Auswirkungen der 6. IV-Revision auf die Begutachtung - und weitere wichtige Entwicklungen
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Rechtswissenschaftliches Institut Auswirkungen der 6. IV-Revision auf die Begutachtung und weitere wichtige Entwicklungen 4. Fortbildungskurs für SIM Gutachter und Interessierte 2014 Bern, 30. Oktober 2014 Prof. Dr. iur. Thomas Gächter
Rechtswissenschaftliches Institut Übersicht I. Ausgangslage II. Allgemeine Aufgaben des begutachtenden Mediziners, z.B. bei der Bestimmung der Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG) III. Revision nach SchlB 6. IV-Revision: Welches sind die wichtigsten Punkte beim “Standardfall“– welche Infos braucht der Rechtsanwender? IV. Revision nach SchlB 6. IV-Revision : Sonderfall “Mischbild“ – welche Schwierigkeiten bestehen beim Zusammentreffen von unklaren mit erklärbaren Beschwerden? V. Ausblick Seite 2
Rechtswissenschaftliches Institut I. Ausgangslage Seite 3
Rechtswissenschaftliches Institut Ausgangslage Medizinische Begutachtung bleibt auch nach der 6. IV-Revision medizinische Begutachtung, aber: Verstärkte Wiedereingliederungsbemühungen («Eingliederung aus Rente») Verändertes Umfeld der polydisziplinären Begutachtung (BGE 137 V 210, MEDAS) Gesetzliche Festschreibung der «PÄUSBONOG» in den SchlB zur 6. IV-Revision: Sondertatbestand einer Revision Seite 4
Rechtswissenschaftliches Institut Insbesondere: SchlB 6. IVG-Revision a. Überprüfung der Renten, die bei pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage gesprochen wurden 1Renten, die bei pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage gesprochen wurden, werden innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten dieser Änderung überprüft (Bem.: Bis Ende 2014). Sind die Voraussetzungen nach Artikel 7 ATSG nicht erfüllt, so wird die Rente herabgesetzt oder aufgehoben, auch wenn die Voraussetzungen von Artikel 17 Absatz 1 ATSG nicht erfüllt sind. … Seite 5
Rechtswissenschaftliches Institut Fragestellungen Was wird – aus juristischer Sicht – von (polydisziplinären) Gutachten erwartet (kurze Übersicht)? Welches sind die wichtigsten Fragen aus juristischer Sicht, über die ein polydisziplinäres Gutachten in einem Revisionsverfahren (v.a. nach SchlB 6. IV-Revision) Aufschluss geben sollte? Welche zusätzlichen Schwierigkeiten und Fragen stellen sich dem Rechtsanwender, wenn der Gesundheitsschaden nicht ausschliesslich auf einer PÄUSBONOG-Diagnose beruht? Welche Implikationen hat die Rechtsprechung zur SchlB der 6. IV-Revision auf die weitere Entwicklung der Begutachtung? Seite 6
Rechtswissenschaftliches Institut II. Allgemeine Aufgaben des begutachtenden Mediziners, z.B. bei der Bestimmung der Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG) Seite 7
Rechtswissenschaftliches Institut Art. 6 ATSG (Arbeitsunfähigkeit) Arbeitsunfähigkeit ist die durch eine Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit bedingte, volle oder teilweise Unfähigkeit, im bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich zumutbare Arbeit zu leisten. Bei langer Dauer wird auch die zumutbare Tätigkeit in einem anderen Beruf oder Aufgabenbereich berücksichtigt. Seite 8
Rechtswissenschaftliches Institut Vier Tatbestandslemente der Arbeitsunfähigkeit 4. Element Rechtsanwender Juristische Zumutbarkeit 2. Element Einschränkung der Funktionellen Leistungsfähigkeit 3. Element Gutachter Kausalzusammenhang Teilgutachten & Konsens- 1. Element besprechung Einschränkung des Gesundheitszustandes Seite 9
Rechtswissenschaftliches Institut Art. 6 ATSG (Arbeitsunfähigkeit): Aufgabenteilung Medizinische Aufgaben: Blau Juristische Aufgaben: Rot Arbeitsunfähigkeit ist die durch eine Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit bedingte, volle oder teilweise Unfähigkeit, im bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich zumutbare Arbeit zu leisten. Bei langer Dauer wird auch die zumutbare Tätigkeit in einem anderen Beruf oder Aufgabenbereich berücksichtigt. Seite 10
