Autonom und unfallfrei - Betrachtungen zur Rolle der Technischen Aufsicht im Kontext des autonomen Fahrens1
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Autonom und unfallfrei – Betrachtungen zur Rolle der Technischen Aufsicht im Kontext des autonomen Fahrens1 Annika Dix*, Jens R. Helmert*, Thomas Wagner** & Sebastian Pannasch* * Technische Universität Dresden, Fakultät Psychologie und Zentrum für taktiles Internet mit Mensch-Maschine- Interaktion (CeTI) ** DEKRA e. V. Dresden, DEKRA Technology Center Klettwitz ZUSAMMENFASSUNG Die Entwicklung des autonomen Fahrens erfährt aktuell große Unterstützung, nicht zuletzt durch einen entsprechenden Gesetzentwurf der Bundesregierung. Der vorliegende Beitrag diskutiert die mit den Entwicklungen zum autonomen Fahren verbundenen Herausforderungen. Im Fokus stehen dabei die zu erwartenden Aufgaben an die Technische Auf- sicht, den Menschen, der in schwierigen Situationen Entscheidungen und Freigaben vornehmen muss. Für diese Aufga- ben werden Aspekte von Gefahrenwahrnehmung sowie Aufgabenkomplexität betrachtet und aus arbeitspsychologischer Perspektive eingeordnet. Diese stärker individuelle Betrachtung wird in den Zusammenhang gestellt mit zu erwarten- den strukturellen Herausforderungen, wie beispielsweise Mischverkehr und technischer Zuverlässigkeit. Der Beitrag schließt mit sieben Empfehlungen in Bezug auf die Gestaltung autonomen Fahrens, deren Erfüllung für die zukünftige Verkehrssicherheit von zentraler Bedeutung erscheinen. Schlüsselwörter Autonomes Fahren – technische Aufsicht – Gefahrenwahrnehmung – Situationsbewusstsein ABSTRACT The development of autonomous driving is currently strongly supported also by a corresponding draft law by the German government. This article discusses the challenges associated with the development of autonomous driving. The present paper focuses on the expected tasks for the remote operator. The remote operator is, according to the draft law, the hu- man being who has to make decisions and approvals in difficult situations. For these tasks, aspects of hazard perception and task complexity are considered from the perspective of occupational psychology. This more individual consideration is placed in the context of expected structural challenges, such as mixed traffic and technical reliability. The article con- cludes with seven recommendations regarding the design of autonomous driving. The implementation of these recom- mendations seems to be of central importance for future road safety. Keywords Autonomous driving– remote operator – hazard perception – situational awareness 1 Der vorliegende Text wurde gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder – EXC 2050/1 – Projektnummer 390696704 – als Exzellenzcluster „Centre for Tactile Internet with Human-in- the-Loop“ (CeTI) der Technischen Universität Dresden. 2021 – innsbruck university press, Innsbruck Journal Psychologie des Alltagshandelns / Psychology of Everyday Activity, Vol. 14 / No. 2, ISSN 1998-9970
6 A. Dix, J. R. Helmert, T. Wagner & S. Pannasch 1 Einleitung gerechnet heute, bei der Abfahrt in den Urlaub, scheint es wie verhext. Erst gab es Stop & Go auf einer der Aus- Aktuell gibt es zahlreiche Diskussionen über die zu- fallstraßen aus der Stadt, und jetzt blockiert eine Tages- künftige Gestaltung von Mobilität. Dabei spielen ne- baustelle die Weiterfahrt. Fahrzeuge können nur durch ben der Sicherheit die Fragen der Bedarfe, der Tech- Überfahren der durchgezogenen Linie passieren. Bei au- nologien und der gesellschaftlichen Trends eine we- tonomen Fahrzeugen kann so etwas nur die technische sentliche Rolle (Weber, 2020). Im Mai 2021 hat die Aufsicht entscheiden.“ Bundesregierung den Gesetzentwurf „zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und des Pflichtversi- Technische Aufsicht? Was verbirgt sich hinter diesem cherungsgesetzes – Gesetz zum autonomen Fahren“ Begriff und wozu benötigt ein selbstfahrendes Auto (BT-Drucks. 19/27439, 2021) vorgelegt, welcher den eine Technische Aufsicht? Derartige Fahrzeuge, wel- Einsatz fahrerloser Kraftfahrzeuge im öffentlichen che mit Hilfe zahlreicher Überwachungssensoren und Straßenverkehr – z. B. sogenannter People-Mover (au- künstlicher Intelligenz selbständig fahren, können tomatisierte Personentransportsysteme) – ermöglicht. in Situationen geraten, in denen Algorithmen keine Der Gesetzentwurf wird ergänzt durch Ausführungs- selbständige Entscheidung treffen können. Genau vorschriften, die sich derzeit noch im Status eines für diese Situationen steht ein Mensch als Technische Referentenentwurfs im Bearbeitungsstand befinden, Aufsicht (TA) bereit: Benötigt ein selbstfahrendes Auto und angedachte Festlegungen zu Verfahrensregelun- Beistand bei einer Entscheidung, beispielsweise wenn gen über die Erteilung von Betriebserlaubnissen für ein Ausweichmanöver ein kurzfristiges Übertreten ei- Kraftfahrzeuge mit autonomer Fahrfunktion, über die ner Straßenverkehrsregel erfordert (z. B. Überfahren Genehmigung von festgelegten Betriebsbereichen so- einer durchgezogenen Linie), wird die Freigabe ei- wie zu Anforderungen und Sorgfaltsvorschriften für nes solchen Fahrmanövers durch die TA erforderlich, die am Betrieb von Kraftfahrzeugen mit autonomer die dadurch die strategische Kontrolle sensu Michon Fahrfunktion beteiligten Personen enthalten (Referen- (1986) über das Fahrzeug übernimmt. Daneben ver- tenentwurf „Autonome Fahrzeug-Genehmigungs- und pflichtet die Novelle des Straßenverkehrsgesetzes die Betriebsverordnung“ AFGBV, 2021). TA zur Deaktivierung des Kraftfahrzeugs mit autono- Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die mer Fahrfunktion, sofern das Fahrzeug nicht in der Darstellung und Bewertung verschiedenster Heraus- Lage ist, die Fahraufgabe selbstständig zu bewältigen forderungen, die mit den aktuellen Bestrebungen im (BT-Drucks. 19/27439, 2021, S. 9). Außerdem kann die Kontext des autonomen Fahrens verbunden sind. Be- TA alternative Fahrmanöver vorschlagen. Hinter dem ginnen wir dazu mit einem Blick in die Zukunft, der Begriff der TA verbirgt sich also ein menschlicher Ent- uns zu folgendem Szenario führen könnte: scheider, der Zugriff auf die sensorischen Informatio- „Die Koffer sind gepackt, die Freude auf den Urlaub ist nen des Fahrzeugs bekommen und in der Situation groß und die Fahrt zum Flughafen ist gebucht. Mit ei- eine Entscheidung fällen kann, um die Schwierigkei- nem autonomen Fahrzeug kann sich die ganze Familie ten aufzulösen und eine Weiterfahrt zu ermöglichen. einfach und bequem zum gewünschten Zielort bringen Ein Eingriff der Passagiere ist unter keinen Umstän- lassen. Damit beginnt der Urlaub bereits jetzt. Da, eine den vorgesehen. So stellt es sich auch in unserem Sze- Nachricht auf dem Handy, es kann losgehen.