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Bibliothek und Medien

Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft der
Bibliotheken und Dokumentationsstellen
der Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa-
forschung (ABDOS) e.V.

33 (2013), Nr. 2
ISSN 2194-7392
Verlag Otto Sagner
                                                      - 978-3-631-74192-4
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Bibliothek und Medien. Mitteilungen der ABDOS e.V.
33 (2013), Nr. 2

Herausgeber          Arbeitsgemeinschaft der Bibliotheken und
                     Dokumentationsstellen der Ost-, Ostmittel-
                     und Südosteuropaforschung e.V.
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Redaktion            Dr. Hans-Jakob Tebarth (Leitung; Martin-Opitz-Bibliothek)
                     Dr. Arkadiusz Danszczyk (Martin-Opitz-Bibliothek)
                     Dr. Josef Steiner (Österreichische Nationalbibliothek)
                     c/o Martin-Opitz-Bibliothek
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Editorial                                                  Inhalt
Liebe Leserinnen und Leser,                                Beiträge
liebe Kolleginnen und Kollegen,
                                                           Pascale Mannert
hin und wieder kommt es vor, dass mit Beiträgen in         Die Evangelische Kirche Augsburgi-
wissenschaftlichen Zeitschriften Anstöße gegeben           schen und Helvetischen Bekenntnisses
werden können, die neue wissenschaftliche Forschun-        in Polen. Der Zöckler´sche Nachlass
gen befördern. Das ist sicher der Idealfall, wenn auch     in der Martin-Opitz Bibliothek ................. 1
nicht selbstverständlich. So konnte Dirk-Gerd Erpen-
beck in Ausgabe 1/2013 die Identität eines Autors für      Günther Schmook
Deutsch-Russisch und Russisch-Deutsch-Überset-             „... der Russe fügt sich leichter, wenn
zungshilfen aus dem frühen 19. Jahrhundert klären.
                                                           man ihn in seiner Sprache anredet.“
Im aktuellen Heft nun steuert Günther Schmook eine
umfassende Kollektion derartiger Sprach-Hilfsmittel         ̶ Zur Bedeutung der russischen
aus Napoleonischer Zeit bei, die sicher nicht nur Sla-     Wörterbücher und Dolmetscher
visten, sondern sicher auch Historiker und Kulturwis-      1813-1815 ................................................... 6
senschaftler – von Bibliophilen einmal ganz abgese-
hen – interessieren und ansprechen werden.                 Elisabeth Simon
    Sicher ebenso erfreulich ist es, wenn eine Redaktion   „Die Kunstanschauung einer purita-
den Beitrag einer jungen Fachkollegin anzeigen kann,
                                                           nischen Kunst ist derart, ...“ ...................... 19
die im Rahmen der Arbeiten an ihrer Dissertation die
Bestände einer der einschlägigen und in der ABDOS          Thomas Braun
seit vielen Jahren engagierten Bibliothek durchforscht
und nutzt. Pascale Mannert besucht seit geraumer
                                                           Jetzt fit machen für das Internetproto-
Zeit regelmäßig die Martin-Opitz-Bibliothek und            koll der nächsten Generation .................... 21
forscht zur Evangelischen Kirche Augsburgischen
                                                           Neue Publikationen ...................................... 23
und Helvetischen Bekenntnisses in Polen. In Herne
werden die Archive der Deutschen aus Mittelpolen           Miszellen und Ankündigungen ................ 39
und Wolhynien sowie der Galiziendeutschen aufbe-                      ___________________________
wahrt. Hinzu kommen Teilnachlässe und Vorlässe wie
der von Herrn Professor Erasmus Zöckler (lebt in Bad       von den „lesewütigen“ Russen nicht mehr uneinge-
Oeynhausen), die sukzessiv erschlossen werden. Pas-        schränkt haltbar, und die häufig als Kulturkrankheit
cale Mannert konnte die Genehmigung erwirken, an           gezichtige Handy-Manie nebst Mediensucht hat
Zöcklers Vorlass, der in weiten Teilen seine Großel-       längst flächendeckend Einzug gehalten. Aber das Le-
tern Theodor und Lillie Zöckler betrifft, die wiederum     sen ist noch nicht ausgestorben ... und wird es wohl
die Zöckler´schen Anstalten in Stanislau/Galizien          auch nicht.
(heute Ivano-Frankivs‘k, polnisch Stanisławów) ge-             Einen kleinen Abstecher in die IT steuert Thomas
gründet und geleitet haben. Ein (zu) wenig bekann-         Braun als Geschäftsführer eines Servicebetriebs bei.
ter Abschnitt deutscher Geschichte im östlichen Eu-        Die Änderung der Internetadressen klingt unspekta-
ropa bzw. in der Ukraine. Die Missionstätigkeit der        kulär, kann aber zu massiven Problemen bei der Er-
evangelischen Kirche(n) unter Ukrainern dürfte eine        reichbarkeit unserer Homepages und Kataloge füh-
Forschungslücke sein, die nun von der jungen Fach-         ren. Aber lesen Sie selbst!
kollegin zumindest angestoßen wird. (Der Vorlass ist                                        Hans-Jakob Tebarth
gesperrt, die Genehmigung zum Zugang kann über                                               (für die Redaktion)
die Martin-Opitz-Bibliothek beatragt werden.)
    Elisabeth Simon hat nach einer kleinen Pause wie-      Pascale Mannert
der einen Beitrag geliefert, der die Ergebnisse und
Erlebnisse ihrer Teilnahme an einem Kongress in
Moskau im November 2013 zusammenfasst. Unter               Die Evangelische Kirche Augsburgi-
dem Titel Proceedings on spaces of childhood: the ex-      schen und Helvetischen Bekenntnisses
perience of Russia and the world stand einerseits die      in Polen. Der Zöckler‘sche Nachlass in
besuchte Tagung, andererseits ist der gleichnamige
Tagungsband ausnahmsweise schon pünktlich zur Ta-
                                                           der Martin-Opitz Bibliothek
gung erschienen. Das Thema Leseförderung steht im          Seit 2009 übernahm die Martin-Opitz-Bibliothek eine
Zentrum des Interesses; offenbar ist das „Vor-“Urteil      Sammlung Archivalien aus dem Besitz des Hilfsko-

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 2                                                  - 978-3-631-74192-4             1
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mitees der Galiziendeutschen e.V. in mehreren Teil-      mit 428 angegeben. Das Kinderheim entwickelte sich
lieferungen; hinzu kam ein Bestand aus dem Besitz        zum Kernstück der allmählich entstehenden, nach
von Professor Dr. Erasmus Zöckler, einem Enkel           den Gründern benannten Zöckler‘schen Anstalten. Im
Theodor und Lillie Zöcklers. Die letztgenannten          Laufe der Jahre wurde das deutschsprachige Schulwe-
übernommenen Materialien enthalten Unterlagen der        sen auf- und ausgebaut und das Kinderheim begann,
Evangelischen Kirche Augsburgischen und Helve-           auch die Funktion eines Internats zu übernehmen.
tischen Bekenntnisses, der Familie Zöckler und der       Dem Heim wurde ein Diakonissenmutterhaus zur
Zöckler‘schen Anstalten und nehmen in der vorläu-        Seite gestellt, nach dem Ersten Weltkrieg wurde auch
figen Erschließung in der MOB ein Volumen von 20         eine Fabrik für Landwirtschaftsmaschinen gegründet.
Kartons ein.1                                            Die Finanzierung dieses Werkes mit den dafür not-
    Bei der Evangelischen Kirche Augsburgischen          wendigen Grundstückskäufen und Bauten erfolgte
und Helvetischen Bekenntnisses in Polen handelt es       anfangs aus Mitteln einer Erbschaft Lillie Zöcklers,
sich um jene Gemeinden der ehemals Wien unterstell-      darüber hinaus durch Spenden aus evangelischen
ten Kirche, die sich nach dem Ersten Weltkrieg in der    Kreisen vor allem des Auslandes (Europa, aber auch
Zweiten Polnischen Republik als eigene Kirche kon-       Amerika). Um das in Stanislau/Stanisławów verfolgte
stituierten. Zahlreiche Gemeinden aus dem Teschener      Tätigkeitsfeld inhaltlich abzurunden, ist noch die ab
Schlesien trugen diese Entwicklung nicht mit, son-       1925 aufgenommene Missionstätigkeit unter Ukrai-
dern schlossen sich der Evangelisch-Augsburgischen       nern zu erwähnen.
