Atommüll-Endlager - Eine Mogelpackung für die Standortwahl

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Atommüll-Endlager - Eine Mogelpackung für die Standortwahl
TIEFENLAGER

                                                                                                                                                        Bild Michel Jaussi
Atommüll-Endlager –
Eine Mogelpackung für die                                                                                                    Blick von der Nagra-

Standortwahl                                                                                                                 Bohrung «Bözberg-1»
                                                                                                                             bis zum Alpenkamm.
                                                                                                                             Der alpin-tektonische
                                                                                                                             Fernschub wirkt sich bis
Vollendete Tatsachen?
                                                                                                                             weit in die Nordschweiz
                                                                                                                             aus, wo die Gesteins-
Text André Lambert                                                                                                           schichten des Juras zu
                                                                                                                             markanten Bergketten
Im Verfahren zur Standortwahl gemäss       Tiefenlager» (September 2020). Fett      Führung schon vor 7 Jahren für 2019      wie dem Chestenberg
«Sachplan geologische Tiefenlager»         gedruckt prangt darin die Jahrzahl       prophezeit. Damals hiess er noch         (links) und Gislifluh-
obliegt die Leitung formell dem Bun-       2022, darunter rot auf weiss: «Nagra     «provisorische Standortwahl». Mit Aus-   Linnerberg (rechts)
desamt für Energie (BFE). Indes orien-     gibt Standorte bekannt». – Der Kom-      nahme des vorbeugend als tranquilizer    aufgefaltet wurden.
tiert sich diese Behörde faktisch an der   pass ist fixiert, der Countdown tickt.   gesetzten Adjektivs «provisorisch»,      Gesteinswellen, die am
Strategie der Nagra. Dazu genügt ein       Vielsagend schweigt dazu das BFE.        war die Botschaft zumindest ehrlich:     Bözberg aufzubranden
Blick in die BFE-Hauspostille «Focus       Diesen Meilenstein hatte die Nagra-      Standort gesetzt. Unwiderruflich.        scheinen.

