Autonom und unfallfrei - Betrachtungen zur Rolle der Technischen Aufsicht im Kontext des autonomen Fahrens1

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Autonom und unfallfrei – Betrachtungen zur Rolle der Technischen
Aufsicht im Kontext des autonomen Fahrens1

Annika Dix*, Jens R. Helmert*, Thomas Wagner** & Sebastian Pannasch*

* Technische Universität Dresden, Fakultät Psychologie und Zentrum für taktiles Internet mit Mensch-Maschine-
Interaktion (CeTI)
** DEKRA e. V. Dresden, DEKRA Technology Center Klettwitz

ZUSAMMENFASSUNG
Die Entwicklung des autonomen Fahrens erfährt aktuell große Unterstützung, nicht zuletzt durch einen entsprechenden
Gesetzentwurf der Bundesregierung. Der vorliegende Beitrag diskutiert die mit den Entwicklungen zum autonomen
Fahren verbundenen Herausforderungen. Im Fokus stehen dabei die zu erwartenden Aufgaben an die Technische Auf-
sicht, den Menschen, der in schwierigen Situationen Entscheidungen und Freigaben vornehmen muss. Für diese Aufga-
ben werden Aspekte von Gefahrenwahrnehmung sowie Aufgabenkomplexität betrachtet und aus arbeitspsychologischer
Perspektive eingeordnet. Diese stärker individuelle Betrachtung wird in den Zusammenhang gestellt mit zu erwarten-
den strukturellen Herausforderungen, wie beispielsweise Mischverkehr und technischer Zuverlässigkeit. Der Beitrag
schließt mit sieben Empfehlungen in Bezug auf die Gestaltung autonomen Fahrens, deren Erfüllung für die zukünftige
Verkehrssicherheit von zentraler Bedeutung erscheinen.

Schlüsselwörter
Autonomes Fahren – technische Aufsicht – Gefahrenwahrnehmung – Situationsbewusstsein

ABSTRACT
The development of autonomous driving is currently strongly supported also by a corresponding draft law by the German
government. This article discusses the challenges associated with the development of autonomous driving. The present
paper focuses on the expected tasks for the remote operator. The remote operator is, according to the draft law, the hu-
man being who has to make decisions and approvals in difficult situations. For these tasks, aspects of hazard perception
and task complexity are considered from the perspective of occupational psychology. This more individual consideration
is placed in the context of expected structural challenges, such as mixed traffic and technical reliability. The article con-
cludes with seven recommendations regarding the design of autonomous driving. The implementation of these recom-
mendations seems to be of central importance for future road safety.

Keywords
Autonomous driving– remote operator – hazard perception – situational awareness

1
      Der vorliegende Text wurde gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Exzellenzstrategie des
      Bundes und der Länder – EXC 2050/1 – Projektnummer 390696704 – als Exzellenzcluster „Centre for Tactile Internet with Human-in-
      the-Loop“ (CeTI) der Technischen Universität Dresden.

    2021 – innsbruck university press, Innsbruck
    Journal Psychologie des Alltagshandelns / Psychology of Everyday Activity, Vol. 14 / No. 2, ISSN 1998-9970
6                                                               A. Dix, J. R. Helmert, T. Wagner & S. Pannasch

1    Einleitung                                            gerechnet heute, bei der Abfahrt in den Urlaub, scheint
                                                           es wie verhext. Erst gab es Stop & Go auf einer der Aus-
Aktuell gibt es zahlreiche Diskussionen über die zu-       fallstraßen aus der Stadt, und jetzt blockiert eine Tages-
künftige Gestaltung von Mobilität. Dabei spielen ne-       baustelle die Weiterfahrt. Fahrzeuge können nur durch
ben der Sicherheit die Fragen der Bedarfe, der Tech-       Überfahren der durchgezogenen Linie passieren. Bei au-
nologien und der gesellschaftlichen Trends eine we-        tonomen Fahrzeugen kann so etwas nur die technische
sentliche Rolle (Weber, 2020). Im Mai 2021 hat die         Aufsicht entscheiden.“
Bundesregierung den Gesetzentwurf „zur Änderung
des Straßenverkehrsgesetzes und des Pflichtversi-          Technische Aufsicht? Was verbirgt sich hinter diesem
cherungsgesetzes – Gesetz zum autonomen Fahren“            Begriff und wozu benötigt ein selbstfahrendes Auto
(BT-Drucks. 19/27439, 2021) vorgelegt, welcher den         eine Technische Aufsicht? Derartige Fahrzeuge, wel-
Einsatz fahrerloser Kraftfahrzeuge im öffentlichen         che mit Hilfe zahlreicher Überwachungssensoren und
Straßenverkehr – z. B. sogenannter People-Mover (au-       künstlicher Intelligenz selbständig fahren, können
tomatisierte Personentransportsysteme) – ermöglicht.       in Situationen geraten, in denen Algorithmen keine
Der Gesetzentwurf wird ergänzt durch Ausführungs-          selbständige Entscheidung treffen können. Genau
vorschriften, die sich derzeit noch im Status eines        für diese Situationen steht ein Mensch als Technische
Referentenentwurfs im Bearbeitungsstand befinden,          Aufsicht (TA) bereit: Benötigt ein selbstfahrendes Auto
und angedachte Festlegungen zu Verfahrensregelun-          Beistand bei einer Entscheidung, beispielsweise wenn
gen über die Erteilung von Betriebserlaubnissen für        ein Ausweichmanöver ein kurzfristiges Übertreten ei-
Kraftfahrzeuge mit autonomer Fahrfunktion, über die        ner Straßenverkehrsregel erfordert (z. B. Überfahren
Genehmigung von festgelegten Betriebsbereichen so-         einer durchgezogenen Linie), wird die Freigabe ei-
wie zu Anforderungen und Sorgfaltsvorschriften für         nes solchen Fahrmanövers durch die TA erforderlich,
die am Betrieb von Kraftfahrzeugen mit autonomer           die dadurch die strategische Kontrolle sensu Michon
Fahrfunktion beteiligten Personen enthalten (Referen-      (1986) über das Fahrzeug übernimmt. Daneben ver-
tenentwurf „Autonome Fahrzeug-Genehmigungs- und            pflichtet die Novelle des Straßenverkehrsgesetzes die
Betriebsverordnung“ AFGBV, 2021).                          TA zur Deaktivierung des Kraftfahrzeugs mit autono-
     Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die     mer Fahrfunktion, sofern das Fahrzeug nicht in der
Darstellung und Bewertung verschiedenster Heraus-          Lage ist, die Fahraufgabe selbstständig zu bewältigen
forderungen, die mit den aktuellen Bestrebungen im         (BT-Drucks. 19/27439, 2021, S. 9). Außerdem kann die
Kontext des autonomen Fahrens verbunden sind. Be-          TA alternative Fahrmanöver vorschlagen. Hinter dem
ginnen wir dazu mit einem Blick in die Zukunft, der        Begriff der TA verbirgt sich also ein menschlicher Ent-
uns zu folgendem Szenario führen könnte:                   scheider, der Zugriff auf die sensorischen Informatio-
„Die Koffer sind gepackt, die Freude auf den Urlaub ist    nen des Fahrzeugs bekommen und in der Situation
groß und die Fahrt zum Flughafen ist gebucht. Mit ei-      eine Entscheidung fällen kann, um die Schwierigkei-
nem autonomen Fahrzeug kann sich die ganze Familie         ten aufzulösen und eine Weiterfahrt zu ermöglichen.
einfach und bequem zum gewünschten Zielort bringen         Ein Eingriff der Passagiere ist unter keinen Umstän-
lassen. Damit beginnt der Urlaub bereits jetzt. Da, eine   den vorgesehen. So stellt es sich auch in unserem Sze-
Nachricht auf dem Handy, es kann losgehen.“                nario dar.
                                                           „Die Weiterfahrt verzögert sich um wenige Augenblicke,
So in etwa könnte eine Werbung für die Nutzung eines       wir bitten um Ihr Verständnis – erklingt eine Stimme
autonomen Fahrzeugs mit dem höchsten Automatisie-          aus dem Off. Neugierig schauen wir aus dem Fenster,
rungsgrad bei Fahrzeugen gestaltet sein. Dies wäre         um die Ursache für den überraschenden Zwischenstopp
ein Fahrzeug, welches unter allen Fahr- und Umge-          ausfindig zu machen.“
bungsbedingungen vollständig automatisiert geführt
ist. Im Fahrzeug selbst gibt es keinerlei Möglichkeiten    In diesem Moment fragen sich nicht nur die Passagie-
zur Steuerung und Bedienung. Es handelt sich also um       re, was wohl die Fahrt behindert. Auch die TA muss
ein Auto ohne Lenkrad, bei dem ein Eingriff durch die      sich einen Überblick über die Situation verschaffen.
Fahrgäste weder vorgesehen noch möglich ist. Gemäß         An dieser Stelle ergeben sich gleich mehrere Problem-
der nationalen und internationalen Einteilung wäre         felder für die Einführung autonomer Fahrfunktionen
dies ein Fahrzeug mit einer Automatisierung ab Stufe       auf Deutschlands Straßen.
4 (Society of Automotive Engineers - SAE, 2021).                Aus kognitionspsychologischer Perspektive lässt
                                                           sich das Führen eines Fahrzeuges als Aufgabenbe-
Wie ist es inzwischen der Familie aus dem obigen Sze-      arbeitung auf verschiedenen hierarchischen Stufen
nario ergangen?                                            darstellen (vgl. Rasmussen, 1983; Michon, 1986). Ob-
„Die Strecke zum Flughafen ist kurz und lässt sich bei     wohl die Anforderungen durch die Fahraufgabe mit
guter Verkehrslage in ca. 20 min. bewältigen. Aber aus-    steigender Fahrerfahrung sinken, spielen regel- und
Autonom und unfallfrei                                                                                          7

