenabhängigen Lipoxygenase (LOX) abhängen. Bei Gewebeeisenmangel ist die Aromatase weniger
                                aktiv, mit Rückstau an Testosteron. Dieses wird dafür umso effizienter durch die ungehemmte 5αR zu DHT umgewandelt,
                                ­wegen verminderter Aktivität der LOX.

                                Gestagen die Gonadotropinhemmung bewirkt und das                                   lung auch offensichtlich. Weniger bewusst ist der
                                exogene Ethinylestradiol das endogene Östrogen (E2)                                Umstand, dass die neuen Chemotherapie-Schemata
                                nicht in allen Gewebekompartimenten ersetzen kann.                                 (Therapeutika, Kombinationen, Wiederholungen) auch
                                Bei diesen Patientinnen, besonders wenn das E2 mit                                 zu einem totalen oder partiellen Haarverlust führen
                                der KOK deutlich unter den tiefsten Wert im ovulatori-                             können, welcher permanent ist, mit definitiver Inakti-
                                schen Zyklus abgesenkt wird, muss nicht Cyproterona-                               vität der Follikel; so wird eine übermässige AGA imi-
                                cetat zur KOK zugesetzt, sondern diese ganz abgesetzt                              tiert, insbesondere, wenn sie im Verlauf durch Antiaro-
                                und durch eine nicht-hormonelle Kontrazeption er-                                  matasen oder -östrogene weiter verstärkt wird.
                                setzt werden.

                                Iatrogene androgenetische Alopezie                                                 Alopecia areata incognita, systemischer Lupus
                                Eine KOK oder ein Hormonersatz mit einem Gestagen                                  erythematodes, Syphilis
                                erster oder zweiter Generation kann wegen deren and-                               Die Alopecia areata, auch diese ein Anageneffluvium,
                                rogenisierenden Teilwirkung zu einer iatrogenen AGA                                führt zu völlig kahlen, umschriebenen Stellen, oder zur
                                führen; hierzu gehören auch dosisabhängig die Hor-                                 vollständigen Glatze. Eine wenig bekannte Sonderform
                                monspiralen und Tibolon im Hormonersatz. Bei aktu-                                 ist die Alopecia areata incognita, welche eben nicht er-
                                ell aktiver Organisation im Internet von Geschädigten-                             kannt wird. Sie tritt schleichend auf und äussert sich als
                                gruppen ist vor Verordnung einer Hormonspirale die                                 einziger Hinweis durch eine etwas unregelmässige dif-
                                Veranlagung zur AGA auszuschliessen und auf die                                    fuse Haarausdünnung ohne Kahlstellen; sie imitiert –
                                mögliche Nebenwirkung hinzuweisen. Die Therapie                                    wie das Telogeneffluvium – durch Demaskierung eine
                                besteht – bei Fehlen von Kontraindikationen – im                                   fortgeschrittene AGA, oder sie imitiert ein akutes diffu-
                                Wechsel der «Pille» oder des Hormonersatzes zu einem                               ses Telogeneffluvium, für welches dann keine Ursache
                                Kombinationspräparat mit einem Gestagen neutraler                                  gefunden wird. Die klassischen «Ausrufezeichenhaare»
                                (dritte Generation) oder antiandrogener Wirkung                                    der Alopecia areata fehlen meist. Auch in der Histologie
                                (vierte Generation: Cyproteronacetat, Drospirenon,                                 fehlt das klassische «Bienenschwarm-artige» peribul-
                                Chlormadinon, Dienogest, Nomegestrol).                                             bäre Infiltrat, so dass es einiger Erfahrung und vor al-
                                                                                                                   lem einer genügend grossen Biopsie bedarf, um die Dia-
                                Permanente Chemotherapie-induzierte Alopezie                                       gnose zu stellen (Abb. 3). Selbstredend ist dann die
                                Bei der Chemotherapie sind die Umstände analog der                                 Therapie als AGA nutzlos: ein völliges Versagen der
                                Demaskierung einer AGA durch ein Telogeneffluvium.                                 AGA-Therapie sollte die Erstdiagnose anzweifeln lassen,
                                Auch eine Chemotherapie-induzierte Alopezie, ein                                   ebenso wie Versagen der Behebung vermuteter Man-
                                Anageneffluvium, kann – wenn sie nicht total ist – eine                            gelzustände. Therapie ist die systemische Immunsup-
                                physiologische «zentrale» Haarausdünnung akzentu-                                  pression (Kortisolpulse, Methotrexat). Ähnlich können
                                ieren. Dies ist im allgemeinen reversibel und im un-                               sich der Haarausfall im Rahmen eines systemischen
                                mittelbaren Zusammenhang mit der Krebsbehand-                                      Lupus und einer Lues darstellen.