“ nario dar. „Die Weiterfahrt verzögert sich um wenige Augenblicke, So in etwa könnte eine Werbung für die Nutzung eines wir bitten um Ihr Verständnis – erklingt eine Stimme autonomen Fahrzeugs mit dem höchsten Automatisie- aus dem Off. Neugierig schauen wir aus dem Fenster, rungsgrad bei Fahrzeugen gestaltet sein. Dies wäre um die Ursache für den überraschenden Zwischenstopp ein Fahrzeug, welches unter allen Fahr- und Umge- ausfindig zu machen.“ bungsbedingungen vollständig automatisiert geführt ist. Im Fahrzeug selbst gibt es keinerlei Möglichkeiten In diesem Moment fragen sich nicht nur die Passagie- zur Steuerung und Bedienung. Es handelt sich also um re, was wohl die Fahrt behindert. Auch die TA muss ein Auto ohne Lenkrad, bei dem ein Eingriff durch die sich einen Überblick über die Situation verschaffen. Fahrgäste weder vorgesehen noch möglich ist. Gemäß An dieser Stelle ergeben sich gleich mehrere Problem- der nationalen und internationalen Einteilung wäre felder für die Einführung autonomer Fahrfunktionen dies ein Fahrzeug mit einer Automatisierung ab Stufe auf Deutschlands Straßen. 4 (Society of Automotive Engineers - SAE, 2021). Aus kognitionspsychologischer Perspektive lässt sich das Führen eines Fahrzeuges als Aufgabenbe- Wie ist es inzwischen der Familie aus dem obigen Sze- arbeitung auf verschiedenen hierarchischen Stufen nario ergangen? darstellen (vgl. Rasmussen, 1983; Michon, 1986). Ob- „Die Strecke zum Flughafen ist kurz und lässt sich bei wohl die Anforderungen durch die Fahraufgabe mit guter Verkehrslage in ca. 20 min. bewältigen. Aber aus- steigender Fahrerfahrung sinken, spielen regel- und
Autonom und unfallfrei 7 wissensbasierte Prozesse stets eine wesentliche Rolle. 2 Tätigkeitsfeld der TA Die Gefahrenvermeidung und Vorbeugung unfallur- sächlichen Fehlverhaltens setzt somit eine nicht unbe- Die TA befindet sich nicht im Fahrzeug, sondern sehr deutende kognitive und psychomotorische Kompetenz wahrscheinlich in einer büroähnlichen Umgebung, des Fahrers voraus. So ist es auch nicht verwunder- z. B. einer Leitstelle, die vom Halter des Fahrzeugs lich, dass 93,5 % der Unfallursachen auf menschliches bereitgestellt wird (vgl. AFGBV, 2021, S. 107 f.), und Fehlverhalten zurückzuführen sind, wie die GIDAS- reagiert auf Betriebsstörungen, die das Fahrzeug mel- Datenbank (German In-Depth Accident Study, https:// det. Vermutlich wird eine TA meist mit einfachen Teil- www.gidas.org) ausweist. In der GIDAS-Datenbank problemen konfrontiert, die sie zunächst identifiziert, werden, auf Initiative der Bundesanstalt für Straßen- bevor entschieden und gehandelt wird. Ist beispiels- wesen (BASt) und der Forschungsvereinigung Auto- weise die Fahrspur versperrt, kann die TA die Freigabe mobiltechnik (FAT), seit 1973 Verkehrsunfälle gesam- zum Überfahren einer durchgezogenen Linie erteilen, melt und ausgewertet. damit das Hindernis passiert werden kann. Meldet die Ein möglicher Lösungsansatz, das Problem Abstandsmessung bei Regen häufige Fehlalarme für menschlichen Fehlverhaltens zu reduzieren, besteht Hindernisse, kann die Empfindlichkeit der Sensorik in der Automatisierung einzelner Fahraufgaben bzw. angepasst werden. Fraglich ist allerdings auf Basis in der autonomen Fahrzeugführung. Aus psycholo- welcher Informationen die TA entscheidet und woher gischer Perspektive bedeutet diese Automatisierung, sie weiß, dass ein Hindernis sicher über die Gegenspur speziell für den Aufgabenbereich der TA, allerdings passiert werden kann oder die Sensorik Fehlalarme eine grundlegende Veränderung unseres bisherigen produziert und kein Stau vorliegt, der regelmäßiges Verständnisses von Verantwortung und Kontrolle im Abbremsen verlangt. Straßenverkehr. So wichtig Innovation und Fortschritt Bislang ist das Tätigkeitsfeld der TA nur unzurei- im Bereich des Straßenverkehrs auch sein mögen, chend beschrieben, auch der aktuelle Gesetzentwurf zum aktuellen Zeitpunkt ist kaum abzusehen, ob die der Bundesregierung liefert dazu keine konkreten Einführung von selbstfahrenden Fahrzeugen wirklich Aussagen. Die nachfolgende Beschreibung klingt eher zur vielfach versprochenen Senkung der Unfallrate nach Science-Fiction, repräsentiert aber ein Szenario führen wird. Hierfür müssen für autonome Fahrzeuge mit optimalen Voraussetzungen, welches durch eine folgende Voraussetzungen zur Gefahrenabwehr erfüllt TA möglicherweise gelöst werden könnte. Wir wollen sein (vgl. Haupt, 2021): (i) sie weisen keine erhöhte deshalb für dieses Szenario Faktoren identifizieren, Fehleranfälligkeit im Vergleich zu konventionellen die den Erfolg einer TA maßgeblich mitbestimmen, Fahrzeugen auf, (ii) sie reagieren ebenso zuverläs- aber in der aktuellen Gesetzesvorlage bisher keine ex- sig auf widrige Straßenverhältnisse wie menschliche plizite Berücksichtigung erfahren. Fahrer, und (iii) sie kommunizieren mit schwächeren Verkehrsteilnehmern (z. B. Fußgänger, Kinder, Rad- „Auf dem Bildschirm über dem Kontrollpanel im Auf- fahrer). Die Erfüllung dieser Voraussetzungen wird sichtsraum des Control Centers for Automated Road zumindest in der Rechtswissenschaft eher zurückhal- Transport (CART) erscheint ein Warnhinweis: FZ- tend beurteilt (Haupt, 2021). Darüber hinaus bestehen 372E Fahrspur versperrt – Fahrt unterbrochen. große Bedenken, wie der Arbeitsplatz einer TA gestal- Darunter steht: Achtung, durchgehende Fahrbahn- tet wird. begrenzung. Zusätzlich zeigt ein rot leuchtender Kon- Der vorliegende Artikel setzt sich daher mit fol- trollschalter eine Handlungsaufforderung an. Die TA genden Punkten auseinander: In Kapitel 2 Tätigkeits- bestätigt mit dem Schalter die Übernahme, drückt eine feld der TA stehen die Herausforderungen zukünfti- weitere Taste auf dem Kontrollpanel und mehrere Ka- ger TAs im Mittelpunkt. Dabei betrachten wir neben meraansichten auf die Umgebung von Fahrzeug FZ- allgemeinen arbeitspsychologischen Perspektiven 372E erscheinen auf dem Bildschirm. Die Frontkamera auch die spezifische Verlagerung des Kontroll- und liefert Bilder von einigen vorausfahrenden Fahrzeugen Überwachungsdilemmas vom Fahrer zur TA. Kapi- und einer Baustellenabsperrung. Es zeigt sich, dass die tel 3 Strukturelle Herausforderungen beschäftigt sich vorausfahrenden Fahrzeuge über die durchgezogene mit der prinzipiellen Einbettung autonomen Fahrens Begrenzungslinie auf die Gegenspur fahren, um die in den Kontext von Mobilität. Dazu zählen neben der Baustelle zu umfahren. Die Darstellung der Heckkame- Organisation von Mischverkehr auch Fragen von Ver- ra lässt erkennen, dass sich hinter dem Fahrzeug FZ- antwortung, Schuld und Haftung. Im abschließenden 372E eine Warteschlange gebildet hat, deren Ende die Kapitel 4 Diskussion und Ausblick werden die zentra- TA nicht sehen kann. Es gibt keinen Hinweis darauf, len Gedanken noch einmal integriert. wann die Baustellendurchfahrt für den Gegenverkehr frei gegeben wird. Da der Abstand zum vorausfahren- den Fahrzeug nicht allzu groß scheint, entscheidet sich die TA im Auswahlmenü links für die Option Spuren-
