Aquariumsgespräche Ein Raum um Erinnerungen zu teilen - Beatrice Binder-Wüstiner kuverum 10 / 2018 CAS PH FHNW - Netzwerk Erzählcafé
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Aquariumsgespräche Ein Raum um Erinnerungen zu teilen Beatrice Binder-Wüstiner kuverum 10 / 2018 CAS PH FHNW
Inhaltsverzeichnis 1. Eine Initiative von Seniorinnen des Alterszentrums Limmat������������������������������������������������������ 5 2. Motivation����������������������������������������������������������������������������������������� 5 3. Von der Idee zur Umsetzung ������������������������������������������ 7 4. Aquariumsgespräche – eine Variation des Erzählcafés ������������������������������������� 9 5. Erinnerungsarbeit ���������������������������������������������������������������� 11 6. Vorbereitung und Ablauf eines Aquariumsgesprächs �������������������������������������������������������� 13 7. Herausforderungen und Lösungsansätze ������� 15 8. Variation des Aquariumsgesprächs: Generationen übergreifendes Erzählcafé �������� 17 9. Reflexionen ��������������������������������������������������������������������������������� 19 10. Fazit ��������������������������������������������������������������������������������������������������� 21 11. Dank �������������������������������������������������������������������������������������������������� 23 12. Literaturverzeichnis ������������������������������������������������������������ 24
Aquariumsgespräche – ein Raum um Erinnerungen zu teilen 1. Eine Initiative von Seniorinnen 2. Motivation des Alterszentrums Limmat «Am Abend läuft bei uns nichts. «Aquariumsgespräche» ist das Alle verschwinden nach 18.00 Uhr Ergebnis der Initiative von zwei in die Zimmer. Die Abende sind munteren und engagierten Se- leer und lang. Nur einmal in der niorinnen im Alterszentrum. Als Woche treffen wir uns im Wohn- Diakonin bin ich für die Altenar- bereich beim Aquarium zum Re- beit der Kirchgemeinde Indust- den oder Spielen, aber in letzter riequartier verantwortlich, wozu Zeit kommen immer weniger. auch das Alterszentrum Limmat Können Sie nicht mit uns eine gehört. Ich suche immer wieder Abendrunde gestalten?» neue Zugänge und aktuelle Me- Diese konkrete Anfrage von zwei thoden um die Lebendigkeit der Seniorinnen des Alterszentrums alten Menschen zu stärken und Limmat in Zürich war mein Aus- zu fördern. Aufgrund der de- gangspunkt mich mit Frau Zaugg, mographischen Veränderungen der Leiterin zusammenzusetzen. kommt der Altenarbeit eine im- Wir überlegten, was möglich mer grössere Bedeutung zu, ins- ist, um mit den Bewohnenden besondere im Zusammenhang abends eine Begegnungszeit zu mit Hochaltrigkeit und dementi- entwickeln, wo sie sich selbst ellen Veränderungen. Darum hat aktiv einbringen können. Ein es mich begeistert und heraus- Angebot ohne personelle oder gefordert gemeinsam mit den finanzielle Aufwände für das Al- zwei Seniorinnen eine Abend- terszentrum zu entwickeln und veranstaltung zu entwickeln, die durchzuführen war Vorausset- «ihre» Sache ist. Das Resultat zung und führte zu einer engeren ist eine Begegnungsmöglichkeit, Kooperation mit der reformierten wo die Lebensgeschichten von Kirchgemeinde Industriequartier Seniorinnen und Senioren, ihre im Kreis 5 in Zürich. Lebenskompetenzen und ihre Erfahrungen im Zentrum stehen. 5