Kirche an, die ihren Sitz in Warschau hatte. Der nach        Im Ersten Weltkrieg flohen die Familie und die
diesem Schritt rund 33.000 Gläubige zählenden Kir-       Angehörigen der Anstalten nach Gallneukirchen bei
che stand bis 1924 Superintendent Fritsche in Biała      Linz, später auch in die Schweiz. Die Familie und ei-
vor, nach dessen Tod gingen die Aufgaben auf seinen      nige Mitarbeiter kehrten im Oktober 1917 zurück und
Stellvertreter Theodor Zöckler in Stanislau (Stanisła-   holten Ende 1919 rund 170 in Gallneukirchen zurück-
wów/ Ivano-Frankivs‘k) über, der allerdings nie im       gelassene Kinder nach. In Stanislau erlebten sie erst
Amt bestätigt wurde.                                     die Gründung der Westukrainischen Volksrepublik,
    Der aus Greifswald stammende Theodor Zöck-           deren Hauptstadt mehrere Monate lang Stanislau war,
ler (* 5. März 1867 in Greifswald; † 18. September       später wurde die Region Teil der Zweiten Polnischen
1949 in Stade) war noch vor Abschluss seines Studi-      Republik und Stanisławów Hauptstadt der gleichna-
ums nach Galizien gegangen und hatte in Stanislau        migen Woiwodschaft. Bis zum Beginn des Zweiten
mit dem Aufbau des Gemeindelebens begonnen; nach         Weltkrieges erlebten die Anstalten eine Phase der ver-
seinem Examen und der kurz darauf folgenden Hoch-        hältnismäßig ungestörten Existenz, ehe ihre Zöglinge
zeit mit Lillie Bredenkamp (* 21.2.1874 in Kuppen-       und Mitarbeiter nach Beginn des Zweiten Weltkrieges
tin, Mecklenburg, † 22.12.1968 in Weende) ging das       Weihnachten 1939 ins „Wartheland“ umgesiedelt
Ehepaar 1893 gemeinsam nach Stanislau, einer Stadt,      wurden. Im Winter 1945 wurden Teile der Zöck-
die in einer vor allem von Ukrainern, Polen und Juden    ler‘schen Anstalten unter dem Namen „Diakonis-
bevölkerten Region lag. Die Deutschen machten 1%         senmutterhaus Ariel“ in Stade wiederaufgebaut, wo
der Stadtbevölkerung aus, unter ihnen fanden sich so-    Theodor Zöckler 1949 starb. 1951 erfolgte der letzte
wohl Protestanten als auch Katholiken. Theodor Zö-       Umzug der Anstalten ans Evangelische Krankenhaus
ckler war zu dieser Zeit Angestellter einer dänischen    in Göttingen-Weende, wo Lillie Zöckler 1968 starb.
Judenmission, sollte sich aber ausdrücklich nicht der    Das von der Martin-Opitz-Bibliothek übernommene
Missionstätigkeit widmen. Stattdessen bestand seine      Material stellt eine wertvolle Ergänzung zu den eben-
Aufgabe darin, das nur sehr schwach entwickelte Ge-      falls dort vorhandenen Verfilmungen der Lemberger
meindeleben in der evangelischen Kirche aufzubauen       Pfarramts- und Superintendentialakten dar, die im
und, damit einhergehend, die Gemeindemitglieder an       Auftrag des Hilfskomitees der Galiziendeutschen er-
die Kirche zu binden. Im Kontext dieser Aufgaben ist     stellt wurden2 und vervollständigt den deutlich klei-
die Gründung eines Kinderheimes zu sehen, in dem         neren Nachlass der Zöckler‘schen Anstalten, der im
verwaiste oder als stark vernachlässigt geltende Kin-    Evangelischen Krankenhaus Göttingen-Weende auf-
der aus evangelischen Familien aufgenommen wer-          bewahrt und von einem anderen Enkel, Christofer
den sollten, um ihnen zum einen ein Aufwachsen in        Zöckler, sowie einer Urenkelin, Bettina Zöckler, ge-
gesicherten Verhältnissen zu ermöglichen und zum         meinsam mit Vertretern des Diakonissenmutterhauses
anderen, um ihre Aufnahme in katholische, polnisch-      Ariel/ Hospiz an der Lutter e.V. betreut wird. Zu dem
sprachige Einrichtungen dieser Art zu verhindern.        nach Herne verbrachten Quellenmaterial liegt bisher
Das 1896 gegründete Kinderheim nahm anfangs              eine vierbändige Publikation vor3, in der aber schon
zwölf Kinder auf, wuchs aber sehr schnell – für das      aus Gründen des Umfangs nur ein Teil des Materials
Jahr 1939 wird die Zahl der untergebrachten Zöglinge     vorgestellt wird.

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                                                                                           - 978-3-631-74192-4
                                                                  Downloaded from PubFactory at 09/19/2021 02:12:30PM
                                                                                                        via free access
Es handelt sich bei dem neuen Fund überwiegend um         dung des theologischen Nachwuchses, die in diesem
Material, das im Zeitraum zwischen 1888 und 1949          Rahmen intensiv besprochen wurde, stellte sich auch
entstanden ist. Daneben treten Aufsatzkopien und          für nichtukrainische Evangelische. Die hier geführten
jüngere Texte von dem Hilfskomitee der Galizien-          Diskussionen geben die Herausforderungen, mit de-
deutschen angehörenden Autoren4, die teils erst 2004      nen Zöckler und andere führenden Vertreter evange-
publiziert wurden. Damit deckt es den gesamten Zeit-      lischer Kirchen konfrontiert waren, in kondensierter
raum ab, in dem die Zöckler‘schen Anstalten in Sta-       Form wieder: Nationale Differenzen, unterschiedliche
nislau existieren und gibt über diesen Zeitraum hinaus    Vorgehensweisen gegenüber der Minderheitenpolitik
noch Einblicke in Entwicklungen, die vorher stattfan-     des polnischen Staates, Anlehnung an ausländische,
den oder die nach dem Verlassen der Region thema-         national oder konfessionell definierte Organisationen
tisiert wurden. Das Material umfasst neben admini-        oder Distanzierung; und auch persönliche Spannun-
strativen Unterlagen und Informations- und Werbe-         gen zwischen führenden Persönlichkeiten führten zu
broschüren in erster Linie handschriftliche oder nach     einer Gemengelage der Interessen, deren gezielte Be-
Diktat getippte Briefe und Notizen. Es sind zahlreiche    einflussung sich als hochkomplex erwies.
überwiegend handschriftliche Briefe vor allem Theo-           Zudem wird in den Briefen oft über die Sicher-
dor und Lillie Zöcklers, aber auch ihrer Kinder, an       heit der Korrespondenz reflektiert. Vor allem nach
Familienangehörige oder Freunde vorhanden. Für den        19265 finden sich in den Briefen Hinweise darauf,
Nutzer besonders günstig ist die Tatsache, dass diese     dass der Verfasser davon ausgeht, dass die Briefe in
größtenteils von Erasmus C. Zöckler gesichtet und         Polen beim Transport abgefangen und heimlich gele-
meist im Exzerpt, teilweise sogar wörtlich abgetippt      sen wurden. In der Regel findet sich in diesen Briefen
wurden; die gedruckten Dokumente ebenso wie die           auch ein Hinweis, dass und wie dieser Brief außer-
Daten-CDs sind Teil des Bestandes. Sie füllen mehr        halb der regulären Transportwege zugestellt werde.6
als einen Karton.                                         In einem Ausnahmefall wird abweichend bemerkt,
    Inhaltlich deckt das Material die genannten Ent-      dass der Absender eine Überwachung durch deutsche
wicklungen und Tätigkeiten der Zöckler‘schen An-          Stellen fürchte und deshalb die vorübergehende An-
stalten ebenso ab wie interne Angelegenheiten der         wesenheit des Empfängers in London nutze, um ihm
Kirchenverwaltung und Handlungen der Kirchen-             zu schreiben.7
verwaltung nach außen. Daneben tritt als dritter in-          Ein Freund und Förderer der Anstalten, dessen
haltlicher Punkt der innerfamiliäre Austausch, der        Name wiederholt erwähnt wird, ist der aus der Regi-
oftmals mit den anderen bereits genannten Themen-         on stammende Hans Koch, dessen Biographie nach
bereichen eng verwoben ist. Denn zu den engsten           wie vor ein Desiderat darstellt. Er tritt überwiegend
Mitarbeitern des Ehepaars gehörten ihre Kinder und        nicht als Gesprächspartner, sondern als Gegenstand
Schwiegersöhne. Außerdem war Theodor Zöckler in           der Erzählung in Erscheinung. Seine Aktivitäten in
hohem Maße schwerhörig und fuhr, um sein Gehör            der Ukrainermission auch und gerade hinsichtlich des
zu schonen, oftmals für mehrere Tage ins rund zwei        angestrebten Studiums der Kandidaten – Koch sollte
Zugstunden von Stanislau entfernte Tatarów, von wo        hier unter anderem die Examensarbeiten übersetzen – ,
aus er schriftlich mit seinen Mitarbeitern und seiner     aber auch seine Funktion als Berater des kirchlichen
Familie kommunizierte. Private Aspekte und sach-          Außenamtes in Berlin für Ostfragen, eines Geldge-
liche Fragen finden sich oftmals innerhalb derselben      bers der Anstalten, findet wiederholt Erwähnung. Die
Nachricht.                                                Missionsbewegung unter den Ukrainern lädt zu einer
    Besonderen Raum in den Briefen nehmen zwei            intensiven Forschung geradezu ein; die Tatsache, dass
Themenbereiche ein: die Finanzierung der Anstalten,       einer der führenden ukrainischen Vertreter, Staszyń-
die häufig in den Schulden stand, sowie die Missions-     ski, bis zu seinem Übertritt Privatsekretär des Lem-
bewegung unter den Ukrainern. Hier finden sich Pro-       berger Erzbischofs gewesen war und nach drei Jahren
blembereiche, die auch außerhalb des Missionskon-         zu diesem und der von ihm vertretenen Kirche zu-
textes standen, in verdichteter Form wieder. Entgegen     rückkehrte, wirft Fragen auf, die eine Untersuchung
dem Willen Zöcklers war es früh zu einer Spaltung der     sinnvoll erscheinen lassen.
