Beatmung geriatrischer Patienten - ein ethisches Dilemma?

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Beatmung geriatrischer Patienten - ein ethisches Dilemma?
FORTBILDUNG -- SCHWERPUNKT

Beatmung geriatrischer Patienten –
ein ethisches Dilemma?
Corona-Pandemie 2020 -- Autoren: J. Zeeh, K. Memm, H.-J. Heppner, A. Kwetkat

Dieser Beitrag möchte einen Überblick darüber geben, wie und mit Hilfe welcher Kriterien eine medizinisch,
ethisch und rechtlich vertretbare Entscheidung darüber getroffen werden kann, welche der betagten Patienten
mit einer schweren COVID-19-Pneumonie mittels künstlicher Beatmung behandelt werden sollten und welche
von einer solchen Therapie eher nicht profitieren würden.

                            Wie schwer muss ein Notstand wiegen, um Men-             fache Begrenzung intensivmedizinischer Leistungen
                            schen das Recht zu gewähren, über den Wert des Le-       allein aufgrund des kalendarischen Alters eines
                            bens zu entscheiden? Recht und Rechtsprechung be-        COVID-19-Patienten nicht akzeptabel ist [2].
                            stimmen eindeutig, dass dies niemals geschehen           Und dennoch prognostizieren die Statistiken, dass
                            darf. Kein Notstand kann die Entscheidung recht-         bei einem sprunghaften Anstieg der COVID-19-
                            fertigen, ein Leben sei mehr oder weniger wert als       Infektionen damit zu rechnen ist, dass die appara­
                            ein anderes. Dies gilt unabhängig von den Kriterien,     tiven und personellen Ressourcen nicht ausreichen
                            auf denen die Entscheidung beruht.                       werden, um jeden schwer erkrankten Patienten
                            Es ist nicht zulässig, das Leben eines Arztes höher zu   invasiv zu beatmen. Wenn nicht nach dem Lebens-
                            bewerten als das Leben eines Mechanikers, nur weil       alter, nach welchen Kriterien soll ein Arzt dann ur-
                            der Arzt noch viele Leben retten könnte. Auch darf       teilen? Die Antwort ist, dass allein die medizini-
                            nicht entschieden werden, dass das Leben eines Kin-      schen Kriterien die Behandlung vorgeben. Es geht
                            des schwerer wiegt als das eines Menschen, der sein      nicht darum, Leben zu bewerten, sondern Indika­
                            Leben bereits gelebt hat. Leben darf nicht gegen Le-     tionen.
                            ben abgewogen werden [1].
                            Mehrere notfall- und intensivmedizinische Fachge-        Was können Geriatrie und Palliativmedizin
                            sellschaften haben dazu bereits Position bezogen und     zur Beantwortung dieser Fragen beitragen?
Schwere COVID-              in ihren Empfehlungen klargestellt, dass eine ein­       Die Voraussetzungen für ein rechtmäßiges ärztliches
19-Infektion:
Wen beatmen und                                                                      Handeln sind, dass
wen nicht?                                                                           1. eine medizinische Indikation für den Eingriff
                                                                                        bzw. die Maßnahme vorliegt,
                                                                                     2. der Patient über die Maßnahme aufgeklärt
                                                                                        wurde, er seine Einwilligung erteilt hat und
                                                                                     3. die Maßnahme ärztlicherseits lege artis durch­
                                                                                        geführt wird.

                                                                                     Die Indikation ist die erste der zu treffenden Ent-
                                                                                     scheidungen. Sie liegt in dem alleinigen Hoheitsbe-
                                                                                     reich des Arztes. Er bestimmt auf der Grundlage der
                                                                                     gesundheitlichen Situation des Patienten, des bishe-
                                                                                     rigen Krankheitsverlaufes, der Behandlungsmög-
                                                                                     lichkeiten und der bestehenden Prognose darüber,
                                                                                     ob eine Maßnahme medizinisch indiziert ist oder
                                                                                                                                             © sudok1 / stock.adobe.com

                                                                                     nicht. Prognostisch muss der Eingriff eine Besserung
                                                                                     beim Kranken erwarten oder jedenfalls erhoffen
                                                                                     lassen (sogenannter Benefit). Dabei gibt es verschie-
                                                                                     dene Definitionen der Indikation nach Dringlich-

