Berbermusik in Frankreich - Norient

 
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Berbermusik in Frankreich | norient.com                                  10 Jun 2022 07:05:11

    Berbermusik in Frankreich
    by Thomas Burkhalter

    Eine Reise durch siebzig Jahre kabylische Musik in Frankreich
    bringt mehr als nur Hörgenuss: In der einstigen algerischen
    Volksmusik spiegeln sich eindrücklich Geschichte und Politik.
    Und auf CD-Veröffentlichungen gibt es herausragende
    Musikerpersönlichkeiten zu entdecken.
    Volksmusik verändert sich, und sie tut dies beeinflusst von Geschichte,
    Politik, Medien und einzelnen Musikerpersönlichkeiten. Auf die kabylische
    Musik Algeriens etwa übten die Kolonialgeschichte zwischen Frankreich und
    Algerien und – vor allem später – die Politik Algeriens gegenüber den
    Imazighen, den Berbern, grossen Einfluss aus.

    Blicken wir nach Frankreich, wo wichtige Künstlerpersönlichkeiten die Musik
    ab den dreissiger Jahren zu einer Populärmusik machten, und unterteilen wir
    die Geschichte in vier prägende Phasen: in die dreissiger Jahre, in denen
    Cheikh El-Hasnaoui die Musik cafétauglich machte; in die vierziger und
    fünfziger Jahre, die von Chérif Kheddam und seinen grossen Orchestern
    geprägt waren; in die siebziger Jahre, in denen Idir, Aït Menguellet und der
    1998 ermordete Matoub Lounes für eine neue Identität der Imazighen
    kämpften; und in die achtziger und neunziger Jahre, in denen Musiker wie
    Takfarinas endgültig in der internationalen Musikindustrie Fuss fassten.

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    Vergessen wir allerdings nicht, dass Musikgeschichte weder in Kürze noch
    anhand einzelner Persönlichkeiten abgehandelt werden kann, dass diese CD-
    Reise also nur eine von vielen möglichen ist.

    Pionier Cheikh El-Hasnaoui

    1932 kommt Cheikh El-Hasnaoui nach Paris und arbeitet, wie viele Kabylen,
    in den Fabriken Frankreichs. In seiner Heimat allerdings hat Hasnaoui bereits
    als Musiker gelebt – und darin unterschiedet er sich von den anderen
    Arbeitern. In Algier musizierte er mit arabisch-algerischen Orchestern, und
    natürlich weiss er auch um die Bedeutung von Musik und Tanz in seiner
    Heimat, der Kabylei, die sich bis heute gegen eine Arabisierung wehrt und für
    die offizielle Anerkennung ihrer Sprache Tamazight kämpft. Hasnaoui teilt die
    kabylische Vorliebe für Oboen, Doppelfell- und Rahmentrommeln, und er
    kennt die an Metaphern reichen Lieder, die in poetischen Bildern von Liebe,
    Moral und Religion erzählen.

    Kaum in Frankreich, gründet Cheikh Hasnaoui mit Türken und Armeniern ein
    Ensemble, dessen Repertoire sich hauptsächlich auf Chàabi beschränkt, die
    ausgereifte urbane Populärmusik Algeriens. Auftrittsgelegenheiten findet
    Hasnaoui in den zahlreichen von Kabylen geführten Cafés und Kabaretts - gut
    die Hälfte der nordafrikanischen Einwanderer Frankreichs sind Berber und ein
    grosser Teil davon Kabylen. Kabylische Musik macht er mehr oder weniger
    nebenbei, landet aber mit «La Maison Blanche» dennoch einen ersten
    Klassiker kabylischer Populärmusik – zu hören auf Hasnaouis grandioser
    Einspielung in der Reihe «Les Grands Maîtres de la Chanson Kabyle».
    Grundsätzlich bleibt Hasnaoui dem Chàabi treu; meist singt er mit tiefer
    Stimme in Arabisch von der Nostalgie des Exils, der Armut und vom Leben
    der Männer in Frankreich und lässt sich von einem kleinen Ensemble
    begleiten.

    Zu verdienen gibt es wenig für Nordafrikaner in Frankreich, das merken auch
    Slimane Azem, der mit seinen satirischen Fabelgeschichten zu einem der
    wichtigsten kabylischen Musiker überhaupt avanciert, und Allaoua Zerouki,
    ein weiterer wichtiger Sänger – beide Interpreten haben in derselben CD-
    Serie wie Cheikh Hasnaoui hervorragende Platten eingespielt.