Missionsbewegung in einen lutherischen und einen re-          Zum Kreis der Freunde und Förderer, die in der
formierten Teil gekommen, die von unterschiedlichen       Korrespondenz ebenfalls häufig erscheinen, zählen
Institutionen finanziell gefördert und unterstützt wur-   als bedeutendste Gesprächspartner ein Vertreter des
den und deren Zusammenarbeit untereinander sich als       Gustav-Adolf-Werkes, der Vorsitzende des Evange-
schwierig erwies. Dieses Phänomen der mangelnden          lischen Hilfsbundes für Innere Mission in der Diaspo-
Kooperation unter evangelischen Kirchen in Polen          ra e.V. und der Vertreter des Martin-Luther-Bundes,
bestand auch außerhalb der Ukrainermission und be-        die ihrerseits über gute Kontakte in die deutsche Po-
schäftigte Zöckler stark. Die Problematik der Ausbil-     litik, speziell ins Auswärtige Amt, zum V.D.A. und

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 2                                                 - 978-3-631-74192-4     3
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zum kirchlichen Außenamt, die alle verdeckte Finan-      den in ihm vertretenen Positionen um Ausgleich
zierungshilfe für Stanislau leisteten, verfügen.         bemühter Vermittler. Diesem Rat gehörten fast alle
    Ausgesprochen aufschlussreich außerhalb die-         evangelischen Kirchen in Polen an, nur die kleine
ses Kontextes sind Briefe, die Wilfried Lempp, ein       Altlutherische Kirche war nicht vertreten. Der Rat
Schwiegersohn Zöcklers und einer seiner engsten          konnte die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfül-
Vertrauten, an seine Eltern in Esslingen schrieb. In     len. Die Zusammenarbeit auf dem engen Kirchenfeld
ihnen schildert er die Entwicklungen in den Anstalten    geriet vor Fragen außerkirchlicher Relevanz in den
und die Entwicklungen der teilweise sehr spannungs-      Hintergrund. Den Anlass dafür, nicht mehr zusam-
reichen Beziehungen der evangelischen Kirchen            menzukommen, bildete die Ermordung eines ober-
Polens untereinander, aber auch zwischen dem pol-        schlesischen Polizisten: Die Frage, ob „der evan-
nischen Staat und den evangelischen Kirchen, wobei       gelische Ortspfarrer der intellektuelle Urheber der
er wiederholt die Bedeutung der deutschen Kirchen-       Messerstecherei gewesen sei“8 und ob diese Frage
politik als Beispiel hervorhebt.                         auf die Tagesordnung des Rates gesetzt werden dür-
    Auch der in Greifswald aufgewachsene Zöckler         fe, war eine der letzten Diskussionen, die im Rat der
geht in seinen Briefen wiederholt auf die kirchlichen    evangelischen Kirchen in Polen geführt wurde. Im Ja-
Entwicklungen in Deutschland in den 1930er Jahren        nuar 1935 fand die letzte Sitzung des Rates statt, der
ein und begründet dies mit der Bedeutung, die er die-    anschließend formal fortbestand, ohne aber wieder
sen Entwicklungen für den Fortgang der Beziehungen       zusammenzutreten. Während sich im Material kei-
zwischen Staat und evangelischen Kirchen in Polen        ne die großen Entwicklungslinien nachzeichnenden
zuschreibt. Die Beziehungen zwischen Staat und al-       Schriften befinden9, finden sich in vielen Briefen Hin-
len evangelischen Kirchen in Polen stellten bis 1936     weise auf anstehende Reisen Zöcklers oder Besuche,
ein Provisorium dar. Erst 1936 wurde für zwei der ins-   die er in Stanislau erwartete. Sie sind unter anderem
gesamt sieben evangelischen Kirchen das rechtliche       der Besprechung ausgewählter Fragen aus dem Tä-
Verhältnis zum Staat festgelegt. Die anderen Kirchen,    tigkeitsfeld des Rates zuzuordnen. Diese zusammen-
auch die Evangelische Kirche Augsburgischen und          zutragen, stellt zweifelsfrei eine gewisse Anforderung
Helvetischen Bekenntnisses in Polen, waren noch bei      an die Geduld, verspricht aber Hinweise auf bisher
Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ohne ein geord-         unbekannte Abläufe. Um ein Beispiel zu nennen, das
netes Verhältnis zum Staat, obwohl sie sich – auch       allerdings aus dem Jahr 1921 und somit vor Zustan-
das geht aus dem Material hervor – wiederholt darum      dekommen des Rates stammt: Am 15. März 1921
bemüht hatten. Die Frage der Zusammenarbeit mit          schrieb Lempp seinen Eltern über die Reise seiner
dem Staat ging dabei auch einher mit der Frage des       Schwiegereltern nach Uppsala zu einer Sitzung des
Verhältnisses untereinander. Zu Beginn der Staatlich-    Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen:
keit waren im Sejm Diskussionen geführt worden,          „Auf der Hinreise sind sie 3 Nächte durch gefahren,
die auf eine Zusammenlegung der Kirchen zielten          aber immer auf guten Eckplätzen in erster Klasse /auf
und statt der sieben evangelischen Kirchen nur noch      schwedische Kosten/. Von Warschau an sind sie mit
zwei – eine lutherische und eine reformierte – beste-    Bursche und dem juristischen Präsidenten des Kon-
hen lassen wollten. Diese ohne Hinzuziehung der Kir-     sistoriums Glass gereist, von Berlin an noch mit Blau
chenvertreter begonnenen Überlegungen führten zu         und dem Methodisten-Bischof Nuelssen. Die War-
regen innerkirchlichen Debatten, in denen vor allem      schauer seien sehr liebenswürdig gegen sie gewesen,
die unierten Kirchen sowie die Evangelische Kirche       haben aber erklärt, dass sie an einen Kirchenbund mit
beider Bekenntnisse sich vehement gegen diese Pläne      den Posenern nicht denken dürfen, weil sie sonst allen
sperrten. Inwieweit diese Debatten das ausnehmend        Einfluss bei der Regierung verlieren. Und doch war
spannungsreiche Verhältnis einzelner Kirchen unter-      das wohl der ganze Zweck der Konferenz, diesen von
einander verstärkte, bedarf noch einer Untersuchung.     Papa ja längst betriebenen Kirchenbund zustande zu
Das inzwischen zugängliche Material zeigt aber sehr      bringen“.10 In den folgenden Jahren kam es zu inten-
deutlich die Position der Evangelischen Kirche Augs-     siven Beziehungen zwischen der von Zöckler vertre-
burgischen und Helvetischen Bekenntnisses unter          tenen Kirche und der Evangelisch-Unierten Kirche in
Theodor Zöckler auf. Er strebte einen gemeinsamen        Polen mit Sitz in Posen, die sich jedoch kaum über
Rat der evangelischen Kirchen an, der nach außen         den Kreis der Pastorenfamilien hinaus erstreckte: Die
geschlossen gemeinsame Positionen vertreten, nach        Pastoren der Evangelisch-Unierten Kirche in Polen
innen aber die Vielfalt erhalten sollte.                 unterstützten ihre galizischen Amtsbrüder finanzi-
    Theodor Zöckler gilt nicht nur als geistiger Vater   ell11, Wilfried Lempp wurde 1926 nach einem kom-
des im November 1926 geschaffenen Rates der evan-        plizierten Beinbruch ins Diakonissenhaus Posen ver-
gelischen Kirchen in Polen, der zu diesem Zweck ge-      bracht12, Charlotte Zöckler, die jüngste Tochter von
gründet worden war, sondern auch als ein zwischen        Lillie und Theodor, heiratete den der Posener Kirche

4                                                                 Bibliothek und Medien 33 (2013),   Nr. 2
                                                                                           - 978-3-631-74192-4
                                                                   Downloaded from PubFactory at 09/19/2021 02:12:30PM
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angehörigen Pfarrer Wilhelm Bickerich. Diese Be-         Helvetischen Bekenntnisses in Polen. Wird über die
ziehungen wurden von einer inhaltlichen Kooperati-       1999 erschienene Arbeit Elżbieta Alabrudzińskas zu
on begleitet, die aus dem Material auch hervorgeht.      den evangelischen Kirchen in den Kresy15 noch an-
1936, während die Frage der Kirchenverfassungen          geführt, dass es angesichts der intensiven Quellenar-
intensiv diskutiert wurde, reiste Theodor Zöckler als    beit der Autorin schwer möglich sein dürfte, die in der
Redner zur Landessynode in Posen und verfolgte auch      Arbeit behandelten Fragestellen zu vertiefen und zu
die Absicht, dort mit den führenden Kirchenvertretern    bereichern16, ist dieses Urteil nach dem Fund des hier
vorbereitende Gespräche zu führen, um „die immer         vorgestellten Materials nicht mehr haltbar.