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Beatmung geriatrischer Patienten - ein ethisches Dilemma?
FORTBILDUNG -- SCHWERPUNKT

                             keit, Zielsetzung und Ursache, und in einem Pa­                Tab. 1 10 Kriterien, die für eine palliative Behand-
                             tientenfall gibt es häufig mehr als nur eine vertret-          lungsstrategie sprechen (in Anlehnung an [7])
                             bare Meinung. Dieses eigene Ermessen gesteht das
                             Recht dem Arzt auch zu.                                          1. In den Aktivitäten des Alltags stark eingeschränkt
                                                                                              2. schwer pflegebedürftig (Pflegegrad ≥ 3)
                             Vorerkrankungen und Funktionszustand
                                                                                              3. verbringt > 50% des Tages im Bett
                             berücksichtigen
                             Die medizinische Indikation zur künstlichen Beat-                4. schwere KHK, austherapiert
                             mung ist bei Hochaltrigen nicht automatisch ge­                  5. Herzinsuffizienz mit Beschwerden in Ruhe oder bei
Dr. med. Joachim Zeeh        geben. Vorerkrankungen und ein bereits stark ein-                   leichter Belastung
Abteilung Hospiz-
und Palliativver­
                             geschränkter Funktionszustand reduzieren die                     6. Niereninsuffizienz ≥ Grad 4 (eGFR < 30 ml/min)
sorgung, Sozialwerk          Wahr­scheinlichkeit eines Behandlungserfolgs (Bene­              7. schwere COPD, austherapiert
Meiningen                    fits). Über das Vorliegen einer Behandlungsindika-
                                                                                              8. Langzeit-Sauerstofftherapie
                             tion muss daher individuell und unter Zuhilfe­nahme
                             geeigneter Kriterien entschieden werden. Neben der               9. Krebserkrankung mit hoher Symptomlast
                             Clinical Frailty Scale [3 ,4, 5, 6] sind in Tab. 1 wei­tere      10. fortgeschrittene Demenz (erkennt Angehörende/Pflegende
                             Entscheidungshilfen aufgeführt [7].                                  nicht, keine sinnhafte Kommunikation möglich)