    In den vierziger Jahren ziehen die Familien der Arbeiter nach. Mit ihnen
    kommen neue Musiker, und in den Cafés ist nun einiges los an den
    Wochenenden. Die meisten Kabylen starten eine doppelte Karriere: als
    arabische Algerier und als kabylische Amazigh. Sie verwenden wie Hasnaoui
    und Azem arabische Instrumente wie Kanun, Oud, Ney und Violine, nehmen
    aber Kontrabass, Klarinette und Akkordeon hinzu.

    Grossen Einfluss übt die ägyptisch-libanesische Filmmusik und das
    «wahabiyate», das «Variété» des legendären ägyptischen Komponisten und
    Musikers Mohamed Abdel Wahab, aus. Kabylen und Araber stellen Orchester

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    nach ägyptischem Vorbild zusammen und arbeiten in aller
    Selbstverständlichkeit miteinander – das gemeinsame Ziel, die algerische
    Unabhängigkeit von der französischen Kolonialmacht, eint sie. Orchester
    werden gegründet, und mit Chérif Kheddam wächst eine neue Leaderfigur
    heran.

    1947 kommt Kheddam nach Paris, arbeitet in einer Giesserei und leitet eine
    erste Revolution des kabylischen Chansons ein. Kheddam lässt sich von
    arabischen Musikern in deren Modi einführen, verbindet seine Musik aber
    gleichzeitig mit okzidentalen Strukturen und trägt sie mit Sinfonieorchestern
    vor – seine ausgeklügelten Synthesen von Orient und Okzident stehen im
    krassen Gegensatz zur vorherrschenden Meinung des arabischen
    Musikkongresses im Kairo der dreissiger Jahre, der für eine Konservierung
    und Reinhaltung der arabischen Musik einsteht.

    Neue kabylische Identität
    Vieles ändert sich in den siebziger Jahren. Mit dem epischen Sänger Aït
    Menguellet, dem militant aktiven Ferhat, mit Idir und Matoub Lounes
    kommen Musiker nach Paris, die alle nach der Unabhängigkeit Algeriens 1962
    vom Präsidenten Ben Bella enttäuscht worden waren, der den Berbern den
    grossen Einsatz in der Unabhängigkeitsbewegung nicht dankte: «Wir sind alle
    Araber», verkündete der Präsident, führte Algerisch als offizielle Sprache ein,
    verbannte das Tamazight aus dem öffentlichen Leben und schloss
    Berberregionen weitgehend von der wirtschaftlichen Entwicklung aus.

    Die Auswirkungen dieser Diskriminierungen auf Musiker und Musik bleiben
    nicht aus: Die neue kabylische Musikergeneration sucht kämpferisch nach
    einer eigenen Identität, nimmt sich Protestsänger wie Bob Dylan, Joan Baez,
    Victor Jara und Sylvio Rodriguez zum Vorbild und erhebt ihre Stimme für ihr
    unterdrücktes Volk. Die grossen Orchester verschwinden, arabische
    Instrumente werden zurückgestuft, und die Einflüsse westlicher
    Musikstrukturen werden ausgeprägter. «Berbermusik ist immer politisch»,
    heisst es plötzlich.

    Idirs Kritik an den Neuen

    In den achtziger Jahren wird Takfarinas zur zentralen Figur der
    Modernisierung. Er verbindet die Musik der Imazighen mit Raï, Rock und Funk
    und verkauft seine Alben in Millionenauflage. Auch die Sängerin Malika
    Domran, die sich vehement gegen die Arabisierung wehrt, reift zu einer
    zentralen Persönlichkeit heran. «Ich nenne mich Freiheit und weigere mich zu
    gehorchen», sagt sie, die 1994 nach Frankreich flüchten und ihre Kinder in
    Algerien zurücklassen muss.