ernster gewordene Gesamtlage mit Blau, Nehring
u.s.w. zu besprechen. Ich denke, dass wir /die beiden         Anmerkungen:
unierten Kirchen und unsere Kirche/ jetzt einen Kol-     1    Das Material ist zurzeit noch gesperrt. Die Nutzung des Mate-
                                                              rials für Recherchen zu einer Dissertation über Protestanten in
lektivschritt tun müssen“.13 Die Frage, ob es Hinweise
                                                              Polen in den Jahren 1918 -1939 wurde von Erasmus Zöckler
auf den hier angesprochenen „Kollektivschritt“ gibt,          erlaubt, dem an dieser Stelle noch einmal dafür gedankt sei.
ist an das Material noch zu stellen.                     2    Vgl. hierzu: Müller, Erich: Lemberger Pfarramts- und Su-
    Den wenig überraschenden Hinweisen auf eine               perintendentialakten 1778-1939 aus dem ukrainischen Ge-
kritische Haltung gegenüber dem polnischen Staat              bietsarchiv in Lemberg-Lviv: Auflistung und Sammlung, in:
                                                              Germano-Polonica. Mitteilungen der Deutschen in Polen und
und seinen Vertretern stehen Aussagen gegenüber, die          der deutsch-polnischen Beziehungen 1(2001), S. 5-6.
zu einer Relativierung dieser Beurteilung anregen. So    3    Zöckler, Erasmus (Hrsg.): Die Geschichte der evangelischen
schreibt Zöckler am 10. Mai 1935 an nicht namentlich          Diaspora und der deutschen Minderheit in Galizien aus der
genannte Amtsbrüder: „Heute stehen wir ganz unter             Sicht von Theodor Zöckler. Vier Bände, 2. überarbeite Aufla-
                                                              ge, Stuttgart 2010.
dem Eindruck der Nachricht vom Tode Piłsudskis.
                                                         4    MOB Herne, Material Theodor Zöckler, Gesperrt Ts 002/
Nicht nur für Polen, sondern ich glaube für ganz Eu-          K0060: Erich Müller, Berlin 2004: Referate, gehalten vor
ropa ist der Tod dieses Mannes von sehr großer Be-            einer ukrainischen Multiplikatorengruppe aus Lemberg in
deutung. Polen hat unter ihm doch einen großartigen           Wiesbaden.
Aufschwung genommen. Und wir konnten uns schließ-        5    MOB Herne, Material Theodor Zöckler, Gesperrt Ts 002/
                                                              K0054, Zöckler an Wiegand, 12.1.1932; MOB Herne, Materi-
lich doch nicht beklagen. Religiöse Freiheit wurde im         al Theodor Zöckler, Gesperrt Ts 002/K0049, Theodor Zöckler
Ganzen eingehalten, auch wenn wir gerade in letzter           an „liebe Kinder“, 5.10.1936; MOB Herne, Material Theodor
Zeit wieder bezüglich der evangelisch-ukrainischen            Zöckler, Gesperrt Ts 002/K0052, Faust an Regierungsrat
Bewegung manche Beschwerden hatten. Im Ganzen                 Krahmer-Möllenberg, 4. März 1927; MOB Herne, Material
                                                              Theodor Zöckler, Gesperrt Ts 002/K0053, Theodor Zöckler
haben wir mehr Freiheit, als sie jetzt in Oesterreich
                                                              an Wiegand, 21. Mai 1930.
und in mancher Beziehung auch in Deutschland ist“.14     6    MOB Herne, Material Theodor Zöckler, Gesperrt Ts 002/
    Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der hier           K0054, Theodor Zöckler an Wiegand, 12.1.32 durch privaten
vorgestellte Bestand große Mengen bisher fast un-             Kurier (Student Hans Strohal).
bearbeiteten Materials enthält, bei dem es sich im       7    MOB HERNE, MATERIAL THEODOR ZÖCKLER, GESPERRT TS 002/
                                                              K0050, THEODOR ZÖCKLER AN WIEGAND, 1937: „Ich benutze
großen Umfang um private Briefe handelt. Aus der              die Gelegenheit, da Du einmal außerhalb Deutschlands bist,
bisherigen Beschäftigung geht hervor, dass das Ma-            um Dir einiges zu schreiben, was ich Dir dorthin nicht zu
terial Einblicke in bisher weitgehend unbearbeitete           schreiben wage.“
Themenbereiche wie die Mission unter den Ukrai-          8    Rhode, Arthur: Geschichte der evangelischen Kirche im Po-
nern ermöglicht und dass es darüber hinaus neues              sener Lande, Würzburg 1956, S. 232.
                                                         9    Solche sind z.B. in der Dokumentensammlung am Herder-
Material zu bekannten Komplexen bietet, so dass sich          Institut vorhanden – DSHI 100 Wagner Oskar.
hier die Möglichkeit zur Überprüfung der bisherigen      10   MOB Herne, Material Theodor Zöckler, Gesperrt Ts 002/
Forschungsergebnisse bietet. Hier sind speziell die           K0049, Brief von Wilfried Lempp an seine Eltern, 15. März
Zusammenarbeit der evangelischen Kirchen in Polen             1921.
                                                         11   Rhode, Arthur: Die Evangelische Kirche in Posen und Pom-
untereinander, das Verhältnis vor allem der Evange-
                                                              merellen; Erfahrungen und Erlebnisse in drei Jahrzehnten
lischen Kirche Augsburgischen und Helvetischen                1914-1945. Nach dem 1955-58 niedergeschriebenen Manu-
Bekenntnisses zum polnischen Staat und das zu pri-            skript zum Druck vorbereitet von Professor Dr. Gotthold Rho-
mär außerkirchlichen Organisationen in Deutschland            de, Lüneburg 1984, S. 212.
wie dem V.D.A., aber auch zu kirchennahen wie dem        12   MOB Herne, Material Theodor Zöckler, Gesperrt Ts 002/
                                                              K0056.
Gustav-Adolf-Werk zu nennen. Auch zu dem bisher          13   MOB Herne, Material Theodor Zöckler, Gesperrt Ts 002/
wenig erforschten Feld der Einbindung evangelischer           K0049, Brief von Theodor Zöckler an Wilfried Lempp, 1 7 .
Kirchen in Polen in den interkontinental agierenden           Mai 1936.
Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen bieten      14   MOB Herne, Material Theodor Zöckler, Gesperrt Ts 002/
                                                              K0050, Theodor Zöckler an Amtsbrüder, 10. Mai 1935.
die Unterlagen Einblicke. Der jetzt zugängliche Be-
                                                         15 Alabrudzińska, Elżbieta: Kościoły Ewangelickie na
stand ermöglicht also eine intensive Beschäftigung
                                                              kresach wschodnich II Rzeczypospolitej, Toruń 1999.
mit der Evangelischen Kirche Augsburgischen und

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 2                                                - 978-3-631-74192-4                  5
                                                     Downloaded from PubFactory at 09/19/2021 02:12:30PM
                                                                                            via free access
16 Aus einer Rezension Wiktor Wysoczańskis, in: Alabru-   Bürger und Landmann, worin die nothwendigsten
   dzińska, Elżbieta: Kościoły Ewangelickie na kresach    russischen Wörter, Gespräche und Zahlen enthalten
   wschodnich II Rzeczypospolitej, Toruń 1999.            sind, wie solche nach der deutschen Mundart ausge-
                                                          sprochen werden müssen“.6
                                                              Beide genannten russischen Verständigungshilfen
                                                          gehörten damit zu den ersten, die im Januar 1813 in
Günther Schmook (Berlin)1                                 Berlin angepriesen wurden und auf den Vormarsch
                                                          der Russen reagierten.
                                                              Auch aus eigenen Dolmetschern früherer Koaliti-
„... der Russe fügt sich leichter, wenn                   onskriege stellten manche Buchhändler, wie Dreyssig
man ihn in seiner Sprache anredet“2 ̶                     in Halle, aus jeweils aktuellem Anlass „neue“ Ver-
Zur Bedeutung der russischen Wörterbü-                    ständigungshilfen zusammen. Deshalb konnte die-
cher und Dolmetscher 1813-1815                            ser wie bereits 1812 auch Anfang 1813 sehr schnell
                                                          auf neue Anforderungen reagieren, genauso wie die
Mit nachfolgenden ausgewählten Erkenntnissen aus          Leipziger Buchhändler Klein und Cnobloch, denen
meinen bisherigen Untersuchungen zu russischen            Dreyssig diese Materialien zu deren Verwendung zur
Wörterbüchern und Dolmetschern aus der Zeit der           Verfügung stellte.7
Napoleonischen Kriege möchte ich die begonnene                Die deutschen Verlagsorte der russischen Sprach-
wissenschaftliche Diskussion zu dieser Thematik be-       führer hatten bei allen Veröffentlichungen seit 1799
reichern.                                                 stets einen konkreten Bezug zum jeweiligen Kriegs-
    Die zeitliche und inhaltliche Konzentration auf       verlauf; seit 1813 verschoben sie sich parallel mit den
den Zeitraum 1813 bis 1815 sowie auf die Bedeu-           Hauptstoßrichtungen der russischen Truppen von Ost
tung dieser Sprachbücher als wichtige interkultu-         nach West. Das Phänomen der Dolmetscher war nicht
relle Zeugnisse der Alltagsgeschichte der deutschen       nur auf das deutschsprachige Gebiet beschränkt: Es
Bevölkerung soll zugleich eine Würdigung des 200.         begleitete die verbündeten Truppen letztendlich bis
Jahrestages des konkret-historischen Hintergrundes        nach Paris; es gab russische Dolmetscher in den Nie-
der russischen Verständigungshilfen ab 1813 sein: die     derlanden, in Belgien sowie in der Schweiz8, durch
Befreiungskriege.                                         die – deren Neutralität verletzend – die Armeen Rich-
    Ende Januar 1813, nachdem russische Truppen           tung Paris zogen, und in Frankreich selbst. Wenn man
auf deutsches Gebiet vorstießen, verlagerten die rus-     bedenkt, dass dann auch deutsche Soldaten Seite an
sischen Dolmetscher und Sprachbücher ihre konzep-         Seite mit den Russen und Österreichern in die jewei-
tionelle Ausrichtung vom „Tornister- und Soldaten-        ligen Länder einzogen, ist die Herausgabe eines klei-
wörterbuch“ auf die Bedürfnisse der von den Kriegs-       nen flämisch-deutsch-russischen Wörterbuches im
folgen betroffenen Bevölkerung.                           belgischen Brügge Anfang 1814 nur folgerichtig.9
    Mit dieser Zielstellung entstanden viele neue rus-    In Deutschland wurden die Dolmetscher bereits vor
sische Dolmetscher. Aber auch bisherige erschienen        dem Eintreffen der russischen Armee durch Anzeigen
weiter, entsprechend den neuen interkulturellen Be-       in der lokalen Presse beworben und durch den ört-
dürfnissen leicht verändert oder ergänzt. So wurde        lichen Buchhandel angeboten.
z.B. der „Russische Dolmetscher“ von W.C.v.H., der            Leipzig, das damals den Buchhandel und das Ver-
1812 ursprünglich „den nach Norden marschirenden          lagswesen in Deutschland prägte, erwies sich neben
Kaiserlich Königlichen Französischen und verbün-          Berlin und Halle als dominierender Verlagsort. Ei-
deten Armeen gewidmet“3 war, natürlich ohne diesen        nige dieser Veröffentlichungen wurden auch direkt
Zusatz durch „…eine Nachricht über das russische          in Russland gedruckt und parallel in deutschen Ver-
Militär als Anweisung zur Behandlung desselben für        lagen herausgegeben. So wurde der in St. Petersburg
Hauswirthe bei Einquartierungen“ erweitert. Auch          1813/1814 bei Pluchart verlegte „Kleine(r) russi-
ein Hinweis auf die „französische Mundart“ sowie          sche(r) Dollmetscher für die Deutschen; Enthaltend
der französischen Paralleltitel fehlten.4 Den Einsatz     die nothwendigsten Wörter und Gespräche“, von
dieses Wörterbuches im Russlandfeldzug nutzte der         N.C. Kreye, 1814 auch bei der Pluchart- Dependance
Verlag werbemäßig, indem er darauf hinwies, „dass         in Braunschweig unter dem Titel „Kleiner russischer
dieser Dollmetscher, …, der brauchbarste und voll-        Dollmetscher für die Deutschen. Dritte umgearbeitete
ständigste ist, wie der längere Gebrauch schon in ent-    Auflage mit dem russischen Originaltexte“ herausge-
fernteren Gegenden bewiesen hat“.5                        bracht.10
    Exakt dieses Sprachbuch von W.C.v.H. wurde An-            Die russischen Dolmetscher und Sprachführer der
fang 1813 in Berlin durch F.C. Amelang unter neuem        Napoleonischen Kriege waren als in der Regel klein-
Titel vermarktet: „Russischer Dolmetscher für den         formatige Broschüren, drucktechnisch als Massenwa-

6                                                                  Bibliothek und Medien 33 (2013),   Nr. 2
                                                                                            - 978-3-631-74192-4
                                                                    Downloaded from PubFactory at 09/19/2021 02:12:30PM
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re angelegt und zu einem relativ günstigen Preis zu      besserte Auflage mit der Bemerkung beworben: „So
haben. Sie waren in der Regel zwei-, seltener auch       scheint auch das Publikum diese Schrift aufgenom-
dreisprachig. Die Bezeichnungen „Nothelfer“, „ Not-      men zu haben, da in kurzer Zeit die erste Auflage
und Hilfsbuch“ (heute würde man sagen: Praktische        vergriffen ist“. Die „Deutsch-Russische Haustafel“
Ratgeber) und vor allem „Dolmetscher“ entsprachen        von Zeune, erstmals annonciert am 20.02.1813, er-
der Erwartungshaltung der potenziellen Abnehmer.         schien am 02.03.1813 bereits in der zweiten und am
Wegen der großen Konkurrenz versuchte manch Au-          11.3.1813 in der dritten Auflage. Zu dieser Tafel sowie
tor oder Verleger sich durch werbewirksame Zusät-        zum vielgefragten „Deutsch-Russischen Dolmetscher
ze, wie „ Neuer“, „Ausführlicher“, „Vollständigster“,    für Jedermann“, „zum Aufhängen im Zimmer einge-
„Besserer“ etc. von anderen abzugrenzen. In diese        richtet“, dessen erste Auflage binnen zwei Tagen nach
Unmenge von Dolmetschern, die sich vom Titel her         Erscheinen (27.2.) vollständig vergriffen war (siehe
ähneln, eine gewisse bibliographische Ordnung zu         4.3.), hatte sich Otten bereits geäußert.15 Insgesamt
bringen, ist äußerst kompliziert.                        gab es innerhalb von ca. drei Wochen vier Auflagen!
