Bibliothek und Medien - Peter Lang Publishing
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Bibliothek und Medien Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft der Bibliotheken und Dokumentationsstellen der Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa- forschung (ABDOS) e.V. 33 (2013), Nr. 2 ISSN 2194-7392 Verlag Otto Sagner - 978-3-631-74192-4 Downloaded from PubFactory at 09/19/2021 02:12:30PM via free access
Bibliothek und Medien. Mitteilungen der ABDOS e.V. 33 (2013), Nr. 2 Herausgeber Arbeitsgemeinschaft der Bibliotheken und Dokumentationsstellen der Ost-, Ostmittel- und Südosteuropaforschung e.V. 1. Vorsitzender Dr. Jürgen Warmbrunn c/o Herder-Institut, Forschungsbibliothek Gisonenweg 5-7 D-35037 Marburg Telefon +49 (0) 6421/184-150 Fax +49 (0) 6421/184-139 warmbrunn@staff.uni-marburg.de Redaktion Dr. Hans-Jakob Tebarth (Leitung; Martin-Opitz-Bibliothek) Dr. Arkadiusz Danszczyk (Martin-Opitz-Bibliothek) Dr. Josef Steiner (Österreichische Nationalbibliothek) c/o Martin-Opitz-Bibliothek Berliner Platz 5 44623 Herne Telefon +49 (0) 2323/16-2106 Fax +49 (0) 2323/16-2609 hans-jakob.tebarth@herne.de Bezug Die Zeitschrift Bibliothek und Medien kann über den Buch- handel, den ABDOS e.V. sowie direkt beim Verlag abonniert werden: Verlag Otto Sagner c/o Kubon & Sagner GmbH Heßstraße 39/41 80798 München Telefon +49 (0) 89/54218-106 Fax + 49 (0) 89/54218-226 verlag@kubon-sagner.de Der Preis pro Jahrgang beträgt EUR 12,00 inkl. Versand innerhalb Deutschlands (bei internationalem Versand zzgl. der tatsächlich anfallenden Versandkosten). Mitglieder des ABDOS e.V. erhalten die Mitteilungen im Rahmen ihrer Mitgliedschaft automatisch kostenlos. Für die in „Bibliothek und Medien“ veröffentlichten Beiträge sind die Auto- rinnen und Autoren verantwortlich. Nachdruck unter Angabe der Quelle gegen zwei Belegexemplare an die Redaktion erlaubt. Beiträge werden an die Redaktion erbeten. © bei ABDOS e.V. Druck und Bindung: Kubon & Sagner GmbH, München Printed in Germany Printversion: ISSN 2194-7392 (ISSN 2194-7406 für die Internet-Version) - 978-3-631-74192-4 Downloaded from PubFactory at 09/19/2021 02:12:30PM via free access
Editorial Inhalt Liebe Leserinnen und Leser, Beiträge liebe Kolleginnen und Kollegen, Pascale Mannert hin und wieder kommt es vor, dass mit Beiträgen in Die Evangelische Kirche Augsburgi- wissenschaftlichen Zeitschriften Anstöße gegeben schen und Helvetischen Bekenntnisses werden können, die neue wissenschaftliche Forschun- in Polen. Der Zöckler´sche Nachlass gen befördern. Das ist sicher der Idealfall, wenn auch in der Martin-Opitz Bibliothek ................. 1 nicht selbstverständlich. So konnte Dirk-Gerd Erpen- beck in Ausgabe 1/2013 die Identität eines Autors für Günther Schmook Deutsch-Russisch und Russisch-Deutsch-Überset- „... der Russe fügt sich leichter, wenn zungshilfen aus dem frühen 19. Jahrhundert klären. man ihn in seiner Sprache anredet.“ Im aktuellen Heft nun steuert Günther Schmook eine umfassende Kollektion derartiger Sprach-Hilfsmittel ̶ Zur Bedeutung der russischen aus Napoleonischer Zeit bei, die sicher nicht nur Sla- Wörterbücher und Dolmetscher visten, sondern sicher auch Historiker und Kulturwis- 1813-1815 ................................................... 6 senschaftler – von Bibliophilen einmal ganz abgese- hen – interessieren und ansprechen werden. Elisabeth Simon Sicher ebenso erfreulich ist es, wenn eine Redaktion „Die Kunstanschauung einer purita- den Beitrag einer jungen Fachkollegin anzeigen kann, nischen Kunst ist derart, ...“ ...................... 19 die im Rahmen der Arbeiten an ihrer Dissertation die Bestände einer der einschlägigen und in der ABDOS Thomas Braun seit vielen Jahren engagierten Bibliothek durchforscht und nutzt. Pascale Mannert besucht seit geraumer Jetzt fit machen für das Internetproto- Zeit regelmäßig die Martin-Opitz-Bibliothek und koll der nächsten Generation .................... 21 forscht zur Evangelischen Kirche Augsburgischen Neue Publikationen ...................................... 23 und Helvetischen Bekenntnisses in Polen. In Herne werden die Archive der Deutschen aus Mittelpolen Miszellen und Ankündigungen ................ 39 und Wolhynien sowie der Galiziendeutschen aufbe- ___________________________ wahrt. Hinzu kommen Teilnachlässe und Vorlässe wie der von Herrn Professor Erasmus Zöckler (lebt in Bad von den „lesewütigen“ Russen nicht mehr uneinge- Oeynhausen), die sukzessiv erschlossen werden. Pas- schränkt haltbar, und die häufig als Kulturkrankheit cale Mannert konnte die Genehmigung erwirken, an gezichtige Handy-Manie nebst Mediensucht hat Zöcklers Vorlass, der in weiten Teilen seine Großel- längst flächendeckend Einzug gehalten. Aber das Le- tern Theodor und Lillie Zöckler betrifft, die wiederum sen ist noch nicht ausgestorben ... und wird es wohl die Zöckler´schen Anstalten in Stanislau/Galizien auch nicht. (heute Ivano-Frankivs‘k, polnisch Stanisławów) ge- Einen kleinen Abstecher in die IT steuert Thomas gründet und geleitet haben. Ein (zu) wenig bekann- Braun als Geschäftsführer eines Servicebetriebs bei. ter Abschnitt deutscher Geschichte im östlichen Eu- Die Änderung der Internetadressen klingt unspekta- ropa bzw. in der Ukraine. Die Missionstätigkeit der kulär, kann aber zu massiven Problemen bei der Er- evangelischen Kirche(n) unter Ukrainern dürfte eine reichbarkeit unserer Homepages und Kataloge füh- Forschungslücke sein, die nun von der jungen Fach- ren. Aber lesen Sie selbst! kollegin zumindest angestoßen wird. (Der Vorlass ist Hans-Jakob Tebarth gesperrt, die Genehmigung zum Zugang kann über (für die Redaktion) die Martin-Opitz-Bibliothek beatragt werden.) Elisabeth Simon hat nach einer kleinen Pause wie- Pascale Mannert der einen Beitrag geliefert, der die Ergebnisse und Erlebnisse ihrer Teilnahme an einem Kongress in Moskau im November 2013 zusammenfasst. Unter Die Evangelische Kirche Augsburgi- dem Titel Proceedings on spaces of childhood: the ex- schen und Helvetischen Bekenntnisses perience of Russia and the world stand einerseits die in Polen. Der Zöckler‘sche Nachlass in besuchte Tagung, andererseits ist der gleichnamige Tagungsband ausnahmsweise schon pünktlich zur Ta- der Martin-Opitz Bibliothek gung erschienen. Das Thema Leseförderung steht im Seit 2009 übernahm die Martin-Opitz-Bibliothek eine Zentrum des Interesses; offenbar ist das „Vor-“Urteil Sammlung Archivalien aus dem Besitz des Hilfsko- Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 2 - 978-3-631-74192-4 1 Downloaded from PubFactory at 09/19/2021 02:12:30PM via free access