                             Liegt eine Patientenverfügung vor?
                             Bejaht der behandelnde Arzt die Indikation zur                Zunächst sollte der Patient anhand der Clinical
Rechtsanwältin               künstlichen Beatmung, muss der Patient darin ein-             Frailty Scale ([3] und Abb. 1) in eine der neun Ge-
Kristin Memm                 willigen. Im Falle einer Ablehnung ist dies für den           brechlichkeitskategorien eingeteilt werden (von
Kanzlei für
Medizinrecht/                Arzt bindend. Dabei zählt die früher in einer Patien-         „überdurchschnittlich fit, robust und voller Energie“
Medizinethik/                tenverfügung festgelegte Ablehnung des mittler­weile          bis „komplett von Unterstützung abhängig“ und
Digitale Medizin,
Erfurt                       schwer Demenzkranken genauso viel wie die aktuell             „terminal krank mit einer geschätzten Lebenserwar-
                             erklärte des einwilligungsfähigen und aufgeklärten            tung < 6 Monaten“).
                             Patienten. Bei einem einwilligungsunfähigen Kran-             Als nächste Entscheidungshilfe empfehlen wir die
                             ken ohne konkrete Patientenverfügung entscheidet              sog. „Wären-Sie-überrascht-Frage“: „Wären Sie
                             der mutmaßliche Wille des Patienten („Würde der               überrascht, wenn Ihr Patient in den nächsten sechs
                             Patient eine invasive Beatmung wollen, wenn wir ihn           bis zwölf Monaten versterben würde?“ Wenn die
                             fragen könnten?“).                                            Antwort eines Arztes, der den Patienten länger
                             Die künstliche Beatmung nach den Regeln der ärzt-             kennt, „nein“ lautet, ist dies ein subjektiver, aber
Univ.-Prof. Dr. med. Hans-   lichen Kunst, der dritte Schritt, dürfte in Deutsch-          dennoch aussagekräftiger Hinweis. Liegt zusätzlich
Jürgen Heppner               land kein Problem darstellen. Wohl aber könnte die            noch mindestens ein Kriterium aus Tab. 1 vor, emp-
Lehrstuhl für Geria­
trie Universität             Verfügbarkeit der erforderlichen Ressourcen zum               fiehlt sich eine primär palliative Behandlungsstra­
Witten/Herdecke,             Problem werden, wenn die Erkrankungsfälle zu                  tegie [7, 8, 9].
Chefarzt der Klinik
für Geriatrie,               rasch zunehmen.                                               Bleiben dennoch Zweifel, empfiehlt sich ein erneuter
HELIOS Klinikum              Da bei einem Massenanfall von Patienten mit dro-              Blick auf Tab. 1: Je mehr der dort aufgeführten Kri-
Schwelm                      hendem Lungenversagen die Zeit drängt, wäre das               terien bei dem Patienten vorliegen, desto nachdrück-
                             Vorhandensein einer Patientenverfügung in Kurz-               licher ist die Empfehlung für eine zurückhaltende,
                             fassung und speziell fokussiert auf COVID-19 hilf-            symptomlindernde und palliative Behandlungs­
                             reich. Schon vor dem Eintreten des Notfalls sollten           strategie („best supportive care“).
                             sich daher Ärzte, die multimorbide oder betagte               Die subjektive Einschätzung eines Hausarztes, der
                             Patienten betreuen, für jeden einzelnen Patienten             seinen Patienten länger kennt, hat einen hohen
                             die Frage stellen, welche Behandlungsmaßnahmen                Stellenwert bei der Entscheidung für oder gegen eine
                             im Falle einer COVID-19-Infektion 1. medizinisch              Intensivbehandlung.
Dr. med. Anja Kwetkat        indiziert und 2. vom Willen des Patienten getragen
Direktorin der               wären.                                                        Schritt 2: Die Entscheidung des Patienten –
Klinik für Geriatrie,
Universitätsklinikum                                                                       was ist sein Wille?
Jena                         Strukturiertes Vorgehen bei der                               Liegt eine medizinische Indikation zu intensivme-
                             Entscheidungsfindung (Abb. 2)                                 dizinischen Behandlungsmaßnahmen vor, muss der
                                                                                           Patient darin einwilligen. Der einwilligungsfähige
                             Schritt 1: Die Entscheidung des Arztes –                      Patient wird über den Verlauf, den Nutzen und die
                             die medizinische Indikation                                   Risiken der indizierten Behandlung aufgeklärt und
                             Welcher Patient hat ein hohes Risiko, nicht von einer         entscheidet dann selbst. Ist der Patient nicht in der
                             intensivmedizinischen Behandlung zu profitieren?              Lage, die Bedeutung und Tragweite einer solchen

                                                                                                                      MMW Fortschr Med. 2020; 162 (9)      41
FORTBILDUNG -- SCHWERPUNKT

 Abb. 1 Clinical Frailty Scale (Deutsche Übersetzung)

     Clinical Frailty Scale (CFS)                                                                                                                                                       DGG
                                                                                                                                                                                                             Deutsche
                                                                                                                                                                                                             Gesellschaft für
                                                                                                                                                                                                             Geriatrie e.V.

              ›› Warum?                                                                           ›› Wie?
              Mehrere nationale und internationale                                                Die CFS (deutsch: Klinische Frailty Skala) kann von allen adäquat geschulten
              Empfehlungen, unter anderem die                                                     Fachkräften im Gesundheits- oder Pflegedienst durchgeführt werden. Die Skala
              „Entscheidungen über die Zuteilung                                                  besteht aus 9 Kategorien.
              von Ressourcen in der Notfall- und
              der Intensivmedizin im Kontext der                                                  › Fragen Sie den Patienten, Angehörige, Pflegende, betreuende Personen und/oder
              COVID-19-Pandemie“ der Deutschen                                                       Heimpersonal, welche Fähigkeiten die betreffende Person vor ZWEI Wochen hatte.
              Interdisziplinären Vereinigung für
              Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI)                                                 › Gründen Sie Ihre Einschätzung NICHT auf den Ist-Zustand, in dem sich die
              heben klar die Bedeutung der Ver-                                                      betreffende Person in der akuten Erkrankungsphase befindet.
              wendung der Clinical Frailty Scale
              (CSF)/deutsch: Klinischen Frailty                                                   › Entscheidungsträger, welche die Klinische Frailty Skala (CSF) verwenden, MÜSSEN die
              Skala hervor.                                                                          erhobene Kategorie überprüfen, um sicherzustellen, dass diese korrekt ist.
              Ziel ist die Identifizierung von Patien-
              ten mit einem erhöhten Risiko für
                                                                                                  › Bedenken Sie, dass die Klinische Frailty Skala nur bei älteren Personen (≥ 65 Jahren)
                                                                                                     umfangreich validiert ist. Die Skala ist nicht bei Personen mit stabilen dauerhaften
              einen ausbleibenden Behandlungs-
                                                                                                     Behinderungen, wie z.B. frühkindlichen Hirnschädigungen, validiert, da deren Prognose
              erfolg, welche nicht von einer
                                                                                                     stark von derer älterer Menschen mit progredienten Behinderungen differieren könnte.
              intensivmedizinischen Intervention
              profitieren dürften.
                                                                                                  › Die Klinische Frailty Skala sollte nicht isoliert verwendet werden; sie ist ein Instrument,
                                                                                                     welches im Rahmen einer ganzheitlichen Betrachtung und gemeinsamer Entscheidungen
                                                                                                     eingesetzt werden sollte.