3. Von der Idee zur Umsetzung In einem ersten positiv verlau- Erzählen von persönlichen Erin- fenen Sondierungsgespräch nerungen aus den eigenen Le- mit der Leitung des Alterszent- bensgeschichten im Mittelpunkt rums äusserte Frau Zaugg den stehen sollte. Wunsch, Gespräche zu Lebens- Damit war klar, dass diese Ge- themen aufzugreifen. Es war ihr sprächsrunden sich metho- ein besonderes Anliegen auch disch am Erzählcafé orientieren schwierige und persönliche The- sollten. Das heisst, es werden men wie den Umgang mit Ge- moderierte Gespräche geführt brechlichkeit, Krankheit, Sterben über vergangene Zeiten und da- und Tod aufzugreifen. Die Kirche mit verbundene Erlebnisse. Die und somit auch ich als Diakonin Themenwahl wollten die Senio- wären dazu prädestiniert, solche rinnen nicht selber bestimmen. Themen zu besprechen, da sie zu Ihnen war wichtig, den Ort, den den Kernaufgaben und folglich zeitlichen Rahmen und die Häu- zu den Kernkompetenzen der figkeit zu klären. Wir einigten uns Kirche gehören, meinte sie. auf eine monatliche Durchfüh- Die Gespräche mit den zwei Se- rung nach dem Abendessen um niorinnen führten in eine andere 18.00 Uhr, maximal eine Stunde Richtung. Ihre Ideen waren eher im Begegnungsbereich bei der vage. Sie wünschten themenbe- Sitzgruppe nahe beim Aquarium. zogene Gesprächsrunden und Darum werden diese Gesprächs- inhaltlich sollte es interessant runden «Aquariumsgespräche» sein. Aber da man mit Tod, Ster- genannt. Der zeitliche Rahmen ben, Gebrechlichkeit und Krank- musste an das TV-Programm heit täglich konfrontiert war, angepasst werden. Die Nach- wünschten sie ausdrücklich, da- richtensendung um 19.30 Uhr rüber nicht vor dem Schlafenge- durfte nicht tangiert werden, da hen zu reden. So bestimmten wir dies eine für sie wichtige Infor- zusammen, dass wir über ver- mationsendung ist um am Welt- gangene Zeiten reden würden. geschehen teilzuhaben. Wir einigten uns darauf, dass das 7
«Die Telefonsprech- muscheln mussten gereinigt werden. Was da alles heraus- geputzt werden musste! Da wurden ganze Menüzettel der letzten Wochen sichtbar. Herr Richter, 80
4. Aquariumsgespräche – eine Variation des Erzählcafés Das Erzählcafé gehört als Me- mit. thode in den Bereich der Bio- Anderen autobiographische Er- graphiearbeit und hat wesent- innerungen mitzuteilen ist die lich zur Entwicklung dieses Grundlage des Erzählcafés. Es Forschungszweigs beigetragen wird damit keine therapeutische (Miethe, 2001, S. 105). Es wurde Absicht verbunden. Vielmehr erstmals 1987 in Berlin durch- steht die Lust, andere an seinen geführt und geht zurück auf eine Erlebnissen und Erfahrungen Anregung aus New Orleans. Dort teilhaben zulassen im Zentrum. trafen sich Veteranen des Süd- Das entspricht einem Bedürfnis, staaten-Jazz um alte Lieder zu das im Alter eine immer grös- singen und Geschichten zu er- sere Bedeutung erhält (Hense zählen. 