WELTOFFEN = ZUKUNFTSFÄHIG?! - Diversity Management & Internationalität - Charta der Vielfalt
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Impressum Herausgeber Charta der Vielfalt e. V., Albrechtstraße 22, 10117 Berlin www.charta-der-vielfalt.de Das Online-Dossier wurde veröffentlicht auf www.charta-der-vielfalt.de im September 2013. Konzept und externe Redaktion Andreas Merx Das Dossier wurde von Andreas Merx konzipiert und bearbeitet. Andreas Merx ist Politik- und Organisationsberater mit den Themenschwerpunkten Diversity, Chancengleichheit und Integration. Seit 2005 ist er Inhaber des Berliner Beratungsunternehmens pro diversity. Redaktionelle Mitarbeit und Textkorrektur Sibel Kara (pro diversity, Berlin) Redaktion Charta der Vielfalt e. V. Kerstin Tote V.i.S.d.P. Kerstin Tote, Referentin in der Geschäftsstelle des Charta der Vielfalt e. V. Layout/Satz/Titelbild www.bernauer-design.de, Düsseldorf 2
Editorial Aletta Gräfin von Hardenberg Seite 5 A Stand und Perspektiven Seite 7 1. Dr. Jan Schneider und Martin Weinmann Internationalisierung durch Migration. Entwicklungen und Perspektiven für den Arbeitsmarkt in der deutschen Einwanderungsgesellschaft Seite 8 2. Prof. Dr. Maria Böhmer Internationalität und Vielfalt, als Chance für Wirtschaft und Gesellschaft Seite 17 3. Dr. Hans Dietrich von Loeffelholz Wirtschaftliche Chancen und Erfordernisse der Internationalisierung des Arbeitsmarkts durch Migration und Integration ausländischer Fach- und Führungskräfte Seite 19 4. Dr. Thomas Liebig Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte nach Deutschland – Bestandsaufnahme und Reformbedarf Seite 23 5. Prof. Dr. Marion Festing Die Entwicklung von interkultureller Kompetenz und Global Leadership durch Internationales Personalmanagement Seite 28 B Internationalität und Vielfalt in der Unternehmenspraxis Seite 33 1. Danja Frech Internationalität und Diversity Management innerhalb der adidas Gruppe Seite 34 2. Ursula Schwarzenbart Internationales Personalrecruiting bei Daimler Seite 38 3. Angela Josephs Internationales Personalmanagement und Diversity bei einem Weltmarktführer Seite 42 4. Kai Teckentrup Diversity Management im Mittelstand – am Beispiel der Teckentrup GmbH & Co. KG, Verl Seite 45 5. Silvia Necker Internationale Fachkräfte erfolgreich betrieblich integrieren Seite 48 6. Dr. Dieter Hundt „Wir brauchen einen Mentalitätswechsel und müssen für internationale Fachkräfte noch wesentlich attraktiver werden“ Seite 52 3
C Internationalität und Vielfalt im öffentlichen und Pflegebereich Seite 55 1. Hartmut Stiffel Diversity Management als Aufgabe und Chance innerhalb der Bundeswehr Seite 56 2. Dr. Nargess Eskandari-Grünberg Stadt der Vielfalt. Internationalität und Diversity Management in der Stadt Frankfurt am Main Seite 58 3. Fernando Angel Cubillos Pflege in einer internationalen und transkulturellen Gesellschaft Seite 62 D Instrumente und Angebote Seite 65 1. Prof. Dr. Swetlana Franken Möglichkeiten der betrieblichen Nutzung und Gestaltung der Potenziale internationaler Mitarbeiter/-innen Seite 66 2. Patrick Großheim, Marlies Kuchenbecker und Dr. Mandy Pastohr Interkulturelle Qualifizierung für international tätiges Fach- und Führungspersonal Seite 70 3. Falk Arians, Ariane Baderschneider und Dr. Ottmar Döring Das Potenzial von Fachkräften mit ausländischen Qualifikationen nutzen – Neue Möglichkeiten durch das Anerkennungsgesetz Seite 74 4. Yvonne Szukitsch Willkommens- und Anerkennungskultur. Hintergrund, Ansatzpunkte und Informationsmaterialien für Unternehmen Seite 80 5. Otto Kentzler „Wir sind schon gut aufgestellt, jetzt müssen wir bewusst für eine neue Willkommenskultur eintreten“ Seite 84 4