wissensbasierte Prozesse stets eine wesentliche Rolle.    2    Tätigkeitsfeld der TA
Die Gefahrenvermeidung und Vorbeugung unfallur-
sächlichen Fehlverhaltens setzt somit eine nicht unbe-    Die TA befindet sich nicht im Fahrzeug, sondern sehr
deutende kognitive und psychomotorische Kompetenz         wahrscheinlich in einer büroähnlichen Umgebung,
des Fahrers voraus. So ist es auch nicht verwunder-       z. B. einer Leitstelle, die vom Halter des Fahrzeugs
lich, dass 93,5 % der Unfallursachen auf menschliches     bereitgestellt wird (vgl. AFGBV, 2021, S. 107 f.), und
Fehlverhalten zurückzuführen sind, wie die GIDAS-         reagiert auf Betriebsstörungen, die das Fahrzeug mel-
Datenbank (German In-Depth Accident Study, https://       det. Vermutlich wird eine TA meist mit einfachen Teil-
www.gidas.org) ausweist. In der GIDAS-Datenbank           problemen konfrontiert, die sie zunächst identifiziert,
werden, auf Initiative der Bundesanstalt für Straßen-     bevor entschieden und gehandelt wird. Ist beispiels-
wesen (BASt) und der Forschungsvereinigung Auto-          weise die Fahrspur versperrt, kann die TA die Freigabe
mobiltechnik (FAT), seit 1973 Verkehrsunfälle gesam-      zum Überfahren einer durchgezogenen Linie erteilen,
melt und ausgewertet.                                     damit das Hindernis passiert werden kann. Meldet die
      Ein möglicher Lösungsansatz, das Problem            Abstandsmessung bei Regen häufige Fehlalarme für
menschlichen Fehlverhaltens zu reduzieren, besteht        Hindernisse, kann die Empfindlichkeit der Sensorik
in der Automatisierung einzelner Fahraufgaben bzw.        angepasst werden. Fraglich ist allerdings auf Basis
in der autonomen Fahrzeugführung. Aus psycholo-           welcher Informationen die TA entscheidet und woher
gischer Perspektive bedeutet diese Automatisierung,       sie weiß, dass ein Hindernis sicher über die Gegenspur
speziell für den Aufgabenbereich der TA, allerdings       passiert werden kann oder die Sensorik Fehlalarme
eine grundlegende Veränderung unseres bisherigen          produziert und kein Stau vorliegt, der regelmäßiges
Verständnisses von Verantwortung und Kontrolle im         Abbremsen verlangt.
Straßenverkehr. So wichtig Innovation und Fortschritt           Bislang ist das Tätigkeitsfeld der TA nur unzurei-
im Bereich des Straßenverkehrs auch sein mögen,           chend beschrieben, auch der aktuelle Gesetzentwurf
zum aktuellen Zeitpunkt ist kaum abzusehen, ob die        der Bundesregierung liefert dazu keine konkreten
Einführung von selbstfahrenden Fahrzeugen wirklich        Aussagen. Die nachfolgende Beschreibung klingt eher
zur vielfach versprochenen Senkung der Unfallrate         nach Science-Fiction, repräsentiert aber ein Szenario
führen wird. Hierfür müssen für autonome Fahrzeuge        mit optimalen Voraussetzungen, welches durch eine
folgende Voraussetzungen zur Gefahrenabwehr erfüllt       TA möglicherweise gelöst werden könnte. Wir wollen
sein (vgl. Haupt, 2021): (i) sie weisen keine erhöhte     deshalb für dieses Szenario Faktoren identifizieren,
Fehleranfälligkeit im Vergleich zu konventionellen        die den Erfolg einer TA maßgeblich mitbestimmen,
Fahrzeugen auf, (ii) sie reagieren ebenso zuverläs-       aber in der aktuellen Gesetzesvorlage bisher keine ex-
sig auf widrige Straßenverhältnisse wie menschliche       plizite Berücksichtigung erfahren.
Fahrer, und (iii) sie kommunizieren mit schwächeren
Verkehrsteilnehmern (z. B. Fußgänger, Kinder, Rad-        „Auf dem Bildschirm über dem Kontrollpanel im Auf-
fahrer). Die Erfüllung dieser Voraussetzungen wird        sichtsraum des Control Centers for Automated Road
zumindest in der Rechtswissenschaft eher zurückhal-       Transport (CART) erscheint ein Warnhinweis: FZ-
tend beurteilt (Haupt, 2021). Darüber hinaus bestehen     372E Fahrspur versperrt – Fahrt unterbrochen.
große Bedenken, wie der Arbeitsplatz einer TA gestal-     Darunter steht: Achtung, durchgehende Fahrbahn-
tet wird.                                                 begrenzung. Zusätzlich zeigt ein rot leuchtender Kon-
      Der vorliegende Artikel setzt sich daher mit fol-   trollschalter eine Handlungsaufforderung an. Die TA
genden Punkten auseinander: In Kapitel 2 Tätigkeits-      bestätigt mit dem Schalter die Übernahme, drückt eine
feld der TA stehen die Herausforderungen zukünfti-        weitere Taste auf dem Kontrollpanel und mehrere Ka-
ger TAs im Mittelpunkt. Dabei betrachten wir neben        meraansichten auf die Umgebung von Fahrzeug FZ-
allgemeinen arbeitspsychologischen Perspektiven           372E erscheinen auf dem Bildschirm. Die Frontkamera
auch die spezifische Verlagerung des Kontroll- und        liefert Bilder von einigen vorausfahrenden Fahrzeugen
Überwachungsdilemmas vom Fahrer zur TA. Kapi-             und einer Baustellenabsperrung. Es zeigt sich, dass die
tel 3 Strukturelle Herausforderungen beschäftigt sich     vorausfahrenden Fahrzeuge über die durchgezogene
mit der prinzipiellen Einbettung autonomen Fahrens        Begrenzungslinie auf die Gegenspur fahren, um die
in den Kontext von Mobilität. Dazu zählen neben der       Baustelle zu umfahren. Die Darstellung der Heckkame-
Organisation von Mischverkehr auch Fragen von Ver-        ra lässt erkennen, dass sich hinter dem Fahrzeug FZ-
antwortung, Schuld und Haftung. Im abschließenden         372E eine Warteschlange gebildet hat, deren Ende die
Kapitel 4 Diskussion und Ausblick werden die zentra-      TA nicht sehen kann. Es gibt keinen Hinweis darauf,
len Gedanken noch einmal integriert.                      wann die Baustellendurchfahrt für den Gegenverkehr
                                                          frei gegeben wird. Da der Abstand zum vorausfahren-
                                                          den Fahrzeug nicht allzu groß scheint, entscheidet sich
                                                          die TA im Auswahlmenü links für die Option Spuren-
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wechsel trotz Fahrbahnbegrenzung und gibt durch           mehr in aktuelle Prozesse involviert) Phänomen füh-
einen weiteren Tastendruck die Fahrt wieder frei.“        ren (vgl. Merat et al., 2019). Während ein steuernder
                                                          Fahrer im Fahrzeug fortlaufend Informationen zum
Im beschriebenen Szenario liefern Kamerabilder der        Verkehrsgeschehen bekommt und verarbeitet, wird
TA die Informationen zum Verkehrsgeschehen. Auf           eine TA sehr plötzlich mit einem Problem konfrontiert.
dieser Basis muss sie die Situation beurteilen und eine   Dies erfolgt in der Funktion eines passiven Beobach-
Entscheidung treffen. Im geschilderten Beispiel ist       ters mit selektivem Informationsangebot, welches sich
das Fahrzeug zuvor zum Stehen gekommen, befindet          quantitativ, qualitativ und in der zeitlich-dynamischen
sich also im gesicherten Stillstand. Außerdem wird der    Entwicklung stark von dem eines aktiven Kraftfahrers
TA, so wie im Gesetzentwurf vorgesehen, mindestens        unterscheidet. Die TA wird sich vermutlich an relativ
ein Fahrmanöver vorgeschlagen. Dies bedeutet, dass        abstrakten Parametern orientieren und muss auf feh-
basierend auf den vom System über die Situation be-       lende Informationen und Ereignisse schließen. Dies
reitgestellten Informationen der TA ein anforderungs-     macht die Informationsverarbeitung der TA fehler-
gerechtes Handeln ermöglicht werden muss. In den          anfällig, was der Gesetzgeber offensichtlich bereits
nachfolgenden Kapiteln stellen wir die kognitions-        einkalkuliert hat, da für die TA eine Haftpflichtversi-
psychologischen Grundlagen für ein solches Handeln        cherung verlangt wird, wobei die Haftungsgrenzen bei
dar, speziell im Kontext von verzögertem Situationsbe-    autonomen Fahrzeugen im Fall von Personenschäden
wusstsein (2.1) und variierender Aufgabenkomplexität      bei zehn Millionen Euro liegen sollen und bei Sach-
(2.2). Abschließend folgt eine arbeitspsychologische      schäden mit zwei Millionen Euro veranschlagt wer-
Bewertung des Tätigkeitsfeldes der TA (2.3).              den (Haupt, 2021). Diese Haftungsgrenzen entspre-
                                                          chen dem Doppelten der Grenzen bei konventionellen
2.1 Gefahrenwahrnehmung und Situationsbe-                 Fahrzeugen.
    wusstsein beim automatisierten Fahren                      Fehleinschätzungen der TA können z. B. die
                                                          Fahrgeschwindigkeit betreffen. Die Beurteilung der
Die Wahrnehmung von Gefahren erfordert die Erken-         Geschwindigkeit anderer Fahrzeuge aus dem Ge-
nung der relevanten Informationen einer Situation, ein    genverkehr durch Kraftfahrzeugführer „in-the-loop“
Verständnis über die vorliegenden Schwierigkeiten         schwankt selbst unter experimentellen Bedingungen
und die Ableitung möglicher Handlungsoptionen. Ge-        ganz erheblich und variiert zwischen 50 % Unter-
mäß dieser Betrachtung ist Situationsbewusstsein (SB)     schätzung und 13 % Überschätzung (Meyer-Gramcko,
die Grundlage für Gefahrenwahrnehmung. Die Defini-        1980). Je nachdem, ob der Beobachter eine Entfer-
tion nach Endsley (1995) unterscheidet drei Stufen von    nungsschätzung aus der Fahrgastzelle eines Pkw oder
SB: (1) Wahrnehmen (2) Verstehen und (3) Projizieren.     daneben auf einem Stuhl (vergleichbar der Situation
Entsprechend muss eine TA beispielsweise die Position     einer TA in einer Leitstelle) vornimmt, differieren die
und Dynamik eines Hindernisses sowie die des über-        Schätzungen um bis zu 29 %, selbst wenn alle son-
wachten Fahrzeugs und anderer Fahrzeuge zunächst          stigen experimentellen Randbedingungen konstant
wahrnehmen können. Aus der Bedeutsamkeit einzel-          gehalten werden (Moeller et al., 2016). Eine derartig
ner Elemente im Gesamtkontext resultiert das Verste-      fehlerhafte Nutzung von Informationen, d. h. Orien-
hen der Situation, etwa der versperrten Fahrspur, die     tierungsfehler oder Fehleinschätzungen (z. B. des
trotz durchgezogener Linie verlassen werden muss.         Abstands oder der Geschwindigkeit), sind jedoch un-
Daran anschließend erfolgt das Projizieren zukünftiger    fallkausale Ursachen, wie Staubach (2009) bei einer
Handlungen (z. B. die Identifikation auftauchenden        Tiefenanalyse von 474 Unfällen feststellte. Die Autorin
Gegenverkehrs als Gefahrenquelle) und die Vorhersa-       übertrug das Fehlerklassifikationsmodell der mensch-
ge der Konsequenzen. Eine aktive Aufgabenbearbei-         lichen Informationsverarbeitung von Hacker (1998)
tung bildet die Voraussetzung für ein angemessenes        auf den Kontext Autofahren und fand zudem, dass
SB; gleichzeitig ist ausreichendes SB eine notwendige     Fehler, die aufgrund eines objektiven Mangels an In-
Bedingung für anforderungsgerechtes Entscheiden           formationen entstehen, z. B. in Form von Sichtbehin-
und angemessenes Handeln. Eine Beeinträchtigung           derungen durch Gebäude, Fahrzeuge oder durch die
des SB kann durch die Entkopplung von der Aufgabe         Witterung, ebenfalls die Unfallgefahr erhöhen (Stau-
entstehen, beispielsweise durch die Automatisierung       bach, 2009).
von (Teil-)Aufgaben. Anders ausgedrückt kann von den           Diese Beispiele verdeutlichen, dass Verständ-
Passagieren im autonomen Fahrzeug keine SB erwar-         nis und Interpretation objektiver Bedingungen einer
tet werden, da sie – ähnlich wie Passagiere in einem      Fahraufgabe ganz wesentlich von der aktuellen Wahr-
Taxi – dem Geschehen im Straßenverkehr vermutlich         nehmung, dem Feedback während der Verhaltens-
nur wenig Aufmerksamkeit widmen.                          ausführung sowie von Erfahrungen und Erwartungen
     Eine derartige Entkopplung von der Aufgabe           des Fahrers abhängen. Diese Einflussfaktoren bilden
kann zum Out-of-the-Loop (aus der Schleife, nicht         die Grundlage für das Mensch-Maschine-Umwelt-Sy-
Autonom und unfallfrei                                                                                          9