Rechtswissenschaftliches Institut III. Revision nach SchlB 6. IV-Revision: Welches sind die wichtigsten Punkte beim “Standardfall“– welche Infos braucht der Rechtsanwender? Seite 11
Rechtswissenschaftliches Institut Kategorie der PÄUSBONOG (I) Nicht jedes nicht objektivierbare Leiden, sondern nach der Praxis: Anhaltende Somatoforme Schmerzstörung (ICD-10 F45.4) Fibromyalgie (ICD-10 M79.7) Dissoziativen Sensibilitäts- und Empfindungsstörung (ICD-10 F44.6) Chronic Fatigue Syndrom (CFS ; ICD-10 G93.3) Neurasthenie (ICD-10 F48.0) Dissoziative Bewegungsstörung (ICD-10 F44.4) HWS Verletzungen ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle (Schleudertrauma; keine Klassifizierung) Nichtorganische Hypersomnie (ICD-10 F51.1) Seite 12
Rechtswissenschaftliches Institut Ausdehnung der „Schmerzpraxis“ (BGE 130 V 352) Fibro- myalgie HWS CFS Pathogenetisch- ätiologische unklare syndromale Somato- forme Beschwerdebilder Nichtorg. Schmerz- ohne nachweisbare Hyper- störung Neura- somnie sthenie organische Grundlage Dissoz. Dissoz. Beweg.- Sens.- Störung Störung 17.01.2011 Seite 13
Rechtswissenschaftliches Institut Kategorie der PÄUSBONOG (II) Nicht zur Kategorie der PÄUSBONOG zählen nach der Praxis: Cancer-related Fatigue (CrF) (BGE 139 V 346; Juni 2013) Das Post-Polio Syndrom (PPS) ICD-10 G 14 (Urteil 9C_326/2014 vom 28. September 2014) Die generalisierte Angststörung ICD-10 F41.1 (Urteil 8C_371/2014 vom 29. September 2014) Seite 14
Rechtswissenschaftliches Institut Wichtige Eckpunkte bei SchlB-Revisionen Anderer Fokus der Rechtsanwendung (Revision statt Neuprüfung) Prüfung aufgrund eines «vorläufigen Verdachts» der IV-Stelle. PÄUSBONOG muss sowohl bei der Erstberentung als auch im Zeitpunkt der revisionsweisen Überprüfung vorliegen. In der Regel dürfte neue polydisziplinäre Begutachtung unumgänglich sein (BGE 139 V 547 E. 10.2) Es ist im Gutachten ein besonderes Augenmerk darauf zu legen, «ob sich der Gesundheitszustand seit der Rentenzusprache allenfalls verschlechtert hat und ob neben den nicht objektivierbaren Störungen anhand klinischer psychiatrischer Untersuchungen nunmehr nicht klar eine Diagnose gestellt werden kann.» (BGE 139 V 547 E. 10.1.2) Seite 15
Rechtswissenschaftliches Institut Exkurs: Förster-Kriterien bei SchlB-Revisionen Fünf Hilfstatsachen, um eine Arbeitsunfähigkeit zu beweisen: 1. Psychische Komorbidität; oder 2. Chronische, körperliche Begleiterkrankungen 3. Sozialer Rückzug 4. Primärer Krankheitsgewinn [Flucht in die Krankheit] 5. Kein Behandlungsergebnis trotz konsequenter Therapie Alle Kriterien sind Tatsachen und somit dem Beweis zugänglich! Abklärung durch den med. Gutachter Die abschliessende rechtliche Würdigung der Kriterien ist Sache der Rechtsanwendung. Seite 16
Rechtswissenschaftliches Institut Aufgaben des Gutachters bei SchlB-Revisionen 1. Feststellung des genauen somatischen und psychischen Gesundheitszustandes. Bestätigung und Begründung der Diagnose eines PÄUSBONOG. (Wichtig!) 2. Abklärung und Feststellung der fünf «Förster»-Kriterien, insbesondere der psychischen Komorbidität (psychiatrische Nebendiagnose). Bedeutung v.a. des fachpsychiatrischen Teilgutachtens. 3. Beurteilung und Schätzung der Einschränkung der funktionellen Leistungsfähigkeit bzw. der noch vorhandenen psychischen Ressourcen. 4. Begründung des Zusammenhangs zwischen festgestellter Diagnose + festgestellten Förster-Kriterien (Hilfstatsachen) und der geschätzten Einschränkung der noch vorhandenen Leistungsfähigkeit (Plausibilitätsprüfung). Seite 17
Rechtswissenschaftliches Institut IV. Revision nach SchlB 6. IV-Revision : Sonderfall “Mischbild“ – welche Schwierigkeiten bestehen beim Zusammentreffen von unklaren mit erklärbaren Beschwerden? Seite 18
Rechtswissenschaftliches Institut Definition Terminologie: Mischbild oder Mischsachverhalt. Kombination eines PÄUSBONOG (unklare Beschwerden) mit einer oder mehreren organisch/psychiatrisch objektivierbaren Diagnose (erklärbare Beschwerden). Hohe Relevanz in der Praxis. Seite 19
