Übersterblichkeit während der Corona-Pandemie - ifo Institut

 
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Joachim Ragnitz*
Übersterblichkeit während der Corona-Pandemie
Seit zwei Jahren hält die Covid-19-Pandemie Deutschland und die Welt in Atem. Seit dem erst-
maligen Auftreten des Virus in Deutschland am 27. Januar 2020 und seiner raschen Verbreitung
geht die Sorge um, dass viele Menschen infolge einer Infektion sterben könnten. Der nachfol-
gende Artikel zeichnet zunächst die bisherigen vier Wellen der Corona-Pandemie hinsichtlich
Infektionen und Todesfällen nach und untersucht dann, wie hoch die sogenannte „Übersterb-
lichkeit“ tatsächlich war. Insgesamt sind nach den hier vorgelegten Berechnungen seit Pande-
miebeginn rund 96 200 mehr Menschen gestorben als es unter normalen Umständen zu erwar-
ten gewesen wäre. Die Übersterblichkeit ist damit etwas niedriger als die Zahl der in diesem
Zeitraum vom RKI registrierten 113 400 Todesfälle im Zusammenhang mit einer Corona-Infek-
tion.

Seit annähernd zwei Jahren hält die Covid-19-Pande-          Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie und
mie Deutschland und die Welt in Atem. Seit dem erst-         die Ableitung weiterführender politischer Schlussfol-
maligen Auftreten des Virus in Deutschland am 27. Ja-        gerungen wird dabei mit Bedacht verzichtet – diese
nuar 2020 und seiner raschen Verbreitung in der Bevöl-       bleiben dem Leser bzw. den verantwortlichen Akteu-
kerung geht die Sorge um, dass viele Menschen infolge        ren in Bund und Ländern überlassen.
einer Infektion sterben könnten. Um dies – oder zumin-
dest eine Überlastung des Gesundheitssystems – zu            CORONA-INZIDENZEN UND -TODESFÄLLE
verhindern, wurden über die Zeit hinweg eine Vielzahl
unterschiedlicher Eindämmungsmaßnahmen ergrif-               Das Robert-Koch-Institut (RKI) veröffentlicht laufend
fen. Diese folgten allerdings nicht immer einer klaren       Angaben über Fallzahlen und Todesfälle im Zusam-
Linie und kamen häufig auch zu spät, um die ge-              menhang mit dem Coronavirus, auch nach Altersgrup-
wünschten Ziele tatsächlich zu erreichen. Inzwischen         pen aufgeschlüsselt. Abbildung 1 zeigt deutlich die bis-
sind vier größere Corona-Wellen zu verzeichnen, und          herigen vier Wellen der Corona-Pandemie: Die erste
aktuell werden mit einer fünften Welle nochmals hö-          Welle mit einer maximalen Inzidenz von 43,3 Infekti-
here Inzidenzwerte erreicht.1 All dies hat nicht nur bis-    onsfällen je 100 000 Einwohner3 in Kalenderwoche
lang als unumstößlich angesehene gesellschaftliche           (KW) 14/2020, die zweite Welle mit einem Höchststand
Grundüberzeugungen in Frage gestellt, sondern wohl           an Neuinfektionen von 210,1 Fällen je 100 000 Einwoh-
auch das Vertrauen in die Krisenbewältigungsfähigkeit        ner in KW 51/2020, die dritte Welle (Maximum
politischer Akteure beschädigt. Zudem ist Deutschland        174,1 Fälle je 100 000 Einwohner in KW 16/2021) und
(ebenso wie andere Länder) in schwere wirtschaftliche        schließlich die vierte Welle mit einem Höchstwert an
Turbulenzen geraten, aus denen man sich erst allmäh-         Neuinfektionen von 485,1 Fällen in KW 47/2021. Die
lich wieder zu befreien scheint.                             Sterbezahlen verlaufen (mit einer geringfügigen Verzö-
Der nachfolgende Artikel zeichnet zunächst die bishe-        gerung) in etwa gleichauf, liegen aber um ein Vielfa-
rigen vier Wellen der Corona-Pandemie hinsichtlich In-       ches niedriger: Auf dem Höhepunkt der zweiten Welle
fektionen und Todesfällen nach und richtet das Augen-        zu Beginn des Jahres 2021 lag die Zahl der coronabe-
merk dann auf die Frage, wie hoch die sogenannte             dingten Todesfälle je 100 000 Einwohner bei rund
„Übersterblichkeit“ im bisherigen Verlauf der Pande-         7 Personen, in der vierten Welle bei 3 Personen. Über
mie tatsächlich war. In gewisser Weise stellt der Beitrag    alle Altersgruppen hinweg sind bislang rund 1,6% aller
insoweit eine Fortsetzung früherer Arbeiten des ifo In-      mit Corona infizierten Personen gestorben; beschränkt
stituts dar,2 die sich allerdings allein auf das Jahr 2020   man sich auf das zweite Halbjahr 2021, in dem ein
bezogen. Auf eine Bewertung der getroffenen                  Großteil der Bevölkerung bereits einen (vollständigen)