stemverständnis, wobei inkorrekte, undifferenzierte        soll, soweit gewisse technische Anforderungen noch
und lückenhafte Repräsentationen die Handlungsre-          nicht überprüfbar sind, diesbezüglich für eine Über-
gulation beeinträchtigen; darauf hingewiesen haben         gangszeit die Herstellererklärung nach § 1f Absatz 3
bereits Müller et al. (2018) im Zusammenhang mit           genügen.“ (BT-Drucks. 19/27439, 2021, S. 24). Durch
automatisierter Fahrfunktion auf Stufe 3. Im Vergleich     Beilegen dieser zum Betriebshandbuch wird „den Nut-
zu automatisiertem Fahren der Stufe 3 verschärft sich      zerinnen und Nutzern entsprechender Fahrzeuge so-
die Illusion der Wahrnehmungsbereitschaft beim au-         mit ein vertrauensstiftender Nachweis zur Sicherheit
tonomen Fahren mit einer TA aufgrund der räumli-           dieser neuen Mobilitätsform gegeben“. Für die Her-
chen Entkoppelung von der eigentlichen Fahraufgabe.        stellererklärung sieht das Bundesministerium für Ver-
Umso wichtiger ist die Identifikation der möglichen        kehr und digitale Infrastruktur gemäß der AFGBV vor,
Problemstellungen, mit denen eine TA konfrontiert          dass in einem Sicherheitskonzept „relevante gefährli-
werden wird, sowie eine Prüfung auf deren Lösbar-          che Szenarien und Ereignisse identifiziert und in einer
keit. Die Aufgaben einer TA sollten entsprechend vor       Risikoanalyse bewertet werden“ (AFGBV, 2021, S. 46).
der Einführung autonomer Fahrzeuge im Straßenver-          Die Vollständigkeit des Szenarienkatalogs muss der
kehr definiert werden.                                     Hersteller durch entsprechende Validierungsfahrten
      Studien zu SB bei Übernahmesituationen durch         belegen. Es bleibt also auch für Hersteller zu hoffen,
Fahrer im automatisierten Fahrzeug zeigen insgesamt        dass die Komplexität des Straßenverkehrs tatsächlich
eine deutliche Verzögerung (Mok et al., 2017). Wäh-        in diesem Katalog möglichst umfangreich abgebildet
rend SB auf Stufe 1 (wahrnehmen) noch vergleichs-          werden kann.
weise schnell aufgebaut werden kann (5-8 s), liegt die           Neben der Problematik des verzögerten SB und
Dauer auf Stufe 2, gerade wenn es darum geht das Ver-      dessen Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit
halten anderer Verkehrsteilnehmer zu verstehen, be-        einer TA, bleibt ebenfalls unklar, inwiefern durch
reits bei über 20 s (Lu et al., 2017). Diese Zahlen sind   den Gesetzgeber eine gleichzeitige Überwachung
beachtenswert. Bis die TA in der obigen Beispielsitua-     und/oder Unterstützung mehrerer Fahrzeuge durch
tion das Fahrgeschehen in der Gegenspur verstanden         eine TA erlaubt bzw. vorgesehen ist. Die Zuordnung
hat und das Alternativmanöver freigeben kann, hat          mehrerer Fahrzeuge zu einer TA ist aus Unterneh-
sich aus der ohnehin schon angespannten Stop & Go          merperspektive naheliegend, zumal die TA nicht zur
Situation der Anfang eines Staus entwickelt. Durch je-     ständigen Überwachung eines im autonomen Betrieb
des weitere autonome Fahrzeug, das nachfolgt und bei       befindlichen Fahrzeuges verpflichtet sein soll (BT-
dem die Freigabe durch eine TA erteilt werden muss,        Drucks. 19/27439, 2021, S. 8). Hierbei gilt zu berück-
würde sich diese Situation weiter verschärfen und ver-     sichtigen, dass im Fall einer Beeinträchtigung des au-
mutlich bei konventionellen Fahrzeugführern einen          tonomen Fahrzeugs und Handlungsaufforderung an
gefährlichen „Überholdruck“ fördern.                       die TA der Aufbau von SB neben Zeit auch kognitive
      Tatsächlich wurde in Studien für einen Remote        Ressourcen erfordert. Dies kann zur Reduktion der
Operator, also einen Fahrzeugführer außerhalb des          Arbeitsleistung für andere Aufgaben führen. So in-
Fahrzeuges analog zur TA, in Abhängigkeit vom Pro-         vestierten beispielsweise in einer Usability-Studie zu
blem sogar ein verzögertes SB von 29 s bis über 162 s      Such- und Rettungsrobotern die Remote Operators bei
festgestellt (Scholtz et al., 2004). Zum Vergleich: In     der Robotersteuerung 30 % ihrer Zeit ausschließlich
162 s legt ein Auto, das mit einer Geschwindigkeit von     in das Erlangen und Aufrechterhalten von SB (Yanco &
30 km/h fährt, eine Strecke von 1,35 km zurück, bei        Drury, 2004). Folglich sind Regelungen notwendig, wie
120 km/h sogar 5,4 km und im Stand auf einer zweispu-      die (nicht ständige) Überwachung weiterer Fahrzeuge
rigen Autobahn lassen sich in dieser Zeit weit über 200    im Fall einer Übernahmesituation erfolgen soll. Eine
vorbeifahrende Autos registrieren. Diese Tatsachen il-     potenzielle Überforderung der TA wird im Allgemei-
lustrieren die Dynamik von Verkehrssituationen, wel-       nen vor allem von der Aufgabenart bestimmt sein. Im
che die TA bei ihrer Entscheidung berücksichtigen          Folgenden werden denkbare Aufgaben einer TA und
muss. Entsprechend sieht der Gesetzentwurf auch vor,       die Rolle der Aufgabenkomplexität näher betrachtet.
dass die technische Ausrüstung entsprechende Hand-
lungsaufforderungen mit „ausreichender Zeitreserve“        2.2 Aufgabenkomplexität und Verantwortungsbe-
„optisch, akustisch oder sonst wahrnehmbar“ anzei-             reiche im Tätigkeitsfeld der TA
gen kann (BT-Drucks. 19/27439, 2021, S. 8). Auf wel-
cher Basis die technische Ausrüstung zu einer entspre-     Der Gesetzentwurf zum autonomen Fahren lässt of-
chenden Einschätzung kommt, wird nicht spezifiziert.       fen, welche Verantwortlichkeiten einer TA zugewiesen
Insofern scheint der Umgang des Gesetzgebers mit ak-       werden, also welche Aufgaben konkret übernommen
tuell nicht prüfbaren technischen Anforderungen frag-      werden sollen und damit auch mit welcher Aufgaben-
lich: „Um die Triebkraft des automatisierten, autono-      komplexität eine TA konfrontiert sein wird. Mögliche
men und vernetzten Fahrens nicht zu verlangsamen,          Vorkommnisse wie das Überfahren von Ampeln auf
10                                                             A. Dix, J. R. Helmert, T. Wagner & S. Pannasch