mitees der Galiziendeutschen e.V. in mehreren Teil- mit 428 angegeben. Das Kinderheim entwickelte sich lieferungen; hinzu kam ein Bestand aus dem Besitz zum Kernstück der allmählich entstehenden, nach von Professor Dr. Erasmus Zöckler, einem Enkel den Gründern benannten Zöckler‘schen Anstalten. Im Theodor und Lillie Zöcklers. Die letztgenannten Laufe der Jahre wurde das deutschsprachige Schulwe- übernommenen Materialien enthalten Unterlagen der sen auf- und ausgebaut und das Kinderheim begann, Evangelischen Kirche Augsburgischen und Helve- auch die Funktion eines Internats zu übernehmen. tischen Bekenntnisses, der Familie Zöckler und der Dem Heim wurde ein Diakonissenmutterhaus zur Zöckler‘schen Anstalten und nehmen in der vorläu- Seite gestellt, nach dem Ersten Weltkrieg wurde auch figen Erschließung in der MOB ein Volumen von 20 eine Fabrik für Landwirtschaftsmaschinen gegründet. Kartons ein.1 Die Finanzierung dieses Werkes mit den dafür not- Bei der Evangelischen Kirche Augsburgischen wendigen Grundstückskäufen und Bauten erfolgte und Helvetischen Bekenntnisses in Polen handelt es anfangs aus Mitteln einer Erbschaft Lillie Zöcklers, sich um jene Gemeinden der ehemals Wien unterstell- darüber hinaus durch Spenden aus evangelischen ten Kirche, die sich nach dem Ersten Weltkrieg in der Kreisen vor allem des Auslandes (Europa, aber auch Zweiten Polnischen Republik als eigene Kirche kon- Amerika). Um das in Stanislau/Stanisławów verfolgte stituierten. Zahlreiche Gemeinden aus dem Teschener Tätigkeitsfeld inhaltlich abzurunden, ist noch die ab Schlesien trugen diese Entwicklung nicht mit, son- 1925 aufgenommene Missionstätigkeit unter Ukrai- dern schlossen sich der Evangelisch-Augsburgischen nern zu erwähnen. Kirche an, die ihren Sitz in Warschau hatte. Der nach Im Ersten Weltkrieg flohen die Familie und die diesem Schritt rund 33.000 Gläubige zählenden Kir- Angehörigen der Anstalten nach Gallneukirchen bei che stand bis 1924 Superintendent Fritsche in Biała Linz, später auch in die Schweiz. Die Familie und ei- vor, nach dessen Tod gingen die Aufgaben auf seinen nige Mitarbeiter kehrten im Oktober 1917 zurück und Stellvertreter Theodor Zöckler in Stanislau (Stanisła- holten Ende 1919 rund 170 in Gallneukirchen zurück- wów/ Ivano-Frankivs‘k) über, der allerdings nie im gelassene Kinder nach. In Stanislau erlebten sie erst Amt bestätigt wurde. die Gründung der Westukrainischen Volksrepublik, Der aus Greifswald stammende Theodor Zöck- deren Hauptstadt mehrere Monate lang Stanislau war, ler (* 5. März 1867 in Greifswald; † 18. September später wurde die Region Teil der Zweiten Polnischen 1949 in Stade) war noch vor Abschluss seines Studi- Republik und Stanisławów Hauptstadt der gleichna- ums nach Galizien gegangen und hatte in Stanislau migen Woiwodschaft. Bis zum Beginn des Zweiten mit dem Aufbau des Gemeindelebens begonnen; nach Weltkrieges erlebten die Anstalten eine Phase der ver- seinem Examen und der kurz darauf folgenden Hoch- hältnismäßig ungestörten Existenz, ehe ihre Zöglinge zeit mit Lillie Bredenkamp (* 21.2.1874 in Kuppen- und Mitarbeiter nach Beginn des Zweiten Weltkrieges tin, Mecklenburg, † 22.12.1968 in Weende) ging das Weihnachten 1939 ins „Wartheland“ umgesiedelt Ehepaar 1893 gemeinsam nach Stanislau, einer Stadt, wurden. Im Winter 1945 wurden Teile der Zöck- die in einer vor allem von Ukrainern, Polen und Juden ler‘schen Anstalten unter dem Namen „Diakonis- bevölkerten Region lag. Die Deutschen machten 1% senmutterhaus Ariel“ in Stade wiederaufgebaut, wo der Stadtbevölkerung aus, unter ihnen fanden sich so- Theodor Zöckler 1949 starb. 1951 erfolgte der letzte wohl Protestanten als auch Katholiken. Theodor Zö- Umzug der Anstalten ans Evangelische Krankenhaus ckler war zu dieser Zeit Angestellter einer dänischen in Göttingen-Weende, wo Lillie Zöckler 1968 starb. Judenmission, sollte sich aber ausdrücklich nicht der Das von der Martin-Opitz-Bibliothek übernommene Missionstätigkeit widmen. Stattdessen bestand seine Material stellt eine wertvolle Ergänzung zu den eben- Aufgabe darin, das nur sehr schwach entwickelte Ge- falls dort vorhandenen Verfilmungen der Lemberger meindeleben in der evangelischen Kirche aufzubauen Pfarramts- und Superintendentialakten dar, die im und, damit einhergehend, die Gemeindemitglieder an Auftrag des Hilfskomitees der Galiziendeutschen er- die Kirche zu binden. Im Kontext dieser Aufgaben ist stellt wurden2 und vervollständigt den deutlich klei- die Gründung eines Kinderheimes zu sehen, in dem neren Nachlass der Zöckler‘schen Anstalten, der im verwaiste oder als stark vernachlässigt geltende Kin- Evangelischen Krankenhaus Göttingen-Weende auf- der aus evangelischen Familien aufgenommen wer- bewahrt und von einem anderen Enkel, Christofer den sollten, um ihnen zum einen ein Aufwachsen in Zöckler, sowie einer Urenkelin, Bettina Zöckler, ge- gesicherten Verhältnissen zu ermöglichen und zum meinsam mit Vertretern des Diakonissenmutterhauses anderen, um ihre Aufnahme in katholische, polnisch- Ariel/ Hospiz an der Lutter e.V. betreut wird. Zu dem sprachige Einrichtungen dieser Art zu verhindern. nach Herne verbrachten Quellenmaterial liegt bisher Das 1896 gegründete Kinderheim nahm anfangs eine vierbändige Publikation vor3, in der aber schon zwölf Kinder auf, wuchs aber sehr schnell – für das aus Gründen des Umfangs nur ein Teil des Materials Jahr 1939 wird die Zahl der untergebrachten Zöglinge vorgestellt wird. 2 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 2 - 978-3-631-74192-4 Downloaded from PubFactory at 09/19/2021 02:12:30PM via free access
Es handelt sich bei dem neuen Fund überwiegend um dung des theologischen Nachwuchses, die in diesem Material, das im Zeitraum zwischen 1888 und 1949 Rahmen intensiv besprochen wurde, stellte sich auch entstanden ist. Daneben treten Aufsatzkopien und für nichtukrainische Evangelische. Die hier geführten jüngere Texte von dem Hilfskomitee der Galizien- Diskussionen geben die Herausforderungen, mit de- deutschen angehörenden Autoren4, die teils erst 2004 nen Zöckler und andere führenden Vertreter evange- publiziert wurden. Damit deckt es den gesamten Zeit- lischer Kirchen konfrontiert waren, in kondensierter raum ab, in dem die Zöckler‘schen Anstalten in Sta- Form wieder: Nationale Differenzen, unterschiedliche nislau existieren und gibt über diesen Zeitraum hinaus Vorgehensweisen gegenüber der Minderheitenpolitik noch Einblicke in Entwicklungen, die vorher stattfan- des polnischen Staates, Anlehnung an ausländische, den oder die nach dem Verlassen der Region thema- national oder konfessionell definierte Organisationen tisiert wurden. Das Material umfasst neben admini- oder Distanzierung; und auch persönliche Spannun- strativen Unterlagen und Informations- und Werbe- gen zwischen führenden Persönlichkeiten führten zu broschüren in erster Linie handschriftliche oder nach einer Gemengelage der Interessen, deren gezielte Be- Diktat getippte Briefe und Notizen. Es sind zahlreiche einflussung sich als hochkomplex erwies. überwiegend handschriftliche Briefe vor allem Theo- Zudem wird in den Briefen oft über die Sicher- dor und Lillie Zöcklers, aber auch ihrer Kinder, an heit der Korrespondenz reflektiert. Vor allem nach Familienangehörige oder Freunde vorhanden. Für den 19265 finden sich in den Briefen Hinweise darauf, Nutzer besonders günstig ist die Tatsache, dass diese dass der Verfasser davon ausgeht, dass die Briefe in größtenteils von Erasmus C. Zöckler gesichtet und Polen beim Transport abgefangen und heimlich gele- meist im Exzerpt, teilweise sogar wörtlich abgetippt sen wurden. In der Regel findet sich in