Liebe Leserinnen und Leser, Deutschland ist eine vielfältige, „bunte“ und internationale Re- publik geworden. Dieser Trend zur Internationalität und Diver- sity in allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen wird sich noch weiter verstärken. Das ist bedingt durch die glo- Aletta Gräfin balen Entwicklungen, die zunehmende weltwirtschaftliche Ver- von Hardenberg flechtung, den gewachsenen EU-Binnenmarkt, demografische Veränderungen, Arbeitsmigration und den zunehmenden An- Geschäftsführerin des Vereins „Charta der Vielfalt e. V.“ teil von Bürgerinnen und Bürgern mit Migrationshintergrund. Im 21. Jahrhundert wird das Handeln von Unternehmen und Insti- tutionen daher nach außen wie nach innen von einer Zunahme internationaler und interkultureller Kontakte, der Zusammenar- beit in interkulturellen Kontexten sowie immer stärker interna- dringend benötigten Fachkräfte aus dem Ausland für sich zu ge- tionalisierten Zusammenhängen geprägt sein. Das betrifft nicht winnen. Weiterhin kommen verhältnismäßig wenige Fachkräfte nur Konzerne, sondern auch kleine und mittlere Unternehmen, aus Nicht-EU-Ländern. Deutschland gilt hier weiterhin als we- öffentliche Verwaltungen und Einrichtungen sowie Vereine, nig attraktiv, eine echte Willkommens- und Anerkennungskultur Verbände und Stiftungen. Aber gehen wir mit den Chancen muss erst noch entwickelt werden. Während die meisten Groß- und Herausforderungen durch Internationalität und Vielfalt für unternehmen und viele innovative KMU erfolgreich ein inter- Wirtschaft und Gesellschaft heute schon zukunftsfähig um? nationales Personalmanagement betreiben, sich interkulturell öffnen und die interkulturelle Kompetenzen ihrer Beschäftigten Lassen Sie mich die Dimensionen „ethnische Herkunft und fördern, tun sich andere noch schwer, mit neuen Personalstra- Nationalität“ kurz beleuchten: Für Deutschland wäre nach Be- tegien gezielt auf Arbeitnehmer/-innen mit Migrationshinter- rechnungen der Arbeitsmarktforscher/-innen des Instituts für grund oder aus dem Ausland zuzugehen. Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) eine jährliche Net- tozuwanderung von 400.000 Personen notwendig, um das Er- Wer zukünftig nicht erfolgreich mit Vielfalt und Internationa- werbspersonenpotential annähernd konstant zu halten. Gleich- lität umgehen kann, wird selbst nicht mehr zukunftsfähig sein, zeitig gilt es, die stetig wachsende Anzahl an Arbeitnehmern davon bin ich überzeugt! Hier liegen viele wirtschaftliche und und Arbeitnehmerinnen mit Migrationshintergrund deutlich gesellschaftliche Chancen für Unternehmen und Institutionen, besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren als bisher. Hier liegen die es zu nutzen gilt. Ein internationales und interkulturelles viele Potentiale, die in der Vergangenheit zu wenig gefördert, Personalmanagement erhöht nicht nur die Attraktivität als erschlossen und genutzt wurden. Arbeitgeber. Angesichts zunehmend internationalisierter und interkultureller Absatzmärkte sowie Kundinnen und Kunden Auf der politisch-rechtlichen Ebene hat es in den letzten Jah- können internationale und interkulturelle Teams zu einer ren viele positive Veränderungen gegeben. Es hat ein grund- Erhöhung von Kreativität und Innovationsfähigkeit bei Pro- legender Paradigmenwechsel in der Einwanderungs- und In- blemlösungen oder Produktentwicklungen beitragen und so tegrationspolitik stattgefunden: weg von einer überholten die Kundenorientierung verbessern. Der kompetente interne Abschottungskultur und Problemorientierung, hin zu einer po- Umgang mit einer Vielfalt an Sprachen, Kulturen, Werten und tentialorientierten vorausschauenden Einwanderungs- und In- Arbeitsstilen ist oft die wichtigste Voraussetzung, um auch tegrationspolitik, die in Vielfalt und Internationalität vor allem nach außen sicher und erfolgreich in länderübergreifenden gesellschaftliche und wirtschaftliche Chancen sieht. Insbeson- Kooperationen handeln zu können. Zahlreiche Studien belegen dere im Bereich der Arbeitsmigration wurden viele rechtliche