8 A. Dix, J. R. Helmert, T. Wagner & S. Pannasch wechsel trotz Fahrbahnbegrenzung und gibt durch mehr in aktuelle Prozesse involviert) Phänomen füh- einen weiteren Tastendruck die Fahrt wieder frei.“ ren (vgl. Merat et al., 2019). Während ein steuernder Fahrer im Fahrzeug fortlaufend Informationen zum Im beschriebenen Szenario liefern Kamerabilder der Verkehrsgeschehen bekommt und verarbeitet, wird TA die Informationen zum Verkehrsgeschehen. Auf eine TA sehr plötzlich mit einem Problem konfrontiert. dieser Basis muss sie die Situation beurteilen und eine Dies erfolgt in der Funktion eines passiven Beobach- Entscheidung treffen. Im geschilderten Beispiel ist ters mit selektivem Informationsangebot, welches sich das Fahrzeug zuvor zum Stehen gekommen, befindet quantitativ, qualitativ und in der zeitlich-dynamischen sich also im gesicherten Stillstand. Außerdem wird der Entwicklung stark von dem eines aktiven Kraftfahrers TA, so wie im Gesetzentwurf vorgesehen, mindestens unterscheidet. Die TA wird sich vermutlich an relativ ein Fahrmanöver vorgeschlagen. Dies bedeutet, dass abstrakten Parametern orientieren und muss auf feh- basierend auf den vom System über die Situation be- lende Informationen und Ereignisse schließen. Dies reitgestellten Informationen der TA ein anforderungs- macht die Informationsverarbeitung der TA fehler- gerechtes Handeln ermöglicht werden muss. In den anfällig, was der Gesetzgeber offensichtlich bereits nachfolgenden Kapiteln stellen wir die kognitions- einkalkuliert hat, da für die TA eine Haftpflichtversi- psychologischen Grundlagen für ein solches Handeln cherung verlangt wird, wobei die Haftungsgrenzen bei dar, speziell im Kontext von verzögertem Situationsbe- autonomen Fahrzeugen im Fall von Personenschäden wusstsein (2.1) und variierender Aufgabenkomplexität bei zehn Millionen Euro liegen sollen und bei Sach- (2.2). Abschließend folgt eine arbeitspsychologische schäden mit zwei Millionen Euro veranschlagt wer- Bewertung des Tätigkeitsfeldes der TA (2.3). den (Haupt, 2021). Diese Haftungsgrenzen entspre- chen dem Doppelten der Grenzen bei konventionellen 2.1 Gefahrenwahrnehmung und Situationsbe- Fahrzeugen. wusstsein beim automatisierten Fahren Fehleinschätzungen der TA können z. B. die Fahrgeschwindigkeit betreffen. Die Beurteilung der Die Wahrnehmung von Gefahren erfordert die Erken- Geschwindigkeit anderer Fahrzeuge aus dem Ge- nung der relevanten Informationen einer Situation, ein genverkehr durch Kraftfahrzeugführer „in-the-loop“ Verständnis über die vorliegenden Schwierigkeiten schwankt selbst unter experimentellen Bedingungen und die Ableitung möglicher Handlungsoptionen. Ge- ganz erheblich und variiert zwischen 50 % Unter- mäß dieser Betrachtung ist Situationsbewusstsein (SB) schätzung und 13 % Überschätzung (Meyer-Gramcko, die Grundlage für Gefahrenwahrnehmung. Die Defini- 1980). Je nachdem, ob der Beobachter eine Entfer- tion nach Endsley (1995) unterscheidet drei Stufen von nungsschätzung aus der Fahrgastzelle eines Pkw oder SB: (1) Wahrnehmen (2) Verstehen und (3) Projizieren. daneben auf einem Stuhl (vergleichbar der Situation Entsprechend muss eine TA beispielsweise die Position einer TA in einer Leitstelle) vornimmt, differieren die und Dynamik eines Hindernisses sowie die des über- Schätzungen um bis zu 29 %, selbst wenn alle son- wachten Fahrzeugs und anderer Fahrzeuge zunächst stigen experimentellen Randbedingungen konstant wahrnehmen können. Aus der Bedeutsamkeit einzel- gehalten werden (Moeller et al., 2016). Eine derartig ner Elemente im Gesamtkontext resultiert das Verste- fehlerhafte Nutzung von Informationen, d. h. Orien- hen der Situation, etwa der versperrten Fahrspur, die tierungsfehler oder Fehleinschätzungen (z. B. des trotz durchgezogener Linie verlassen werden muss. Abstands oder der Geschwindigkeit), sind jedoch un- Daran anschließend erfolgt das Projizieren zukünftiger fallkausale Ursachen, wie Staubach (2009) bei einer Handlungen (z. B. die Identifikation auftauchenden Tiefenanalyse von 474 Unfällen feststellte. Die Autorin Gegenverkehrs als Gefahrenquelle) und die Vorhersa- übertrug das Fehlerklassifikationsmodell der mensch- ge der Konsequenzen. Eine aktive Aufgabenbearbei- lichen Informationsverarbeitung von Hacker (1998) tung bildet die Voraussetzung für ein angemessenes auf den Kontext Autofahren und fand zudem, dass SB; gleichzeitig ist ausreichendes SB eine notwendige Fehler, die aufgrund eines objektiven Mangels an In- Bedingung für anforderungsgerechtes Entscheiden formationen entstehen, z. B. in Form von Sichtbehin- und angemessenes Handeln. Eine Beeinträchtigung derungen durch Gebäude, Fahrzeuge oder durch die des SB kann durch die Entkopplung von der Aufgabe Witterung, ebenfalls die Unfallgefahr erhöhen (Stau- entstehen, beispielsweise durch die Automatisierung bach, 2009). von (Teil-)Aufgaben. Anders ausgedrückt kann von den Diese Beispiele verdeutlichen, dass Verständ- Passagieren im autonomen Fahrzeug keine SB erwar- nis und Interpretation objektiver Bedingungen einer tet werden, da sie – ähnlich wie Passagiere in einem Fahraufgabe ganz wesentlich von der aktuellen Wahr- Taxi – dem Geschehen im Straßenverkehr vermutlich nehmung, dem Feedback während der Verhaltens- nur wenig Aufmerksamkeit widmen. ausführung sowie von Erfahrungen und Erwartungen Eine derartige Entkopplung von der Aufgabe des Fahrers abhängen. Diese Einflussfaktoren bilden kann zum Out-of-the-Loop (aus der Schleife, nicht die Grundlage für das Mensch-Maschine-Umwelt-Sy-