diesen Briefen wurden; die gedruckten Dokumente ebenso wie die auch ein Hinweis, dass und wie dieser Brief außer- Daten-CDs sind Teil des Bestandes. Sie füllen mehr halb der regulären Transportwege zugestellt werde.6 als einen Karton. In einem Ausnahmefall wird abweichend bemerkt, Inhaltlich deckt das Material die genannten Ent- dass der Absender eine Überwachung durch deutsche wicklungen und Tätigkeiten der Zöckler‘schen An- Stellen fürchte und deshalb die vorübergehende An- stalten ebenso ab wie interne Angelegenheiten der wesenheit des Empfängers in London nutze, um ihm Kirchenverwaltung und Handlungen der Kirchen- zu schreiben.7 verwaltung nach außen. Daneben tritt als dritter in- Ein Freund und Förderer der Anstalten, dessen haltlicher Punkt der innerfamiliäre Austausch, der Name wiederholt erwähnt wird, ist der aus der Regi- oftmals mit den anderen bereits genannten Themen- on stammende Hans Koch, dessen Biographie nach bereichen eng verwoben ist. Denn zu den engsten wie vor ein Desiderat darstellt. Er tritt überwiegend Mitarbeitern des Ehepaars gehörten ihre Kinder und nicht als Gesprächspartner, sondern als Gegenstand Schwiegersöhne. Außerdem war Theodor Zöckler in der Erzählung in Erscheinung. Seine Aktivitäten in hohem Maße schwerhörig und fuhr, um sein Gehör der Ukrainermission auch und gerade hinsichtlich des zu schonen, oftmals für mehrere Tage ins rund zwei angestrebten Studiums der Kandidaten – Koch sollte Zugstunden von Stanislau entfernte Tatarów, von wo hier unter anderem die Examensarbeiten übersetzen – , aus er schriftlich mit seinen Mitarbeitern und seiner aber auch seine Funktion als Berater des kirchlichen Familie kommunizierte. Private Aspekte und sach- Außenamtes in Berlin für Ostfragen, eines Geldge- liche Fragen finden sich oftmals innerhalb derselben bers der Anstalten, findet wiederholt Erwähnung. Die Nachricht. Missionsbewegung unter den Ukrainern lädt zu einer Besonderen Raum in den Briefen nehmen zwei intensiven Forschung geradezu ein; die Tatsache, dass Themenbereiche ein: die Finanzierung der Anstalten, einer der führenden ukrainischen Vertreter, Staszyń- die häufig in den Schulden stand, sowie die Missions- ski, bis zu seinem Übertritt Privatsekretär des Lem- bewegung unter den Ukrainern. Hier finden sich Pro- berger Erzbischofs gewesen war und nach drei Jahren blembereiche, die auch außerhalb des Missionskon- zu diesem und der von ihm vertretenen Kirche zu- textes standen, in verdichteter Form wieder. Entgegen rückkehrte, wirft Fragen auf, die eine Untersuchung dem Willen Zöcklers war es früh zu einer Spaltung der sinnvoll erscheinen lassen. Missionsbewegung in einen lutherischen und einen re- Zum Kreis der Freunde und Förderer, die in der formierten Teil gekommen, die von unterschiedlichen Korrespondenz ebenfalls häufig erscheinen, zählen Institutionen finanziell gefördert und unterstützt wur- als bedeutendste Gesprächspartner ein Vertreter des den und deren Zusammenarbeit untereinander sich als Gustav-Adolf-Werkes, der Vorsitzende des Evange- schwierig erwies. Dieses Phänomen der mangelnden lischen Hilfsbundes für Innere Mission in der Diaspo- Kooperation unter evangelischen Kirchen in Polen ra e.V. und der Vertreter des Martin-Luther-Bundes, bestand auch außerhalb der Ukrainermission und be- die ihrerseits über gute Kontakte in die deutsche Po- schäftigte Zöckler stark. Die Problematik der Ausbil- litik, speziell ins Auswärtige Amt, zum V.D.A. und Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 2 - 978-3-631-74192-4 3 Downloaded from PubFactory at 09/19/2021 02:12:30PM via free access
zum kirchlichen Außenamt, die alle verdeckte Finan- den in ihm vertretenen Positionen um Ausgleich zierungshilfe für Stanislau leisteten, verfügen. bemühter Vermittler. Diesem Rat gehörten fast alle Ausgesprochen aufschlussreich außerhalb die- evangelischen Kirchen in Polen an, nur die kleine ses Kontextes sind Briefe, die Wilfried Lempp, ein Altlutherische Kirche war nicht vertreten. Der Rat Schwiegersohn Zöcklers und einer seiner engsten konnte die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfül- Vertrauten, an seine Eltern in Esslingen schrieb. In len. Die Zusammenarbeit auf dem engen Kirchenfeld ihnen schildert er die Entwicklungen in den Anstalten geriet vor Fragen außerkirchlicher Relevanz in den und die Entwicklungen der teilweise sehr spannungs- Hintergrund. Den Anlass dafür, nicht mehr zusam- reichen Beziehungen der evangelischen Kirchen menzukommen, bildete die Ermordung eines ober- Polens untereinander, aber auch zwischen dem pol- schlesischen Polizisten: Die Frage, ob „der evan- nischen Staat und den evangelischen Kirchen, wobei gelische Ortspfarrer der intellektuelle Urheber der er wiederholt die Bedeutung der deutschen Kirchen- Messerstecherei gewesen sei“8 und ob diese Frage politik als Beispiel hervorhebt. auf die Tagesordnung des Rates gesetzt werden dür- Auch der in Greifswald aufgewachsene Zöckler fe, war eine der letzten Diskussionen, die im Rat der geht in seinen Briefen wiederholt auf die kirchlichen evangelischen Kirchen in Polen geführt wurde. Im Ja- Entwicklungen in Deutschland in den 1930er Jahren nuar 1935 fand die letzte Sitzung des Rates statt, der ein und begründet dies mit der Bedeutung, die er die- anschließend formal fortbestand, ohne aber wieder sen Entwicklungen für den Fortgang der Beziehungen zusammenzutreten. Während sich im Material kei- zwischen Staat und evangelischen Kirchen in Polen ne die großen Entwicklungslinien nachzeichnenden zuschreibt. Die Beziehungen zwischen Staat und al- Schriften befinden9, finden sich in vielen Briefen Hin- len evangelischen Kirchen in Polen stellten bis 1936 weise auf anstehende Reisen Zöcklers oder Besuche, ein Provisorium dar. Erst 1936 wurde für zwei der ins- die er in Stanislau erwartete. Sie sind unter anderem gesamt sieben evangelischen Kirchen das rechtliche der Besprechung ausgewählter Fragen aus dem Tä- Verhältnis zum Staat festgelegt. Die anderen Kirchen, tigkeitsfeld des Rates zuzuordnen. Diese zusammen- auch die Evangelische Kirche Augsburgischen und zutragen, stellt zweifelsfrei eine gewisse Anforderung Helvetischen Bekenntnisses in Polen, waren noch bei an die Geduld, verspricht aber Hinweise auf bisher Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ohne ein geord- unbekannte Abläufe. Um ein Beispiel zu nennen, das netes Verhältnis zum Staat, obwohl sie sich – auch allerdings aus dem Jahr 1921 und somit vor Zustan- das geht aus dem Material hervor – wiederholt darum dekommen des Rates stammt: Am 15. März 1921 bemüht hatten. Die Frage der Zusammenarbeit mit schrieb Lempp seinen Eltern über die Reise seiner dem Staat ging dabei auch einher mit der Frage des Schwiegereltern nach Uppsala zu einer Sitzung des Verhältnisses untereinander. Zu Beginn der Staatlich- Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen: keit waren im Sejm Diskussionen geführt worden, „Auf der Hinreise sind sie 3 Nächte durch gefahren, die auf eine Zusammenlegung der Kirchen zielten aber immer auf guten Eckplätzen in erster Klasse /auf und statt der sieben evangelischen Kirchen