Rechtswissenschaftliches Institut Problemstellung PÄUSBONOG ist zwingende Voraussetzung für eine Revision nach SchlB 6. IV-Revision Darf eine Revision nach SchlB 6. IV-Revision auch bei einem gemischten medizinischen Sachverhalt durchgeführt werden? Bedeutung der Frage: Herabgesetzte Anforderungen an eine Revision nach SchlB 6 IV-Revision Seite 20
Rechtswissenschaftliches Institut Frühere Rechtsprechung August−Oktober 2013 Urteil 9C_308/2013 vom 26. August 2013 Erw. 5.1: « […] die Beschwerdeführerin hat zum Zeitpunkt der erstmaligen Renten- festsetzung an einer Vielzahl verschiedener Beschwerden gelitten, die nicht samt und sonders einem PÄUSBONOG zugeordnet werden können.» BGE 139 V 547 (Oktober 2013) Erw. 10.1: E. 10.1.1: «Die Rentenzusprache erfolgte ausschliesslich auf Grund der Diagnose eines PÄUSBONOGs» E. 10.1.2: «[…] dass auch im Revisionszeitpunkt ausschliesslich ein unklares Beschwerdebild vorliegt.» Seite 21
Rechtswissenschaftliches Institut Neuer Fokus mit BGE 140 V 197: Trennbarkeit (unechte Mischbilder) Grundsatz der Trennbarkeit: «Lassen sich unklare von erklärbaren Beschwerden aber trennen, können die Schlussbestimmungen der 6. IV-Revision auf erstere Anwendung finden.» (E. 6.2.3) Begründung mit Gleichbehandlungsgrundsatz (Erw. 6.2.3): «Wird diese Regelung nicht auf laufende Renten angewendet, […], wären deren Bezüger bessergestellt als die Bezüger von Renten, welche nur auf unklaren Beschwerden beruhen» «bei [Neurentnern] gelangt Art. 7 Abs. 2 ATSG in Bezug auf die unklaren Beschwerden zweifellos zur Anwendung.» Seite 22
Rechtswissenschaftliches Institut Vorgehen bei Untrennbarkeit? (echte Mischbilder) Urteil 8C_34/2014 vom 8. Juli 2014 Erw. 4.2.1. «Es lässt sich keine anteilsmässige Zuordnung der Arbeitsunfähig- keit(en) vornehmen. Die Krankheitsbilder sind folglich diagnostisch zwar unterscheidbar, erlauben aber bezüglich der darauf gründenden Einschränkung der Leistungsfähigkeit keine exakte Abgrenzung.» «[…] dass es sich bei den Gesundheitsschädigungen, welche zur Berentung geführt haben, um "erklärbare", eine Überprüfung unter dem Titel der SchlBest. IV 6/1 ausschliessende Beschwerden handelt.» Seite 23
Rechtswissenschaftliches Institut Bestätigung der Rechtsprechung (I) Urteil 9C_121/2014 vom 3. September 2014 Erw. 2.4.2.: «… bei kombinierten Beschwerden anwendbar, wenn die unklaren und die "erklärbaren" Beschwerden − sowohl diagnostisch als auch hinsichtlich der funktionellen Folgen − auseinandergehalten werden können. Hier hingegen ist ein "Mischsachverhalt" gegeben, bei dem es unmöglich ist festzustellen, wie gross der Anteil der organisch bedingten Beschwerden bei der Rentenzusprechung war.» Hier: Keine Revision nach SchlB 6. IV-Revision. Seite 24
Rechtswissenschaftliches Institut Bestätigung der Rechtsprechung (II) Urteil 9C_274/2014 vom 30. September 2014 E. 2.2. «… wenn unklare und erklärbare Beschwerden zwar diagnostisch unterscheidbar sind, aber bezüglich der darauf zurückzuführenden Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit keine exakte Abgrenzung erlauben.» Hier: Keine Revision nach SchlB 6. IV-Revision. Seite 25
Rechtswissenschaftliches Institut Stand der Praxis (Zusammenfassung) PÄUSBONOG ist zwingende Voraussetzung für eine Revision nach SchlB 6. IV-Revision (nach wie vor) Eine Revision nach SchlB 6. IV-Revision darf auch bei einem gemischten medizinischen Sachverhalt durchgeführt werden, sofern die Diagnosen und deren funktionelle Auswirkungen trennbar sind. Bei echten Mischsachverhalten (Untrennbarkeit der Diagnosen und funktionellen Auswirkungen) sind keine Revisionen i.S. der SchlB 6. IV-Revision möglich. Seite 26
Rechtswissenschaftliches Institut V. Ausblick Seite 27
Rechtswissenschaftliches Institut Offene Fragen Abgrenzung der abgetrennten objektivierbaren Diagnosen und Auswirkungen von den Förster-Kriterien (v.a. psychsiche und körperliche Begleiterkrankungen)? Kriterien für die «Trennbarkeit»? Medizinische «Evidenz» für trennbare Teilerkrankungen? Auswirkungen der Praxis zur SchlB 6. IVG-Revision auf Neuberentungen und ordentliche Revisionen? Seite 28
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