Dauer-Rot werden im Gesetzentwurf dargestellt. Zu-        über einen längeren Zeitraum gegen straßenverkehrs-
dem ist geregelt, dass Fahrzeuge ihre Systemgrenzen       rechtliche Regeln verstoßen. Es ist anzunehmen, dass
kennen und in der Lage sind, sich „selbständig in ei-     nicht jede technische Ausrüstung diese Aufgabe erfül-
nen risikominimalen Zustand zu versetzen, wenn die        len kann. In diesem Fall schließt das „die Zulässigkeit
Fortsetzung der Fahrt nur durch eine Verletzung des       der Nutzung autonomer Fahrfunktionen nicht aus“, da
Straßenverkehrsrechts möglich wäre“ (BT-Drucks.           diese „auch dann zulässig ist, wenn sie innerhalb des
19/27439, 2021, S. 8). Das sind die Momente, in denen     festgelegten Betriebsbereichs die an die Fahrzeugfüh-
die TA ins Spiel kommt. „Der Begriff „Systemgrenzen“      rung gerichteten Verkehrsvorschriften erfüllen kön-
ist nicht näher definiert“ und „bewusst technikoffen      nen“ (BT-Drucks. 19/27439, 2021, S. 21). Sollte sich das
gehalten“ (BT-Drucks. 19/27439, 2021, S. 23). Die         autonome Fahrzeug also in einer solch unerwarteten
Grenze der Leistungsfähigkeit eines Fahrzeuges kann       Situation selbst deaktivieren? Oder hätte es gar nicht
allerdings je nach Hersteller variieren. Mit dieser       eingesetzt werden dürfen? Wie können geeignete Be-
Offenheit bestätigt der Entwurf ein weiteres Mal die      triebsbereiche identifiziert werden, für die keine uner-
Ironien der Automatisierung (Bainbridge, 1983): Das       warteten Situationen auftreten? Ist das Fahrzeug erst
Machbare wird automatisiert, übrig bleiben Aufgaben-      einmal in die Baustellendurchfahrt eingefahren, ist
teile mit zu hoher Komplexität, die fortan von der TA     Stehenbleiben zumindest keine geeignete Lösung. All-
erfüllt werden müssen. Das grundlegende Problem           gemeiner formuliert sind zum jetzigen und letztlich zu
hinter der Vision von weniger Verkehrsunfällen durch      keinem Zeitpunkt alle Situationen vorher beschreib-
autonomes Fahren bleibt somit bestehen und wird ad        bar – es wird immer eine Restmenge an unerwarteten
absurdum geführt. Die Ursachen für Unfälle verschie-      Situationen geben.
ben sich vom menschlichen Versagen des Fahrers im               In den USA ist es möglich einem Remote Operator
Auto zum menschlichen Versagen des Designers. Die-        die Fernsteuerung eines Fahrzeuges (im Sinne einer
ses Versagen soll durch den Einsatz einer weiteren        Teleoperation) zu erlauben (Mutzenich et al., 2021).
Person, der TA, ausgeglichen werden, die wiederum         Sollte also die TA das Fahrzeug durch besagten Strec-
neuen Fehlerquellen ausgesetzt ist (Merat & Louw,         kenabschnitt der Baustelle steuern können? Dies ist
2020).                                                    im deutschen Gesetzentwurf derzeit noch nicht vorge-
      Aufgrund der zu erwartenden Bandbreite an           sehen und würde tatsächlich weit höhere Anforderun-
Technologien des autonomen Fahrens mit entspre-           gen an die Ausbildung der TA und die technischen Lö-
chend variierenden „Systemgrenzen“, sowie der Kom-        sungen stellen. Derzeit scheint beabsichtigt, dass bei
plexität des Straßenverkehrs, ist von einer hohen He-     Erreichen der Betriebsgrenzen das Fahrzeug in den
terogenität hinsichtlich der Anforderungen an eine        risikominimalen Zustand versetzt und die Fahrt durch
TA auszugehen. Es stellt sich somit die Frage, wer in     manuelle Steuerung durch einen Fahrer im Fahrzeug
welcher Situation welche Verantwortlichkeit über-         oder außerhalb im Nahfeld des Fahrzeuges (maxi-
nehmen kann und sollte (vgl. auch Graewe, 2021). In       male Distanz: 6 m) fortgesetzt wird (AFGBV, 2021, S.
Abhängigkeit von der jeweils an eine TA übergebenen       32 & 51). Für den Halter, beispielsweise Betreiber im
Verantwortlichkeit können sich verschiedene Anfor-        ÖPNV, resultiert daraus, dass zunächst ein höherer
derungen an die vorauszusetzenden Fähigkeiten erge-       Personalkostenaufwand zu kalkulieren ist. Probleme
ben. Beispielsweise ist das Erkennen und Umfahren         einer Teleoperation über größere Distanzen wären
von Hindernissen eine Tätigkeit, die in der Regel nur     vor allem die eingeschränkten Informationen und die
auf dem Automatisierungslevel Null – in diesem Fall       Latenz zwischen Handlung und Rückmeldungen für
vom Fahrer im Auto – übernommen werden muss und           die TA. Durch das reduzierte SB verlängert sich be-
einen Führerschein voraussetzt. Kann diese Tätigkeit      reits für Übernahmesituationen im Fahrzeug die Re-
auch an eine TA übergeben werden? Diese soll laut         aktionsgeschwindigkeit von 1 auf über 3 s (Eriksson
AFGBV über eine entsprechende Fahrerlaubnis der           & Stanton, 2017). Bei einer Fahrzeuggeschwindigkeit
jeweiligen Fahrzeugklasse verfügen (AFGBV, 2021, S.       von 30 km/h bedeutet das im Fall von plötzlich auf-
55). Also alles kein Problem oder sollte die TA weitere   tretenden Hindernissen einen ungebremsten Fahrweg
Voraussetzungen erfüllen? Und für welche Situationen      von 25 m bis zur tatsächlichen Initiierung der Brem-
könnten diese Überlegungen relevant werden?               sung. Eine Übernahme muss entsprechend vorbereitet
      Nehmen wir an, die Tagesbaustelle im genannten      werden und selbst dann ergeben sich für die TA außer-
Szenario führt streckenweise nicht über die Gegen-        halb des Fahrzeugs im Aufsichtsraum des Kontrollzen-
fahrbahn, sondern über einen Fahrstreifen, der sich       trums noch zusätzliche Herausforderungen.
genau zwischen der Fahrzeug- und der Gegenspur be-              Systemverzögerungen bei der Übermittlung
findet, es muss also auf der durchgezogenen Begren-       der Sensordaten zur TA und der Durchführung von
zungslinie gefahren werden. Diese Situation wirkt zu-     Steuerungsbefehlen durch das Fahrzeug können das
nächst nicht gefährlicher als die Situation, die unsere   Kontrollempfinden und die Steuerungsleistung mas-
TA aufgelöst hat. Allerdings muss das Fahrzeug nun        siv beeinträchtigen (Neumeier et al., 2019). Im Luft-
Autonom und unfallfrei                                                                                       11