Autonom und unfallfrei 9 stemverständnis, wobei inkorrekte, undifferenzierte soll, soweit gewisse technische Anforderungen noch und lückenhafte Repräsentationen die Handlungsre- nicht überprüfbar sind, diesbezüglich für eine Über- gulation beeinträchtigen; darauf hingewiesen haben gangszeit die Herstellererklärung nach § 1f Absatz 3 bereits Müller et al. (2018) im Zusammenhang mit genügen.“ (BT-Drucks. 19/27439, 2021, S. 24). Durch automatisierter Fahrfunktion auf Stufe 3. Im Vergleich Beilegen dieser zum Betriebshandbuch wird „den Nut- zu automatisiertem Fahren der Stufe 3 verschärft sich zerinnen und Nutzern entsprechender Fahrzeuge so- die Illusion der Wahrnehmungsbereitschaft beim au- mit ein vertrauensstiftender Nachweis zur Sicherheit tonomen Fahren mit einer TA aufgrund der räumli- dieser neuen Mobilitätsform gegeben“. Für die Her- chen Entkoppelung von der eigentlichen Fahraufgabe. stellererklärung sieht das Bundesministerium für Ver- Umso wichtiger ist die Identifikation der möglichen kehr und digitale Infrastruktur gemäß der AFGBV vor, Problemstellungen, mit denen eine TA konfrontiert dass in einem Sicherheitskonzept „relevante gefährli- werden wird, sowie eine Prüfung auf deren Lösbar- che Szenarien und Ereignisse identifiziert und in einer keit. Die Aufgaben einer TA sollten entsprechend vor Risikoanalyse bewertet werden“ (AFGBV, 2021, S. 46). der Einführung autonomer Fahrzeuge im Straßenver- Die Vollständigkeit des Szenarienkatalogs muss der kehr definiert werden. Hersteller durch entsprechende Validierungsfahrten Studien zu SB bei Übernahmesituationen durch belegen. Es bleibt also auch für Hersteller zu hoffen, Fahrer im automatisierten Fahrzeug zeigen insgesamt dass die Komplexität des Straßenverkehrs tatsächlich eine deutliche Verzögerung (Mok et al., 2017). Wäh- in diesem Katalog möglichst umfangreich abgebildet rend SB auf Stufe 1 (wahrnehmen) noch vergleichs- werden kann. weise schnell aufgebaut werden kann (5-8 s), liegt die Neben der Problematik des verzögerten SB und Dauer auf Stufe 2, gerade wenn es darum geht das Ver- dessen Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit halten anderer Verkehrsteilnehmer zu verstehen, be- einer TA, bleibt ebenfalls unklar, inwiefern durch reits bei über 20 s (Lu et al., 2017). Diese Zahlen sind den Gesetzgeber eine gleichzeitige Überwachung beachtenswert. Bis die TA in der obigen Beispielsitua- und/oder Unterstützung mehrerer Fahrzeuge durch tion das Fahrgeschehen in der Gegenspur verstanden eine TA erlaubt bzw. vorgesehen ist. Die Zuordnung hat und das Alternativmanöver freigeben kann, hat mehrerer Fahrzeuge zu einer TA ist aus Unterneh- sich aus der ohnehin schon angespannten Stop & Go merperspektive naheliegend, zumal die TA nicht zur Situation der Anfang eines Staus entwickelt. Durch je- ständigen Überwachung eines im autonomen Betrieb des weitere autonome Fahrzeug, das nachfolgt und bei befindlichen Fahrzeuges verpflichtet sein soll (BT- dem die Freigabe durch eine TA erteilt werden muss, Drucks. 19/27439, 2021, S. 8). Hierbei gilt zu berück- würde sich diese Situation weiter verschärfen und ver- sichtigen, dass im Fall einer Beeinträchtigung des au- mutlich bei konventionellen Fahrzeugführern einen tonomen Fahrzeugs und Handlungsaufforderung an gefährlichen „Überholdruck“ fördern. die TA der Aufbau von SB neben Zeit auch kognitive Tatsächlich wurde in Studien für einen Remote Ressourcen erfordert. Dies kann zur Reduktion der Operator, also einen Fahrzeugführer außerhalb des Arbeitsleistung für andere Aufgaben führen. So in- Fahrzeuges analog zur TA, in Abhängigkeit vom Pro- vestierten beispielsweise in einer Usability-Studie zu blem sogar ein verzögertes SB von 29 s bis über 162 s Such- und Rettungsrobotern die Remote Operators bei festgestellt (Scholtz et al., 2004). Zum Vergleich: In der Robotersteuerung 30 % ihrer Zeit ausschließlich 162 s legt ein Auto, das mit einer Geschwindigkeit von in das Erlangen und Aufrechterhalten von SB (Yanco & 30 km/h fährt, eine Strecke von 1,35 km zurück, bei Drury, 2004). Folglich sind Regelungen notwendig, wie 120 km/h sogar 5,4 km und im Stand auf einer zweispu- die (nicht ständige) Überwachung weiterer Fahrzeuge rigen Autobahn lassen sich in dieser Zeit weit über 200 im Fall einer Übernahmesituation erfolgen soll. Eine vorbeifahrende Autos registrieren. Diese Tatsachen il- potenzielle Überforderung der TA wird im Allgemei- lustrieren die Dynamik von Verkehrssituationen, wel- nen vor allem von der Aufgabenart bestimmt sein. Im che die TA bei ihrer Entscheidung berücksichtigen Folgenden werden denkbare Aufgaben einer TA und muss. Entsprechend sieht der Gesetzentwurf auch vor, die Rolle der Aufgabenkomplexität näher betrachtet. dass die technische Ausrüstung entsprechende Hand- lungsaufforderungen mit „ausreichender Zeitreserve“ 2.2 Aufgabenkomplexität und Verantwortungsbe- „optisch, akustisch oder sonst wahrnehmbar“ anzei- reiche im Tätigkeitsfeld der TA gen kann (BT-Drucks. 19/27439, 2021, S. 8). Auf wel- cher Basis die technische Ausrüstung zu einer entspre- Der Gesetzentwurf zum autonomen Fahren lässt of- chenden Einschätzung kommt, wird nicht spezifiziert. fen, welche Verantwortlichkeiten einer TA zugewiesen Insofern scheint der Umgang des Gesetzgebers mit ak- werden, also welche Aufgaben konkret übernommen tuell nicht prüfbaren technischen Anforderungen frag- werden sollen und damit auch mit welcher Aufgaben- lich: „Um die Triebkraft des automatisierten, autono- komplexität eine TA konfrontiert sein wird. Mögliche men und vernetzten Fahrens nicht zu verlangsamen, Vorkommnisse wie das Überfahren von Ampeln auf
10 A. Dix, J. R. Helmert, T. Wagner & S. Pannasch Dauer-Rot werden im Gesetzentwurf dargestellt. Zu- über einen längeren Zeitraum gegen straßenverkehrs- dem ist geregelt, dass Fahrzeuge ihre Systemgrenzen rechtliche Regeln verstoßen. Es ist anzunehmen, dass kennen und in der Lage sind, sich „selbständig in ei- nicht jede technische Ausrüstung diese Aufgabe erfül- nen risikominimalen Zustand zu versetzen, wenn die len kann. In diesem Fall schließt das „die Zulässigkeit Fortsetzung der Fahrt nur durch eine Verletzung des der Nutzung autonomer Fahrfunktionen nicht aus“, da Straßenverkehrsrechts möglich wäre“ (BT-Drucks. diese „auch dann zulässig ist, wenn sie innerhalb des 19/27439, 2021, S. 8). Das sind die Momente, in denen festgelegten Betriebsbereichs die an die Fahrzeugfüh- die TA ins Spiel kommt. „Der Begriff „Systemgrenzen“ rung gerichteten Verkehrsvorschriften erfüllen kön- ist nicht näher definiert“ und „bewusst technikoffen nen“ (BT-Drucks. 19/27439, 2021, S. 21). Sollte sich das gehalten“ (BT-Drucks. 