     Klinische Frailty Skala
                       1 Sehr fit                                                                      5 Geringgradig frail                                                        8 Extrem frail
                    Personen in dieser Kategorie sind ro-                                          Personen in dieser Kategorie sind                                          Komplett von Unterstützung abhängig
                    bust, aktiv, voller Energie und motiviert.                                     offensichtlich in ihren Aktivitäten                                        und sich ihrem Lebensende nähernd.
                    Sie trainieren üblicherweise regelmäßig                                        verlangsamt und benötigen Hilfe bei                                        Oft erholen sich Personen in dieser
                    und sind mit die Fittesten innerhalb                                           anspruchsvollen Alltagsaktivitäten                                         Kategorie auch von leichten
        ihrer Altersgruppe.                                                             wie finanziellen Angelegenheiten, Transport,                                Erkrankungen nicht.
                                                                                        schwerer Hausarbeit und im Umgang mit Medika-
                       2 Durchschnittlich aktiv                                         menten. Geringgradige Frailty beeinträchtigt das                                           9 Terminal erkrankt
                                                                                        selbstständige Einkaufen, Spazierengehen sowie                                         Personen in dieser Kategorie haben eine
                    Personen in dieser Kategorie zeigen
                                                                                        die Essenszubereitung und Haushaltstätigkeiten.                                        Lebenserwartung < 6 Monate.
                    keine aktiven Krankheitssymptome,
                                                                                                                                                                               Die Kategorie bezieht sich auf Personen,
                    sind aber nicht so fit wie Personen in
                                                                                                                                                                               die anderweitig keine Zeichen von
                    Kategorie 1. Sie sind durchschnittlich
        aktiv oder zeitweilig sehr aktiv, z.B. saisonal.                                               6 Mittelgradig frail                                         Frailty aufweisen.
                                                                                                  Personen in dieser Kategorie benöti-
                                                                                                  gen Hilfe bei allen außerhäuslichen                               Klinische Einstufung von Frailty bei
                       3 Gut zurechtkommend                                                       Tätigkeiten und bei der Haushalts-                                Personen mit Demenz
                   Die Krankheitssymptome dieser                                                  führung. Im Haus haben sie oft
                   Personengruppe sind gut kontrolliert,                                                                                                            Der Schweregrad der Frailty entspricht der Schwere der
                                                                                        Schwierigkeiten mit Treppen, benötigen Hilfe                                Demenz. Typische Symptome einer leichten Demenz
                   aber außer Gehen im Rahmen von                                       beim Baden/Duschen und evtl. Anleitung oder
                   Alltagsaktivitäten bewegen sie sich                                                                                                              sind Vergesslichkeit bezüglich Details jüngster
                                                                                        minimale Unterstützung beim Ankleiden.                                      Ereignisse, auch wenn man sich an das Ereignis selbst
        nicht regelmäßig.
                                                                                                                                                                    noch erinnert, sowie das Wiederholen von Fragen und
                                                                                                                                                                    Gesagtem sowie sozialer Rückzug.
                       4 Vulnerabel                                                                    7 Ausgeprägt frail
                    Auch wenn sie nicht auf externe Hilfen                                         Personen in dieser Kategorie sind                                Bei mittelgradiger Demenz ist das Kurzzeitgedächtnis
                    im Alltag angewiesen sind, sind                                                aufgrund körperlicher und kognitiver                             stark beeinträchtigt, obwohl die Personen sich
                    Personen in dieser Kategorie aufgrund                                          Einschränkungen bei der Körperpflege                             augenscheinlich noch gut an Ereignisse der
                    ihrer Krankheitssymptome oft in                                                komplett auf externe Hilfe ange-                                 Vergangenheit erinnern können. Die Körperpflege
        ihren Aktivitäten eingeschränkt. Häufig klagen sie                              wiesen. Dennoch sind sie gesundheitlich stabil.                             erfolgt selbstständig mit verbaler Unterstützung.
        über Tagesmüdigkeit und/oder berichten, dass                                    Die Wahrscheinlichkeit, dass sie innerhalb der                              Personen mit schwerer Demenz sind nicht in der Lage,
        Alltagsaktivitäten mehr Zeit benötigen.                                         nächsten 6 Monate sterben, ist gering.                                      ihre Körperpflege ohne Hilfestellung auszuführen.