2016, S. 13). In der Lebensphase, Erzählcafés sind heute geplan- wo der Blick nicht mehr in die te und strukturierte Anlässe mit Zukunft gerichtet ist, sondern einer geschulten Moderation. Sie die Erinnerungen aus der Ver- finden regelmässig in einem öf- gangenheit gegenwärtig werden, fentlichen oder halböffentlichen gewinnt das Gespräch über die Rahmen in einer Gruppe statt. eigene Biographie an Wichtig- Man trifft sich an einem be- keit. Wer anderen aus seinem stimmten Ort, wie zum Beispiel Leben erzählt, redet zwar von einem Café, einer Kirchgemein- sich, aber er wendet sich an ein de oder einer Institution. Erzähl- Gegenüber, er tritt in Dialog. Oft cafés unterscheiden sich von lösen erzählte Geschichten bei sachbezogenen Diskussionen anderen Erinnerungen aus, die ebenso wie von Klatschrunden. dann auch erzählt sein wollen. In einer angenehmen Atmosphä- Das eröffnet eine Vielfalt von re teilen lebenserfahrene, alte Perspektiven, welche einerseits Menschen ihr Wissen und ihre das Verständnis für eine andere persönlichen Erfahrungen und Wahrnehmung fördert und an- Erinnerungen zu zeitgeschicht- derseits auch die eigene Wahr- lichen Ereignissen, kulturellen nehmung bestimmter Ereignisse Begebenheiten und Traditionen etwas relativiert (Miethe 2001, S. 9
107). Einige Aussagen lauteten: Exkurs 1. Ein konkretes Beispiel: «Wir mussten in der Schule Beim Thema Kommunikation lernen, wie man telefoniert, wie stand die Einführung des Tele- ein Gespräch angenommen und fonierens im Zentrum. Wo hatte beendet wurde.» man Zugang zu einem Telefo- napparat, wie wurde damit um- «Kurz mussten die Gespräche gegangen oder wer «besass» ein sein, denn es war teuer.» Telefon. Besitzen konnte man ja keine Telefonapparate. Sie waren «Heute besitzt jedes Kind und Eigentum der Telekommunikati- wir alle ein Handy und das Tele- onsfirma und somit ein Mietob- fonieren kostet fast nichts.» jekt. Die Kultur im Umgang mit dem Telefon hat sich also stark ver- ändert. Solche Entwicklungen im Verlauf des Erzählcafés bewusst zu machen, gehört zum Ziel die- ser Art der Kulturvermittlung.
5. Erinnerungsarbeit «Erinnerungen sind eine Res- ein. Erzählcafés unterstützen source von unschätzbarem Wert, alte Menschen dabei, sich selber die zu einem gelingenden Leben und ihr gelebtes Leben besser zu beitragen kann», schreibt Hen- verstehen und auch für die vor se (Hense 2016, S.13). Erinne- ihnen liegende Zeit Zuversicht rungen werden zu einer beson- zu gewinnen (Skiba 1997, S.118). deren Lebensquelle, wenn man Dadurch werden ihre Selbstak- sie auch erzählen darf. Darum tualisierung sowie die Resilienz braucht es Orte, wo ältere Men- gefördert. schen ihre Erfahrungen und so- Unter Selbstaktualisierung, auch mit auch ihre inneren Schätze Aktualisierungstendenz versteht teilen können. Solcher Austausch man die grundlegende Motiva- tion für menschliches Handeln. «Das Schlimme am Altwerden Es ist die Motivation, alle geis- tigen, seelischen und körperli- ist, dass man nicht mehr ge- chen Fähigkeiten zu entwickeln braucht wird, dabei kann ich doch und zu entfalten. Der Begriff noch ganz vieles.» Frau Schmid, 91 geht auf Carl Rogers zurück und entspringt einem humanistisch hilft das oft im Alter entstehende personenzentrierten Ansatz der Gefühl, nicht mehr gefragt oder Psychologie (https://de.wikipe- überflüssig zu sein, einzudäm- dia.org/wiki/Aktualisierungsten- men oder sogar zu überwinden. denz). Durch das Erzählen, die Reaktio- Resilienz hingegen beschreibt nen und die Fragen der Zuhören- die psychische Widerstandsfä- den erfahren sie, dass man ihnen higkeit, Lebenskrisen mit allen zuhört. Gleichzeitig vergleichen zur Verfügung stehenden Res- sie eigene Lebensstationen und sourcen zu bewältigen und sie die damit verbundenen Erlebnis- für die eigene Persönlichkeits- se mit den Erfahrungen der an- entwicklung zu nutzen (https:// deren. So ordnen sich die eige- www.ruv-blog.de/resilienz). nen Geschichten nochmals neu Zum Erinnern gehört, dass die in das Erleben im Hier und Jetzt erzählten Geschichten subjek- 11