nur noch schwedische Kosten/. Von Warschau an sind sie mit zwei – eine lutherische und eine reformierte – beste- Bursche und dem juristischen Präsidenten des Kon- hen lassen wollten. Diese ohne Hinzuziehung der Kir- sistoriums Glass gereist, von Berlin an noch mit Blau chenvertreter begonnenen Überlegungen führten zu und dem Methodisten-Bischof Nuelssen. Die War- regen innerkirchlichen Debatten, in denen vor allem schauer seien sehr liebenswürdig gegen sie gewesen, die unierten Kirchen sowie die Evangelische Kirche haben aber erklärt, dass sie an einen Kirchenbund mit beider Bekenntnisse sich vehement gegen diese Pläne den Posenern nicht denken dürfen, weil sie sonst allen sperrten. Inwieweit diese Debatten das ausnehmend Einfluss bei der Regierung verlieren. Und doch war spannungsreiche Verhältnis einzelner Kirchen unter- das wohl der ganze Zweck der Konferenz, diesen von einander verstärkte, bedarf noch einer Untersuchung. Papa ja längst betriebenen Kirchenbund zustande zu Das inzwischen zugängliche Material zeigt aber sehr bringen“.10 In den folgenden Jahren kam es zu inten- deutlich die Position der Evangelischen Kirche Augs- siven Beziehungen zwischen der von Zöckler vertre- burgischen und Helvetischen Bekenntnisses unter tenen Kirche und der Evangelisch-Unierten Kirche in Theodor Zöckler auf. Er strebte einen gemeinsamen Polen mit Sitz in Posen, die sich jedoch kaum über Rat der evangelischen Kirchen an, der nach außen den Kreis der Pastorenfamilien hinaus erstreckte: Die geschlossen gemeinsame Positionen vertreten, nach Pastoren der Evangelisch-Unierten Kirche in Polen innen aber die Vielfalt erhalten sollte. unterstützten ihre galizischen Amtsbrüder finanzi- Theodor Zöckler gilt nicht nur als geistiger Vater ell11, Wilfried Lempp wurde 1926 nach einem kom- des im November 1926 geschaffenen Rates der evan- plizierten Beinbruch ins Diakonissenhaus Posen ver- gelischen Kirchen in Polen, der zu diesem Zweck ge- bracht12, Charlotte Zöckler, die jüngste Tochter von gründet worden war, sondern auch als ein zwischen Lillie und Theodor, heiratete den der Posener Kirche 4 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 2 - 978-3-631-74192-4 Downloaded from PubFactory at 09/19/2021 02:12:30PM via free access
angehörigen Pfarrer Wilhelm Bickerich. Diese Be- Helvetischen Bekenntnisses in Polen. Wird über die ziehungen wurden von einer inhaltlichen Kooperati- 1999 erschienene Arbeit Elżbieta Alabrudzińskas zu on begleitet, die aus dem Material auch hervorgeht. den evangelischen Kirchen in den Kresy15 noch an- 1936, während die Frage der Kirchenverfassungen geführt, dass es angesichts der intensiven Quellenar- intensiv diskutiert wurde, reiste Theodor Zöckler als beit der Autorin schwer möglich sein dürfte, die in der Redner zur Landessynode in Posen und verfolgte auch Arbeit behandelten Fragestellen zu vertiefen und zu die Absicht, dort mit den führenden Kirchenvertretern bereichern16, ist dieses Urteil nach dem Fund des hier vorbereitende Gespräche zu führen, um „die immer vorgestellten Materials nicht mehr haltbar. ernster gewordene Gesamtlage mit Blau, Nehring u.s.w. zu besprechen. Ich denke, dass wir /die beiden Anmerkungen: unierten Kirchen und unsere Kirche/ jetzt einen Kol- 1 Das Material ist zurzeit noch gesperrt. Die Nutzung des Mate- rials für Recherchen zu einer Dissertation über Protestanten in lektivschritt tun müssen“.13 Die Frage, ob es Hinweise Polen in den Jahren 1918 -1939 wurde von Erasmus Zöckler auf den hier angesprochenen „Kollektivschritt“ gibt, erlaubt, dem an dieser Stelle noch einmal dafür gedankt sei. ist an das Material noch zu stellen. 2 Vgl. hierzu: Müller, Erich: Lemberger Pfarramts- und Su- Den wenig überraschenden Hinweisen auf eine perintendentialakten 1778-1939 aus dem ukrainischen Ge- kritische Haltung gegenüber dem polnischen Staat bietsarchiv in Lemberg-Lviv: Auflistung und Sammlung, in: Germano-Polonica. Mitteilungen der Deutschen in Polen und und seinen Vertretern stehen Aussagen gegenüber, die der deutsch-polnischen Beziehungen 1(2001), S. 5-6. zu einer Relativierung dieser Beurteilung anregen. So 3 Zöckler, Erasmus (Hrsg.): Die Geschichte der evangelischen schreibt Zöckler am 10. Mai 1935 an nicht namentlich Diaspora und der deutschen Minderheit in Galizien aus der genannte Amtsbrüder: „Heute stehen wir ganz unter Sicht von Theodor Zöckler. Vier Bände, 2. überarbeite Aufla- ge, Stuttgart 2010. dem Eindruck der Nachricht vom Tode Piłsudskis. 4 MOB Herne, Material Theodor Zöckler, Gesperrt Ts 002/ Nicht nur für Polen, sondern ich glaube für ganz Eu- K0060: Erich Müller, Berlin 2004: Referate, gehalten vor ropa ist der Tod dieses Mannes von sehr großer Be- einer ukrainischen Multiplikatorengruppe aus Lemberg in deutung. Polen hat unter ihm doch einen großartigen Wiesbaden. Aufschwung genommen. Und wir konnten uns schließ- 5 MOB Herne, Material Theodor Zöckler, Gesperrt Ts 002/ K0054, Zöckler an Wiegand, 12.1.1932; MOB Herne, Materi- lich doch nicht beklagen. Religiöse Freiheit wurde im al Theodor Zöckler, Gesperrt Ts 002/K0049, Theodor Zöckler Ganzen eingehalten, auch wenn wir gerade in letzter an „liebe Kinder“, 5.10.1936; MOB Herne, Material Theodor Zeit wieder bezüglich der evangelisch-ukrainischen Zöckler, Gesperrt Ts 002/K0052, Faust an Regierungsrat Bewegung manche Beschwerden hatten. Im Ganzen Krahmer-Möllenberg, 4. März 1927; MOB Herne, Material Theodor Zöckler, Gesperrt Ts 002/K0053, Theodor Zöckler haben wir mehr Freiheit, als sie jetzt in Oesterreich an Wiegand, 21. Mai 1930. und in mancher Beziehung auch in Deutschland ist“.14 6 MOB Herne, Material Theodor Zöckler, Gesperrt Ts 002/ Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der hier K0054, Theodor Zöckler an Wiegand, 12.1.32 durch privaten vorgestellte Bestand große Mengen bisher fast un- Kurier (Student Hans Strohal). bearbeiteten Materials enthält, bei dem es sich im 7 MOB HERNE, MATERIAL THEODOR ZÖCKLER, GESPERRT TS 002/ K0050, THEODOR ZÖCKLER AN WIEGAND, 1937: „Ich benutze großen Umfang um private Briefe handelt. Aus der die Gelegenheit, da Du einmal außerhalb Deutschlands bist, bisherigen Beschäftigung geht hervor, dass das Ma- um Dir einiges zu schreiben, was ich Dir dorthin nicht zu terial Einblicke in bisher weitgehend unbearbeitete schreiben wage.“ Themenbereiche wie die Mission unter den Ukrai- 8 Rhode, Arthur: Geschichte der evangelischen Kirche im Po- nern ermöglicht und dass es darüber hinaus neues sener Lande, Würzburg 1956, S. 232. 9 Solche sind z.B. in der Dokumentensammlung am Herder- Material zu bekannten Komplexen bietet, so dass sich Institut vorhanden – DSHI 100 Wagner Oskar. hier die Möglichkeit zur Überprüfung der bisherigen 10 MOB Herne, Material Theodor Zöckler, Gesperrt Ts 002/ Forschungsergebnisse bietet. Hier sind speziell die K0049, Brief von Wilfried Lempp an seine Eltern, 15. März Zusammenarbeit der evangelischen Kirchen in Polen 1921. 