*
    Prof. Joachim Ragnitz ist stellvertretender Geschäftsführer der Niederlassung Dresden des ifo Instituts – Leib-
    niz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e. V.

                                                                              ifo Dresden berichtet 1/2022 – vorab
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Abb. 1
Wöchentliche Infektionen und wöchentliche Todesfallzahlen (je 100 000 Einwohner)

                                  Infektionen je 100 000 Einwohner, insgesamt
                                                                                                      Infektionen
 600

 500

 400

 300

 200

 100

   0
       10 14 18 22 26 30 34 38 42 46 50                   1   5   9   13 17 21 25 29 33 37 41 45 49
                         2020                                                   2021      Kalenderwoche

                                       Todesfälle je 100.000 EW, insgesamt
                                                                                                       Todesfälle
   8
   7
   6
   5
   4
   3
   2
   1
   0
       10 14 18 22 26 30 34 38 42 46 50                   1   5   9   13 17 21 25 29 33 37 41 45 49
                    2020                                                         2021     Kalenderwoche

Quelle: RKI; Berechnungen des ifo Instituts.                                                          © ifo Institut

Impfschutz erhalten hatte, liegt das aggregierte Todes-       Gestorbenen (Anteil der „an“ Corona Gestorbenen:
fallrisiko in der Gesamtbevölkerung bei 0,6%. Auffällig       19,3%). Insgesamt wurde im Rahmen der Todesursa-
ist zudem, dass sich Infektionszahlen und Todesfälle in       chenstatistik im Jahr 2020 bei 47 800 Todesfällen ein
der dritten und vierten Corona-Welle deutlich entkop-         Zusammenhang mit dem Coronavirus diagnostiziert,
pelt haben. Dies dürfte auf die zunehmende Immuni-            während die Statistik des RKI lediglich eine Gesamt-
sierung der Bevölkerung durch Impfung zurückzufüh-            zahl an Coronatoten von 44 000 Personen ausweist.
ren sein.                                                     Dies deutet auf eine nicht unbeträchtliche Dunkelziffer
Für das Jahr 2020 liegen darüber hinaus auch differen-        bei der Zahl der vom RKI erfassten Corona-Todesfälle
zierte Ergebnisse aus der amtlichen Todesursachen-            hin.
statistik vor.4 Danach wurde bei 4,9% aller Sterbefälle       Sowohl Ansteckungs- als auch Todesfallrisiko unter-
in diesem Jahr eine Infektion mit dem Coronavirus             scheiden sich allerdings deutlich nach Altersgruppen.
nachgewiesen; ursächlich für den Tod war die Erkran-          Bekannt ist, dass insbesondere Personen im höheren
kung bei immerhin 4,0% aller Todesfälle. Zum Jahres-          Alter (bei mangelndem Impfschutz) nicht nur anfälliger
ende hin nahm der Anteil der Sterbefälle im Zusam-            für eine Infektion sind, sondern auch ein größeres Ri-
menhang mit einer COVID-19-Infektion allerdings deut-         siko für schwere Verläufe bis hin zum Tod aufweisen,
lich zu und lag im Dezember sogar bei 23,0% aller             während bei jüngeren Kohorten eine Ansteckung meist