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Ungeachtet aller bis dann und noch lange      Wo bleiben die Entscheidungs-                      wägbarkeit dieser Perspektive. So kritisier-
darüber hinaus unbeantworteten (nicht         grundlagen?                                        te der «Ausschuss der Kantone» (AdK) in
beantwortbaren?) kritischen Fragen zur        Die Nagra bohrt sich gegenwärtig durch             einer Stellungnahme die vorgezogene
Langzeitsicherheit: Tiefenerosion durch       die drei letzten noch übriggebliebenen po-         Standortwahl und forderte in ungewohn-
vorstossende Eiszeitgletscher, Nutzungs-      tenziellen Standortgebiete (die ohnehin            ter Deutlichkeit die vorgängige Offenle-
konflikte mit Rohstoffressourcen im Unter-    seit zwei Jahrzehnten alternativlos festste-       gung der wissenschaftlich-technischen
grund, Gefährdung des Tiefengrundwas-         hen). Doch die Nagra wartete nicht einmal          Entscheidungsgrundlagen und Auswahlar-
sers, um nur die strittigsten Aspekte zu      den Abschluss dieser Bohrkampagne ab               gumente: fundiert, begutachtet und doku-
nennen.                                       sondern verkündete den Medien schon am             mentiert.
Nun riskiert die Nagra-Führung mit ihrem      3. November 2020, dass ein Endlager an
Vorpreschen den Marsch durch ein gesell-      allen drei Standorten «sicher» gebaut wer-         Im Klartext bedeutet dies:
schaftspolitisches Minenfeld. Bei glaskla-    den kann. Mit diesem notorischen Vorpre-           – Die Ankündigung der «Standortwahl»
rem Bewusstsein, denn sie bewertet die        schen zementiert die Nagra ihre hinlänglich          muss in der Essenz sachlich nachvollzieh-
Gefahr eines Scheiterns infolge ihrer prä-    zur Kenntlichkeit entblösste Strategie, die          bar aufgrund eines Kriterien-gestützt
judizierenden Standort-Wahl selber als        Ziellinien trotz Faktenschwäche regelwidrig          öffentlich dokumentierten, sicherheits-
«sehr kritisch». Daher hüllte sie den ur-     näher zu schieben. Denn die erhobenen                technisch untermauerten Standortver-
sprünglichen Teil-Begriff «Wahl» in eine      wissenschaftlich-technischen Grundlagen              gleichs erfolgen, der in einem Bericht
durchsichtige PR-Mogelpackung und mu-         müssen doch erst gesichtet, geprüft, aus-            publiziert wird. Ergebnisse der Sondier-
tierte ihn, semantisch unbeholfen, erst zur                                                        bohrungen und der seismischen Erkun-
«Bekanntgabe», neuerdings zur «Ankün-                                                              dung sollen unabhängigen Fachgremien
digung». Als ob diese verbrämende Wort-                                                            zugänglich sein.
                                              Für die betroffene Bevölkerung
klauberei auch nur ein My daran ändern                                                           – Das BFE, als verfahrensleitend-verant-
würde, dass die Nagra-Leitung mit dieser      eine klassische «Katze im Sack».                     wortliche Behörde hat das Ensi zu ver-
vorzeitigen Standortwahl bewusst ein fait                                                          pflichten, in einer schriftlichen Stellung-
accompli schaffen will. Vollendete Tatsa-                                                          nahme seine Bewertung der vorzeitigen
chen, die sie bis zur Rahmenbewilligung       gewertet, diskutiert, dokumentiert und vor           Standortwahl und ihrer technisch-wis-
– gewissermassen in einer entente cordia-     allem über die Regionen hinweg kritisch ge-          senschaftlichen Begründung zuhanden
le mit dem BFE – bloss noch einzuzemen-       würdigt sowie nach vorgegebenen Kriterien            der Öffentlichkeit zu dokumentieren.
tieren bräuchte. Eine verfahrenspolitisch     gewichtet werden. Dazu bedarf es einer             – Die zuständigen kantonalen Sachver-
unhaltbare Präzedenz! Wie kann das BFE        umfassenden Synthese, mit konsistent-nach-           ständigen der AGSiKa (Arbeitsgruppe
(als leitende Bundesbehörde) der Nagra        vollziehbar begründeten Schlussfolgerun-             Sicherheit der Kantone) nehmen – ggf.
die Ankündigung einer Weichenstellung         gen. Erst auf dieser Basis kann schliesslich der     unter Beizug ihrer unabhängig urteilen-
von epochaler Tragweite konzedieren,          sicherheitstechnisch untermauerte Stand-             den Kantonalen Expertengruppe Sicher-
ohne die Bevölkerung inhaltlich adäquat       ortvergleich erfolgen, der seinerseits die Aus-      heit (KES) – zuhanden der Öffentlichkeit
                                              wahl glaubwürdig begründen soll(te).                 schriftlich Stellung zur Standort-«Ankün-
                                              Und das alles bis 2022 zur Standort-Ankün-           digung» und deren Bewertung durch
Die Nagra-Führung riskiert den                digung? Schlicht realitätsfremd! Man emp-            das Ensi.
                                              fiehlt der Nagra-Leitung die einsichtige
Marsch durch ein gesellschafts-               Weisheit von Bundesrat Ueli Maurer, der in         Die Kantone sind gut beraten, ihren Forde-
politisches Minenfeld.                        entwaffnender Selbstironie konstatierte:           rungen formellen Nachdruck zu verleihen.
                                              «… man stolpert immer wieder über selbst           Sonst werden sie zu Übervorteilten und
                                              gesetzte Termine». Dessen ungeachtet will          letztlich zu Geprellten. Sie haben es in der
zu informieren, geschweige denn ihren         das Tandem Nagra-BFE in unbeirrtem Hau-            Hand, dass das sogenannte Sachplanver-
Entscheid extern begründen zu müssen?         ruck schon in weniger als 24 Monaten vor-          fahren nicht definitiv zur Farce degeneriert
Und wo bleiben die materiellen Auflagen       zeitig den Pfahl zum Standortentscheid ein-        und in der Makulatur der Sinnwidrigkeit
der vornehmlich wie Statisten dem Ge-         rammen. Mit der an Dürftigkeit kaum zu             endet.
schehen hinterher hinkenden Aufsichtsor-      überbietenden Argumentation, die Begrün-
gane im Eidgenössischen Nuklearsicher-        dung sei schliesslich sachplankonform Ge-          Sicherheit bleibt provisorisch                  Technische Installation
heitsinspektorat (Ensi)? Es ist unschwer      genstand des Gesuchs um die Rahmenbe-              Aus dem Blickwinkel einer nüchternen Be-        auf dem Bohrplatz
absehbar, dass das akute Konfliktpotenzi-     willigung. – Für die betroffene Bevölkerung        wertung des aktuellen Kenntnisstands er-        Bözberg_1. Die Ka-
al dieser institutionell fragwürdigen Soll-   eine klassische «Katze im Sack», für die           strahlt keines der drei noch zur Auswahl        mera schwebt genau
bruchstelle den Fortgang der Endla-           Nagra selber ein Akzeptanz-strategisch ris-        stehenden potenziellen Standortgebiete          senkrecht über dem
ger-Debatte prägend beeinflussen wird.        kanter Hochseilakt ohne Netz. Denn mit             in besonders vorteilhaftem Licht. Jedes         Bohrturm, der also
Bloss: Das Sachplan-«Verfahren» sieht         ihrem Vorpreschen verhängt sie über die            hat bezüglich Gewähr für Langzeitsicher-        den Blick ins Bohrloch
diesen Ablauf vor; die Nagra-Führung          betroffenen Regionen einen paralysieren-           heit seine Macken, je nach Kriterium            verstellt. Dieses reicht
agiert also rechtens, keine Frage! Aller-     den Schwebezustand, mit einer bis zum              punktuell auch sachdienliche Aspekte.           bis 1037 m unter die
dings wagt sie sich, im Fokus der öffentli-   Entscheid zur Rahmenbewilligung noch               Diese Ausgeglichenheit im Mittelmass der        Terrainoberfläche.
chen Wahrnehmung und angesichts der           über Jahre andauernden Ungewissheit.               potenziellen Eignung birgt die Versu-           Genug, um die Jurage-
prekären Tragfähigkeit ihres wissenschaft-                                                       chung, bei der Standortwahl politisch-          steine zu untersuchen,
lich-technischen Fundaments für diesen         Föderaler Widerspruch                             geografische Opportunitäten als «Kriteri-       viel zu wenig um das
folgenschweren Entscheid, auf gefährlich      Immerhin erkannten auch Verantwortliche            en» in den Vordergrund zu schieben, die         Grundgebirge seriös zu
dünnes Eis.                                   der betroffenen Kantone die brisante Un-           mit dem – namentlich von der Aargauer           beurteilen.