11 Rhode, Arthur: Die Evangelische Kirche in Posen und Pom- untereinander, das Verhältnis vor allem der Evange- merellen; Erfahrungen und Erlebnisse in drei Jahrzehnten lischen Kirche Augsburgischen und Helvetischen 1914-1945. Nach dem 1955-58 niedergeschriebenen Manu- Bekenntnisses zum polnischen Staat und das zu pri- skript zum Druck vorbereitet von Professor Dr. Gotthold Rho- mär außerkirchlichen Organisationen in Deutschland de, Lüneburg 1984, S. 212. wie dem V.D.A., aber auch zu kirchennahen wie dem 12 MOB Herne, Material Theodor Zöckler, Gesperrt Ts 002/ K0056. Gustav-Adolf-Werk zu nennen. Auch zu dem bisher 13 MOB Herne, Material Theodor Zöckler, Gesperrt Ts 002/ wenig erforschten Feld der Einbindung evangelischer K0049, Brief von Theodor Zöckler an Wilfried Lempp, 1 7 . Kirchen in Polen in den interkontinental agierenden Mai 1936. Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen bieten 14 MOB Herne, Material Theodor Zöckler, Gesperrt Ts 002/ K0050, Theodor Zöckler an Amtsbrüder, 10. Mai 1935. die Unterlagen Einblicke. Der jetzt zugängliche Be- 15 Alabrudzińska, Elżbieta: Kościoły Ewangelickie na stand ermöglicht also eine intensive Beschäftigung kresach wschodnich II Rzeczypospolitej, Toruń 1999. mit der Evangelischen Kirche Augsburgischen und Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 2 - 978-3-631-74192-4 5 Downloaded from PubFactory at 09/19/2021 02:12:30PM via free access
16 Aus einer Rezension Wiktor Wysoczańskis, in: Alabru- Bürger und Landmann, worin die nothwendigsten dzińska, Elżbieta: Kościoły Ewangelickie na kresach russischen Wörter, Gespräche und Zahlen enthalten wschodnich II Rzeczypospolitej, Toruń 1999. sind, wie solche nach der deutschen Mundart ausge- sprochen werden müssen“.6 Beide genannten russischen Verständigungshilfen gehörten damit zu den ersten, die im Januar 1813 in Günther Schmook (Berlin)1 Berlin angepriesen wurden und auf den Vormarsch der Russen reagierten. Auch aus eigenen Dolmetschern früherer Koaliti- „... der Russe fügt sich leichter, wenn onskriege stellten manche Buchhändler, wie Dreyssig man ihn in seiner Sprache anredet“2 ̶ in Halle, aus jeweils aktuellem Anlass „neue“ Ver- Zur Bedeutung der russischen Wörterbü- ständigungshilfen zusammen. Deshalb konnte die- cher und Dolmetscher 1813-1815 ser wie bereits 1812 auch Anfang 1813 sehr schnell auf neue Anforderungen reagieren, genauso wie die Mit nachfolgenden ausgewählten Erkenntnissen aus Leipziger Buchhändler Klein und Cnobloch, denen meinen bisherigen Untersuchungen zu russischen Dreyssig diese Materialien zu deren Verwendung zur Wörterbüchern und Dolmetschern aus der Zeit der Verfügung stellte.7 Napoleonischen Kriege möchte ich die begonnene Die deutschen Verlagsorte der russischen Sprach- wissenschaftliche Diskussion zu dieser Thematik be- führer hatten bei allen Veröffentlichungen seit 1799 reichern. stets einen konkreten Bezug zum jeweiligen Kriegs- Die zeitliche und inhaltliche Konzentration auf verlauf; seit 1813 verschoben sie sich parallel mit den den Zeitraum 1813 bis 1815 sowie auf die Bedeu- Hauptstoßrichtungen der russischen Truppen von Ost tung dieser Sprachbücher als wichtige interkultu- nach West. Das Phänomen der Dolmetscher war nicht relle Zeugnisse der Alltagsgeschichte der deutschen nur auf das deutschsprachige Gebiet beschränkt: Es Bevölkerung soll zugleich eine Würdigung des 200. begleitete die verbündeten Truppen letztendlich bis Jahrestages des konkret-historischen Hintergrundes nach Paris; es gab russische Dolmetscher in den Nie- der russischen Verständigungshilfen ab 1813 sein: die derlanden, in Belgien sowie in der Schweiz8, durch Befreiungskriege. die – deren Neutralität verletzend – die Armeen Rich- Ende Januar 1813, nachdem russische Truppen tung Paris zogen, und in Frankreich selbst. Wenn man auf deutsches Gebiet vorstießen, verlagerten die rus- bedenkt, dass dann auch deutsche Soldaten Seite an sischen Dolmetscher und Sprachbücher ihre konzep- Seite mit den Russen und Österreichern in die jewei- tionelle Ausrichtung vom „Tornister- und Soldaten- ligen Länder einzogen, ist die Herausgabe eines klei- wörterbuch“ auf die Bedürfnisse der von den Kriegs- nen flämisch-deutsch-russischen Wörterbuches im folgen betroffenen Bevölkerung. belgischen Brügge Anfang 1814 nur folgerichtig.9 Mit dieser Zielstellung entstanden viele neue rus- In Deutschland wurden die Dolmetscher bereits vor sische Dolmetscher. Aber auch bisherige erschienen dem Eintreffen der russischen Armee durch Anzeigen weiter, entsprechend den neuen interkulturellen Be- in der lokalen Presse beworben und durch den ört- dürfnissen leicht verändert oder ergänzt. So wurde lichen Buchhandel angeboten. z.B. der „Russische Dolmetscher“ von W.C.v.H., der Leipzig, das damals den Buchhandel und das Ver- 1812 ursprünglich „den nach Norden marschirenden lagswesen in Deutschland prägte, erwies sich neben Kaiserlich Königlichen Französischen und verbün- Berlin und Halle als dominierender Verlagsort. Ei- deten Armeen gewidmet“3 war, natürlich ohne diesen nige dieser Veröffentlichungen wurden auch direkt Zusatz durch „…eine Nachricht über das russische in Russland gedruckt und parallel in deutschen Ver- Militär als Anweisung zur Behandlung desselben für lagen herausgegeben. So wurde der in St. Petersburg Hauswirthe bei Einquartierungen“ erweitert. Auch 1813/1814 bei Pluchart verlegte „Kleine(r) russi- ein Hinweis auf die „französische Mundart“ sowie sche(r) Dollmetscher für die Deutschen; Enthaltend der französischen Paralleltitel fehlten.4 Den Einsatz die nothwendigsten Wörter und Gespräche“, von dieses Wörterbuches im Russlandfeldzug nutzte der N.C. Kreye, 1814 auch bei der Pluchart- Dependance Verlag werbemäßig, indem er darauf hinwies, „dass in Braunschweig unter dem Titel „Kleiner russischer dieser Dollmetscher, …, der brauchbarste und voll- Dollmetscher für die Deutschen. Dritte umgearbeitete ständigste ist, wie der längere Gebrauch schon in ent- Auflage mit dem russischen Originaltexte“ herausge- fernteren Gegenden bewiesen hat“.5 bracht.10 Exakt dieses Sprachbuch von W.C.v.H. wurde An- Die russischen Dolmetscher und Sprachführer der fang 1813 in Berlin durch F.C. Amelang unter neuem Napoleonischen Kriege waren als in der Regel klein- Titel vermarktet: „Russischer Dolmetscher für den formatige Broschüren, drucktechnisch als Massenwa- 6 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 2 - 978-3-631-74192-4 Downloaded from PubFactory at 09/19/2021 02:12:30PM via free access