     Mod. nach Version 1.2_EN. Forschungsabteilung Geriatrie, Dalhouse Universität, Halifax, Kanada                              Quellen:
     © 2020 Singler, Katrin / Gosch, Markus / Antwerpen, Leonie                                                                  1. Kanadische Studie über Gesundheit und Altern 2008
     Vervielfältigung für nicht-profitorientierte Zwecke im Sinne der Patientenversorgung sowie Forschung und Lehre gestattet.   2. K. Rockwood et al. CMAJ 2005; 173:489–495

     Deutsche Gesellschaft für Geriatrie e.V.                                                                                                                                                   www.dggeriatrie.de

42          MMW Fortschr Med. 2020; 162 (9)
FORTBILDUNG -- SCHWERPUNKT

                        Abb. 2 Entscheidungsdiagramm

                                                       COVID-19-Pneumonie, Patient ≥70 Jahre
                                                      formale Beatmungsindikation ist gegeben
                                                                   (Blutgase etc.)

                                                            Individuelle Indikationsprüfung

                                                                 In welche Kategorie der
                                                                  „Clinical Frailty Scale“
                                                                     fällt der Patient?

                                                     Stufe 1 – 6                           Stufe 7 – 9

                                           Wären-Sie-überrascht-Frage                                    Tab. 1
                               Wären Sie als Arzt, der den Patienten schon länger kennt,                 Wenn eines oder mehrere dieser Kriterien auf den Patienten
                                  überrascht, wenn dieser Patient in den nächsten                        zutreffen, empfiehlt sich eine palliative Therapie. Je mehr
                                          6–12 Monaten versterben würde?                                 Kriterien zutreffen, desto nachdrücklicher ist die Empfehlung.
                                                                                                          1. in den Aktivitäten des Alltags stark eingeschränkt
                                                                                                          2. schwer pflegebedürftig (Pflegegrad ≥ 3)
                                     Antwort ja                     Antwort nein
                                                                   und mindestens                         3. verbringt > 50% des Tages im Bett
                                                                     1 Kriterium                          4. schwere KHK, austherapiert
                                                                    aus Tabelle 1                         5. Herzinsuffizienz mit Beschwerden in Ruhe oder bei leichter
                                                                     zutreffend                              Belastung
                                                                                                          6. Niereninsuffizienz ≥ Grad 4 (eGFR < 30 ml/min)
                                                                                                          7. schwere COPD, austherapiert
                                                       Wenn Sie auf dieser                                8. Langzeit-Sauerstofftherapie
                                                        Ebene (– – – – –)                                 9. Krebserkrankung mit hoher Symptomlast
                                                 der Entscheidungsfindung noch                           10. fortgeschrittene Demenz (erkennt Angehörende/Pflegende
                                                  unsicher sind, folgen Sie den                              nicht, keine sinnhafte Kommunikation möglich)
                                                          gelben Pfeilen

                                                                                                                      ≤ 1 Kriterium         ≥ 2 Kriterien
                             Einwilligung des Patienten
                                                                                                                       zutreffend            zutreffend

                               ja                   nein

                                                                                              Keine Intensivbehandlung, keine Beatmung
                         Übliche Intensivbehandlung inkl. Beatmung
                                                                                                        („Best Supportive Care”)