19/27439, 2021, S. 23). Die autonome Fahrzeug also in einer solch unerwarteten Grenze der Leistungsfähigkeit eines Fahrzeuges kann Situation selbst deaktivieren? Oder hätte es gar nicht allerdings je nach Hersteller variieren. Mit dieser eingesetzt werden dürfen? Wie können geeignete Be- Offenheit bestätigt der Entwurf ein weiteres Mal die triebsbereiche identifiziert werden, für die keine uner- Ironien der Automatisierung (Bainbridge, 1983): Das warteten Situationen auftreten? Ist das Fahrzeug erst Machbare wird automatisiert, übrig bleiben Aufgaben- einmal in die Baustellendurchfahrt eingefahren, ist teile mit zu hoher Komplexität, die fortan von der TA Stehenbleiben zumindest keine geeignete Lösung. All- erfüllt werden müssen. Das grundlegende Problem gemeiner formuliert sind zum jetzigen und letztlich zu hinter der Vision von weniger Verkehrsunfällen durch keinem Zeitpunkt alle Situationen vorher beschreib- autonomes Fahren bleibt somit bestehen und wird ad bar – es wird immer eine Restmenge an unerwarteten absurdum geführt. Die Ursachen für Unfälle verschie- Situationen geben. ben sich vom menschlichen Versagen des Fahrers im In den USA ist es möglich einem Remote Operator Auto zum menschlichen Versagen des Designers. Die- die Fernsteuerung eines Fahrzeuges (im Sinne einer ses Versagen soll durch den Einsatz einer weiteren Teleoperation) zu erlauben (Mutzenich et al., 2021). Person, der TA, ausgeglichen werden, die wiederum Sollte also die TA das Fahrzeug durch besagten Strec- neuen Fehlerquellen ausgesetzt ist (Merat & Louw, kenabschnitt der Baustelle steuern können? Dies ist 2020). im deutschen Gesetzentwurf derzeit noch nicht vorge- Aufgrund der zu erwartenden Bandbreite an sehen und würde tatsächlich weit höhere Anforderun- Technologien des autonomen Fahrens mit entspre- gen an die Ausbildung der TA und die technischen Lö- chend variierenden „Systemgrenzen“, sowie der Kom- sungen stellen. Derzeit scheint beabsichtigt, dass bei plexität des Straßenverkehrs, ist von einer hohen He- Erreichen der Betriebsgrenzen das Fahrzeug in den terogenität hinsichtlich der Anforderungen an eine risikominimalen Zustand versetzt und die Fahrt durch TA auszugehen. Es stellt sich somit die Frage, wer in manuelle Steuerung durch einen Fahrer im Fahrzeug welcher Situation welche Verantwortlichkeit über- oder außerhalb im Nahfeld des Fahrzeuges (maxi- nehmen kann und sollte (vgl. auch Graewe, 2021). In male Distanz: 6 m) fortgesetzt wird (AFGBV, 2021, S. Abhängigkeit von der jeweils an eine TA übergebenen 32 & 51). Für den Halter, beispielsweise Betreiber im Verantwortlichkeit können sich verschiedene Anfor- ÖPNV, resultiert daraus, dass zunächst ein höherer derungen an die vorauszusetzenden Fähigkeiten erge- Personalkostenaufwand zu kalkulieren ist. Probleme ben. Beispielsweise ist das Erkennen und Umfahren einer Teleoperation über größere Distanzen wären von Hindernissen eine Tätigkeit, die in der Regel nur vor allem die eingeschränkten Informationen und die auf dem Automatisierungslevel Null – in diesem Fall Latenz zwischen Handlung und Rückmeldungen für vom Fahrer im Auto – übernommen werden muss und die TA. Durch das reduzierte SB verlängert sich be- einen Führerschein voraussetzt. Kann diese Tätigkeit reits für Übernahmesituationen im Fahrzeug die Re- auch an eine TA übergeben werden? Diese soll laut aktionsgeschwindigkeit von 1 auf über 3 s (Eriksson AFGBV über eine entsprechende Fahrerlaubnis der & Stanton, 2017). Bei einer Fahrzeuggeschwindigkeit jeweiligen Fahrzeugklasse verfügen (AFGBV, 2021, S. von 30 km/h bedeutet das im Fall von plötzlich auf- 55). Also alles kein Problem oder sollte die TA weitere tretenden Hindernissen einen ungebremsten Fahrweg Voraussetzungen erfüllen? Und für welche Situationen von 25 m bis zur tatsächlichen Initiierung der Brem- könnten diese Überlegungen relevant werden? sung. Eine Übernahme muss entsprechend vorbereitet Nehmen wir an, die Tagesbaustelle im genannten werden und selbst dann ergeben sich für die TA außer- Szenario führt streckenweise nicht über die Gegen- halb des Fahrzeugs im Aufsichtsraum des Kontrollzen- fahrbahn, sondern über einen Fahrstreifen, der sich trums noch zusätzliche Herausforderungen. genau zwischen der Fahrzeug- und der Gegenspur be- Systemverzögerungen bei der Übermittlung findet, es muss also auf der durchgezogenen Begren- der Sensordaten zur TA und der Durchführung von zungslinie gefahren werden. Diese Situation wirkt zu- Steuerungsbefehlen durch das Fahrzeug können das nächst nicht gefährlicher als die Situation, die unsere Kontrollempfinden und die Steuerungsleistung mas- TA aufgelöst hat. Allerdings muss das Fahrzeug nun siv beeinträchtigen (Neumeier et al., 2019). Im Luft-
Autonom und unfallfrei 11 verkehr werden für zeitkritische Szenarien, die eine Die in vielen Aspekten reduzierten Informatio- präzise Steuerung des Flugzeuges erfordern, Verzöge- nen, die einer TA bereitgestellt werden können, ber- rungen von insgesamt maximal 100 ms als annehmbar gen zudem das Risiko eines fehlenden Embodiments betrachtet (Bailey et al., 2004). Bei über 240 ms kann (UNECE, 2020), d. h. die TA wird die Bedeutung ih- die Kontrolle des Flugzeuges nicht mehr gewährlei- rer Handlungen ähnlich wie in einem Computerspiel stet werden. Eine derart schnelle Informationsüber- nicht fühlen können (Mutzenich et al., 2021). Dies tragung – gerade bei der zu erwartenden Komplexi- kann mit einem reduzierten Verantwortungsgefühl tät an erforderlichen sensorischen Daten – setzt eine einhergehen, vor allem aber zu Missverständnissen entsprechende und störungsfreie Infrastruktur voraus, durch Fehleinschätzung der Bedeutung einzelner In- beispielsweise schnelle und sichere Netzwerke auch formationen führen. Beispielsweise wird Bewegungs- in ländlichen Gebieten. Um die TA mit allen für die wahrnehmung durch die Limitierung auf durch Ka- sichere Fernsteuerung relevanten Informationen in meras erfasste visuelle Informationen kombiniert mit einem zeitlich angemessenen Rahmen versorgen zu abstrakten Parametern wie Geschwindigkeitsangaben können, ist zudem ein umfangreiches Wissen über die bedeutsam erschwert. Auch kann eine fehlende Rück- Prinzipien der menschlichen Wahrnehmung und des meldung über akustische Informationen aus der Um- zielgerichteten Verhaltens in der Mensch-Maschine welt – ähnlich wie bei zu lauter Musik für einen Fahrer Interaktion – also einem Kontext, der hinsichtlich der im Fahrzeug – zum Übersehen relevanter Informatio- üblicherweise in unserer Umwelt vorliegenden Infor- nen führen (vgl. z. B. Dalton & Behm, 2007) mationen abweicht – erforderlich. Hier besteht derzeit Einige Probleme, die sich durch die abweichende noch großer Forschungsbedarf. Wahrnehmung der TA ergeben, lassen sich vermutlich Inwieweit beispielsweise die bisher verfügbaren durch die Unterstützung mittels automatisierter Fahr- technischen Lösungen den dynamischen Prozess der funktionen, also eine