re angelegt und zu einem relativ günstigen Preis zu besserte Auflage mit der Bemerkung beworben: „So haben. Sie waren in der Regel zwei-, seltener auch scheint auch das Publikum diese Schrift aufgenom- dreisprachig. Die Bezeichnungen „Nothelfer“, „ Not- men zu haben, da in kurzer Zeit die erste Auflage und Hilfsbuch“ (heute würde man sagen: Praktische vergriffen ist“. Die „Deutsch-Russische Haustafel“ Ratgeber) und vor allem „Dolmetscher“ entsprachen von Zeune, erstmals annonciert am 20.02.1813, er- der Erwartungshaltung der potenziellen Abnehmer. schien am 02.03.1813 bereits in der zweiten und am Wegen der großen Konkurrenz versuchte manch Au- 11.3.1813 in der dritten Auflage. Zu dieser Tafel sowie tor oder Verleger sich durch werbewirksame Zusät- zum vielgefragten „Deutsch-Russischen Dolmetscher ze, wie „ Neuer“, „Ausführlicher“, „Vollständigster“, für Jedermann“, „zum Aufhängen im Zimmer einge- „Besserer“ etc. von anderen abzugrenzen. In diese richtet“, dessen erste Auflage binnen zwei Tagen nach Unmenge von Dolmetschern, die sich vom Titel her Erscheinen (27.2.) vollständig vergriffen war (siehe ähneln, eine gewisse bibliographische Ordnung zu 4.3.), hatte sich Otten bereits geäußert.15 Insgesamt bringen, ist äußerst kompliziert. gab es innerhalb von ca. drei Wochen vier Auflagen! Bibliographisch erschwerend kommt hinzu, dass Die hohe Nachfrage nach diesen Materialien hatte vor einige Dolmetscher sich aus mehreren Bestandteilen allem pragmatische Gründe: zusammensetzen, die auch als eigenständige Sprach- a) Die Bevölkerung litt unter den fremden Trup- bücher (manchmal zeitversetzt) einzeln verkauft wur- pen, unabhängig von ihrem militärischen Status als den. Über die Jahre hinweg ist in manchen Biblio- Verbündeter oder Feind, und versuchte sich mit den theken und Bibliographien dieser Gesamtbezug dann Gegebenheiten zu arrangieren: „Man wartet ab, man verloren gegangen.11 nimmt hin, man passt sich an“.16 Eine fremde Kultur So hatte beispielsweise der Leipziger Verlag E. und vor allem eine völlig unbekannte Sprache stellten Klein 1813 die drei Werke „Erste Anfangsgründe die Einwohner vor hohe Herausforderungen und ver- zur Erlernung der russischen Sprache oder deutsch- setzte sie „…oft mit dem fremden Militär in unange- russisches ABC-Buch“(3 Groschen); „Neuester rus- nehme Verhältnisse…“.17 Um dem vorzubeugen, wur- sisch-deutscher Dolmetscher; 1. Heft“ (2 Gr.) und den, wenn möglich, in Ortschaften Sprachkundige als „Neuester russisch-deutscher Dolmetscher; 2. Heft“ Dolmetscher eingesetzt.18 Die Familienoberhäupter (2 Gr.) entweder einzeln oder aber unter dem Titel („Hausväter“) besorgten sich zur existentiellen Absi- „Neuester russisch-deutscher Dolmetscher; mit ABC- cherung ihrer Familie und ihres Vermögens russische Buch, als großer Dolmetscher“ im Komplex verkauft. Wörterbücher und Dolmetscher. „Viele bereiteten sich „Diese 3 Hefte zusammen als großer Dolmetscher, 6 auf den fremden Besuch aus dem Norden vor, schaff- Gr.“12 ten sich russische Dolmetscher und Heiligenbilder Von dem von Thomas Szumski 1813 in Posen an, und stellten sie im Zimmer auf, wie man sich zur herausgebrachten „Russischen Selbstlehrer“, der so- Zeit der Franzosenkriege Grammatiken und Dolmet- wohl eine Grammatik als auch Redensarten und Ge- scher angeschafft hatte“.19 spräche sowie ein zweisprachiges „Vokabulär“ um- b) Zugleich war man daran interessiert, als Kauf- fasste, wurden sowohl die Redensarten als auch das mann, Handwerker oder Vertreter städtischer Behör- Wörterverzeichnis auch einzeln vermarktet.13 Der den mit den Vertretern der russischen Armee in geord- Schwerpunkt der Veröffentlichungen derartiger rus- nete Geschäftsbeziehungen zu gelangen, wenn dies sischer Verständigungshilfen liegt eindeutig in den die Kriegsumstände überhaupt zuließen. Jahren 1813/1814. Baumann nannte in seiner Habili- Mit der Bereitstellung von Sprachführern, die oft- tationsschrift 1969 für den gesamten Zeitabschnitt der mals, in Tradition zu den früheren russisch-deutschen Napoleonischen Kriege insgesamt 72 „deutschspra- Wörterbüchern, zusätzlich zum Wörterverzeichnis chige Lehrmittel des Russischen“, wovon 61 allein in die für den Handel mit den Russen relevanten Maß- den Zeitraum 1813/14 fielen.14 und Geldeinheiten sowie Gewichte beinhalteten, Nach meinen bisherigen Recherchen kann man wurde zugleich ein Beitrag für die Schaffung von durchaus von einer doppelten Anzahl der in beiden Rahmenbedingungen für den Austausch von Informa- Zeitabschnitten herausgebrachten russischen Wörter- tionen und Waren geleistet. Informationsmaterialien bücher und Dolmetscher ausgehen! Der Bedarf der zu den Handelsbedingungen mit der russischen Ar- Bevölkerung an diesen Sprachbüchern muss riesig mee wurden in allen Koalitionskriegen natürlich auch gewesen sein. Bellermanns „Kleine Sammlung der einzeln angeboten. In diese Gruppe von Sprachma- nothwendigsten Russischen Wörter und Redensarten terialien ordnen sich die, besonders 1813 in den Ver- nach ihrer Aussprache und deutsch erklärt“ wurde kauf gebrachten, „Wandanschläge“ und „Sprachta- in den Berlinischen Nachrichten von Staats- und ge- feln“ ein. So erschien bei Joachim in Leipzig 1813 lehrten Sachen am 11. Februar 1813 das erste Mal eine von Kusnetzow erstellte „Russische Sprachver- angezeigt; am 4. März 1813 wurde die zweite ver- ständigungstafel zum Anschlagen und Aufhängen in Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 2 - 978-3-631-74192-4 7 Downloaded from PubFactory at 09/19/2021 02:12:30PM via free access
Gasthöfen und anderen Örtern, wo sich viele Russen Verkaufe derselben beschäftigen will, erhält einen be- befinden…“.20 Dreyssig warb in einem Verzeichnis deutenden Nachlaß“.26 Die Mehrzahl derartiger Ver- der, bei ihm in Halle und Leipzig erschienenen, „ganz öffentlichungen ist anonym bzw. unter Pseudonym neuen russischen Verlagsbücher“ unter anderem für erschienen, die sprachliche Kompetenz hervorhebend einen „Russisch-deutschen Wandanschlag für Gast- meist unter slawischen Namen, z.B. Jasükowski, Kus- wirthe, Kaffeehäuser, Billard- und Tanzsäle“.21 Zur netzow, Andrey Dmitritsch bzw. darauf verweisend, sprachlichen Unterstützung eines notwendigen Zu- der Autor sei ein „geborener Russe“, ein „wirklicher sammenwirkens auf medizinischem Gebiet wurde in Russe“ oder ein „Kenner der russischen Sprache“.27 den Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehr- Wie Baumann feststellte, halten manche dieser te Sachen, No. 31 vom 13.03.1813 von einem „Sach- Behauptungen einer konkreten sprachlich-inhaltli- verständigen“ bei Dieterici in der Spandauer Straße chen Analyse der Wörterbücher nicht stand!28 Wenn 52 für 3 Gr. Cour ein Wörterverzeichnis unter dem man nur alleine die Arbeiten von „Andrej Dmitritsch Titel „Benennungen in Russischer Sprache der vor- aus Moskau“29 und des angeblich „geborenenen Rus- züglichsten Arzneimittel, Krankheiten, Geräthschaf- sen“ im „Kleinen Dolmetscher mit dem Kosaken, ten, Gewichte etc. Bequem und nützlich für Ärzte, Frankfurt 1813“ betrachtet, kann dem nur zugestimmt Wundärzte und Apotheker“ angeboten. werden.30 c) Ende Januar/Anfang Februar 1813 erfolgte in Meine Recherchen ergaben, dass der bei Hexel- Preußen und anderen Ländern eine Parteinahme für schneider31 aufgeführte Teubtschewsky tatsächlich ein die Russen, in Sachsen und anderen Rheinbundstaaten „wirklicher Russe“ ist. Es handelt sich offensichtlich eine Umorientierung vieler Bürger auf die neue Be- um Nikolai (Nicolaus) Timofejewitsch Trubtschew- satzungsmacht. „Was von Osten kam, wurde verklärt skij (Trubčevskij), der als Kapellsänger zur ersten durch den leidenschaftlichen Wunsch des Volkes. Nie- Generation des „angemessen ausgebildeten Klerus“ mand mehr als die Vortruppen des fremden Heeres, gehörte, der zeitgleich mit der Tochter des russischen die Kosaken.