                       Entscheidung einzuschätzen (ist er also nicht ein­                       Patientenverfügung mit dem Patienten selbst be-
                       willigungsfähig), kommt sein vorausverfügter Wille                       sprochen werden. Ergeben sich daraus konkrete Be-
                      (Patientenverfügung) oder sein mutmaßlicher Wille                        handlungswünsche in Bezug auf eine mögliche
                       zum Tragen.                                                              COVID-19-Infektion, können diese als Ergänzung
Der „Notfallplan für   Schwere Verläufe von COVID-19 treten besonders                           zu der allgemeinen Patientenverfügung in dem Not-
Extremsituationen      bei multimorbiden und hochbetagten Menschen auf.                         fallplan (NopE) (Abb. 3) erklärt werden. So liegt eine
(NopE)“ aus Abb. 3
                       Das aber ist die Personengruppe, die häufig in                           klare und schnell zu überblickende Handlungs­
steht zum Download
                       ihren Patientenverfügungen invasive intensiv­                            anweisung auch für die im Rettungsdienst bzw. Not-
bereit auf:
                       medizinische Maßnahmen für sich bereits ausge-                           dienst hinzugerufenen Kollegen vor.
https://www.           schlossen hat.                                                           Beatmungssituationen, die weder medizinisch indi-
kanzleikm.de/
news                   Hier gilt es heute schon im Hinblick auf eine vorher-                    ziert noch vom Willen des Patienten getragen sind,
                       sehbare Notfallsituation in der Patientenverfügung                       könnten auf diese Weise im Sinne aller vermieden
                       nachzulesen, ob der Patient einer invasiven Beat-                        werden.
                       mung oder einer Reanimation überhaupt zustimmen                          Kommt es dennoch durch eine unkontrollierbare
                       würde. Wenn möglich, sollte die bereits bestehende                       Ausbreitung des Corona-Virus zum Katastrophen-

                                                                                                                             MMW Fortschr Med. 2020; 162 (9)         43
FORTBILDUNG -- SCHWERPUNKT

                                                                                                                                               fall und zu einer Überlastung der uns verfügbaren
 Abb. 3 Notfallplan für Extremsituationen
                                                                                                                                               Ressourcen, dürfen diese ausschließlich auf der
 Anlage zu der Entscheidungshilfe „Corona Pandemie 2020 – Die Beatmung geriatrischer Patienten“ von J. Zeeh/A. Kwetkat/ H.J. Heppner/K. Memm   Grundlage medizinisch begründbarer Kriterien ver-
                               Notfallplan für Extremsituationen (NopE)
                                                                                                                                               teilt werden. Dafür ist es wichtig, heute schon vor-
                                                                                                                                               auszudenken, um unüberlegtem Handeln und von
                      Verfügung für den Fall einer Corona-Virus-Infektion
                                                                                                                                               Angst und Unwissen geprägten Entscheidungen zu-
 Name, Vorname:                                                                                                                                vor zu kommen.
 Geburtsdatum:
                                                                                                                                               Im Sinne einer geteilten Entscheidungsfindung be-
 Wohnanschrift:
                                                                                                                                               ruht der von uns beschriebene Weg auf der Zusam-
                                                                                                                                               menarbeit von Klinikarzt und Hausarzt. Dessen In-
 Sollte ich selbst nicht mehr in der Lage sein, in eine medizinisch indizierte Maßnahme einzuwilligen, ver-
                                                                                                                                               formationen über den Vorzustand des Patienten und
 füge ich für den Fall, dass ich an einer Corona-Virus-Infektion erkranke, schon heute meinen Willen. Dieser
 Wille steht meiner ausdrücklichen Einwilligung bzw. Nichteinwilligung gleich und ist von allen Beteiligten
                                                                                                                                               seine Einschätzung der Lage durch Beantwortung
 zu beachten.                                                                                                                                  der „Wären-Sie-überrascht-Frage“ sind wesentliche
                                                                                                   ja nein                                     Bestandteile einer geriatrisch fundierten Therapie-
 Bei einem Atemversagen (respiratorischer Insuffizienz) möchte ich künstlich beatmet werden.                                                   entscheidung.                                    ■
 Im Falle eines Herz-Kreislauf-Stillstandes möchte ich wiederbelebt werden.
 Gemäß den Prinzipien von „palliative care“ möchte ich soweit es möglich ist an einem Ort, an
 dem ich bis dahin gepflegt worden bin (also in meinem Zuhause oder meinem Pflegeheim)                                                         Literatur: springermedizin.de/mmw
 verbleiben und auch dort sterben. Die Einweisung in ein Krankenhaus wünsche ich nur,
                                                                                                                                               Title:
 wenn die Linderung von Schmerzen und Leiden (Symptomkontrolle) oder der Schutz meiner
                                                                                                                                               Covid-19 pandemic. Mechanical ventilation in geriatric patients – an ethical
 Mitmenschen ambulant nicht mehr möglich ist.                                                                                                  dilemma?
 Speziell für die bei mir bestehende Erkrankung treffe ich selbst folgende zusätzliche Verfügungen:                                            Keywords:
 (Falls Sie zusätzliche Verfügungen treffen wollen.)                                                                                           Geriatric, frailty, mechanical ventilation, Covid-19