                                                                               ifo Dresden berichtet 1/2022 – vorab
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harmlos verläuft (vgl. Abb. 2). Vor allem die Über-80-           in der Gruppe der Über-80-Jährigen wieder deutlich zu,
Jährigen waren im Verlauf der Pandemie deshalb akut              nachfolgend dann auch die Zahl der Todesfälle je
gefährdet: In dieser Altersgruppe infizierten sich im            100 000 Einwohner. Das Todesfallrisiko nach Infektion
Jahr 2020 2 918 Personen je 100 000 Einwohner; die               in dieser Altersgruppe sank jedoch deutlich auf 11,5%
Relation von Todesfällen zu Infektionen (als ungefäh-            im zweiten Halbjahr 2021. Damit bestätigt sich, dass
res Maß für das Sterblichkeitsrisiko) betrug insgesamt           eine Impfung zwar nicht unbedingt vor einer Infektion,
18,5%.                                                           wohl aber vor schweren Verläufen schützen kann. Das
Mit zunehmender Impfung insbesondere der vulnerab-               RKI gibt die „Impfeffektivität“ gegenüber einer Infek-
len Gruppen ab Jahresanfang 2021 war dieser Perso-               tion für die älteren Kohorten (über 60 Jahre) zum Jah-
nenkreis hingegen zunächst verhältnismäßig gut ge-               resende 2021 mit 67,2% bei Grundimmunisierung und
schützt; in der dritten Corona-Welle war hier nur eine           mit 87,8% bei erhaltener Auffrischungsimpfung an. Der
leicht erhöhte Zahl an Infektionen und Todesfällen zu            Schutz vor intensivmedizinischer Behandlung oder gar
beobachten. Erst mit nachlassendem Impfschutz                    Tod liegt selbst bei nur zwei erhaltenen Impfungen bei
nahm in der vierten Welle auch die Zahl der Infektionen          mehr als 90%.5

Abb. 2
Wöchentliche Infektionen und Todesfälle nach Altersgruppen (je 100.000 Einwohner)

                              Infektionen je 100 000 Einwohner nach Altersgruppen

                                                              0-29        30-60         60-79         >=80 Jahre
 700
 600
 500
 400
 300
 200
 100
     0
         10 14 18 22 26 30 34 38 42 46 50                 1     5    9   13 17 21 25 29 33 37 41 45 49
                      2020                                                         2021      Kalenderwoche

                              Todesfälle je 100 000 Einwohner nach Altersgruppen

                                                          0-29           30-60         60-79         >=80 Jahre
90
80
70
60
50
40
30
20
10
 0
         10 14 18 22 26 30 34 38 42 46 50             1         5    9   13 17 21 25 29 33 37 41 45 49
                       2020                                                        2021      Kalenderwoche
Quelle: RKI, Berechnungen des ifo Instituts.                                                             © ifo Institut

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Das Infektionsrisiko für die jüngeren Alterskohorten          Symptomen auch tatsächlich einem Test unterziehen.
war in den ersten drei Corona-Wellen demgegenüber             Insoweit könnte die tatsächliche Inzidenz bei geimpf-
verhältnismäßig gering, überstieg in der dritten und          ten Personen auch höher liegen als dies von der RKI-
insbesondere in der vierten Welle dann aber deutlich          Statistik ausgewiesen wird. Auffällig ist zudem auch
die Fallinzidenz in den älteren Bevölkerungsgruppen:          hier, dass die Inzidenzen selbst bei ungeimpften Perso-
In der Gruppe der 0-bis-19-Jährigen lag die Sieben-           nen in höherem Alter niedriger liegen als bei den jün-
Tage-Inzidenz auf dem Höchststand im Dezember 2021            geren Jahrgängen. Eine mögliche Erklärung dafür ist
bei 640 Fällen, in der Gruppe der 20-bis-59-Jährigen          es, dass ungeimpfte Ältere in Anbetracht des erhöhten
immerhin noch bei 527 Fällen, jeweils je 100 000 Ein-         Risikos sich vorsichtiger verhalten als jüngere Unge-
wohner der jeweiligen Altersgruppe gerechnet. Ob dies         impfte; denkbar ist aber auch, dass eine Infektion bei
eine Folge leichtsinnigeren Verhaltens dieser Kohorten        jüngeren Personen wegen eines verstärkten Test-
oder Konsequenz möglicherweise noch geringer Impf-            zwangs (beispielsweise am Arbeitsplatz) eher entdeckt
quoten in diesen Bevölkerungsgruppen ist, lässt sich          wird als bei älteren Personen.
an dieser Stelle nicht klären. In den Sterbeziffern spie-     Nach einer Infektion mussten zuletzt rund 33,6% der
gelt sich das indes nicht in gleicher Weise wider. Die        Infizierten ohne Impfschutz im Alter von 60 Jahren und
Zahl der coronabedingten Todesfälle blieb hier relativ        mehr im Krankenhaus behandelt werden; bei den
zur Zahl der Infektionen mit 0,0% bzw. 0,1% im zweiten        zweifach Geimpften dieser Altersgruppe sind es ledig-
Halbjahr 2021 weiterhin äußerst gering. Maßnahmen,            lich 12,7%. Bei Jüngeren liegt die Hospitalisierungs-
die dem Bevölkerungsschutz dienen sollen, wären in-           quote demgegenüber mit 4,2% bei Ungeimpften und
soweit auch weiterhin primär auf die besonders vul-           1,4% bei doppelt Geimpften deutlich niedriger. Über
nerable Gruppe der älteren Personen zu konzentrie-            die Zahl der Todesfälle nach Impfstatus liegen keine In-
ren.                                                          formationen vor.
Ab KW 28/2021 liegen darüber hinaus auch Inzidenzen
nach Impfstatus vor (vgl. Abb. 3). Es zeigt, sich, dass die   ÜBERSTERBLICHKEIT
Zahl der Infektionen bei den vollständig (wenigstens
zweifach) geimpften Personen deutlich geringer ist als        Das Statistische Bundesamt veröffentlicht wöchentlich
bei den ungeimpften Personen. Allerdings muss dabei           (vorläufige) Zahlen zur Zahl der Todesfälle und ver-
berücksichtigt werden, dass Geimpfte nur dann als in-         gleicht diese mit einem „normalen“ Verlauf der Sterb-
fiziert erfasst werden, wenn sie sich aufgrund von            lichkeit.6