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Übersichtsartikel AIM                                                                                                                                                            904

Abbildung 3: Alopecia areata incognita. Von der klassischen Alopecia areata («peribulbäres Bienenschwarm-Infiltrat») unterschiedliche Histologie (alle
Abbildungen in Hämatoxylin-Eosin-Färbung). A: ­Vermehrte Telogenhaare (t) (Originalvergrösserung 10×). B: Hoch-perifollikuläres Infiltrat im Bereich der
Talgdrüsen (Pfeil) statt tief-follikulär am Bulbus (20×). C: Superfiziell perivaskuläres Infiltrat (Pfeil) (20×). D: Infiltrat in den fibrösen Trakten der Telogen-
haare (Pfeil) (20×). E: Eosinophile im Infiltrat (Pfeil) (40×). Meist liegen die Elemente unvollständig und nur diskret vor (grosse Biopsie notwendig).

                                Vernarbende Alopezien                                                              deutlich; die Haarfollikelöffnungen der verbleibenden
                                Die AGA kann in seltenen Fällen vernarbend ablaufen,                               Haare sind oft etwas hyperkeratotisch und diskret ge-
                                mit Fibrosierung der Follikel. In diesen Fällen ist ein                            rötet; nicht immer klagen die Patienten über modera-
                                Zurückwachsen der Haare unter Therapie nicht mög-                                  ten Juckreiz. Häufig geht dem Haarausfall ein Verlust
                                lich, nur ein Stoppen der Progression. Extremformen                                der Augenbrauen voraus. Das Pendant im weiblichen
                                der vernarbenden AGA stellen die fibrosierenden Alo-                               AGA-Muster betrifft das Zentrum des Kopfes am Ver­
                                pezien dar, zuweilen als Typus alleine, zuweilen kom-                              tex (Morbus Trüeb); vieles, was früher als Pseudopelade
                                biniert auftretend. Sie betreffen meist peri- oder post-                           Brocq beschrieben wurde, entspricht diesem Alopezie­
                                menopausale Frauen, können aber auch bei jungen                                    typ. Auch ist zuweilen der hippokratische Kranz hin-
                                Patientinnen und bei Männern beobachtet werden.                                    ter den Ohren und am Occipitum betroffen. Histolo-
                                Die frontale fibrosierende Alopezie (Morbus Kossard)                               gisch findet sich ein Entzündungsmuster, welches
                                entspricht dem männlichen Verteilungsmuster der                                    weitgehend einem Lichen planopilaris entspricht: bei
                                AGA und lässt die frontale Haarlinie nach hinten wei-                              entsprechendem mikroskopischem Befund obliegt es
                                chen, bis hin zum Vertex («Clown-Alopezie»). Typisch                               dem Kliniker, die korrekte Schlussfolgerung zu zie-
                                ist ein narbiges, glattes weissliches frontales Band                               hen. Aufgrund ihrer histologischen Charakteristika
                                mit – pathognomisch – auch haarloser Zone vor den                                  werden die fibrosierenden Alopezien zuweilen noch
                                Ohren; die Abgrenzung gegenüber der chronisch son-                                 als Sonderform des Lichen planopilaris klassiert; die
                                nengeschädigten (fleckigen und gefältelten) Stirn ist                              Behandlung als solche führt jedoch kaum jemals zum