verkehr werden für zeitkritische Szenarien, die eine           Die in vielen Aspekten reduzierten Informatio-
präzise Steuerung des Flugzeuges erfordern, Verzöge-     nen, die einer TA bereitgestellt werden können, ber-
rungen von insgesamt maximal 100 ms als annehmbar        gen zudem das Risiko eines fehlenden Embodiments
betrachtet (Bailey et al., 2004). Bei über 240 ms kann   (UNECE, 2020), d. h. die TA wird die Bedeutung ih-
die Kontrolle des Flugzeuges nicht mehr gewährlei-       rer Handlungen ähnlich wie in einem Computerspiel
stet werden. Eine derart schnelle Informationsüber-      nicht fühlen können (Mutzenich et al., 2021). Dies
tragung – gerade bei der zu erwartenden Komplexi-        kann mit einem reduzierten Verantwortungsgefühl
tät an erforderlichen sensorischen Daten – setzt eine    einhergehen, vor allem aber zu Missverständnissen
entsprechende und störungsfreie Infrastruktur voraus,    durch Fehleinschätzung der Bedeutung einzelner In-
beispielsweise schnelle und sichere Netzwerke auch       formationen führen. Beispielsweise wird Bewegungs-
in ländlichen Gebieten. Um die TA mit allen für die      wahrnehmung durch die Limitierung auf durch Ka-
sichere Fernsteuerung relevanten Informationen in        meras erfasste visuelle Informationen kombiniert mit
einem zeitlich angemessenen Rahmen versorgen zu          abstrakten Parametern wie Geschwindigkeitsangaben
können, ist zudem ein umfangreiches Wissen über die      bedeutsam erschwert. Auch kann eine fehlende Rück-
Prinzipien der menschlichen Wahrnehmung und des          meldung über akustische Informationen aus der Um-
zielgerichteten Verhaltens in der Mensch-Maschine        welt – ähnlich wie bei zu lauter Musik für einen Fahrer
Interaktion – also einem Kontext, der hinsichtlich der   im Fahrzeug – zum Übersehen relevanter Informatio-
üblicherweise in unserer Umwelt vorliegenden Infor-      nen führen (vgl. z. B. Dalton & Behm, 2007)
mationen abweicht – erforderlich. Hier besteht derzeit         Einige Probleme, die sich durch die abweichende
noch großer Forschungsbedarf.                            Wahrnehmung der TA ergeben, lassen sich vermutlich
      Inwieweit beispielsweise die bisher verfügbaren    durch die Unterstützung mittels automatisierter Fahr-
technischen Lösungen den dynamischen Prozess der         funktionen, also eine Teilautomatisierung, beheben.
menschlichen Gefahrenwahrnehmung und -vermei-            So kann eine Kollisionsvermeidung bei eingeschränk-
dung auf allen Entfernungsstufen, Fahrersichtachsen      ter Wahrnehmung auch technisch umgesetzt werden,
und damit verknüpften Fixationsverläufen adäquat si-     allerdings sind dafür entsprechende Richtlinien erfor-
mulieren können, ist bislang nicht belegt. Pradhan und   derlich. Zudem antizipieren wir für die Durchführung
Crundall (2016) integrierten neuere Erkenntnisse zur     bestimmter Manöver speziell ausgebildete Fachkräfte
experimentellen Gefahrenwahrnehmungsforschung            wie im Flugverkehr, d. h. eine Art Spezialeinsatzgrup-
in das SB-Modell von Endsley (1995) und schlagen         pe für Notfälle bzw. Hochrisikosituationen. Es gibt
verschiedene, dynamisch aufeinanderfolgende Verar-       verschiedene Ansätze der TA den Umgang mit solchen
beitungsstufen in Abhängigkeit von der Entfernung        Situationen zu erleichtern bzw. überhaupt zu ermög-
und den Raumwahrnehmungsbereichen des Fahrers            lichen. Wir wollen unser Szenario fortsetzen und ein
vor. In einer Aufmerksamkeitszone („vigilance zone“),    fiktives Notfallmanagement einführen, welches die
z. B. mehrere hundert Meter vor dem Fahrzeug, tau-       Notwendigkeit für eine genaue Anforderungsanalyse
chen erwartungsinkongruente Vorboten einer Gefahr        des Tätigkeitsfeldes der TA und für die entsprechende
am Fluchtpunkt auf. Diese sind noch zu weit weg, um      Festsetzung vorauszusetzender Qualifikationen noch
Gefahrenhinweise extrahieren zu können, erhöhen je-      einmal veranschaulichen soll. Nach dieser Darstel-
doch die Aufmerksamkeit des Fahrers und werden für       lung erfolgt eine zusammenfassende Bewertung des
nachfolgende Prüfungen „vorgemerkt“. Im näheren          Tätigkeitsfeldes der TA.
Orientierungsbereich („strategic zone“) werden Hin-
weise auf Gefahrenreize fixiert, gewichtet und deren     2.3 Arbeitspsychologische Bewertung des Tätig-
Verlauf antizipiert. Möglicherweise erfolgt eine erste       keitsfeldes der TA
Gegenreaktion, z. B. Verringerung der Geschwindig-
keit oder ein Fahrstreifenwechsel als Schutzmaßnah-      Schauen wir uns also das Ende unseres Szenarios für
me gegen die potentielle Gefährdung. Auf der näch-       die TA bzw. die Mitarbeiter des Notfallmanagements
sten Wahrnehmungsstufe („tactical zone“) wird der        an, wobei anzumerken ist, dass die Art der Arbeits-
Gefahrenreiz umfassend verarbeitet und es erfolgt        teilung zwischen beiden Funktionen bislang durch
eine Reaktionsauswahl. In dem am nächsten liegen-        den Gesetzentwurf nicht berührt wird (BT-Drucks.
de Raumwahrnehmungsbereich („operational zone“)          19/27439, 2021).
wird nur noch reagiert und der Unfall vermieden oder
es kommt zur Kollision. Wenn der TA nur ausgewählte      „Der Mitarbeiter des Notfallmanagements hatte sich ge-
Ausschnitte dieser zusammenhängenden und dynami-         rade im Stuhl zurückgelehnt, als der Alarm eingeht. Der
schen Verkehrssituation auf unterschiedlichen Bild-      Bildschirmhintergrund verschwindet und der Mitarbei-
schirmen präsentiert werden, besteht das Risiko, dass    ter befindet sich inmitten einer dicht befahrenen Bau-
sicherheitsrelevante Hinweise zu spät oder gar nicht     stellendurchfahrt auf dem Zubringer zu einem Flugha-
erkannt werden.                                          fengelände. Das Fahrzeug, das sich gerade deaktiviert
12                                                               A. Dix, J. R. Helmert, T. Wagner & S. Pannasch