“22 Nachweislich wurden die russischen Zaren, Maria Pawlowna, die 1804 mit dem Weimarer Soldaten in den meisten deutschen Ortschaften freu- Thronfolger vermählt wurde, in Weimar eingetroffen dig als Befreier begrüßt und bejubelt. „Es schien ist und dort die russisch-orthodoxe Gemeinde be- damals, als ob wir von den Russen gar nicht wieder treute. Er war 1808 Dolmetscher im Gefolge des Za- loskommen könnten oder loslassen wollten. Sie er- ren, und verrichtete 1813-1815 beim russischen Heer schienen als unsere Befreier und waren überall will- Dienst. Er ist zu den Russen in Goethes Umgang zu kommen; man jubelte ihnen entgegen und wünschte rechnen.32 es ihnen sagen zu können, wie lieb man sie habe. Viele Namentlich sind deutschsprachige Autoren der- schafften sich daher russische Sprachlehren an und artiger Dolmetscher festzustellen, die sich jahrelang machten sich daran, Russisch zu lernen“.23 in Russland aufhielten, ihre sprachliche und interkul- d) Der deutsche Buchhandel, der durch die Napo- turelle Kompetenz einbrachten und, neben anderen leonischen Kriege in enorme wirtschaftliche Schwie- Veröffentlichungen über Russland, auch mit derarti- rigkeiten geriet, hatte ein existentielles Interesse an gen Sprachmaterialien ihrer Vermittlerrolle während hohen Druckauflagen und Verkaufszahlen. Die He- der Befreiungskriege gerecht wurden, z.B. Christian rausgeber stimulierten den Absatz mit großangelegten Gottfried Heinrich Geißler, Johann Joachim Beller- Anzeigenkampagnen in der örtlichen und überregio- mann, Johann Gottfried Richter, Lorenz Heinrich nalen Presse sowie durch die Gewährleistung von Hessel. Rabatten. Eine „raffinierte Speculation fertigte rus- Raubkopien und Plagiate schienen keine Selten- sische Dollmetscher, um den Kosaken auf russisch heit zu sein. Zudem stellten einige Herausgeber aus ihre Freundschaft versichern zu können“.24 bereits vorhandenen Materialien anderer Autoren Sofort nach dem Abzug der Franzosen entstand, neue Bücher zusammen und verlegten sie unter neu- zur Bewältigung des großen Ansturms der Käufer auf em Titel. Dies ist einer der Gründe, warum so viele Proklamationen der verbündeten Armeen, Bulletins, russische Verständigungshilfen im relevanten Zeit- Flugblätter, Karikaturen usw., in vielen Orten zusätz- raum, ungeachtet einiger Kürzungen und geringfü- lich eine Art Buchhandel „unter freiem Himmel“, gigen Veränderungen, fast völlig übereinstimmen. der auch russische Sprachbücher mit einbezog. Auch Bei der Übernahme entstanden eine Reihe neuer Feh- dieser Handel mit „literarisch kurzer Ware“25 wurde ler; die vorgefundenen wurden übernommen, auch durch die professionellen Buchhändler mit einem von dem „geborenen Russen“, der lt. Impressum den speziellen Mengenrabatt gefördert; siehe die Anzeige „Kleinen Dolmetscher mit den Kosaken“ angeblich zu C.G.H. Geißlers zweitem Dolmetscher in der Leip- „verbessert“ hatte.33 ziger Zeitung No. 206 vom 27.10.1813: „Wer mehr L.H. Hessels „Der Russische Dolmetscher in Fra- als ein Exemplar auf einmal kauft, oder sich mit dem gen und Antworten für den Bürger und Landmann, 8 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 2 - 978-3-631-74192-4 Downloaded from PubFactory at 09/19/2021 02:12:30PM via free access
in Büreaus für Reisende, im Handel, in Gasthöfen er sich 1813 gekauft hatte, als Unterrichtsmaterial und für Militär“, Zeh‘sche Buchhandlung, Nürnberg einsetzte: „Wir mussten aber auch französisch und 1813 (24 S.) ist identisch mit dem „Neuen deutsch- selbst russisch zählen lernen. G. hatte zur Zeit des böhmisch-russischen Dolmetscher in Fragen und Ant- Freiheitskrieges 1813 mit Hilfe eines gedruckten Dol- worten für den Bürger und Landmann, für Reisende, metschers einige französische und russische Wörter, im Handel, in Gasthöfen, für Militär und in anderen Redensarten und die Zahlen gelernt, und das mussten nöthigen Fällen“ Aloys Kramer, Prag 1813 (23 S.), wir nun auch lernen…“, erinnert sich ein ehemaliger der F. Tomsa zugesprochen wird. Selten bekannten Schüler, der in der Folgezeit bis in das gereifte Er- sich die neuen Herausgeber oder „Autoren“ zu diesem wachsenenalter die russischen Zahlen aufsagen konn- Vorgehen, wie der österreichische Offizier Andreas te.36 Rittig v. Flammenstern, der die Vorrede zu seinem, Nachweislich haben auch Vertreter des Bildungs- in Wien 1813 herausgegebenen, „Taschenbuch“ mit bürgertums derartige Sprachbücher besessen, die sie den Worten abschloss: „Um keines Plagiats beschul- sich vor der Ankunft der Russen vorsorglich zuge- digt zu werden, finde ich es noch nöthig, zu erklären, legt hatten! Dies dürfte bibliophil äußerst wertvoll dass ich bey Zusammenstellung dieses Taschenbuches sein: Im Bestand von deren Privatbibliotheken und alle bestehenden Russische Dolmetscher, wie ich mir Nachlässen war die Wahrscheinlichkeit der Erhaltung schmeichle, mit zweckmäßiger Auswahl benutzet dieser Sprachbücher wohl am größten. So konnten habe.“34 im Bibliotheksnachlass von Alexander von Hum- Mit den Dolmetschern („für Jedermann“, „Für den boldt37 sowie von Varnhagen von Ense Jasükowskis Bürger und Landmann“) wollte man möglichst viele „Russische Gespräche…“ festgestellt werden.38 Der Käufer aller Schichten ansprechen. Der direkte Zu- Philosoph Friedrich Heinrich Jacobi überlieferte das gang zur Bevölkerung wurde unter anderem durch die „Handbuch der Russischen Wörter und Redensarten, Einbettung in die damals übliche Ratgeber-, Hausva- die im gemeinen Leben am häufigsten vorkommen ter- und Aufklärungsliteratur unterstützt. Deshalb die können…“ von J.A.E. Schmidt, Leo, Leipzig 1813.39 vielen Titelbezeichnungen, wie „Not- und Hilfsbuch“, Bestandteil der Bibliothek von Carl Friedrich Gauß „Der sorgsame und erfahrene Hausvater bei Einquar- war neben Heyms „Russischer Sprachlehre für Deut- tierungen“ usw. Auch an die religiösen Traditionen sche“ aus dem Jahre 1804 auch der „Russische Dol- der neutestamentarischen Haus- und Pflichtentafeln, metscher…“ von Kästner und Kralitzky, Leipzig 1813 die in der Wohnung anzubringen waren, wurde ange- [GAUSS BIBL 1224] sowie das „Russisch-deut- knüpft, wie die Beispiele der „Deutsch- Russischen sche Handbuch“, Lüneburg 1813 (Handbuch 1813) Haustafel“ von Zeune und des „Deutsch- Russischen [GAUSS BIBL 413].40 Dolmetscher für Jedermann zum Aufhängen“ bewei- In der Privatbibliothek des Freiberger Geologen sen. Abraham Gottlob Werner befinden sich unter den Bezüglich der Landbevölkerung richteten die Wörterbüchern der russischen Sprache, die zwischen Verlage ihre Vertriebsaktivitäten zusätzlich auf die 1731 und 1813 erschienen sind, allein sieben, die im Personen, die die gesellschaftlichen Einstellungen relevanten Zeitraum herausgebracht wurden.41 Der und das Verhalten einer Dorfgemeinschaft beson- Stadtbibliothek Zschopau wurde 1883 aus dem Nach- ders prägten. Geißlers Dolmetscher, der gleich nach lass des ehemaligen Direktors der Bodemer Bleiche- der Völkerschlacht erschien,35 wurde in der Leipziger rei und Baumwollspinnerei Imanuel Gottlieb Hesler Zeitung No. 206 vom 27.10.1813 auf Seite 2159 da- (verstorben 1830) der „Ausführliche Deutsch- Rus- mit beworben, dass er „unter den bisher herausge- sische Dolmetscher…“, Naumburg 1813, überge- kommenen der vollständigste (ist), und verdient,…, ben.42 in jeder Haushaltung angeschafft zu werden; vor- Der Berliner Künstler Johann Gottfried Schadow, züglich sollten Landgeistliche und Dorfschullehrer der auf eigenen Wunsch Kalmücken, Kosaken und sich denselben kommen lassen, weil, wie bekannt, die Baschkiren bei sich beherbergte, damit er „…seiner meisten Unannehmlichkeiten dadurch entstehen, dass Sammlung von National-Physiognomien nöthigen man sich gegenseitig nicht versteht, und sich nicht Zuwachs gab“43, nutzte zur Verständigung mit ihnen verständlich machen kann.