                                                                                                                                               Anschrift der Verfasser:
                                                                                                                                               Dr. med. Joachim Zeeh
                                                                                                                                               Abteilung Hospiz- und Palliativversorgung, Sozialwerk Meiningen gGmbH,
                                                                                                                                               Ernststraße 7, D-98617 Meiningen, E-Mail: joachim@doktor-zeeh.de
                                                                                                                                               Rechtsanwältin Kristin Memm
 Vorsorgebevollmächtigt ist:
                                                                                                                                               Kanzlei für Medizinrecht/Medizinethik/Digitale Medizin, Wiesenbach 11,
                                                                                                                                               D-99097 Erfurt, E-Mail: mail@kanzleikm.de
     Name                                                    Kontaktmöglichkeit (Anschrift/Telefonnummer)
                                                                                                                                               Univ.-Prof. Dr. med. Hans-Jürgen Heppner
                                                                                                                                               Lehrstuhl für Geriatrie Universität Witten/Herdecke, Präsident der Deutschen
                                                                                                                                               Gesellschaft für Geriatrie (DGG), Chefarzt der Klinik für Geriatrie, HELIOS Klinikum
 Ich habe mit meinem Arzt/meiner Ärztin über die medizinischen Hintergründe dieser Verfügung ge-                                               Schwelm, Dr.-Moeller-Straße 15, D-58332 Schwelm
 sprochen und entbinde diese(n) diesbezüglich von der Schweigepflicht:                                                                         Dr. med. Anja Kwetkat
 Herrn/Frau                                                                                                                                    Direktorin der Klinik für Geriatrie, Universitätsklinikum Jena, Bachstraße 18,
                                                                                                                                               D-07743 Jena

 Ich versichere, dass ich diese Verfügung eigenmächtig, im Vollbesitz meiner geistigen Fähigkeiten
 und nicht unter dem Drängen Dritter erstellt und unterschrieben habe.

 Ort und Datum                                                 eigenhändige Unterschrift

                                                                                                                                                FAZIT FÜR DIE PRAXIS
                                                                                                                                               1. Keine invasive Beatmung ohne eine medizinische Indikation vor
                                                                                                                                                  dem Hintergrund eines klaren Therapieziels.
                                                                                                                                               2. Keine Behandlung gegen den ausdrücklichen oder mutmaß­
                                                                                                                                                  lichen Willen des Patienten. Lehnt der Patient in einer Ver­
                                                                                                                                                  fügung die invasive Beatmung bei einer Pneumonie ab, darf
                                                                                                                                                  nicht beatmet werden.
                                                                                                                                               3. Mit einer vorausschauenden Behandlungsplanung lassen
                                                                                                                                                  sich nicht indizierte und gegen den Willen des Patienten durch­
                                                                                                                                                  geführte „Notfall-Beatmungen“ vermeiden.
                                                                                                                                               4. Die Entscheidung für oder gegen eine künstliche Beatmung
                                                                                                                                                  älterer Patienten mit COVID-19-Pneumonie wird durch die Ein-
                                                                                                                                                                                                                                      © [M] jannoon028 / Fotolia

                                                                                                                                                  beziehung der Gebrechlichkeit (Clinical Frailty Scale [5, 6, 7]),
                                                                                                                                                  der geschätzten verbleibenden Lebenszeit (Wären-Sie-über-
                                                                                                                                                  rascht-Frage) sowie einiger Komorbiditäten und Laborpara­
 Der Patient muss eigenhändig unterschreiben.
                                                                                                                                                  meter (Tab. 1) erleichtert und objektiviert.

44         MMW Fortschr Med. 2020; 162 (9)
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