    Bibliographisch erschwerend kommt hinzu, dass        Die hohe Nachfrage nach diesen Materialien hatte vor
einige Dolmetscher sich aus mehreren Bestandteilen       allem pragmatische Gründe:
zusammensetzen, die auch als eigenständige Sprach-           a) Die Bevölkerung litt unter den fremden Trup-
bücher (manchmal zeitversetzt) einzeln verkauft wur-     pen, unabhängig von ihrem militärischen Status als
den. Über die Jahre hinweg ist in manchen Biblio-        Verbündeter oder Feind, und versuchte sich mit den
theken und Bibliographien dieser Gesamtbezug dann        Gegebenheiten zu arrangieren: „Man wartet ab, man
verloren gegangen.11                                     nimmt hin, man passt sich an“.16 Eine fremde Kultur
    So hatte beispielsweise der Leipziger Verlag E.      und vor allem eine völlig unbekannte Sprache stellten
Klein 1813 die drei Werke „Erste Anfangsgründe           die Einwohner vor hohe Herausforderungen und ver-
zur Erlernung der russischen Sprache oder deutsch-       setzte sie „…oft mit dem fremden Militär in unange-
russisches ABC-Buch“(3 Groschen); „Neuester rus-         nehme Verhältnisse…“.17 Um dem vorzubeugen, wur-
sisch-deutscher Dolmetscher; 1. Heft“ (2 Gr.) und        den, wenn möglich, in Ortschaften Sprachkundige als
„Neuester russisch-deutscher Dolmetscher; 2. Heft“       Dolmetscher eingesetzt.18 Die Familienoberhäupter
(2 Gr.) entweder einzeln oder aber unter dem Titel       („Hausväter“) besorgten sich zur existentiellen Absi-
„Neuester russisch-deutscher Dolmetscher; mit ABC-       cherung ihrer Familie und ihres Vermögens russische
Buch, als großer Dolmetscher“ im Komplex verkauft.       Wörterbücher und Dolmetscher. „Viele bereiteten sich
„Diese 3 Hefte zusammen als großer Dolmetscher, 6        auf den fremden Besuch aus dem Norden vor, schaff-
Gr.“12                                                   ten sich russische Dolmetscher und Heiligenbilder
    Von dem von Thomas Szumski 1813 in Posen             an, und stellten sie im Zimmer auf, wie man sich zur
herausgebrachten „Russischen Selbstlehrer“, der so-      Zeit der Franzosenkriege Grammatiken und Dolmet-
wohl eine Grammatik als auch Redensarten und Ge-         scher angeschafft hatte“.19
spräche sowie ein zweisprachiges „Vokabulär“ um-             b) Zugleich war man daran interessiert, als Kauf-
fasste, wurden sowohl die Redensarten als auch das       mann, Handwerker oder Vertreter städtischer Behör-
Wörterverzeichnis auch einzeln vermarktet.13 Der         den mit den Vertretern der russischen Armee in geord-
Schwerpunkt der Veröffentlichungen derartiger rus-       nete Geschäftsbeziehungen zu gelangen, wenn dies
sischer Verständigungshilfen liegt eindeutig in den      die Kriegsumstände überhaupt zuließen.
Jahren 1813/1814. Baumann nannte in seiner Habili-       Mit der Bereitstellung von Sprachführern, die oft-
tationsschrift 1969 für den gesamten Zeitabschnitt der   mals, in Tradition zu den früheren russisch-deutschen
Napoleonischen Kriege insgesamt 72 „deutschspra-         Wörterbüchern, zusätzlich zum Wörterverzeichnis
chige Lehrmittel des Russischen“, wovon 61 allein in     die für den Handel mit den Russen relevanten Maß-
den Zeitraum 1813/14 fielen.14                           und Geldeinheiten sowie Gewichte beinhalteten,
    Nach meinen bisherigen Recherchen kann man           wurde zugleich ein Beitrag für die Schaffung von
durchaus von einer doppelten Anzahl der in beiden        Rahmenbedingungen für den Austausch von Informa-
Zeitabschnitten herausgebrachten russischen Wörter-      tionen und Waren geleistet. Informationsmaterialien
bücher und Dolmetscher ausgehen! Der Bedarf der          zu den Handelsbedingungen mit der russischen Ar-
Bevölkerung an diesen Sprachbüchern muss riesig          mee wurden in allen Koalitionskriegen natürlich auch
gewesen sein. Bellermanns „Kleine Sammlung der           einzeln angeboten. In diese Gruppe von Sprachma-
nothwendigsten Russischen Wörter und Redensarten         terialien ordnen sich die, besonders 1813 in den Ver-
nach ihrer Aussprache und deutsch erklärt“ wurde         kauf gebrachten, „Wandanschläge“ und „Sprachta-
in den Berlinischen Nachrichten von Staats- und ge-      feln“ ein. So erschien bei Joachim in Leipzig 1813
lehrten Sachen am 11. Februar 1813 das erste Mal         eine von Kusnetzow erstellte „Russische Sprachver-
angezeigt; am 4. März 1813 wurde die zweite ver-         ständigungstafel zum Anschlagen und Aufhängen in

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 2                                                - 978-3-631-74192-4     7
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Gasthöfen und anderen Örtern, wo sich viele Russen        Verkaufe derselben beschäftigen will, erhält einen be-
befinden…“.20 Dreyssig warb in einem Verzeichnis          deutenden Nachlaß“.26 Die Mehrzahl derartiger Ver-
der, bei ihm in Halle und Leipzig erschienenen, „ganz     öffentlichungen ist anonym bzw. unter Pseudonym
neuen russischen Verlagsbücher“ unter anderem für         erschienen, die sprachliche Kompetenz hervorhebend
einen „Russisch-deutschen Wandanschlag für Gast-          meist unter slawischen Namen, z.B. Jasükowski, Kus-
wirthe, Kaffeehäuser, Billard- und Tanzsäle“.21 Zur       netzow, Andrey Dmitritsch bzw. darauf verweisend,
sprachlichen Unterstützung eines notwendigen Zu-          der Autor sei ein „geborener Russe“, ein „wirklicher
sammenwirkens auf medizinischem Gebiet wurde in           Russe“ oder ein „Kenner der russischen Sprache“.27
den Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehr-          Wie Baumann feststellte, halten manche dieser
te Sachen, No. 31 vom 13.03.1813 von einem „Sach-         Behauptungen einer konkreten sprachlich-inhaltli-
verständigen“ bei Dieterici in der Spandauer Straße       chen Analyse der Wörterbücher nicht stand!28 Wenn
52 für 3 Gr. Cour ein Wörterverzeichnis unter dem         man nur alleine die Arbeiten von „Andrej Dmitritsch
Titel „Benennungen in Russischer Sprache der vor-         aus Moskau“29 und des angeblich „geborenenen Rus-
züglichsten Arzneimittel, Krankheiten, Geräthschaf-       sen“ im „Kleinen Dolmetscher mit dem Kosaken,
ten, Gewichte etc. Bequem und nützlich für Ärzte,         Frankfurt 1813“ betrachtet, kann dem nur zugestimmt
Wundärzte und Apotheker“ angeboten.                       werden.30
    c) Ende Januar/Anfang Februar 1813 erfolgte in            Meine Recherchen ergaben, dass der bei Hexel-
Preußen und anderen Ländern eine Parteinahme für          schneider31 aufgeführte Teubtschewsky tatsächlich ein
die Russen, in Sachsen und anderen Rheinbundstaaten       „wirklicher Russe“ ist. Es handelt sich offensichtlich
eine Umorientierung vieler Bürger auf die neue Be-        um Nikolai (Nicolaus) Timofejewitsch Trubtschew-
satzungsmacht. „Was von Osten kam, wurde verklärt         skij (Trubčevskij), der als Kapellsänger zur ersten
durch den leidenschaftlichen Wunsch des Volkes. Nie-      Generation des „angemessen ausgebildeten Klerus“
mand mehr als die Vortruppen des fremden Heeres,          gehörte, der zeitgleich mit der Tochter des russischen
die Kosaken.“22 Nachweislich wurden die russischen        Zaren, Maria Pawlowna, die 1804 mit dem Weimarer
Soldaten in den meisten deutschen Ortschaften freu-       Thronfolger vermählt wurde, in Weimar eingetroffen
dig als Befreier begrüßt und bejubelt. „Es schien         ist und dort die russisch-orthodoxe Gemeinde be-
damals, als ob wir von den Russen gar nicht wieder        treute. Er war 1808 Dolmetscher im Gefolge des Za-
loskommen könnten oder loslassen wollten. Sie er-         ren, und verrichtete 1813-1815 beim russischen Heer
schienen als unsere Befreier und waren überall will-      Dienst. Er ist zu den Russen in Goethes Umgang zu
kommen; man jubelte ihnen entgegen und wünschte           rechnen.32
es ihnen sagen zu können, wie lieb man sie habe. Viele        Namentlich sind deutschsprachige Autoren der-
schafften sich daher russische Sprachlehren an und        artiger Dolmetscher festzustellen, die sich jahrelang
machten sich daran, Russisch zu lernen“.23                in Russland aufhielten, ihre sprachliche und interkul-
    d) Der deutsche Buchhandel, der durch die Napo-       turelle Kompetenz einbrachten und, neben anderen
leonischen Kriege in enorme wirtschaftliche Schwie-       Veröffentlichungen über Russland, auch mit derarti-
rigkeiten geriet, hatte ein existentielles Interesse an   gen Sprachmaterialien ihrer Vermittlerrolle während
hohen Druckauflagen und Verkaufszahlen. Die He-           der Befreiungskriege gerecht wurden, z.B. Christian
rausgeber stimulierten den Absatz mit großangelegten      Gottfried Heinrich Geißler, Johann Joachim Beller-
Anzeigenkampagnen in der örtlichen und überregio-         mann, Johann Gottfried Richter, Lorenz Heinrich
nalen Presse sowie durch die Gewährleistung von           Hessel.