tive Darstellungen des Erlebten sind. Die Teilnehmenden erzäh- len ihre Geschichte so, wie sie das Vergangene heute sehen. Das heisst, vieles unterliegt ih- rer subjektiven Interpretation und ist direkt mit ihrer eigenen Wahrnehmung und ihrer heuti- gen Selbstdarstellung verwoben (Skiba 1997, S.87). Darum wer- den Erinnerungen in diesen Ge- sprächsrunden nicht bewertet oder kommentiert. «Man muss einfach immer das Gute behalten.» Frau Padrutt, 79
6. Vorbereitung und Ablauf eines Aquariumsgesprächs Aus einer Vielfalt von biographi- was war tabu oder was hat sich schen Stationen, Familienfesten einfach «gehört» oder eben nicht. oder zeitgeschichtlichen Ereig- Wie hat man damals zum Beispiel nissen suche ich vor dem Anlass auf Neuerfindungen reagiert oder ein Thema, das für Menschen, die wer hatte das Sagen? Zusätzlich im Quartier aufgewachsen sind suche, sammle und organisiere und für Zugezogene gleicher- ich thematisch Objekte als Trig- massen interessant ist. Es gehört ger, um die Erinnerungen anzu- zur Erinnerungsarbeit, kulturel- regen. le Entwicklungen von damals in Vor Ort bereite ich eine halbe Bezug zu den Veränderungen von Stunde vor Beginn den Anlass heute zu setzen. Beim Vorberei- vor. Die Sitzgruppe wird erwei- ten eigne ich mir Kenntnisse zum tert, mit der Option einer zwei- Thema an und aktualisiere mein ten Reihe für die, die gerne da- eigenes Wissen zur zeitlichen bei sind, aber nicht reden wollen Einbettung. Ich stelle offene Fra- oder nicht mehr reden können, gen zusammen, die zum Erzählen sowie für die zu spät Kommen- ermutigen und ein breites Spek- den. Auch Menschen mit De- trum an Antworten zulassen. menz setzen sich gerne in eine Geschlossene Fragen, die in ein gesellige Runde. Die Anzahl der Ja – Nein Pingpong führen, brin- Teilnehmenden variiert von acht gen ein Gespräch zum Erliegen. bis siebzehn Personen, mehr- Ich frage nicht in erster Linie die heitlich Frauen. Nur ein Ehepart- geschichtlich objektiven Fakten ner kommt regelmässig mit. Ab ab, sondern wie die Seniorinnen und zu frage ich weitere Männer und Senioren die betreffende Zeit zur Teilnahme an. Meist kom- erlebt haben. Die Gefühle, die men sie, wenn ich ihnen eine damit verbunden waren, spielen besondere Aufgabe zuweise. Ein eine wichtige Rolle. Gesprächs- kleines Salontischchen dient mir fördernd sind W-Fragen. Wie ha- als Ausstellungsmöbel. Darauf ben sie gehandelt, wie wurden sie gruppiere ich die Objekte, die behandelt, was hat ihnen gefehlt, neugierig machen und die Er- 13
innerungen anregen sollen. Als nen Geschichte, einem Gedicht Variante frage ich manchmal im oder einem Lied. Vorfeld jemand an, ob er oder sie zu einem bestimmten Thema die Exkurs 2. Spielregeln: eigenen Erinnerungen erzählt. – Alle hören einander zu. Dies wird als Ehre empfunden – Nur einer spricht aufs Mal, und die Betroffenen bereiten sich wir führen keine Seitenge- sehr gut vor. Oft sagt man mir bei spräche. einer Anfrage: «An das kann ich – Wir kommentieren das Er- mich kaum mehr erinnern, es ist zählte nicht, aber wir er- ohnehin nichts Besonderes pas- gänzen und bereichern das siert.» Wenn sie sich