Abb. 3
Wöchentliche Infektionen je 100 000 Einwohner nach Impfstatus, 2021
                              Infektionen je 100 000 Einwohner nach Impfstatus
                               Ungeimpfte 18-59 Jahre                          Grundimmunisierte 18-59 Jahre
                               Ungeimpfte 60+ Jahre                            Grundimmunisierte 60+ Jahre
                               Mit Auffrischimpfung 18-59 Jahre                Mit Auffrischimpfung 60+ Jahre
 400,0
 350,0
 300,0
 250,0
 200,0
 150,0
 100,0
  50,0
    0,0
          28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52
                                                                                           Kalenderwoche
Quelle: RKI (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Daten/Inzidenz_ Impfsta-
tus.xlsx?__blob=publicationFile).                                                              © ifo Institut

                                                                               ifo Dresden berichtet 1/2022 – vorab
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Auch vom ifo Institut wurden schon in der Vergangen-         Jahresanfang/-ende werden berücksichtigt. Für das
heit Rechnungen zur Übersterblichkeit in der Corona-         Jahr 2021, für das noch keine statistischen Angaben zu
Pandemie vorgelegt, die einige Defizite der Berechnun-       Geburten und Wanderungen vorliegen, wurden die An-
gen des Statistischen Bundesamtes beheben. Diese             gaben aus der aktualisierten Bevölkerungsvorausbe-
werden im Folgenden aktualisiert. Gegenüber der da-          rechnung 2021-2035 des Statistischen Bundesamtes
maligen Untersuchung wird für die Neuberechnung al-          vom September 2021 verwendet. Die so ermittelte Be-
lerdings eine nochmals veränderte Methodik herange-          völkerung stellt insoweit einen hypothetischen Wert
zogen, so dass die Ergebnisse nicht uneingeschränkt          dar, dass dieser unter der Annahme ermittelt wird,
miteinander vergleichbar sind (vgl. Box).                    dass es im jeweiligen Betrachtungsjahr keine Über-
                                                             sterblichkeit gegeben hätte.a
Infobox                                                      Die erwartete Zahl der Todesfälle ergibt sich dann, in-
Methodik zur Ermittlung der Zahl der erwarteten              dem die in Schritt 1 und 2 ermittelten Sterbewahr-
Todesfälle                                                   scheinlichkeiten nach Altersgruppen auf die in Schritt
                                                             3 ermittelte Bevölkerung pro Woche angewendet wer-
Um die Übersterblichkeit zu ermitteln, ist die Definition
                                                             den. Für die nachfolgende Darstellung wurden schließ-
des Referenzpfades für die unter normalen Umständen
                                                             lich die einzelnen Altersjahrgänge zu vier Altersgrup-
zu erwartenden Sterbefälle essentiell. Das Statistische
                                                             pen (0-29 Jahre; 30-59 Jahre; 60-79 Jahre sowie mehr
Bundesamt wählt hierzu den Durchschnitt (Median)
                                                             als 80 Jahre) aggregiert.
der Todesfälle im gleichen Zeitraum der jeweils voran-
gehenden vier Jahre. Kritisch daran ist vor allem, dass
                                                             Abb. 4