weiterhin, dass es einen deutlichen Zusammenhang zwischen Schritte der Öffnung des deutschen Arbeitsmarkts für inter- hohen Innovations- und Wachstumsraten und kreativen, Wirt- nationale Arbeits- und Fachkräfte umgesetzt, etwa durch die schaftsstandorten gibt, die von Chancengleichheit, Internatio- Blaue Karte EU oder das Anerkennungsgesetz. Die OECD be- nalität und Weltoffenheit geprägt sind. scheinigt Deutschland mittlerweile sogar eine der offensten und einfachsten Einwanderungsregelungen zu haben. In den Die Unterzeichnung der Charta der Vielfalt, als öffentliche letzten drei Jahren konnten auch erstmals seit längerer Zeit Selbstverpflichtung zur Wertschätzung und Förderung von wieder Einwanderungsgewinne vor allem aus osteuropäischen Chancengleichheit und Vielfalt kann ein wichtiger Schritt sein, und südlichen EU-Ländern erzielt werden. Internationalität und Vielfalt in der eigenen Organisation weiter voranzubringen. Mit unserem Leitfaden „Vielfalt zeigen“ für Un- In vielen Unternehmen der traditionell sehr exportorientierten terzeichner/-innen, unseren Tagungen, Workshops, Publikationen deutschen Wirtschaft sind Vielfalt und Internationalität schon und vielen weiteren Aktivitäten und Angeboten, möchten wir Sie lange Zeit Normalität. Viele, insbesondere aus dem Bereich der weiterhin auf dem Weg zu einer zukunftsfähigen Gestaltung von KMU, sind allerdings noch zögerlich, wenn es darum geht, die Internationalität und Vielfalt begleiten und unterstützen. 5
Das Dossier „Weltoffen = Zukunftsfähig?! Diversity Manage- Mein herzlicher Dank gilt insbesondere den Autorinnen und Au- ment und Internationalität“ ist ein weiterer Beitrag dazu. Mit toren sowie Interviewpartnern, die ihr Wissen, Erfahrung und einer breiten Palette unterschiedlicher Beiträge von Autorinnen viel Zeit eingebracht haben, um dieses Dossier zu ermöglichen und Autoren aus Wirtschaft, Unternehmen, Politik, Verwaltung, und zu einer für Sie hoffentlich wertvollen Quelle mit vielen Wissenschaft, Verbänden und Beratung werden aus verschiede- Impulsen für den eigenen Alltag zu machen. nen Blickwinkeln Chancen und Herausforderungen der gewach- senen Internationalität und Vielfalt in Deutschland betrachtet. Mit zahlreichen ausgewählten Beispielen guter und erfolgrei- Eine informative und anregende Lektüre wünscht Ihnen cher Praxis in Unternehmen, öffentlichem und Pflegebereich Ihre und in einem Servicekapitel werden eine ganze Bandbreite nützlicher Informationen und praxiserprobter Instrumente und Strategien zur je eigenen positiven Gestaltung vorgestellt. 6
WELTOFFEN = ZUKUNFTSFÄHIG?! Diversity Management & Internationalität Stand und Perspektiven Die Belegschaften in vielen Unternehmen und Institutionen so- wie der Arbeitsmarkt insgesamt sind in den letzten Jahren sicht- bar „bunter“ und internationaler geworden. Dazu haben vor allem die Globalisierung, europäische Integration, Einwande- rungs- und Integrationsprozesse, der demografische Wandel und gesellschaftliche Veränderungen beigetragen. Nicht zuletzt aber auch die vielen politischen und rechtlichen Schritte, die wichtige Voraussetzungen und Treiber einer weiteren Öffnung und Inter- nationalisierung des Arbeitsmarkts und der Gesellschaft gewor- den sind. Die damit verbundenen Chancen werden zunehmend erkannt und erschlossen, viele Arbeitgeber/-innen sehen inter- kulturelle Kompetenz und ein sicheres Agieren in internationa- lisierten Zusammenhängen inzwischen als Kernqualifikationen ihrer Beschäftigten. Die in diesem Kapitel versammelten Beiträ- ge beleuchten und analysieren diesen Wandel zu mehr Interna- tionalität und Vielfalt aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Sie wurden von Autorinnen und Autoren des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), der Orga- nisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der ESCP Europe Wirtschaftshochschule Berlin sowie der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Prof. Dr. Maria Böhmer, verfasst. 7