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Atommüll-Endlager - Eine Mogelpackung für die Standortwahl
Bild Michel Jaussi
     Bohrplatz Bözberg_2
     («Riedacker») in
     grandioser Landschaft,
     am Horizont von der
     Lägernkette (links), über
     Alpstein, Glarner und
     Zentralschweizer Alpen.
     Der Ortsteil Oberböz-
     berg im Mittelgrund
     markiert die Lage des
     möglichen Standorts für
     eine nukleare Lager-
     stätte in knapp 500 m
     Tiefe. Diese würde vom
     Zwischenlager Würen-
     lingen aus bequem über
     einen Tunnel erreichbar
     sein: ein Kriterium für
     die Standortwahl?

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Atommüll-Endlager - Eine Mogelpackung für die Standortwahl
TIEFENLAGER

                           Bild Michel Jaussi
                                                Regierung prononciert beschworenen –
                                                Primat der Sicherheit nichts zu tun haben.
                                                Daher ist eine seriöse, weder pekuniär
                                                noch zeitgetriebene und kompromisslos
                                                ergebnisoffene Beurteilung der mutmass-
                                                lichen Eignung absolut unabdingbar. Es

                                                Aus dem aktuellen Kenntnis-
                                                stand erstrahlt keines der drei
                                                noch zur Auswahl stehenden
                                                potenziellen Standortgebiete in
                                                besonders vorteilhaftem Licht.