Teilautomatisierung, beheben. menschlichen Gefahrenwahrnehmung und -vermei- So kann eine Kollisionsvermeidung bei eingeschränk- dung auf allen Entfernungsstufen, Fahrersichtachsen ter Wahrnehmung auch technisch umgesetzt werden, und damit verknüpften Fixationsverläufen adäquat si- allerdings sind dafür entsprechende Richtlinien erfor- mulieren können, ist bislang nicht belegt. Pradhan und derlich. Zudem antizipieren wir für die Durchführung Crundall (2016) integrierten neuere Erkenntnisse zur bestimmter Manöver speziell ausgebildete Fachkräfte experimentellen Gefahrenwahrnehmungsforschung wie im Flugverkehr, d. h. eine Art Spezialeinsatzgrup- in das SB-Modell von Endsley (1995) und schlagen pe für Notfälle bzw. Hochrisikosituationen. Es gibt verschiedene, dynamisch aufeinanderfolgende Verar- verschiedene Ansätze der TA den Umgang mit solchen beitungsstufen in Abhängigkeit von der Entfernung Situationen zu erleichtern bzw. überhaupt zu ermög- und den Raumwahrnehmungsbereichen des Fahrers lichen. Wir wollen unser Szenario fortsetzen und ein vor. In einer Aufmerksamkeitszone („vigilance zone“), fiktives Notfallmanagement einführen, welches die z. B. mehrere hundert Meter vor dem Fahrzeug, tau- Notwendigkeit für eine genaue Anforderungsanalyse chen erwartungsinkongruente Vorboten einer Gefahr des Tätigkeitsfeldes der TA und für die entsprechende am Fluchtpunkt auf. Diese sind noch zu weit weg, um Festsetzung vorauszusetzender Qualifikationen noch Gefahrenhinweise extrahieren zu können, erhöhen je- einmal veranschaulichen soll. Nach dieser Darstel- doch die Aufmerksamkeit des Fahrers und werden für lung erfolgt eine zusammenfassende Bewertung des nachfolgende Prüfungen „vorgemerkt“. Im näheren Tätigkeitsfeldes der TA. Orientierungsbereich („strategic zone“) werden Hin- weise auf Gefahrenreize fixiert, gewichtet und deren 2.3 Arbeitspsychologische Bewertung des Tätig- Verlauf antizipiert. Möglicherweise erfolgt eine erste keitsfeldes der TA Gegenreaktion, z. B. Verringerung der Geschwindig- keit oder ein Fahrstreifenwechsel als Schutzmaßnah- Schauen wir uns also das Ende unseres Szenarios für me gegen die potentielle Gefährdung. Auf der näch- die TA bzw. die Mitarbeiter des Notfallmanagements sten Wahrnehmungsstufe („tactical zone“) wird der an, wobei anzumerken ist, dass die Art der Arbeits- Gefahrenreiz umfassend verarbeitet und es erfolgt teilung zwischen beiden Funktionen bislang durch eine Reaktionsauswahl. In dem am nächsten liegen- den Gesetzentwurf nicht berührt wird (BT-Drucks. de Raumwahrnehmungsbereich („operational zone“) 19/27439, 2021). wird nur noch reagiert und der Unfall vermieden oder es kommt zur Kollision. Wenn der TA nur ausgewählte „Der Mitarbeiter des Notfallmanagements hatte sich ge- Ausschnitte dieser zusammenhängenden und dynami- rade im Stuhl zurückgelehnt, als der Alarm eingeht. Der schen Verkehrssituation auf unterschiedlichen Bild- Bildschirmhintergrund verschwindet und der Mitarbei- schirmen präsentiert werden, besteht das Risiko, dass ter befindet sich inmitten einer dicht befahrenen Bau- sicherheitsrelevante Hinweise zu spät oder gar nicht stellendurchfahrt auf dem Zubringer zu einem Flugha- erkannt werden. fengelände. Das Fahrzeug, das sich gerade deaktiviert
12 A. Dix, J. R. Helmert, T. Wagner & S. Pannasch hat, scheint zu stehen mit leichter Orientierung Richtung lastung der Arbeitenden, heutzutage vor allem im rechter Baustellenbegrenzung. Der Virtual-Reality Bild- Hinblick auf mentale Belastung. Mentale Unterfor- schirm zeigt die Perspektive des Fahrers aus dem Fahr- derung kann aber langfristig ebenso zu gesundheit- zeug. Im unteren Bereich des Sichtfeldes ist im Vorder- lichen Problemen führen wie Überlastung (Shultz et grund ein Warnhinweis zu sehen: FZ-372E Weiterfahrt al., 2010). Hancock und Warm (1989) beschreiben nicht möglich. Darunter leuchtet in roten Buchstaben: optimale Belastung als eine umgekehrte U-Funktion, Remote Control aktivieren. Da keine weiteren Warn- mit der größten physiologischen und psychologischen hinweise vorliegen, kann der Mitarbeiter die manuelle Anpassungsfähigkeit in der Mitte, und dem größten Steuerung bestätigen. Zunächst werden jedoch die Fahr- Stressempfinden an den Rändern. Diese Idee wurde gäste über den Steuerungsvorgang informiert, mit dem von Young und Stanton (2002) in der malleable theory Hinweis sich ruhig zu verhalten. Der Mitarbeiter ist mit of attention (Formbare Theorie der Aufmerksamkeit) der TA im Aufsichtsraum per Voice-Chat verbunden und aufgegriffen und erweitert, indem sie aufzeigen, dass kann neben den Kamera- und Toninformationen aus geringere Belastung auch mit geringeren Kapazitäten dem Fahrzeug auch direkt Kontakt mit den Passagie- zur Bewältigung von Anforderungen einhergehen. Das ren aufnehmen. Umgekehrt haben die Passagiere auch bedeutet, dass eine aktivierte Person eine zusätzliche die Möglichkeit jederzeit einen Notruf an die Mitarbei- Anforderung leichter bewältigt als eine unterforderte ter des Notfallmanagements zu senden. Der Mitarbeiter Person. Solche Kapazitätseinbußen durch Unterfor- hatte die Baustelle wiedererkannt und auch direkt die derung können zu Überforderungsszenarien führen durchgezogene Fahrbahnbegrenzung in der Mitte der (Byrne, 2011), wenn plötzlich Leistung abgefordert Baustellenspur entdeckt. Langsam und sicher steuert er, wird. Es besteht die Gefahr, dass die Arbeitssituation von seinem Arbeitsplatz im Großraumbüro mit seinem einer TA genau diese Merkmale aufweisen wird: Un- Lenkrad in den Händen und dem Head-Mounted Dis- terforderung in ruhigen Zeiten verbunden mit Spitzen, play auf dem Kopf, wie bereits mehrere Male an diesem in denen mehrere Fahrzeuge gleichzeitig abgefertigt Vormittag auch das Fahrzeug FZ-372E durch den kriti- und Probleme mit unterschiedlicher Priorisierung ge- schen Streckenabschnitt.