der Prozess der Alterung der Gesellschaft nicht berück-
                                                             Referenzpfad Sterbefälle 2020-2021
sichtigt wird. Dieser führt dazu, dass die Zahl der im je-
                                                                          Referenzpfad Sterbefälle 2020-2021
weiligen Berichtsjahr zu erwartenden Todesfälle unter-
                                                                             ifo Institut      Statistisches Bundesamt
schätzt wird (vgl. Abb. 4). Die Übersterblichkeit wird
                                                             22 000
damit zu hoch ausgewiesen.
                                                             21 000
Um das beschriebene Problem zu vermeiden, wird hier
                                                             20 000
von den Sterbewahrscheinlichkeiten nach Altersjahren         19 000
und Geschlecht aus der aktuellen Sterbetafel (2018/20)       18 000
ausgegangen. Diese wird zunächst entsprechend dem            17 000
Trend der Jahre 2015-2019 bis 2020 bzw. 2021 fortge-         16 000
schrieben, um dem gewöhnlichen Anstieg der Lebens-           15 000
erwartung Rechnung zu tragen. Im zweiten Schritt wird                 1    9 17 25 33 41 49 4 12 20 28 36 44 52
diese jahresdurchschnittliche Sterbewahrscheinlich-                          2020                    2021
keit auf die einzelnen Kalenderwochen verteilt. Hierzu                                           Kalenderwoche
wird das (mit einem gleitenden Durchschnitt über             Quelle: Statistisches Bundesamt, Berechnungen des
5 Wochen geglättete) Saisonmuster der Sterbefälle der        ifo Instituts.                        © ifo Institut
Jahre 2012 bis 2019 verwendet.
Um hieraus die Zahl der Todesfälle zu ermitteln, wird
                                                             a
                                                                 Da eine im vorangehenden Jahresverlauf bereits
weiterhin die Bevölkerung in den einzelnen Kalender-             eingetretene Übersterblichkeit nicht berücksichtigt
wochen benötigt. Diese wird ermittelt, indem die Be-             wird, wird die erwartete Sterbezahl in der Wochen-
völkerung zum Jahresbeginn nach Altersjahren fortge-             betrachtung geringfügig zu hoch ausgewiesen. Der
schrieben wird. Dabei wird unterstellt, dass in jeder Ka-        Effekt kann hier aber vernachlässigt werden.
lenderwoche jeweils 1/52 eines Jahrgangs in die
nächsthöhere Altersgruppe aufsteigt (die Geburten des        Es zeigt sich, dass in allen vier bisherigen Corona-Wel-
Betrachtungsjahres werden gleichmäßig auf alle Ka-           len deutlich mehr Todesfälle zu verzeichnen waren als
lenderwochen aufgeteilt). Für die Wanderungen wer-           es unter normalen Umständen zu erwarten gewesen
den die Jahreswerte der amtlichen Wanderungsstatis-          wäre – allerdings auch nicht so viele, wie es der einfa-
tik nach Altersgruppen verwendet und ebenfalls auf           che Mittelwertvergleich des Statistischen Bundesamt
die einzelnen Kalenderwochen verteilt. Für die Todes-        ausweist. Der entscheidende Unterschied liegt darin,
fälle hingegen wird – ausgehend von dem in der Ster-         dass hier die Alterung der Bevölkerung berücksichtigt
betafel ermittelten Wert – das Saisonmuster der To-          ist, die dazu führt, dass ohnehin eine größere Zahl an
desfälle verwendet. Unvollständige Wochen am                 Todesfällen zu erwarten ist als in vorangehenden