                                                geht um nichts weniger als Vertrauen und
                                                Glaubwürdigkeit als unverzichtbarem Fun-        Blick von der Nagra-Bohrung «Bözberg-1» bis zum Alpenkamm.
                                                dament der Akzeptanz.
                                                Die weitere Entwicklung ist also mit erhöh-     die ausgehend vom aktuellen Kenntnis-           Jahrzehnten demokratisch versenkte End-
                                                ter Wachsamkeit zu verfolgen. Von den           stand, den Anforderungen an die Lang-           lager-Projekt am schöngerechnet angeb-
                                                Behörden und der Nagra erwartet die Öf-         zeitsicherheit am nächsten zu kommen            lich «sicher(st)en» Standort Wellenberg
                                                fentlichkeit keine vorgestanzten PR-Flos-       verspricht.                                     mahnt als Menetekel am Horizont.
                                                keln, sondern Verfahrenstransparenz und         In der bevorstehenden «Ankündigung der          Einmal mehr versuchen die Sachplanstrate-
                                                ungeschminkte Information über die Er-          Standortwahl» wären BFE und Nagra gut           gen im BFE und in der Nagra, auf wind-
                                                gebnisse der Standort-Erkundungen sowie         beraten, mit dieser Grundhaltung der Öf-        schiefer, noch völlig unkonsolidierter Sach-
                                                der daraus erarbeiteten Synthesen und           fentlichkeit zu begegnen. Dies wäre kein        grundlage einen hochriskant-irreversiblen
                                                projektbezogenen Folgerungen.                   Zeichen der Schwäche, sondern eines der         Standortentscheid zu erzwingen. Damit
                                                In ihren Propaganda-Broschüren versteigt        Stärke, das Ehrlichkeit, Offenheit sowie        setzen sie ihre Glaubwürdigkeit, ihr Ver-
                                                sich die Nagra gerne voreilig in irreführen-    den glaubwürdigen Respekt vor real exis-        trauen in der Öffentlichkeit, mithin auch
                                                de Begriffe mit Absolutheitsanspruch wie        tierender Besorgnis in der Bevölkerung sig-     die Akzeptanz für ihr Vorhaben auf’s Spiel.
                                                «geeignet», «sicher» und «gewiss». Doch         nalisiert.                                      Wäre es nicht zielführender, dem geistigen
                                                weder Sicherheit, Eignung noch Gewiss-          Bedauernswerterweise ist davon bis anhin        Aufwand für eine solide, nachvollziehbar
                                                heit können a priori in die Zukunft proji-      wenig zu spüren. Im Gegenteil: Der Verein       dokumentierte Entscheidungsbasis mehr
                                                ziert werden. Der Schaffhauser Regie-           Pro Bözberg hatte in einer offiziellen Einga-   Raum zu geben? In der Fachsprache der
                                                rungsrat Walter Vogelsanger bringt es mit       be an das BFE (im Rahmen des Technischen        Ökonomen wäre jedenfalls von einem weit
                                                Blick auf die anstehende Standortwahl auf       Forums Sicherheit) die Frage gestellt, in       höheren Potenzial für profitablen Re-
                                                den Punkt: «Das Wort ‚geeignet‘ spiegelt        welcher Form die Nagra ihre «provisori-         turn-on-Investment die Rede – bei mini-
                                                im aktuellen Stand des Verfahrens eine fal-                                                     miertem Risiko.
                                                sche Gewissheit vor.»
                                                Wissenschaft liefert keine absoluten Ge-
                                                                                                Es geht um nichts weniger als
                                                wissheiten. Vielmehr bedeutet wissen-
                                                schaftliches Arbeiten, die Widerständig-        Vertrauen und Glaubwürdigkeit.
                                                keit der Realität zu akzeptieren, stets mit
                                                wachem Misstrauen gegenüber sich
                                                selbst. Diese Mentalität schliesst die redli-   sche» Standortwahl begründen und doku-
                                                che Bereitschaft ein, fachliche Kritik ernst    mentieren würde (https://www.ensi.ch/de/
                                                zu nehmen, gegebenenfalls bis hin zur           technisches-forum/vorzeitige-standort-
                                                Aufgabe seiner eigenen Position. Para-          festlegung-in-etappe-3/).
                                                graph 1 des deutschen Endlager-Standort-        Wenig überraschend lautete die lapidare
                                                wahlgesetzes umschreibt diese Haltung als       Auskunft, die Nagra habe «in Aussicht»           Dr. sc. nat. André Lambert ist ETH-Geologe
                                                «partizipatives,    wissenschaftsbasiertes,     gestellt, dazu einen «kurzen Bericht» zu         und arbeitete von 1989 bis 2012 als Ressort-
                                                transparentes, selbsthinterfragendes und        verfassen. Und was die Begründung der            und Projektleiter in verschiedenen Funktio-
                                                lernendes Verfahren».                           Wahl betreffe, werde dies im Rahmenbe-           nen bei der Nagra. Er war u. a. als Leiter des
                                                Gefragt ist also von der Wissenschaft eine      willigungsverfahren erfolgen sowie als Be-       Hauptprojekts «Opalinuston» massgeblich
                                                                                                                                                 an der Ausarbeitung «Entsorgungsnachweis
                                                von Respekt getragene Grundhaltung der          standteil der entsprechenden Gesuche do-
                                                                                                                                                 2002» beteiligt. Er kommentiert die Entsor-
Kein Betriebswegweiser:                         Ehrfurcht gegenüber der (vielleicht nicht       kumentiert. Das heisst im Klartext erst in
                                                                                                                                                 gungspläne von Bund und Nagra aus dem
Neue Ortschaft der                              lösbaren?) Aufgabe. Statt projektiv den         vielen Jahren! Solche Anmassung irritiert.       persönlichen Blickwinkel seiner langjährigen
Gemeinde Bözberg, oder                          «sichersten Standort» zu preisen, sollte        Und sie könnte sich spätestens beim Refe-        Erfahrung im Bereich der Standortexploration
sind die Endlager-Würfel                        vielmehr von einer Kriterien-gestützten         rendum zur Rahmenbewilligung auswirken           für geologische Endlager.
schon gefallen?                                 Priorisierung einer Region die Rede sein,       – falls diese je erteilt würde. Das vor zwei

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Atommüll-Endlager - Eine Mogelpackung für die Standortwahl
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