“ löst werden müssen. Zudem ist anzunehmen, dass die Tätigkeiten von Technische Lösungen im Bereich der virtuellen oder TAs sowohl tagsüber als auch nachts in Anspruch ge- erweiterten Realität können helfen, der TA ein mög- nommen werden, insbesondere mit zunehmender An- lichst vollständiges Abbild der Verkehrssituation zu zahl autonom fahrender Fahrzeuge. Daraus resultiert vermitteln; auf diese Weise wird es für die TA leich- die Anforderung von Schichtarbeit, die eine Belastung ter, sich in die Situation hineinzuversetzen bzw. wird des zirkadianen Rhythmus darstellt (Reinberg & Ash- es möglich zusätzliche Informationen zu geben, die kenazi, 2008) und zu Müdigkeit sowie verminderter den Umgang mit den Herausforderungen erleichtern. Leistungsfähigkeit führen kann (Books et al., 2017; Anforderungen an diese Technologien, um der TA Flynn-Evans et al., 2016). Die Beeinträchtigungen der zur erfolgreichen Erfüllung ihrer Aufgaben dienen zu Leistungsfähigkeit äußern sich beispielsweise in der können, sind basierend auf der bisherigen Studienla- Zunahme von Fehlern (de Cordova et al., 2016) aber ge nicht in ausreichendem Umfang formulierbar. Die auch verminderter psychomotorischer Wachsamkeit Entwicklung in diesem Feld zeigt noch verschiedenste (Behrens et al., 2019). Insbesondere diese beiden Lei- Probleme auf, beispielsweise nachteilige Einflüsse von stungskriterien sind für den Tätigkeitsbereich der TA Latenz (Bailey et al., 2004). Die Herausforderungen an von grundlegender Bedeutung für die zuverlässige technische Lösungen sind hierbei aufgrund der erhöh- Aufgabenbearbeitung. ten Menge an zu übertragenden Informationen beson- ders groß. Ein weiteres Problem, das u. a. auch im Zu- Wie sich wohl die Fahrgäste in der beschriebenen Si- sammenhang mit Latenzeinflüssen steht, aber auch ge- tuation gefühlt haben? nerell mit Widersprüchen in der Sinneswahrnehmung „Nachdem sich der Signalton abgestellt hatte und der (z. B. visueller Bewegungseindruck ohne tatsächliche Mitarbeiter uns das weitere Vorgehen erklärt hat, bewe- Bewegung), ist die Motion oder auch Cybersickness. gen wir uns langsam vorwärts und verlassen bald dar- Insgesamt sollten bei der Diskussion dieser Lösungs- auf die Baustellendurchfahrt. Der Mitarbeiter bedankt ansätze entsprechend auch immer Konsequenzen für sich für die Unterstützung und wünscht uns eine gute das Anforderungsprofil der TA abgeleitet werden. Die- Weiterfahrt. Wir haben den Schreck bald überwunden ses sowie weitere arbeitspsychologische Aspekte des und freuen uns auf den anstehenden Urlaub. Nur ein Tätigkeitsfeldes der TA sollten vor Einführung autono- kleines Gefühl der Unsicherheit bleibt: Würde es ein Fah- mer Fahrzeuge auf deutschen Straßen genau betrach- rer nicht vielleicht doch leichter haben.“ tet, beschrieben und möglichst auch optimiert werden. Ein wichtiges Argument für Automatisierung in allen Branchen ist neben der Sicherheit die Ent-
Autonom und unfallfrei 13 3 Strukturelle Herausforderungen Infrastruktur rechnet in den kommenden fünf Jah- ren jährlich mit einer Zulassung von 320 Fahrzeugen Bislang wurden sicherheitskritische Effekte des auto- mit autonomer Fahrfunktion deutschlandweit, wobei nomen Fahrens nur auf der Ebene von individuellen sich die Nachfrage vermutlich auf den ÖPNV-Bereich TAs während der Tätigkeitsausübung diskutiert. Die- beschränken wird (AFGBV, 2021, S. 73). Zusätzlich se Effekte werden durch Kontextbedingungen ent- hemmen dürften auch die Gebühren von geschätzten sprechend verstärkt, dazu zählen der zu erwartende 82.000 EUR zum Betrieb eines autonomen Fahrzeugs Mischbetrieb mit Fahrzeugen auf unterschiedlichen (Haupt, 2021). Für gewerbliche Halter im ÖPNV wird Automatisierungsstufen (0-3), die Interaktion dieser sogar ein Erfüllungsaufwand zur Befolgung der recht- verschiedenen Fahrzeuge, das Verhalten weiterer Ver- lichen Vorschriften des Bundes von jährlich über 10 kehrsbeteiligter sowie Systemausfälle. Millionen EUR erwartet (AFGBV, 2021, S. 79 ff.) – un- Egal wie schnell sich autonomes Fahren in der ter der Schätzung, dass es zumindest vier Fahrzeuge Verkehrsgemeinschaft durchsetzen wird, ein Mischbe- bedarf, um überhaupt einen entsprechenden Service trieb aus manuell betriebenen und automatisiert fah- an 365 Tagen im Jahr anbieten zu können. Insofern renden Fahrzeugen ist für die kommenden Jahrzehnte scheint die Annahme eines langjährigen Mischbe- anzunehmen. Eine im Auftrag des ADAC e.V. durch- triebs eine sehr wahrscheinliche Perspektive. geführte Studie prognostiziert erste nennenswerte Zu- Fachleute sehen in diesem Mischbetrieb eine lassungszahlen bei Neufahrzeugen, die autonom von Störung der „Harmonie des Verkehrsflusses“ mit we- Tür-zu-Tür fahren, erst ab 2040; für 2050 werden 0,5 niger ausbalancierten Geschwindigkeits- und Ab- bis 2,1 Mio. Fahrzeuge dieser Bauart angenommen standsprofilen als gegenwärtig (vgl. Gruber & Sam- (PrognosAG, 2018). Ob und in welchem Umfang auto- mer, 2019). Autonome Fahrzeuge werden mit deutlich nome Fahrzeuge dann tatsächlich genutzt werden, ist niedrigerer Geschwindigkeit und größeren Abständen heute nur schwer vorherzusagen. Die Studienlage ist zum Vorderfahrzeug im Vergleich zu manuell betrie- komplex und vor allem bezüglich der erhobenen Ziel- benen Fahrzeugen unterwegs sein, da sie per se alle variablen wie Nutzerintentionen, Akzeptanz, Kaufbe- Regeln der StVO umsetzen müssen. Diese „StVO-Ver- reitschaft, persönliche Meinung, Bewertung usw. sehr pflichtung“ wiederum eröffnet Verhaltensangebote heterogen. Die Literaturanalyse von Becker und Ax- für manuelle Fahrer, z. B. zum Überholen oder zum hausen (2017), die 16 Studien zwischen 2013 und 2016 Einfahren in eine Lücke zwischen zwei Fahrzeugen. umfasste, erlaubt nur vorsichtige und wenig exakte Laut Gesetzentwurf dürfen autonom betriebene Fahr- Schlussfolgerungen. Demnach zeigen 18 bis 68 % der zeuge nur in festgelegten Betriebsbereichen fahren, Befragten eine positive Affinität zu autonomen Fahr- allerdings fehlen vielerorts verfügbare Kapazitäten für zeugen. Diese ist bei jüngeren Probanden und solchen zusätzliche Fahrspuren, so dass ein Großteil der be- männlichen Geschlechts stärker ausgeprägt, ebenso stehenden Infrastruktur gemeinsam genutzt werden bei Personen mit höherem Bedürfnis nach Nervenkit- wird. Zudem ist die Frage nach möglichen Investitio- zel, Abwechslung und Abenteuer. nen in infrastrukturelle Anpassung bisher offengehal- Die Verkehrsmittelwahl wird von rationalen Fak- ten. Vorerst wird vom Bundesministerium für Verkehr toren beeinflusst, z. B. frühere Erfahrungen mit dem und digitale Infrastruktur betont, „dass ein Kraftfahr- dominanten Verkehrsmittel, den daraus resultieren- zeug mit autonomer Fahrfunktion grundsätzlich in den Nutzungserfahrungen sowie von Gewohnheits- der Lage sein soll, auf der vorhandenen Infrastruktur bildung (Havlíčková & Zámečník, 2020), aber auch betrieben werden zu können“ (AFGBV, 2021, S. 103). von emotionalen Motiven. Das Selbstfahren als aktive Die gemeinsame Nutzung im Mischbetrieb könnte Tätigkeit bietet einen intrinsischen Belohnungswert zu weiteren Irritationen führen, denn manuelle Fah- durch handlungsbegleitende Emotionen wie Freu- rer sind längst nicht so regeltreu wie vorgeschrieben. de oder Fahrspaß, z. B. für Oldtimer-Begeisterte, und Überhöhte Geschwindigkeit, Vorfahrtsverletzungen, wird