hat, scheint zu stehen mit leichter Orientierung Richtung   lastung der Arbeitenden, heutzutage vor allem im
rechter Baustellenbegrenzung. Der Virtual-Reality Bild-     Hinblick auf mentale Belastung. Mentale Unterfor-
schirm zeigt die Perspektive des Fahrers aus dem Fahr-      derung kann aber langfristig ebenso zu gesundheit-
zeug. Im unteren Bereich des Sichtfeldes ist im Vorder-     lichen Problemen führen wie Überlastung (Shultz et
grund ein Warnhinweis zu sehen: FZ-372E Weiterfahrt         al., 2010). Hancock und Warm (1989) beschreiben
nicht möglich. Darunter leuchtet in roten Buchstaben:       optimale Belastung als eine umgekehrte U-Funktion,
Remote Control aktivieren. Da keine weiteren Warn-          mit der größten physiologischen und psychologischen
hinweise vorliegen, kann der Mitarbeiter die manuelle       Anpassungsfähigkeit in der Mitte, und dem größten
Steuerung bestätigen. Zunächst werden jedoch die Fahr-      Stressempfinden an den Rändern. Diese Idee wurde
gäste über den Steuerungsvorgang informiert, mit dem        von Young und Stanton (2002) in der malleable theory
Hinweis sich ruhig zu verhalten. Der Mitarbeiter ist mit    of attention (Formbare Theorie der Aufmerksamkeit)
der TA im Aufsichtsraum per Voice-Chat verbunden und        aufgegriffen und erweitert, indem sie aufzeigen, dass
kann neben den Kamera- und Toninformationen aus             geringere Belastung auch mit geringeren Kapazitäten
dem Fahrzeug auch direkt Kontakt mit den Passagie-          zur Bewältigung von Anforderungen einhergehen. Das
ren aufnehmen. Umgekehrt haben die Passagiere auch          bedeutet, dass eine aktivierte Person eine zusätzliche
die Möglichkeit jederzeit einen Notruf an die Mitarbei-     Anforderung leichter bewältigt als eine unterforderte
ter des Notfallmanagements zu senden. Der Mitarbeiter       Person. Solche Kapazitätseinbußen durch Unterfor-
hatte die Baustelle wiedererkannt und auch direkt die       derung können zu Überforderungsszenarien führen
durchgezogene Fahrbahnbegrenzung in der Mitte der           (Byrne, 2011), wenn plötzlich Leistung abgefordert
Baustellenspur entdeckt. Langsam und sicher steuert er,     wird. Es besteht die Gefahr, dass die Arbeitssituation
von seinem Arbeitsplatz im Großraumbüro mit seinem          einer TA genau diese Merkmale aufweisen wird: Un-
Lenkrad in den Händen und dem Head-Mounted Dis-             terforderung in ruhigen Zeiten verbunden mit Spitzen,
play auf dem Kopf, wie bereits mehrere Male an diesem       in denen mehrere Fahrzeuge gleichzeitig abgefertigt
Vormittag auch das Fahrzeug FZ-372E durch den kriti-        und Probleme mit unterschiedlicher Priorisierung ge-
schen Streckenabschnitt.“                                   löst werden müssen.
                                                                  Zudem ist anzunehmen, dass die Tätigkeiten von
Technische Lösungen im Bereich der virtuellen oder          TAs sowohl tagsüber als auch nachts in Anspruch ge-
erweiterten Realität können helfen, der TA ein mög-         nommen werden, insbesondere mit zunehmender An-
lichst vollständiges Abbild der Verkehrssituation zu        zahl autonom fahrender Fahrzeuge. Daraus resultiert
vermitteln; auf diese Weise wird es für die TA leich-       die Anforderung von Schichtarbeit, die eine Belastung
ter, sich in die Situation hineinzuversetzen bzw. wird      des zirkadianen Rhythmus darstellt (Reinberg & Ash-
es möglich zusätzliche Informationen zu geben, die          kenazi, 2008) und zu Müdigkeit sowie verminderter
den Umgang mit den Herausforderungen erleichtern.           Leistungsfähigkeit führen kann (Books et al., 2017;
Anforderungen an diese Technologien, um der TA              Flynn-Evans et al., 2016). Die Beeinträchtigungen der
zur erfolgreichen Erfüllung ihrer Aufgaben dienen zu        Leistungsfähigkeit äußern sich beispielsweise in der
können, sind basierend auf der bisherigen Studienla-        Zunahme von Fehlern (de Cordova et al., 2016) aber
ge nicht in ausreichendem Umfang formulierbar. Die          auch verminderter psychomotorischer Wachsamkeit
Entwicklung in diesem Feld zeigt noch verschiedenste        (Behrens et al., 2019). Insbesondere diese beiden Lei-
Probleme auf, beispielsweise nachteilige Einflüsse von      stungskriterien sind für den Tätigkeitsbereich der TA
Latenz (Bailey et al., 2004). Die Herausforderungen an      von grundlegender Bedeutung für die zuverlässige
technische Lösungen sind hierbei aufgrund der erhöh-        Aufgabenbearbeitung.
ten Menge an zu übertragenden Informationen beson-
ders groß. Ein weiteres Problem, das u. a. auch im Zu-      Wie sich wohl die Fahrgäste in der beschriebenen Si-
sammenhang mit Latenzeinflüssen steht, aber auch ge-        tuation gefühlt haben?
nerell mit Widersprüchen in der Sinneswahrnehmung           „Nachdem sich der Signalton abgestellt hatte und der
(z. B. visueller Bewegungseindruck ohne tatsächliche        Mitarbeiter uns das weitere Vorgehen erklärt hat, bewe-
Bewegung), ist die Motion oder auch Cybersickness.          gen wir uns langsam vorwärts und verlassen bald dar-
Insgesamt sollten bei der Diskussion dieser Lösungs-        auf die Baustellendurchfahrt. Der Mitarbeiter bedankt
ansätze entsprechend auch immer Konsequenzen für            sich für die Unterstützung und wünscht uns eine gute
das Anforderungsprofil der TA abgeleitet werden. Die-       Weiterfahrt. Wir haben den Schreck bald überwunden
ses sowie weitere arbeitspsychologische Aspekte des         und freuen uns auf den anstehenden Urlaub. Nur ein
Tätigkeitsfeldes der TA sollten vor Einführung autono-      kleines Gefühl der Unsicherheit bleibt: Würde es ein Fah-
mer Fahrzeuge auf deutschen Straßen genau betrach-          rer nicht vielleicht doch leichter haben.“
tet, beschrieben und möglichst auch optimiert werden.
      Ein wichtiges Argument für Automatisierung
in allen Branchen ist neben der Sicherheit die Ent-
Autonom und unfallfrei                                                                                       13