Rabatten. Eine „raffinierte Speculation fertigte rus-         Raubkopien und Plagiate schienen keine Selten-
sische Dollmetscher, um den Kosaken auf russisch          heit zu sein. Zudem stellten einige Herausgeber aus
ihre Freundschaft versichern zu können“.24                bereits vorhandenen Materialien anderer Autoren
    Sofort nach dem Abzug der Franzosen entstand,         neue Bücher zusammen und verlegten sie unter neu-
zur Bewältigung des großen Ansturms der Käufer auf        em Titel. Dies ist einer der Gründe, warum so viele
Proklamationen der verbündeten Armeen, Bulletins,         russische Verständigungshilfen im relevanten Zeit-
Flugblätter, Karikaturen usw., in vielen Orten zusätz-    raum, ungeachtet einiger Kürzungen und geringfü-
lich eine Art Buchhandel „unter freiem Himmel“,           gigen Veränderungen, fast völlig übereinstimmen.
der auch russische Sprachbücher mit einbezog. Auch        Bei der Übernahme entstanden eine Reihe neuer Feh-
dieser Handel mit „literarisch kurzer Ware“25 wurde       ler; die vorgefundenen wurden übernommen, auch
durch die professionellen Buchhändler mit einem           von dem „geborenen Russen“, der lt. Impressum den
speziellen Mengenrabatt gefördert; siehe die Anzeige      „Kleinen Dolmetscher mit den Kosaken“ angeblich
zu C.G.H. Geißlers zweitem Dolmetscher in der Leip-       „verbessert“ hatte.33
ziger Zeitung No. 206 vom 27.10.1813: „Wer mehr               L.H. Hessels „Der Russische Dolmetscher in Fra-
als ein Exemplar auf einmal kauft, oder sich mit dem      gen und Antworten für den Bürger und Landmann,

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                                                                                            - 978-3-631-74192-4
                                                                   Downloaded from PubFactory at 09/19/2021 02:12:30PM
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in Büreaus für Reisende, im Handel, in Gasthöfen         er sich 1813 gekauft hatte, als Unterrichtsmaterial
und für Militär“, Zeh‘sche Buchhandlung, Nürnberg        einsetzte: „Wir mussten aber auch französisch und
1813 (24 S.) ist identisch mit dem „Neuen deutsch-       selbst russisch zählen lernen. G. hatte zur Zeit des
böhmisch-russischen Dolmetscher in Fragen und Ant-       Freiheitskrieges 1813 mit Hilfe eines gedruckten Dol-
worten für den Bürger und Landmann, für Reisende,        metschers einige französische und russische Wörter,
im Handel, in Gasthöfen, für Militär und in anderen      Redensarten und die Zahlen gelernt, und das mussten
nöthigen Fällen“ Aloys Kramer, Prag 1813 (23 S.),        wir nun auch lernen…“, erinnert sich ein ehemaliger
der F. Tomsa zugesprochen wird. Selten bekannten         Schüler, der in der Folgezeit bis in das gereifte Er-
sich die neuen Herausgeber oder „Autoren“ zu diesem      wachsenenalter die russischen Zahlen aufsagen konn-
Vorgehen, wie der österreichische Offizier Andreas       te.36
Rittig v. Flammenstern, der die Vorrede zu seinem,           Nachweislich haben auch Vertreter des Bildungs-
in Wien 1813 herausgegebenen, „Taschenbuch“ mit          bürgertums derartige Sprachbücher besessen, die sie
den Worten abschloss: „Um keines Plagiats beschul-       sich vor der Ankunft der Russen vorsorglich zuge-
digt zu werden, finde ich es noch nöthig, zu erklären,   legt hatten! Dies dürfte bibliophil äußerst wertvoll
dass ich bey Zusammenstellung dieses Taschenbuches       sein: Im Bestand von deren Privatbibliotheken und
alle bestehenden Russische Dolmetscher, wie ich mir      Nachlässen war die Wahrscheinlichkeit der Erhaltung
schmeichle, mit zweckmäßiger Auswahl benutzet            dieser Sprachbücher wohl am größten. So konnten
habe.“34                                                 im Bibliotheksnachlass von Alexander von Hum-
    Mit den Dolmetschern („für Jedermann“, „Für den      boldt37 sowie von Varnhagen von Ense Jasükowskis
Bürger und Landmann“) wollte man möglichst viele         „Russische Gespräche…“ festgestellt werden.38 Der
Käufer aller Schichten ansprechen. Der direkte Zu-       Philosoph Friedrich Heinrich Jacobi überlieferte das
gang zur Bevölkerung wurde unter anderem durch die       „Handbuch der Russischen Wörter und Redensarten,
Einbettung in die damals übliche Ratgeber-, Hausva-      die im gemeinen Leben am häufigsten vorkommen
ter- und Aufklärungsliteratur unterstützt. Deshalb die   können…“ von J.A.E. Schmidt, Leo, Leipzig 1813.39
vielen Titelbezeichnungen, wie „Not- und Hilfsbuch“,     Bestandteil der Bibliothek von Carl Friedrich Gauß
„Der sorgsame und erfahrene Hausvater bei Einquar-       war neben Heyms „Russischer Sprachlehre für Deut-
tierungen“ usw. Auch an die religiösen Traditionen       sche“ aus dem Jahre 1804 auch der „Russische Dol-
der neutestamentarischen Haus- und Pflichtentafeln,      metscher…“ von Kästner und Kralitzky, Leipzig 1813
die in der Wohnung anzubringen waren, wurde ange-        [GAUSS BIBL 1224] sowie das „Russisch-deut-
knüpft, wie die Beispiele der „Deutsch- Russischen       sche Handbuch“, Lüneburg 1813 (Handbuch 1813)
Haustafel“ von Zeune und des „Deutsch- Russischen        [GAUSS BIBL 413].40
Dolmetscher für Jedermann zum Aufhängen“ bewei-              In der Privatbibliothek des Freiberger Geologen
sen.                                                     Abraham Gottlob Werner befinden sich unter den
    Bezüglich der Landbevölkerung richteten die          Wörterbüchern der russischen Sprache, die zwischen
Verlage ihre Vertriebsaktivitäten zusätzlich auf die     1731 und 1813 erschienen sind, allein sieben, die im
Personen, die die gesellschaftlichen Einstellungen       relevanten Zeitraum herausgebracht wurden.41 Der
und das Verhalten einer Dorfgemeinschaft beson-          Stadtbibliothek Zschopau wurde 1883 aus dem Nach-
ders prägten. Geißlers Dolmetscher, der gleich nach      lass des ehemaligen Direktors der Bodemer Bleiche-
der Völkerschlacht erschien,35 wurde in der Leipziger    rei und Baumwollspinnerei Imanuel Gottlieb Hesler
Zeitung No. 206 vom 27.10.1813 auf Seite 2159 da-        (verstorben 1830) der „Ausführliche Deutsch- Rus-
mit beworben, dass er „unter den bisher herausge-        sische Dolmetscher…“, Naumburg 1813, überge-
kommenen der vollständigste (ist), und verdient,…,       ben.42
in jeder Haushaltung angeschafft zu werden; vor-             Der Berliner Künstler Johann Gottfried Schadow,
züglich sollten Landgeistliche und Dorfschullehrer       der auf eigenen Wunsch Kalmücken, Kosaken und
sich denselben kommen lassen, weil, wie bekannt, die     Baschkiren bei sich beherbergte, damit er „…seiner
meisten Unannehmlichkeiten dadurch entstehen, dass       Sammlung von National-Physiognomien nöthigen
man sich gegenseitig nicht versteht, und sich nicht      Zuwachs gab“43, nutzte zur Verständigung mit ihnen
verständlich machen kann.“ Es ist davon auszugehen,      mindestens ein russisches Wörterbuch. Dies erfährt
dass sich die angesprochenen „Multiplikatoren“ tat-      man aus dem Vortrag zur Entstehungsgeschichte sei-