aber doch Gespräch mit eigenen Erinne- darauf einlassen, staunen sie rungen. über die vielen Erlebnisse, die – Als Moderatorin darf ich wieder präsent geworden sind Langredner unterbrechen. und die bei den anderen auf Re- – Wir gehen mit dem Gehörten sonanz stossen. auch nach der Erzählrunde Das Gespräch beginnt mit einer wertschätzend und diskret Begrüssung und einer kleinen um. Einleitung, wobei ich immer kurz – Keiner muss erzählen, aber meine Rolle und die Spielregeln ohne Mitwirkung wird es lang- des Erzählcafés erkläre. Dann weilig. eröffne ich das Gespräch mit ei- – Man gibt nur preis, was man ner der vorbereiteten Fragen. Je will und vertreten kann. nach dem entwickelt sich das Die vorgegebenen Spielregeln Gespräch rasch, manchmal auch geben einen wichtigen Rahmen langsam. Das erfordert eine für alle Teilnehmenden. Sie wer- grosse Flexibilität im Nachhaken den in Variationen von verschie- und Variieren des Themas. Am denen Autoren beschrieben. Ende der Stunde würdige ich das Sie finden sich zum Beispiel bei Gespräch, in dem ich Freudiges, Hense 2016, S. 34/35 oder als Be- Schweres, grosse Unterschiede schrieb der Haltung der Modera- und Ähnlichkeiten in den Erfah- tion im Leitfaden des Netzwerks rungen oder heutige Herausfor- Erzählcafé (https://www.netz- derungen kurz aufgreife. Den werk-erzählcafé.ch/data/2016/ Abend beende ich mit einer klei- Leitfaden_24.8.17_gestaltet.pdf).
7. Herausforderungen und Lösungsansätze Aquariumsgespräche finden in- und Plattitüden erschöpft. Dann nerhalb des Alterszentrums an muss ich mir die Frage stellen, einem Ort statt, der nicht ge- ob die Teilnehmenden müde sind schlossen ist. Andere können oder ob ich das Thema variieren vorbeispazieren. Wenn dadurch muss. Als Moderatorin brauche Lärm entsteht, wirkt sich da stö- ich ein bewusstes und waches rend auf das Gespräch aus, da Wahrnehmen der Stimmung, da- dies die akustische Verständ- mit ich auf die aktuelle Situation lichkeit reduziert. Es kommt reagieren kann. Wichtig ist, dass ich als Gesprächsleiterin nicht «Es ist langweilig, wenn immer die an meinen eigenen Zielen des Abends festhalte, sondern offen gleichen reden.» Frau Noli, 88 bin, dass das Gespräch sich in eine unvorhergesehene Richtung aber auch vor, dass sich weitere entwickeln darf. Leute aus Neugierde in den Be- Vielredner langweilen und ver- gegnungsraum setzen und ein- treiben Teilnehmende, sodass fach zuhören. Bis jetzt ist das sie ein weiteres Mal fernbleiben. gut akzeptiert worden und neue Der Umgang mit schwierigen Teilnehmende sind dazu gestos- persönlichen Geschichten ist sen. Dieses offene Wohnzimmer nicht einfach. Manchmal trägt bietet sich wegen seiner Bedeu- die Gruppe solches gut mit. Dann tung als Begegnungsort und sei- fühlen sich die Erzählenden ent- ner Ausstrahlung für diesen An- lastet. Ein anderes Mal geht das lass an und darum nehme ich die nicht. Ein taktvolles Unterbre- Nachteile in Kauf. chen durch die Moderation kann Eine besondere Herausforde- sich bei beiden Problematiken rung ist, wenn ein Gespräch aufdrängen. Es verlangt Finger- nicht richtig in Gang kommt oder spitzengefühl um dem Gespräch sich in Standardäusserungen eine andere Richtung zu geben. 15
«Sie leben schon so lange. Finden Sie das Leben ist lang?» Marlon, 13 «Die Zeit ist im Leben so schnell vorbeigegangen. Ich bin so dankbar, für alles was war, auch wenn nicht alles leicht war.» Herr Schönenberger, 86 «Es war so spannend, was sie uns erzählt haben.» Remo,13