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                                Erfolg, während eine energische Anti-AGA-Therapie                                  Kongenitale trianguläre temporale Alopezie
                                mit einem potenten Inhibitor der 5α-Reduktase (Du-                                 und andere konstitutionelle Simulatoren
                                tasterid [off-label]) in den meisten Fällen zum Sistie-                            Die kongenitale trianguläre temporale Alopezie ist kaum
                                ren der Progression führt [5]; ein Nachwachsen der                                 jemals kongenital oder triangulär, sondern erscheint
                                Haare ist auch hier wegen der Vernarbung ausge-                                    im Verlauf der Kindheit als haarlose, mit spärlichs-
                                schlossen, weswegen die frühe Erkennung und Be-                                    tem Flaum bedeckte, umschriebene rundliche Zone
                                handlung wichtig ist. Interessant ist, dass der frontale                           im fronto-temporalen Bereich. Wenn hinter der Haar-
                                Typ dieses Haarausfalls erst seit zirka 20 Jahren beob-                            linie liegend, besteht die Verwechslungsgefahr mit ei-
                                achtet wird, aber mit rapide zunehmender Häufigkeit;                               ner Alopecia areata. Wenn sie aber beidseitig und am
                                wegen überzufälliger Assoziation mit Verwendung                                    Rand des Haaransatzes auftritt, können vertiefte Ge-
                                von Kosmetika und Sonnenschutzmitteln ist eine ne-                                 heimratsecken angenommen werden. Weil die Haar-
                                gative Wirkung von in diesen enthaltenen, hormonell                                losigkeit zuweilen erst im jungen Erwachsenenalter
                                wirksamen Chemikalien als endokrine Disruptoren                                    bemerkt wird, ist die gängige Erklärung später Auf-
                                nicht ausgeschlossen.                                                              merksamkeit wenig plausibel; wahrscheinlicher han-
                                Von den fibrosierenden Alopezien abzugrenzen sind                                  delt es sich um eine hamartielle In- oder Aktivierung
                                weitere vernarbende Alopezien, die im AGA-Gebiet                                   eines für das Haarwachstum relevanten Gens, z.B.
                                vornehmlich bei Migranten und vereinzelt noch bei                                  von hr (hairless). Behandlung der Wahl ist die Thera-
                                älteren Damen auftreten: Traktionsalopezie (an der                                 pieabstinenz oder eine Haartransplantation.
                                Stirn als Alopecia marginata, am Vertex als Chignon-
                                Alopezie) und Druckalopezie durch zu enge Kopftü-                                  Als normaler Haarverlust gilt tatsächlich
                                cher (Abb. 4A–D). Anfänglich noch reversibel, erfolgt                              nur, was in der Bilanz zwischen Ausfallen
                                bei langanhaltender Schädigung die Vernarbung,                                     und Nachwachsen nicht zu einer über für das
                                weswegen die Therapie im Aufzeigen der Ursache                                     Alter Normale hinausgehenden Haarausdün-
                                liegt; leider besteht häufig Beratungsresistenz.                                   nung führt.

                                                                                                                   Die unselige tradierte Lehre, dass ein Verlust von bis zu
                                                                                                                   100 Haaren pro Tag normal sei, hat sich auch im Laien­
                                                                                                                   unwissen festgesetzt. Tatsächlich ist aber nur normal,
                                                                                                                   was in der Bilanz zwischen Ausfallen und Nachwach-
                                                                                                                   sen nicht zu einer über für das Alter Normale hinaus-
                                                                                                                   gehenden Haarausdünnung führt. Es gibt Patientin-
                                                                                                                   nen (und Ärzte), die völlig auf diese magische Zahl
                                                                                                                   fixiert sind und ihre Haare täglich zählen, obwohl de-
                                                                                                                   ren gegebenenfalls auch objektiv starker Turnover
                                                                                                                   nicht zur pathologischen Ausdünnung führt (sog. chro­
                                                                                                                   nisches Telogeneffluvium); sie beklagen zwar keine Alo-
                                                                                                                   pezie, aber fürchten sie; eine standardisierte Fotogra-
                                                                                                                   fie kann zur Beruhigung führen. Schwieriger sind
                                                                                                                   Patientinnen mit schönem Haar, die selbst bei übli-
                                                                                                                   chem Turnover einen krankhaften Haarausfall bekla-
                                                                                                                   gen (psychogenes Pseudo­effluvium); hier handelt es
                                                                                                                   sich um Persönlichkeitsstörungen mit Dysmorpho-
                                                                                                                   phobie, welche bis zum Suizid führen kann. Diese Pa-
                                                                                                                   tientinnen sind aber sehr selten und die Diagnose ist
                                                                                                                   selbstkritisch und nur als Ausschlussdiagnose zu stel-
                                                                                                                   len. Bei konstitutioneller Hypotrichose wird die phy-
                                                                                                                   siologische AGA schnell pathologisch wirkende Aus-
                                                                                                                   masse annehmen. Bei der Myotonen Dystrophie Typ 1
Abbildung 4: A: Traktionsalopezie bei Sikh (Haare unter dem Turban verstaut; kein Haar-                            Curschmann-Steinert und beim Trichorhinophalan­
saum, weil Druckalopezie durch Turban). B: Traktionsalopezie bei Afrikanerin (beachte                              geal-Syndrom ist eine AGA-analoge Haarauslichtung
den kleinen übrigbleibenden Saum von Haaren, die nicht gefasst werden können [Pfeil]:
                                                                                                                   oft früh ausgeprägt, wobei neben Störungen im peri-
Alopecia marginata). C: Traktionsalopezie bei älterer Dame durch «Bürzi»/Dutt (Chignon-
Alopezie). D: Druckalopezie bei Muslima durch zu eng gefasstes Kopftuch (beachte                                   pheren Androgenmetabolismus auch Störungen der
leichte Lichenifikation [Pfeil]).                                                                                  Haardifferenzierung diskutiert werden.

SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM                       2018;18(44):900–906
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Übersichtsartikel AIM                                                                                                                                                                   906

Korrespondenz:
                                Schlussfolgerungen                                                                 tientin und Arzt zugleich frustrieren. Bei umfassender
Dr. med. Pierre de Viragh                                                                                          Beurteilung mit gezielter Anamnese statt unstruktu-
Facharzt für Dermatologie,
                                Die erfolgreiche Therapie der AGA ist möglich. Falsch
                                                                                                                   riertem Gespräch, kleinem Labor und dann nachhalti-
spez. Dermatopathologie         ist das Studentenwissen, dass zur AGA keine Differenti-
Schanzeneggstrasse 1                                                                                               ger Therapie eventueller Simulatoren, wird aus der
                                aldiagnose besteht. Gerade das Nicht-Beachten der Si-
CH-8002 Zürich                                                                                                     «Strafsprechstunde» wieder eine erfolgreiche Haar-
info.dermadoc[at]bluewin.ch     mulatoren führt zum Therapieversagen, welches Pa­
                                                                                                                   sprechstunde.

                                                                                                                   Disclosure statement
                                                                                                                   Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen
Das Wichtigste für die Praxis                                                                                      im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

• Die androgenetische Alopezie (AGA) ist ein normaler Alterungsprozess.                                            Literatur
                                                                                                                   1   von Wolff M, de Viragh PA, Stute P. Androgenisierungserscheinun-
    Bei für das Alter übermässiger Ausprägung ist bei Mann und Frau eine                                               gen. Gynäkologie. 2011;3:10–15. Available from www.rosenfluh.ch/
    erfolgreiche Therapie oft möglich.                                                                                 media/gynaekologie/2011/03/androgenisierungserscheinungen.pdf
                                                                                                                   2   Levy LL, Emer JJ. Female pattern alopecia: current perspectives.
• Therapieversagen ist oft die Folge des Nicht-Beachtens von Simulatoren.
                                                                                                                       Int J Womens Health. 2013;5:541–56. (open access full text article)
    Diese müssen bei auffälliger Anamnese (plötzlicher Beginn oder plötzliche                                      3   Kantor J, Kessler LJ, Brooks DG, Cotsarelis G. Decreased serum
    Verschlechterung, Beschleunigung) oder ungewöhnlicher Klinik bedacht                                               ferritin is associated with alopecia in women. J Invest Dermatol.
                                                                                                                       2003;121:985–8.
    werden.                                                                                                        4   de Viragh PA. Ferropenic alopecia. In: Camacho F, Tosti A (eds.).
• Die wichtigsten die AGA verstärkenden oder imitierenden Ursachen sind                                                Montagna Trichology – Diseases of the Pilosebaceaous Follicle.
                                                                                                                       2 vols. (3. ed.) Madrid: Aula Medica. 2017:735–42.
    bei der menstruierenden Frau der Eisenmangel, auch ohne Anämie, und                                            5   Vañó-Galván S, et al. Frontal fibrosing alopecia: a multicenter
    generell die iatrogenen Störungen ihrer Hormonlage.                                                                review of 355 patients. J Am Acad Dermatol. 2014;70:670–8.

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