3   Strukturelle Herausforderungen                       Infrastruktur rechnet in den kommenden fünf Jah-
                                                         ren jährlich mit einer Zulassung von 320 Fahrzeugen
Bislang wurden sicherheitskritische Effekte des auto-    mit autonomer Fahrfunktion deutschlandweit, wobei
nomen Fahrens nur auf der Ebene von individuellen        sich die Nachfrage vermutlich auf den ÖPNV-Bereich
TAs während der Tätigkeitsausübung diskutiert. Die-      beschränken wird (AFGBV, 2021, S. 73). Zusätzlich
se Effekte werden durch Kontextbedingungen ent-          hemmen dürften auch die Gebühren von geschätzten
sprechend verstärkt, dazu zählen der zu erwartende       82.000 EUR zum Betrieb eines autonomen Fahrzeugs
Mischbetrieb mit Fahrzeugen auf unterschiedlichen        (Haupt, 2021). Für gewerbliche Halter im ÖPNV wird
Automatisierungsstufen (0-3), die Interaktion dieser     sogar ein Erfüllungsaufwand zur Befolgung der recht-
verschiedenen Fahrzeuge, das Verhalten weiterer Ver-     lichen Vorschriften des Bundes von jährlich über 10
kehrsbeteiligter sowie Systemausfälle.                   Millionen EUR erwartet (AFGBV, 2021, S. 79 ff.) – un-
      Egal wie schnell sich autonomes Fahren in der      ter der Schätzung, dass es zumindest vier Fahrzeuge
Verkehrsgemeinschaft durchsetzen wird, ein Mischbe-      bedarf, um überhaupt einen entsprechenden Service
trieb aus manuell betriebenen und automatisiert fah-     an 365 Tagen im Jahr anbieten zu können. Insofern
renden Fahrzeugen ist für die kommenden Jahrzehnte       scheint die Annahme eines langjährigen Mischbe-
anzunehmen. Eine im Auftrag des ADAC e.V. durch-         triebs eine sehr wahrscheinliche Perspektive.
geführte Studie prognostiziert erste nennenswerte Zu-         Fachleute sehen in diesem Mischbetrieb eine
lassungszahlen bei Neufahrzeugen, die autonom von        Störung der „Harmonie des Verkehrsflusses“ mit we-
Tür-zu-Tür fahren, erst ab 2040; für 2050 werden 0,5     niger ausbalancierten Geschwindigkeits- und Ab-
bis 2,1 Mio. Fahrzeuge dieser Bauart angenommen          standsprofilen als gegenwärtig (vgl. Gruber & Sam-
(PrognosAG, 2018). Ob und in welchem Umfang auto-        mer, 2019). Autonome Fahrzeuge werden mit deutlich
nome Fahrzeuge dann tatsächlich genutzt werden, ist      niedrigerer Geschwindigkeit und größeren Abständen
heute nur schwer vorherzusagen. Die Studienlage ist      zum Vorderfahrzeug im Vergleich zu manuell betrie-
komplex und vor allem bezüglich der erhobenen Ziel-      benen Fahrzeugen unterwegs sein, da sie per se alle
variablen wie Nutzerintentionen, Akzeptanz, Kaufbe-      Regeln der StVO umsetzen müssen. Diese „StVO-Ver-
reitschaft, persönliche Meinung, Bewertung usw. sehr     pflichtung“ wiederum eröffnet Verhaltensangebote
heterogen. Die Literaturanalyse von Becker und Ax-       für manuelle Fahrer, z. B. zum Überholen oder zum
hausen (2017), die 16 Studien zwischen 2013 und 2016     Einfahren in eine Lücke zwischen zwei Fahrzeugen.
umfasste, erlaubt nur vorsichtige und wenig exakte       Laut Gesetzentwurf dürfen autonom betriebene Fahr-
Schlussfolgerungen. Demnach zeigen 18 bis 68 % der       zeuge nur in festgelegten Betriebsbereichen fahren,
Befragten eine positive Affinität zu autonomen Fahr-     allerdings fehlen vielerorts verfügbare Kapazitäten für
zeugen. Diese ist bei jüngeren Probanden und solchen     zusätzliche Fahrspuren, so dass ein Großteil der be-
männlichen Geschlechts stärker ausgeprägt, ebenso        stehenden Infrastruktur gemeinsam genutzt werden
bei Personen mit höherem Bedürfnis nach Nervenkit-       wird. Zudem ist die Frage nach möglichen Investitio-
zel, Abwechslung und Abenteuer.                          nen in infrastrukturelle Anpassung bisher offengehal-
      Die Verkehrsmittelwahl wird von rationalen Fak-    ten. Vorerst wird vom Bundesministerium für Verkehr
toren beeinflusst, z. B. frühere Erfahrungen mit dem     und digitale Infrastruktur betont, „dass ein Kraftfahr-
dominanten Verkehrsmittel, den daraus resultieren-       zeug mit autonomer Fahrfunktion grundsätzlich in
den Nutzungserfahrungen sowie von Gewohnheits-           der Lage sein soll, auf der vorhandenen Infrastruktur
bildung (Havlíčková & Zámečník, 2020), aber auch         betrieben werden zu können“ (AFGBV, 2021, S. 103).
von emotionalen Motiven. Das Selbstfahren als aktive     Die gemeinsame Nutzung im Mischbetrieb könnte
Tätigkeit bietet einen intrinsischen Belohnungswert      zu weiteren Irritationen führen, denn manuelle Fah-
durch handlungsbegleitende Emotionen wie Freu-           rer sind längst nicht so regeltreu wie vorgeschrieben.
de oder Fahrspaß, z. B. für Oldtimer-Begeisterte, und    Überhöhte Geschwindigkeit, Vorfahrtsverletzungen,
wird zudem mit Vorstellungen über gesundheitliche        ungenügender Mindestabstand und unangepasstes
Vitalität, Unabhängigkeit und Teilhabe am gesell-        Fahrverhalten gehören zu den typischen Regelver-
schaftlichen Leben verknüpft. Diese identitätsstif-      letzungen auf Deutschlands Straßen (ausführlich bei
tende Funktion wird besonders deutlich, wenn Kraft-      Wagner et al., 2018) und dürften häufige und vermut-
fahrzeugführenden der Führerschein entzogen wird;        lich störende Eingriffe der Steuerungsautomatik im
das resultierende Belastungserleben übersteigt sogar     autonomen Fahrzeug erfordern. Ein geminderter sub-
jenes für Trennung oder Arbeitslosigkeit (Kieschke et    jektiver Fahrkomfort wäre mindestens die Folge, ggf.
al., 2010). All dies dürfte die Euphorie für autonomes   auch Verkehrskonflikte mit Schadenspotenzial, zu-
Fahren erheblich reduzieren, sodass die tatsächliche     mindest bei Berücksichtigung der IT-Systemgrenzen
Nutzung von autonom fahrenden Fahrzeugen noch            sowie der Fehleranfälligkeit der Überwachungs- und
länger hinter dem Marktangebot zurückbleiben dürf-       Steuerungsautomatik.
te. Das Bundesministerium für Verkehr und digitale
14                                                               A. Dix, J. R. Helmert, T. Wagner & S. Pannasch