8. Variation des Aquariumsgesprächs: Generationen übergreifendes Erzählcafé Im Rahmen des Schulprojekts war in diesem Setting gewollt «Museum Waidhalde» habe ich und von den Lehrpersonen aus- innerhalb einer Projektwoche drücklich gewünscht. Jugendli- auf dem Friedhof Sihlfeld einen che getrauen sich in der Regel Generationen übergreifenden nicht, ihre persönlichen Erfah- Workshop durchgeführt. Mit rungen in einer grösseren Grup- einer Oberstufenklasse orga- pe mitzuteilen. Seniorinnen und nisierte ich ein modifiziertes, Senioren hingegen freuen sich, generationenübergreifendes jungen Menschen ihre Gedan- Erzählcafé zum Wochenthema, ken und Erfahrungen zu erzäh- «wie ordnet man seine letzten len. Aus diesem Grund habe Dinge?». Zu den dreizehnjähri- ich die Aufgabe der Moderato- gen Schülerinnen und Schülern rinnen dahingehend verändert, suchte ich ältere Menschen als dass sie die Jugendlichen zum «Experten in Lebenserfahrung». Fragen herausfordern mussten. Die Teilnehmenden rekrutierte Den Senioren und Seniorinnen ich aus den Aquariumsgesprä- habe ich die Fragen und Aufga- chen und aus Quartierbewohne- ben im Voraus bekannt gegeben, rinnen und Bewohner aus dem damit sie sich vorbereiten konn- Kreis 5. Die Klasse wurde in zwei ten. Sie erhielten den Auftrag, in Gruppen zu je zehn Schülerin- fünf Minuten ihre Erfahrungen nen und Schülern aufgeteilt, zu zum gestellten Thema zu erzäh- denen je zwei Seniorinnen oder len, bevor das Gespräch für die Senioren hinzukamen. So ent- Klasse geöffnet wurde. Die Ju- standen zwei Gesprächsgrup- gendlichen nutzten anschlies- pen die je von einer Moderatorin send die Gelegenheit ihre Fra- geleitet wurden. Normalerweise gen zum Thema zu stellen, was sind Generationen übergreifen- zu einem frischen, offenen Aus- de Projekte in der Verteilung tausch führte. Die älteren Men- von Alt und Jung ausgewoge- schen erzählten bereitwillig und ner. Diese ungleiche Verteilung persönlich. Gleichzeitig konnten 17
die Jugendlichen ihr Bedürfnis wahren, selber wenig preiszu- geben. Die Atmosphäre entwi- ckelte sich jedoch so positiv und offen, dass einzelne Schüler es sogar wagten, eigene Erlebnisse einzubringen. Am Schatz der Erinnerungen und Erfahrungen der Senioren teilhaben zu dürfen, erfuhren die Klasse und die Lehrpersonen als grosse Bereicherung. Die einge- ladenen älteren Menschen ihrer- seits fühlten sich wertgeschätzt, bedeutungsvoll und gebraucht. «Die alten Menschen sehen so schön aus.» Marlon,13
9. Reflexion Die Aquariumsgespräche decken Beschwerden und Krankheiten ein Grundbedürfnis der Bewoh- ab und öffnet ihren Horizont auf nenden des Alterszentrums ab, die gemachten, zum Teil helden- nämlich ihre persönlichen Erfah- haft dargestellten Erinnerungen. rungen mitzuteilen. Ich kann mit Durch die schwierigen zeitbe- einer einfachen Methode kultu- dingten Erfahrungen kommen relle Themen aus dem normalen die alten Menschen in Kontakt Alltag von früher aufgreifen um mit ihren eigenen Ressourcen, damit Erinnerungen zu wecken. wie sie früher Herausforderun- Die Bewohnenden des Alterszen- gen gemeistert haben. Das för- trums schätzen, dass sie das dert ihre Resilienz. Haus nicht verlassen müssen Wenn ich ein Thema vorzeitig be- sondern