zudem mit Vorstellungen über gesundheitliche ungenügender Mindestabstand und unangepasstes Vitalität, Unabhängigkeit und Teilhabe am gesell- Fahrverhalten gehören zu den typischen Regelver- schaftlichen Leben verknüpft. Diese identitätsstif- letzungen auf Deutschlands Straßen (ausführlich bei tende Funktion wird besonders deutlich, wenn Kraft- Wagner et al., 2018) und dürften häufige und vermut- fahrzeugführenden der Führerschein entzogen wird; lich störende Eingriffe der Steuerungsautomatik im das resultierende Belastungserleben übersteigt sogar autonomen Fahrzeug erfordern. Ein geminderter sub- jenes für Trennung oder Arbeitslosigkeit (Kieschke et jektiver Fahrkomfort wäre mindestens die Folge, ggf. al., 2010). All dies dürfte die Euphorie für autonomes auch Verkehrskonflikte mit Schadenspotenzial, zu- Fahren erheblich reduzieren, sodass die tatsächliche mindest bei Berücksichtigung der IT-Systemgrenzen Nutzung von autonom fahrenden Fahrzeugen noch sowie der Fehleranfälligkeit der Überwachungs- und länger hinter dem Marktangebot zurückbleiben dürf- Steuerungsautomatik. te. Das Bundesministerium für Verkehr und digitale
14 A. Dix, J. R. Helmert, T. Wagner & S. Pannasch Die gegenwärtigen Kompetenzen der IT-Systeme 4 Diskussion und Ausblick im Erkennen und der Verhaltensprognose von beson- ders verletzlichen und schützenswerten Menschen, Aus der Perspektive mitreisender Personen gleicht au- darunter Kinder, Sehbehinderte und offensichtlich tonomes Fahren weitgehend der traditionellen Fahr- Körperbehinderte bzw. von Fußgängern oder Rad- gastbeförderung mit Taxi, Bus oder Mietlimousine. fahrern allgemein, stecken noch in den Anfängen. Allerdings wird beim autonomen Fahren auf einen in Dadurch sind Konflikte zwischen manuellem und au- der Fahrgastzelle anwesenden Fahrer verzichtet. Den- tomatisiertem Fahrbetrieb abzusehen. Überdies setzt noch muss in beiden Fällen eine sichere Beförderung die Umsetzung der StVO das einwandfreie Funktio- der Fahrgäste gewährleistet sein, sodass sich ein Ver- nieren der Sensortechnik und der programmierten gleich gesetzlicher Regelungen zur Gewährleistung Entscheidungslogik voraus. Diese Funktionsweise dieser übergeordneten Zielvorgabe lohnt. Sofern ein ist jedoch fehleranfällig, Gründe hierfür bestehen in gewerblicher Chauffeur die Ersterteilung oder Verlän- Hardwaremängeln (Fehler in Bauteilen, Verschleiß, gerung einer Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung Manipulation, Beschädigung), in der Erkennung si- anstrebt, müssen besondere Anforderungen hinsicht- tuativer Kontextbedingungen (z. B. Tages- oder Wan- lich gesundheitlicher Konstitution, psychofunktionaler derbaustellen), der zuverlässigen Überwachung von Leistungsfähigkeit und persönlicher Zuverlässigkeit Umgebungsbedingungen trotz erschwerter Wahr- erfüllt sein. Hier sind die Anforderungen deutlich hö- nehmbarkeit (infolge Witterungsbedingungen, z. B. her als beim Pkw-Fahrer, der seine Fahrerlaubnis le- Schnee, Nebel, Regen) bzw. in schadhafter Infrastruk- diglich für private Zwecke nutzt. In Umsetzung staat- tur (Schlaglöcher oder unterbrochene Fahrbahnmar- licher Schutzpflichten gemäß Artikel 2 des Grundge- kierungen). Bereits heute sind die Prävalenzraten setzes darf der Fahrgast auf eine sichere und adäquate für Systemausfälle infolge von Störungen der Senso- Transportleistung vertrauen (Hentschel et al., 2017). rik oder der Hardware durchaus markant. Boggs und Dies soll gewährleistet werden, indem geplant ist, dass Kollegen (2020) analysierten die Berichte von 36 Un- die TA über eine Führerscheinklasse verfügen soll, die ternehmen, die hochautomatisierte Fahrzeuge in Ka- der von ihr betreuten Fahrzeugart entspricht (AFGBV, lifornien testen und berichteten 2,72 Systemausfälle 2021, S. 109). Dennoch kann das Konzept der TA – wie pro 100 gefahrener Kilometer im hochautomatisierten in den vorigen Kapiteln skizziert – derzeit noch nicht Modus. Die im Fahrzeug anwesenden Sicherheitsfah- als hinreichend definiert und „verkehrstauglich“ an- rer hatten die Defizite in der Systemsteuerung – dar- gesehen werden. Damit Gefährdungen für mitreisen- unter nicht-situationsangepasste Fahrmanöver, Pro- de Personen in autonomen Fahrzeugen weitestgehend bleme bei der Identifikation von Lichtzeichenanlagen minimiert werden können, stellen wir nachfolgend oder verzögerte Informationsverarbeitung durch die relevante Fragen zur Gestaltung autonomen Fahrens Sensoren – rechtzeitig erkannt und die Fahrzeugfüh- bzw. unterbreiten Gestaltungsempfehlungen, damit rung übernommen. Mutzenich und Kollegen (2021) die Verkehrssicherheit auch zukünftig ausreichend weisen darauf hin, dass bei autonom fahrenden Fahr- gewährleistet ist. zeugen alle 288 Meilen ein sicherheitskritischer Wahr- nehmungsfehler der Sensorik auftrete. Auch mit die- 1. Das Informationsangebot für die TA muss so ge- sen Herausforderungen wird sich die TA beschäftigen staltet sein, dass eine umfassende, reliable und müssen, ggf. indem das Fahrzeug deaktiviert wird. valide Beurteilung der Entscheidungssituation Als Zwischenfazit lässt sich feststellen, dass eine möglich ist, damit zeitnah ein adäquates menta- Vielzahl an meldepflichtigen Betriebsstörungen den les Modell aktiviert bzw. entwickelt werden kann. Alltag der TA sowohl in quantitativer als auch qualitati- Dazu könnte die Bildschirmdarstellung der Ver- ver Hinsicht prägen werden. Infolge des Mischbetriebs kehrssituation durch markante Hinweise mittels könnte das Sicherheitsniveau anhaltend Einbußen eines „Head-Up-Displays“ ergänzt werden. Zu- erleiden. Zudem müssen zusätzliche Erschwernisse dem sollte eine „Umkreisbeschränkung“ der TA- einkalkuliert werden, z. B. wenn Betriebsstörungen Zuständigkeit ebenso erwogen werden wie eine aufgrund eines Systemfehlers nicht gemeldet wer- Ortskundeprüfung für diesen Zuständigkeits- den oder „falsche Alarme“ die mentalen Ressourcen bereich, z. B. 30 km um den Einsatzort der TA. der TA unnötig binden, z. B., weil ein Passagier ohne Da die Fernsteuerung des Fahrzeugs dem Ope- Anlass den „Notruf“ auslöst. Solche derzeit noch nicht rateur in der Leitzentrale die größten Probleme antizipierbaren Ereignisse dürften die Aufgabenkom- bereiten dürfte, sollte die Fahrstrecke im „Fern- plexität und -dichte der TA weiter steigern. steuerungsmodus“ begrenzt werden bei vorge- schrieben niedriger Fahrgeschwindigkeit, sofern künftig eine Erweiterung des Aufgaben- und Ver- antwortungsbereichs der TA erwogen würde (vgl. AFGBV, 2021, S. 32). Eine derartige Ausweitung
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