      Die gegenwärtigen Kompetenzen der IT-Systeme          4    Diskussion und Ausblick
im Erkennen und der Verhaltensprognose von beson-
ders verletzlichen und schützenswerten Menschen,            Aus der Perspektive mitreisender Personen gleicht au-
darunter Kinder, Sehbehinderte und offensichtlich           tonomes Fahren weitgehend der traditionellen Fahr-
Körperbehinderte bzw. von Fußgängern oder Rad-              gastbeförderung mit Taxi, Bus oder Mietlimousine.
fahrern allgemein, stecken noch in den Anfängen.            Allerdings wird beim autonomen Fahren auf einen in
Dadurch sind Konflikte zwischen manuellem und au-           der Fahrgastzelle anwesenden Fahrer verzichtet. Den-
tomatisiertem Fahrbetrieb abzusehen. Überdies setzt         noch muss in beiden Fällen eine sichere Beförderung
die Umsetzung der StVO das einwandfreie Funktio-            der Fahrgäste gewährleistet sein, sodass sich ein Ver-
nieren der Sensortechnik und der programmierten             gleich gesetzlicher Regelungen zur Gewährleistung
Entscheidungslogik voraus. Diese Funktionsweise             dieser übergeordneten Zielvorgabe lohnt. Sofern ein
ist jedoch fehleranfällig, Gründe hierfür bestehen in       gewerblicher Chauffeur die Ersterteilung oder Verlän-
Hardwaremängeln (Fehler in Bauteilen, Verschleiß,           gerung einer Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung
Manipulation, Beschädigung), in der Erkennung si-           anstrebt, müssen besondere Anforderungen hinsicht-
tuativer Kontextbedingungen (z. B. Tages- oder Wan-         lich gesundheitlicher Konstitution, psychofunktionaler
derbaustellen), der zuverlässigen Überwachung von           Leistungsfähigkeit und persönlicher Zuverlässigkeit
Umgebungsbedingungen trotz erschwerter Wahr-                erfüllt sein. Hier sind die Anforderungen deutlich hö-
nehmbarkeit (infolge Witterungsbedingungen, z. B.           her als beim Pkw-Fahrer, der seine Fahrerlaubnis le-
Schnee, Nebel, Regen) bzw. in schadhafter Infrastruk-       diglich für private Zwecke nutzt. In Umsetzung staat-
tur (Schlaglöcher oder unterbrochene Fahrbahnmar-           licher Schutzpflichten gemäß Artikel 2 des Grundge-
kierungen). Bereits heute sind die Prävalenzraten           setzes darf der Fahrgast auf eine sichere und adäquate
für Systemausfälle infolge von Störungen der Senso-         Transportleistung vertrauen (Hentschel et al., 2017).
rik oder der Hardware durchaus markant. Boggs und           Dies soll gewährleistet werden, indem geplant ist, dass
Kollegen (2020) analysierten die Berichte von 36 Un-        die TA über eine Führerscheinklasse verfügen soll, die
ternehmen, die hochautomatisierte Fahrzeuge in Ka-          der von ihr betreuten Fahrzeugart entspricht (AFGBV,
lifornien testen und berichteten 2,72 Systemausfälle        2021, S. 109). Dennoch kann das Konzept der TA – wie
pro 100 gefahrener Kilometer im hochautomatisierten         in den vorigen Kapiteln skizziert – derzeit noch nicht
Modus. Die im Fahrzeug anwesenden Sicherheitsfah-           als hinreichend definiert und „verkehrstauglich“ an-
rer hatten die Defizite in der Systemsteuerung – dar-       gesehen werden. Damit Gefährdungen für mitreisen-
unter nicht-situationsangepasste Fahrmanöver, Pro-          de Personen in autonomen Fahrzeugen weitestgehend
bleme bei der Identifikation von Lichtzeichenanlagen        minimiert werden können, stellen wir nachfolgend
oder verzögerte Informationsverarbeitung durch die          relevante Fragen zur Gestaltung autonomen Fahrens
Sensoren – rechtzeitig erkannt und die Fahrzeugfüh-         bzw. unterbreiten Gestaltungsempfehlungen, damit
rung übernommen. Mutzenich und Kollegen (2021)              die Verkehrssicherheit auch zukünftig ausreichend
weisen darauf hin, dass bei autonom fahrenden Fahr-         gewährleistet ist.
zeugen alle 288 Meilen ein sicherheitskritischer Wahr-
nehmungsfehler der Sensorik auftrete. Auch mit die-         1.   Das Informationsangebot für die TA muss so ge-
sen Herausforderungen wird sich die TA beschäftigen              staltet sein, dass eine umfassende, reliable und
müssen, ggf. indem das Fahrzeug deaktiviert wird.                valide Beurteilung der Entscheidungssituation
      Als Zwischenfazit lässt sich feststellen, dass eine        möglich ist, damit zeitnah ein adäquates menta-
Vielzahl an meldepflichtigen Betriebsstörungen den               les Modell aktiviert bzw. entwickelt werden kann.
Alltag der TA sowohl in quantitativer als auch qualitati-        Dazu könnte die Bildschirmdarstellung der Ver-
ver Hinsicht prägen werden. Infolge des Mischbetriebs            kehrssituation durch markante Hinweise mittels
könnte das Sicherheitsniveau anhaltend Einbußen                  eines „Head-Up-Displays“ ergänzt werden. Zu-
erleiden. Zudem müssen zusätzliche Erschwernisse                 dem sollte eine „Umkreisbeschränkung“ der TA-
einkalkuliert werden, z. B. wenn Betriebsstörungen               Zuständigkeit ebenso erwogen werden wie eine
aufgrund eines Systemfehlers nicht gemeldet wer-                 Ortskundeprüfung für diesen Zuständigkeits-
den oder „falsche Alarme“ die mentalen Ressourcen                bereich, z. B. 30 km um den Einsatzort der TA.
der TA unnötig binden, z. B., weil ein Passagier ohne            Da die Fernsteuerung des Fahrzeugs dem Ope-
Anlass den „Notruf“ auslöst. Solche derzeit noch nicht           rateur in der Leitzentrale die größten Probleme
antizipierbaren Ereignisse dürften die Aufgabenkom-              bereiten dürfte, sollte die Fahrstrecke im „Fern-
plexität und -dichte der TA weiter steigern.                     steuerungsmodus“ begrenzt werden bei vorge-
                                                                 schrieben niedriger Fahrgeschwindigkeit, sofern
                                                                 künftig eine Erweiterung des Aufgaben- und Ver-
                                                                 antwortungsbereichs der TA erwogen würde (vgl.
                                                                 AFGBV, 2021, S. 32). Eine derartige Ausweitung
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