                                                                                  ifo Dresden berichtet 1/2022 – vorab
AKTUELLE FORSCHUNGSERGEBNISSE

Jahren.7 So dürfte die Zahl der Personen im Alter von      Jährigen, weitere 30% auf die Gruppe der 60-bis-79-
80 Jahren und mehr, die ohnehin das höchste Todes-         Jährigen. Bei den jüngeren Kohorten blieb die Über-
fallrisiko aufweisen, zum Jahresende 2021 um rund          sterblichkeit hingegen weiterhin unauffällig.
450 000 Personen größer gewesen sein als zum Jahres-       Seit dem ersten Todesfall in Zusammenhang mit einer
beginn 2020. Ohne Beachtung dieses Effekts wird des-       Corona-Erkrankung in KW 10/2020 sind bis Jahresende
halb die Übersterblichkeit deutlich zu hoch ausgewie-      2021 rund 96 200 oder 5,5% mehr Sterbefälle zu ver-
sen: Rund ein Drittel der vom Statistischen Bundesamt      zeichnen als es zu erwarten gewesen wäre, die meisten
berichteten Übersterblichkeit seit Pandemiebeginn          davon (64%) in der Altersgruppe der Über-80-Jährigen,
(146 000 Fälle) dürfte auf diesen Alterungseffekt zu-      weitere 28% in der Altersgruppe von 60 bis 79 Jahren.
rückzuführen sein.                                         Damit liegt die gesamte Übersterblichkeit seit Pande-
Verhältnismäßig gering war die Übersterblichkeit, über     miebeginn um rund 15% niedriger als es die Zahl der
alle Altersgruppen gerechnet, in der ersten sowie der      Corona-Toten (113 400) nahelegt. Offenbar wurde ein
dritten Welle der Corona-Pandemie (vgl. Abb. 5). Hier      Teil der Übersterblichkeit in den vier Corona-Wellen
sind zusammengenommen etwa 15 000 Personen                 also durch niedrigere Todesfallzahlen in den Phasen
mehr gestorben als es unter normalen Umständen zu          geringer Inzidenzen ausgeglichen. Tatsächlich ist ins-
erwarten gewesen wäre. Dies entspricht einer Über-         besondere nach der zweiten Welle eine deutliche „Un-
sterblichkeit von rund 9 Todesfällen je 100 000 Ein-       tersterblichkeit“ zu verzeichnen. Die tatsächliche Zahl
wohnern im Durchschnitt der beiden Wellen. Ganz an-        der Sterbefälle liegt in dieser Phase der Pandemie
ders hingegen die zweite und die vierte Welle; hier lag    deutlich niedriger als die Zahl der erwartbaren Todes-
die Übersterblichkeit in der Gesamtbevölkerung bei         fälle (Differenz zwischen der dunkelgrauen und der
mehr als 51 600 bzw. 36 700 Personen. Je 100 000 Ein-      grünen Linie in Abbildung 6). Vor allem in der Gruppe
wohner gerechnet, waren dies 62,0 bzw. 44,2 Fälle.         der 60-bis-79-Jährigen sowie der Über-80-Jährigen
Von Übersterblichkeit betroffen waren dabei insbeson-      war im Frühjahr 2021 eine auffällig geringe Sterblich-
dere Personen in höherem Alter: So lag die Sterblich-      keit zu beobachten. Dies legt den Verdacht nahe, dass
keit in der zweiten Corona-Welle bei den Über-80-Jäh-      in nicht wenigen Fällen eine Ansteckung mit dem
rigen zeitweise um mehr als 40% über dem erwarteten        Coronavirus dazu geführt hat, dass ohnehin ge-
Wert; bei den 60-bis-79-Jährigen waren es immerhin         schwächte Personen früher gestorben sind als es sonst
noch knapp 25%. Umgerechnet auf 100 000 Einwohner          der Fall gewesen wäre. Umgekehrt könnte die höhere
belief sich die Übersterblichkeit in diesen beiden Al-     Zahl an nicht im Zusammenhang mit einer Corona-In-
tersgruppen damit auf 642,4 bzw. 65,6 Fälle. Die Zahlen    fektion stehenden Todesfällen zum Jahresende 2021
zeigen somit eindrücklich, dass es insbesondere in der     auf eine nicht unbeträchtliche Dunkelziffer an Infektio-
zweiten Welle der Pandemie nicht gelungen ist, die be-     nen hindeuten.
sonders vulnerablen Gruppen ausreichend zu schüt-
zen, wohl auch deshalb, weil ein Teil der getroffenen      FAZIT
Maßnahmen – wie z.B. Schulschließungen oder der
Lockdown des öffentlichen Lebens – an dieser Bevöl-        Den zweiten Jahrestag des Ausbruchs der Corona-Pan-
kerungsgruppe weitgehend vorbeigingen.                     demie nimmt das ifo Institut zum Anlass, erneut einen
Auch am Jahresende 2021 – in der vierten Welle der         Blick auf die Übersterblichkeit in Deutschland zu wer-
Corona-Pandemie – nahm die Übersterblichkeit vor al-       fen. Es zeigt sich deutlich, dass in den bisherigen vier
lem bei den älteren Kohorten stark zu, möglicherweise      Wellen der Pandemie weitaus mehr Menschen gestor-
infolge eines geringeren Impfschutzes gegenüber der        ben sind als es unter normalen Umständen zu erwar-
Delta-Variante des Coronavirus. In der Gruppe der          ten gewesen wäre – aber wiederum auch weniger, als
Über-80-Jährigen stieg die Übersterblichkeit in der        es die gängige Betrachtung des Statistischen Bundes-
vierten Welle bereits wieder auf einen Wert von 367 Fäl-   amtes nahelegt, die die Folgen der Alterung in Deutsch-
len je 100 000 Einwohner dieser Altersgruppe. Unter        land nicht hinreichend berücksichtigt. Insgesamt wa-
den 60-bis-79-Jährigen war ebenfalls wieder eine deut-     ren nach den hier vorgelegten Berechnungen seit Aus-
liche Übersterblichkeit zu verzeichnen; mit einem Wert     bruch der Pandemie zusammengenommen rund
von 59,1 Fällen je 100 000 Einwohner war die Gefähr-       96 200 zusätzliche Todesfälle zu verzeichnen. Dies sind
dung dieser Altersgruppe aber deutlich geringer als bei    rund 15% weniger als die Zahl der vom RKI in diesem
den älteren Personen. Rund 63% der zusätzlichen To-        Zeitraum insgesamt registrierten Todesfälle im Zusam-
desfälle entfiel damit auf die Gruppe der Über-80-         menhang mit einer Corona-Infektion.