in Hausschuhen teil- kannt gebe, weckt das Neugierde nehmen können. Immer wieder und erzeugt Vorfreude und Span- gesellen sich Menschen mit De- nung. Es führt dazu, dass sich die menz dazu, die sich zwar nicht Teilnehmenden im Voraus inner- aktiv beteiligen, aber gerne da- lich vorbereiten, sich damit aus- zugehören. Es fällt mir auf, welch einandersetzen und manchmal liebevoll sorgender Umgang die miteinander beim Essen darüber Bewohnenden bei diesen Ge- ins Gespräch kommen. sprächen den besonders Schwa- Als ich ein Gespräch ausfallen chen zuteilkommen lassen. lassen musste, übernahm eine Es ist nicht Sympathie, die die Seniorin spontan die Leitung und Teilnehmenden zum Anlass las eine humorvolle Geschichte führt, sondern Neugierde. Es von früher vor. Die ursprünglich kommen Menschen, die wenig ablehnende Haltung die Verant- miteinander zu tun haben wol- wortung einer Gesprächsleitung len, aber in diesem Setting mit zu übernehmen, hat sich verän- viel Toleranz unbequeme oder dert. Es ist mein Ziel, Bewoh- aus der Norm fallende Stand- nende zu ermutigen und zu be- punkte aushalten. fähigen, die Gesprächsleitung zu Die Erzählrunde lenkt die Teil- übernehmen. nehmenden von den täglichen Im Zuge der Projektarbeit bin ich 19
in der Literatur auf die Nachbe- mit meiner Arbeitszeit als Dia- reitung von Erzählcafés gestos- konin. Das sind rund drei Stun- sen. Einzelne Gespräche nach den pro Monat. Der Kirche als einem vorgegebenen Raster zu Institution eröffnet sich dadurch evaluieren habe ich bis anhin eine Möglichkeit mit personellen nicht gemacht. Den Raster von Ressourcen abends einen Bei- Osborne, Schweitzer und Trilling trag zur Förderung der Gemein- (2013, S. 34) werde ich in Zukunft schaft im Alterszentrum zu leis- anwenden. Ihren Rat, die Nach- ten. Diese Form der Kooperation betrachtung knapp zu halten und mit Seniorenzentren kann auch Interpretationen wegzulassen, von anderen Kirchgemeinden ist mir wichtig geworden (S. 35). aufgenommen und weiterentwi- Aquariumsgespräche kann man ckelt werden. Freie Vermittlerin- gut modifizieren und auf wei- nen müssten bezahlt werden und tere Personengruppen anwen- könnten diesen Aufwand nicht den. Insbesondere Generationen «kostenneutral» leisten. übergreifende Gesprächsrunden, Schulprojekte, Gespräche mit Wir lernen uns so noch von einer ganz Menschen auf der Flucht oder anderen Seite kennen. Frau Federer, 76 auch am Rande der Gesellschaft können einen Beitrag zur kultu- rellen Verständigung leisten. Die Methode des Erzählcafés lässt sich gut mit der «Museumslupe» oder «GIM» (Generationen im Museum) kombinieren. Es war eine wichtige Bedingung für die Erlaubnis der Aquariums- gespräche, dass keine neuen Kosten für das Alterszentrum entstehen. Die Gespräche finden im offenen Wohnbereich statt, wo sich alle Bewohnerinnen und Be- wohner aufhalten dürfen und ich dazu komme. Die Kirche finan- ziert die Aquariumsgespräche