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    Schon lange verkauft die neue Generation ihre Kassetten und Compact Discs
    nicht mehr allein in den Immigrantenvierteln, sondern auch in den
    internationalen Plattenläden. Einige Chansons werden ins Arabische
    übersetzt, einige gar von Interpreten des Nahen Ostens aufgenommen, und
    auch Peter Gabriels Label Real World veröffentlicht Berbermusik. Selbst
    wenn die politische Musik der Imazighen seit dem internationalen Raï-Boom
    im Jahre 1986 einen schweren Stand hat, setzen sich immer wieder neue
    Talente in Szene: so etwa Djamel Allam, Amira oder die Sängerin und
    Komponistin Iness Mêzel. Letztere bringt die Tradition ihrer Heimat mit
    leichtem Jazz zusammen und schafft Songs, die so gar nicht zum
    Radikalismus der siebziger und achtziger Jahre passen. Idir spricht denn auch
    skeptisch von der neuen Generation: «Die junge Generation muss lernen, ihre
    Gefühle präzise auszudrücken, sonst bringt sie unsere Musik nicht voran.» Ob
    er Recht hat, wird sich weisen. Bis heute haben sich die kabylischen Musiker
    Frankreichs immer an neue Gegebenheiten anpassen können – und warum
    sollte das jetzt plötzlich anders sein?

    → Discography
    Abdelli. New Moon. Real World. EMI LC3098 (1 CD).
    Azem, Slimane. Les Grands Maîtres de la Chanson Kabyle , Vol. 1. Les Artistes Arabes
        Associés. Librairie Arabe L’Olivier. AAA 040 (1 CD).
    El Achab, Amar. Le Chàabi des grands maîtres. Institut du Monde Arabe. Musikvertrieb
        321030 (1 CD).
    El-Hasnaoui, Cheikh. Les Grands Maîtres de la Chanson Kabyle , Vol. 2. Les Artistes Arabes
        Associés. Librairie Arabe L’Olivier in Genf (Tel.: 022 731 84 40; Fax: 022 731 82 80). AAA
        044 (1 CD).
    El Khencheli, Ali. Chants des Aurès. Institut du Monde Arabe. Musikvertrieb 321024
        (Berbermusik aus dem algerischen Aurès-Massiv) (1 CD).
    Kheddam, Chérif. Les Grands Maîtres de la Chanson Kabyle . Les Artistes Arabes Associés.
        Librairie Arabe L’Olivier. AAA 060 (1 CD).
    Kheloui, Lounès. Master of the kabylian Chàabi. Wagram. Disques Office 3060982 WAG
        331 (1 CD).
    Lounes, Matoub. Eras Tili. EMI Arabia. Disques Office 0946 310994 27 (1 CD).
    Mêzel, Iness. Wedfel. Auvidis. Musikvertrieb SIILEX Y 225077 (1 CD).
    Takfarinas. Salamet. Musique Yal. Disques Office 3448 96320 1428 (1 CD).
    V.A.. Kabylie mouv’ – les étoiles berbères. Atoll Music. Disques Office 91090 (1 CD).
    Zerrouki, Allaoua. Les Grands Maîtres de la Chanson Kabyle . Les Artistes Arabes Associés.
        Librairie Arabe L’Olivier. AAA 048 (1 CD).

    Die Produktionen des Labels Blue Silver, auf dem Compact Discs von Idir,
    Matoub Lounes, Aït Menguellet und den meisten anderen kabylischen
    Musikern erschienen sind, sind in der Schweiz eher schwer erhältlich – auch hier
    hilft die arabische Buchhandlung in Genf oder der französische Internet-
    Vertrieb Archambault www.archambault.ca.

    → Published on November 09, 2011

    → Last updated on August 04, 2020

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    Thomas Burkhalter is an anthropologist/ethnomusicologist (PhD), AV-artist, and
    writer from Bern (Switzerland). He is the founder and director of Norient, the Norient
    Space (Norient.com), and the founder and strategic director of the Norient Film
    Festival (NFF). He co-directed documentary films (e.g. “Contradict”, Berner
    Filmpreis 2020 + Al-Jazeera Witness) and AV/theatre/dance performances, is the
    author and co-editor of several books, teaches regularly at universities, and runs
    workshops for arts institutions. His experimental radio feature, «Gqom Edits – A
    Durban Visit», was nominated for Prix Europa in 2017. Currently, he is working on a
    new music project, and on the experimental podcast series’ Timezones and South
    Asian Sound Stories with musicians from the UK, Bangladesh, India, and Pakistan.

    → Topics

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