                                                                            ifo Dresden berichtet 1/2022 – vorab
AKTUELLE FORSCHUNGSERGEBNISSE

Abb. 5
Wöchentliche Todesfälle je 100.000 Einwohner (insgesamt und nach ausgewählten Altersgruppen)

                                              Todesfälle je 100 000 Einwohner, insgesamt
                                                                                               erwartet        tatsächlich
35
30
25
20
15
10
 5
 0
         1       5       9 13 17 21 25 29 33 37 41 45 49 53 4               8 12 16 20 24 28 32 36 40 44 48 52
                                       2020                                                  2021         Kalenderwoche

                                              Todesfälle je 100 000 Einwohner, 60-79 Jahre
                                                                                               erwartet        tatsächlich
45
40
35
30
25
20
15
10
 5
 0
         1       5       9    13 17 21 25 29 33 37 41 45 49 53          4   8   12 16 20 24 28 32 36 40 44 48 52
                                        2020                                                 2021         Kalenderwoche
                                      Todesfälle 100 000 Einwohner, 80 Jahre und mehr
                                                                                             erwartet        tatsächlich
 300

 250

 200

 150

 100

  50

     0
             1       5       9 13 17 21 25 29 33 37 41 45 49 53 4            8 12 16 20 24 28 32 36 40 44 48 52
                                      2020                                                   2021         Kalenderwoche
Quelle: Statistisches Bundesamt; Berechnungen des ifo Instituts.                                              © ifo Institut

                                                                                      ifo Dresden berichtet 1/2022 – vorab
AKTUELLE FORSCHUNGSERGEBNISSE

Abb. 6
Wöchentliche Todesfälle 2020/21 mit bzw. ohne Corona-Erkrankung und erwartete Anzahl der Todesfälle

                                       Todesfälle 2020-2021, insgesamt
                                                             erwartet         tatsächlich        ohne Corona
 30 000

 25 000

 20 000

 15 000

 10 000

  5 000

      0
          1   5   9   13 17 21 25 29 33 37 41 45 49 53         4   8    12 16 20 24 28 32 36 40 44 48 52
                            2020                                                2021           Kalenderwoche
Quelle: Statistisches Bundesamt, RKI; Berechnungen des ifo Instituts.                              © ifo Institut