10. Fazit Den Aquariumsgesprächen liegt ständnis für einander gefördert. die Methode des Erzählcafés zu- Das Potential der Erinnerungen grunde. Sie sind eine Möglichkeit und Erfahrungen der älteren der Kulturvermittlung, bei der Menschen könnten auch Schu- Menschen ihre Erfahrungen von len, Migrationsprojekte und wei- damals in den Kontext zu heute tere soziale Anbieter nützen. Es setzen. fördert generationenübergrei- Aquariumsgespräche leisten ei- fend das gegenseitige Verständ- nen Beitrag zur Vergegenwärti- nis, den Respekt und die gegen- gung von Ausschnitten aus der seitige Wertschätzung. eigenen Biographie. Sie sind auch Zeichen der Anerkennung für die Lebensleistung der Seni- orinnen und Senioren und stär- ken deren Resilienz und Aktuali- sierungstendenz. Das Geheimnis des Erfolgs der Erzählcafés und somit der Aqua- riumsgespräche liegt darin, dass die Seniorinnen und Senioren durch ihre eigenen und die frem- den Erinnerungen angeregt und genährt und wertgeschätzt wer- den. Durch die Aquariumsgespräche lernen sich die Teilnehmenden von einer ganz anderen Sei- te kennenlernen. Beziehungen innerhalb des Alterszentrums werden gestärkt und das Ver- 21
11. Dank Lehrgang kuverum 8 Leitung Franziska Dürr, Beirat kuverum FHNW Fachhochschule Nordwestschweiz Institut Weiterbildung & Beratung Bundesakademie für kulturelle Bildung, Wolfenbüttel (D) Mediamus, Schweiz Verband Fachleute Bildung und Vermittlung im Museum VMS, Verband der Museen der Schweiz COM, Internationaler Museumsrat, Sektion Schweiz (ICOM-Label für den Lehrgang seit 2009) EB-Zürich Erwachsenenbildung Weiter danke ich Daniela van Zyl, Leitung des Alterszentrums Limmat, für ihre Expertensicht Eva Niedermann, Leitung Alter & Generationen der Landeskirche Zürich, für ihre Anregungen als Mentorin Christa Binder für das Layout Marianne Kesselring für die Fotos Peter Binder für die Korrekturarbeiten Brigitte Becker und Jeanne Simmen für die gute Zusammenarbeit im Schulprojekt «Museum Weidhalde» 23
12. Quellenverzeichnis Literatur – De Perrot, Anne-Catherine, Wodiunig, Tina (2008). Evaluieren in der Kultur. Warum, was , wann und wie? Bern. Schlatter – Hense, Margarita (2016). Das Erzählcafé. Themen und Ideen für lebendiges Erin- nern und Gedächtnistraining mit Senioren. München: Don Bosco. – Kohn, Johanna, Caduff, Ursula (2010). Erzählcafés leiten: Biografiearbeit mit alten Menschen. In: Haupert, Bernhard, Schilling Sigrid, Maurer Susanne (Hg). Biografie- arbeit und Biografieforschung in der sozialen Arbeit. Beiträge zu einer rekonstru- ierten Perspektive sozialer Professionen. S. 193-216. Bern: Peter Lang. – Miethe, Ingird (2011). Biographiearbeit. Lehr und Handbuch für Studium und Praxis. München: Juvena. – Osborn, Caroline; Schweitzer, Pam; Trilling, Angelika (2013). 2. Aufl. Erinnern. Eine Anleitung zur Biographiearbeit mit älteren Menschen. Freiburg im Breisgau: Lam- bertus. – Schweitzer, Pam & Bruce, Errollyn (2010). Das Reminiszenz-Buch. Praxisleitfaden zur Biographie und Erinnerungsarbeit mit alten Menschen. Bern: Huber. – Skiba, Alexandra (1997). Beiträge zur Gerontologie Bd.7. Altern: Biographie und Geschichte. Geschichtsdidaktische Perspektiven der Erinnerungsarbeit mit alten Menschen. Regensburg: Roderer. Internet http://www.erzähl-cafe.ch https://www.intergeneration.ch/de/projekte/das-erzählcafé-als-methode? https://www.netzwerk-erzählcafé.ch/data/2015/Erzählcafes%20leiten.pdf https://www.erzaehl-cafe.com https://www.museumslupe.ch/museum-mobil/ http://www.generationen-im-museum.ch http://www.museumwaidhalde.ch/de/index.html https://www.ruv-blog.de/resilienz-was-heisst-das/ https://www.ruv-blog.de/resilienz Bilder Fotos vom Aquariumsgespräch von Marianne Kesselring Fotos vom Schülerprojekt von Beatrice Binder
Sie können auch lesen