“ Es ist davon auszugehen, mindestens ein russisches Wörterbuch. Dies erfährt dass sich die angesprochenen „Multiplikatoren“ tat- man aus dem Vortrag zur Entstehungsgeschichte sei- sächlich hier und da vorsorglich derartige Sprachbü- ner Karikatur „Die Fechtstunde“, den der Künstler cher angeschafft haben. am 16. April 1814 in der Gesellschaft der Freunde des Aus der Geschichte der sächsischen Schulpolitik Humanismus in Berlin gehalten hat. Auf dem Bild ist mir ein Beispiel bekannt, in dem ein Dorfschul- ist unter anderem ein Kosak dargestellt, der das Rus- lehrer noch lange nach den Kriegsereignissen einen sische Reich repräsentieren soll und dem Schadow deutsch-russisch-französischen Dolmetscher, den die Aussprüche in den Mund legte: Podass Swetsch- Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 2 - 978-3-631-74192-4 9 Downloaded from PubFactory at 09/19/2021 02:12:30PM via free access
ku; padi Spatt. In dem Vortrag erklärte er die Herkunft hatte Tomsa das Manuskript unentgeltlich zur Verfü- dieser Wörter: „Die russischen Redensarten habe ich gung gestellt und diesen Schritt angeregt, weil er we- aus einem kleinen Wörterbuch“.44 gen eines bereits 1799 erschienenen Plagiats seines In den Jahren 1813 bis 1815 gehörten zu den Käu- „Hilfsmittels“ durch einen anonymen Autor ziemlich fern der russischen Dolmetscher nach wie vor auch verärgert war: „Hr. v. Schönfeld hatte die Güte, es in Militärangehörige. Der russisch-deutsche Teil in einem Auszuge unter dem Titel: Russischer Dollmet- manchem Wörterbuch „Für Deutsche und Russen“ scher nachzudrucken. Dies macht es nothwendig, war den russischen Armeeangehörigen vorbehalten. dass man zum Hülfsmittel noch ein Register drucken In der Leipziger Zeitung No. 211, vom 03.11.1813 liess,… H. Tomsa in der Normalschulbuchhandlung auf S. 2329 wurde gar ein „Kleiner russischer Dol- hat die Auflage besorgt.“53 Bei dem Plagiat könnte es metscher für die Russen, welche sich den Deutschen sich um das bei Francev aufgeführte Werk handeln, verständlich machen wollen“ für 6. gr. beworben. das 1799 in Prag (bei Schönfeld?) erschienen ist: In einer Annonce vom 30. Juni 1814 in russischer „Der russische Dolmetscher, welcher den Deutschen Sprache, gerichtet an alle russische Armeeangehöri- dahin unterrichtet, dass er sich auf der Stelle jedem gen („Объявление ко всемъ российскимъ войнамъ Russen verständlich machen, ebenso aber auch den всякого чина“), wird auf die 4. Auflage des sechs- Russen verstehen kann“.54 sprachigen „Handbuches für Reisende zur Conver- Ich bin mir fast sicher, dass die meisten der rus- sation …“ der Madam de Genlis (Hinrich, Leipzig sischen Sprachbücher, die ab 1813 erschienen, direkte 1814) aufmerksam gemacht.45 Da seit 1813 russische und indirekte Vorläufer hatten sowie sich an einigen und vor allem preußische Verbände gemeinsam in den wenigen inhaltlich-konzeptionellen Grundmustern Kampf zogen, werden sich auch deutsche Soldaten ausrichteten. Neben der teilweisen Fortführung der russische Verständigungshilfen privat zugelegt haben, Tradition der Gesprächsbücher des 18. Jahrhunderts die sie dann bis Paris im Tornister mit sich führten. nahmen die russischen Dolmetscher im deutschspra- In der Literatur wird auch ein Beispiel einer organi- chigen Raum vor allem das im Anhang zur Sprach- sierten Verteilung derartiger Verständigungshilfen lehre von J. Heym (Ausgaben Riga: 1789; 1804) auf preußische Kampfverbände genannt: Im Korps aufgeführte Wörterverzeichnis mit anschließenden von Dobschütz der schlesischen Landwehr hat man Redensarten sowie auch seine russischen Wörterbü- im Juni 1813 den Einheiten eine „Sammlung der no- cher zum Vorbild. Nur wenige dieser Autoren geben thwendigsten Wörter und Gespräche in russisch-deut- Heym als genutzte Hauptquelle an: Josef Dobrovský scher, wie auch in deutsch-russischer Sprache“ zuge- nannte sein 1799 erschienenes „Neues Hülfsmittel…“ teilt.46 Wie Paye anhand der Akten der westphälischen einen „zweckmäßiger Auszug aus Heyms Russischer Polizei ermitteln konnte, haben sich im besagten Zeit- Sprachlehre“. Dreyssig gab seinem 1813 in Halle raum auch französische Militärangehörige häufig rus- und Leipzig herausgebrachten „Kleinen russischen, sische Dolmetscher zugelegt.47 deutschen und französischen Wörterbuch“ den Zu- Auf einige Dolmetscher griffen die Verlage über satz „geschöpft aus der Quelle von Johann Heim“. die gesamte Spanne der Koalitionskriege mit rus- Durch weiterführende Forschungen könnte meinen sischer Beteiligung 1799, 1806/07, 1813/14, ihren Vermutungen nachgegangen werden, dass J. Heyms Titel beibehaltend, immer wieder zurück. So erschien Spracherbe über zwei Linien in die deutsche Dolmet- das Lüneburger Handbuch 1806 auch im Jahr 1813. 48 scherliteratur gelangt sein könnte, die beide direkt J. Dobrovskys 1799 in Prag erschienenes „Neues über Dobrovský als Schaltstelle führen: 1. Die vom Hülfsmittel, die russische Sprache leichter zu ver- „Hilfsmittel“ 1799 ausgehende direkte Linie Dobro- stehen, vorzüglich für Böhmen, zum Theile auch für vský (1813) → Tomsa (1813) usw. 2. über die Fol- Deutsche …“49 ist auch „Beim zweiten Durchmarsche geveröffentlichungen auf der Grundlage des Plagiats der Russen 1813 … durchaus vermehrt erschienen“50 (1799). und im Anhang durch eine von W. Hanka besorgte Auf die sprachlichen und konzeptionellen Defizite Beschreibung der „Russischen Staats- und Kriegs- sowie die hohe Fehlerquote der russischen Dolmet- macht“/ „Kratické vypisáni Rusie a jejihio vojska „ scher 1813 hatte bereits Otten hingewiesen.55 Das ergänzt worden.51 Gleichzeitig mit der Neuauflage von linguistische Niveau war niedrig. Es gab jedoch auch Dobrovskys „Hilfsmittel“ erschien 1813 eine durch Ausnahmen, z. B die Sprachbücher von Kusnetzow, F. Tomsa besorgte eigenständige Veröffentlichung Kreye und Jasükowski, deren Autoren offensichtlich eines erweiterten Wörterverzeichnisses aus diesem einen sprachwissenschaftlichen Hintergrund hat- Werk unter dem Titel: „Verzeichnis der russischen ten. Bei der Bewertung dieser Verständigungshilfen Wörter und Redensarten, die im gemeinen Leben am darf nicht vergessen werden, dass zu den Veröffent- häufigsten vorkommen, um sich Russen leichter ver- lichungen 1812-1815 auch reine Sprachlehren und ständlich zu machen. Prag 1813, 47 S.“.52 Dobrovsky Grammatiken gehörten, die zum Beispiel von Heym, 10 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 2 - 978-3-631-74192-4 Downloaded from PubFactory at 09/19/2021 02:12:30PM via free access
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