sächlich hier und da vorsorglich derartige Sprachbü-     ner Karikatur „Die Fechtstunde“, den der Künstler
cher angeschafft haben.                                  am 16. April 1814 in der Gesellschaft der Freunde des
    Aus der Geschichte der sächsischen Schulpolitik      Humanismus in Berlin gehalten hat. Auf dem Bild
ist mir ein Beispiel bekannt, in dem ein Dorfschul-      ist unter anderem ein Kosak dargestellt, der das Rus-
lehrer noch lange nach den Kriegsereignissen einen       sische Reich repräsentieren soll und dem Schadow
deutsch-russisch-französischen Dolmetscher, den          die Aussprüche in den Mund legte: Podass Swetsch-

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 2                                                - 978-3-631-74192-4     9
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ku; padi Spatt. In dem Vortrag erklärte er die Herkunft   hatte Tomsa das Manuskript unentgeltlich zur Verfü-
dieser Wörter: „Die russischen Redensarten habe ich       gung gestellt und diesen Schritt angeregt, weil er we-
aus einem kleinen Wörterbuch“.44                          gen eines bereits 1799 erschienenen Plagiats seines
    In den Jahren 1813 bis 1815 gehörten zu den Käu-      „Hilfsmittels“ durch einen anonymen Autor ziemlich
fern der russischen Dolmetscher nach wie vor auch         verärgert war: „Hr. v. Schönfeld hatte die Güte, es in
Militärangehörige. Der russisch-deutsche Teil in          einem Auszuge unter dem Titel: Russischer Dollmet-
manchem Wörterbuch „Für Deutsche und Russen“              scher nachzudrucken. Dies macht es nothwendig,
war den russischen Armeeangehörigen vorbehalten.          dass man zum Hülfsmittel noch ein Register drucken
In der Leipziger Zeitung No. 211, vom 03.11.1813          liess,… H. Tomsa in der Normalschulbuchhandlung
auf S. 2329 wurde gar ein „Kleiner russischer Dol-        hat die Auflage besorgt.“53 Bei dem Plagiat könnte es
metscher für die Russen, welche sich den Deutschen        sich um das bei Francev aufgeführte Werk handeln,
verständlich machen wollen“ für 6. gr. beworben.          das 1799 in Prag (bei Schönfeld?) erschienen ist:
In einer Annonce vom 30. Juni 1814 in russischer          „Der russische Dolmetscher, welcher den Deutschen
Sprache, gerichtet an alle russische Armeeangehöri-       dahin unterrichtet, dass er sich auf der Stelle jedem
gen („Объявление ко всемъ российскимъ войнамъ             Russen verständlich machen, ebenso aber auch den
всякого чина“), wird auf die 4. Auflage des sechs-        Russen verstehen kann“.54
sprachigen „Handbuches für Reisende zur Conver-               Ich bin mir fast sicher, dass die meisten der rus-
sation …“ der Madam de Genlis (Hinrich, Leipzig           sischen Sprachbücher, die ab 1813 erschienen, direkte
1814) aufmerksam gemacht.45 Da seit 1813 russische        und indirekte Vorläufer hatten sowie sich an einigen
und vor allem preußische Verbände gemeinsam in den        wenigen inhaltlich-konzeptionellen Grundmustern
Kampf zogen, werden sich auch deutsche Soldaten           ausrichteten. Neben der teilweisen Fortführung der
russische Verständigungshilfen privat zugelegt haben,     Tradition der Gesprächsbücher des 18. Jahrhunderts
die sie dann bis Paris im Tornister mit sich führten.     nahmen die russischen Dolmetscher im deutschspra-
In der Literatur wird auch ein Beispiel einer organi-     chigen Raum vor allem das im Anhang zur Sprach-
sierten Verteilung derartiger Verständigungshilfen        lehre von J. Heym (Ausgaben Riga: 1789; 1804)
auf preußische Kampfverbände genannt: Im Korps            aufgeführte Wörterverzeichnis mit anschließenden
von Dobschütz der schlesischen Landwehr hat man           Redensarten sowie auch seine russischen Wörterbü-
im Juni 1813 den Einheiten eine „Sammlung der no-         cher zum Vorbild. Nur wenige dieser Autoren geben
thwendigsten Wörter und Gespräche in russisch-deut-       Heym als genutzte Hauptquelle an: Josef Dobrovský
scher, wie auch in deutsch-russischer Sprache“ zuge-      nannte sein 1799 erschienenes „Neues Hülfsmittel…“
teilt.46 Wie Paye anhand der Akten der westphälischen     einen „zweckmäßiger Auszug aus Heyms Russischer
Polizei ermitteln konnte, haben sich im besagten Zeit-    Sprachlehre“. Dreyssig gab seinem 1813 in Halle
raum auch französische Militärangehörige häufig rus-      und Leipzig herausgebrachten „Kleinen russischen,
sische Dolmetscher zugelegt.47                            deutschen und französischen Wörterbuch“ den Zu-
    Auf einige Dolmetscher griffen die Verlage über       satz „geschöpft aus der Quelle von Johann Heim“.
die gesamte Spanne der Koalitionskriege mit rus-          Durch weiterführende Forschungen könnte meinen
sischer Beteiligung 1799, 1806/07, 1813/14, ihren         Vermutungen nachgegangen werden, dass J. Heyms
Titel beibehaltend, immer wieder zurück. So erschien      Spracherbe über zwei Linien in die deutsche Dolmet-
das Lüneburger Handbuch 1806 auch im Jahr 1813. 48        scherliteratur gelangt sein könnte, die beide direkt
J. Dobrovskys 1799 in Prag erschienenes „Neues            über Dobrovský als Schaltstelle führen: 1. Die vom
Hülfsmittel, die russische Sprache leichter zu ver-       „Hilfsmittel“ 1799 ausgehende direkte Linie Dobro-
stehen, vorzüglich für Böhmen, zum Theile auch für        vský (1813) → Tomsa (1813) usw. 2. über die Fol-
Deutsche …“49 ist auch „Beim zweiten Durchmarsche         geveröffentlichungen auf der Grundlage des Plagiats
der Russen 1813 … durchaus vermehrt erschienen“50         (1799).
und im Anhang durch eine von W. Hanka besorgte                Auf die sprachlichen und konzeptionellen Defizite
Beschreibung der „Russischen Staats- und Kriegs-          sowie die hohe Fehlerquote der russischen Dolmet-
macht“/ „Kratické vypisáni Rusie a jejihio vojska „       scher 1813 hatte bereits Otten hingewiesen.55 Das
ergänzt worden.51 Gleichzeitig mit der Neuauflage von     linguistische Niveau war niedrig. Es gab jedoch auch
Dobrovskys „Hilfsmittel“ erschien 1813 eine durch         Ausnahmen, z. B die Sprachbücher von Kusnetzow,
F. Tomsa besorgte eigenständige Veröffentlichung          Kreye und Jasükowski, deren Autoren offensichtlich
eines erweiterten Wörterverzeichnisses aus diesem         einen sprachwissenschaftlichen Hintergrund hat-
Werk unter dem Titel: „Verzeichnis der russischen         ten. Bei der Bewertung dieser Verständigungshilfen
Wörter und Redensarten, die im gemeinen Leben am          darf nicht vergessen werden, dass zu den Veröffent-
häufigsten vorkommen, um sich Russen leichter ver-        lichungen 1812-1815 auch reine Sprachlehren und
ständlich zu machen. Prag 1813, 47 S.“.52 Dobrovsky       Grammatiken gehörten, die zum Beispiel von Heym,

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                                                                                            - 978-3-631-74192-4
                                                                   Downloaded from PubFactory at 09/19/2021 02:12:30PM
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