Unstrittig ist, dass jeder dieser Todesfälle ein bekla-    https://www.ifo.de/publikationen/2021/monogra-
genswertes Schicksal für die Betroffenen wie auch für      phie-autorenschaft/hat-die-corona-pandemie-zu-ei-
die Angehörigen bedeutet. Um so wichtiger ist es, Maß-     ner-uebersterblichkeit.
nahmen zu ergreifen, die geeignet sind, wenn schon         Ragnitz, Joachim (2021b), „Hat die Corona-Pandemie
nicht Infektionen, so doch schwere Krankheitsverläufe      zu einer Übersterblichkeit in Deutschland geführt? –
zu verhindern. Nicht alle in den letzten beiden Jahren     Aktualisierung vom 24. Februar 2021“, Pressemittei-
getroffenen Maßnahmen erfüllten diesen Anspruch.           lung des ifo Instituts vom 24. Februar 2021, Download
                                                           unterhttps://www.ifo.de/publikationen/2021/mono-
Wichtig erscheint es vor allem, die vulnerablen Grup-
                                                           graphie-autorenschaft/corona-pandemie-uebersterb-
pen besonders zu schützen; die hier vorgelegten Zah-
                                                           lichkeit-aktualisierung-feb2021.
len zeigen, dass dies bis heute nicht ausreichend ge-
                                                           Ragnitz, Joachim (2021c), „Corona-Pandemie, Über-
lingt. Hier ist beispielsweise an die Konzentration von
                                                           sterblichkeit und der Lockdown der Wirtschaft“, ifo
Drittimpfungen auf die besondere gefährdeten höhe-         Dresden berichtet 28 (02), S. 14-21.
ren Altersgruppen oder auch an eine altersgestaffelte
                                                           RKI – Robert-Koch-Institut (Hrsg.) (2022), Geschätzte
Impfpflicht zu denken. Dies könnte es auch erleichtern,
                                                           Effektivität der COVID-19-Impfungen basierend auf
auf weniger zielgenaue Maßnahmen mit teilweise stark       den Meldedaten, Download unter https://www.rki.de.
negativen wirtschaftlichen Nebenwirkungen zu ver-
                                                           Statistisches Bundesamt – Destatis (Hrsg.) (2021), Mo-
zichten.                                                   natsbericht des Todesursachenstatistik mit Fokus auf
                                                           COVID-19-Sterbefälle – Vorläufige Fallzahlen für aus-
LITERATUR                                                  gewählte Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen für
                                                           die Monate Januar 2020 bis Februar 2021, Download
De Nicola, G. und G. Kauermann (2022), „Übersterb-         unter https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesell-
lichkeit in der vierten Welle“, CODAG-Bericht Nr. 25,      schaft-Umwelt/Gesundheit/Todesursachen/Tabel-
14. Januar 2022, München, S. 11-24, Download unter         len/sonderauswertung-todesursachen.html
https://www.covid19.statistik.uni-muen-                    Statistisches Bundesamt – Destatis (2022), Sonderaus-
chen.de/pdfs/codag-bericht-25.pdf.                         wertung zu Sterbefallzahlen der Jahre 2020 bis 2022,
Ragnitz, Joachim (2021a), „Hat die Corona-Pandemie         Download unter https://www.destatis.de/DE/The-
zu einer Übersterblichkeit in Deutschland geführt?“,       men/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Sterbefa-
Pressemitteilung des ifo Instituts vom 7. Januar 2021,     elle-Lebenserwartung/sterbefallzahlen.html (Stand:
Download unter                                             18. Januar 2022)

                                                                            ifo Dresden berichtet 1/2022 – vorab
AKTUELLE FORSCHUNGSERGEBNISSE

1
    Datenstand 20.1.2022. Die nachfolgende Betrach-      4
                                                             Vgl. Statistisches Bundesamt – Destatis (2021).
    tung beschränkt sich auf die abgeschlossenen         5
                                                             Vgl. RKI (2022).
    Jahre 2020 und 2021, auch deshalb, weil aufgrund     6
                                                             Vgl. Statistisches Bundesamt – Destatis (2022).
    von Meldeverzögerungen die bisher für 2022 vor-
    liegenden statistischen Angaben noch als vorläufig
                                                         7
                                                             Altersadjustierte Zahlen zur Übersterblichkeit wer-
    zu betrachten sind.                                      den z. B. auch von der CODAG-Arbeitsgruppe an
                                                             der LMU München berechnet, vgl. de Nicola und
2
    Vgl. Ragnitz (2021 a-c).
                                                             Kauermann (2022).
3
    In diesem Abschnitt werden analog zur Vorgehens-
    weise des RKI die Einwohnerzahlen zum jeweiligen
    Jahresbeginn verwendet.

                                                                           ifo Dresden berichtet 1/2022 – vorab
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