Dr. Jan Schneider Martin Weinmann Dr. Jan Schneider leitet den Forschungsbereich beim Martin Weinmann ist Politikwissenschaftler und wissen- Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integrati- schaftlicher Mitarbeiter der Stabsstelle Jahresgutach- on und Migration (SVR). Er promovierte am Institut für ten des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen Integration und Migration (SVR). Zuvor war er als wis- über Beratungsprozesse in der deutschen Migrationspo- senschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe des litik und arbeitete zuvor u.a. für die Bundeszentrale für Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) tätig. politische Bildung, das Hamburgische WeltWirtschaftsIn- Seine Forschungsschwerpunkte sind Einbürgerung und stitut (HWWI), das Kulturwissenschaftliche Institut Essen Optionspflicht sowie politische Partizipation in der Ein- sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundes- wanderungsgesellschaft. amt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Dr. Jan Schneider und Martin Weinmann vor. Im zweiten Teil werden aktuelle Szenarien zum Fachkräf- tebedarf sowie zentrale Herausforderungen des internationa- Internationalisierung durch lisierten Arbeitsmarktes skizziert. Migration. Entwicklungen und Perspektiven für den Das liberalisierte deutsche Zuwanderungsrecht Arbeitsmarkt in der deutschen Die Steuerung und Gestaltung der Zuwanderung wird bereits Einwanderungsgesellschaft seit einigen Jahren als eine der wichtigsten gesellschaftlichen Herausforderungen Deutschlands anerkannt. Eine Migrations- politik, die eine gezielte Öffnung für bestimmte Personengrup- pen zur mittel- oder langfristigen Zuwanderung in den Arbeits- Der Arbeitsmarkt in Deutschland hat sich in den letzten Jah- markt (Erwerbsmigration) vorsieht, wurde mit dem 2005 in ren stark verändert. Durch die Umwandlung von Vollzeit- in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetz eingeleitet und danach Teilzeitstellen, mehr erwerbstätige Frauen und Ältere sowie schrittweise fortgeführt. Sie ist an den Bedürfnissen des Wirt- das verstärkte Auftreten atypischer Beschäftigungsformen sind schaftsstandortes Deutschland ausgerichtet und berücksichtigt „breitere“ und „buntere“ Arbeitsmärkte entstanden, die sich re- die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt. Verschiedene Reformen gional – insbesondere im Ost-West-Gegensatz – teilweise sehr haben die Zuwanderungsmöglichkeiten für Studierende, für deutlich unterscheiden (Statistische Ämter 2012). Ein maßgeb- Hochqualifizierte, für Selbständige und für qualifizierte Be- licher Beitrag zur Vielfalt ist jedoch auf verstärkte Mobilität und schäftigte in bestimmten Berufen verbessert. Insbesondere mit Zuwanderung zurückzuführen, nicht zuletzt im Zuge der fort- der Umsetzung der so genannten EU-Blue-Card-Richtlinie zum schreitenden europäischen Integration: Deutschlands Arbeits- 1. August 2012 gingen verschiedene Erleichterungen einher: markt ist in einem bislang nicht dagewesenen Maße interna- tionalisiert – eine Entwicklung, die sich vor dem Hintergrund • Drittstaatsangehörige mit einem akademischen Abschluss, demografischer Entwicklungen und absehbarem zusätzlichem die über ein konkretes Arbeitsplatzangebot mit einem Min- Bedarf an Arbeitskräften in bestimmten Sektoren bzw. Regio- destbruttogehalt verfügen (2013: 46.400 Euro; bei ausge- nen, der u. a. durch Zuwanderung gedeckt werden könnte, in wählten Mangelberufen 36.192 Euro), erhalten die Blaue den nächsten Jahren voraussichtlich fortsetzen wird. Karte EU. Diese ist auf höchstens vier Jahre befristet; nach spätestens 33 Monaten wird eine Niederlassungserlaubnis Dieser Beitrag gibt einen Überblick zu den wichtigsten rechtli- erteilt. Ehegatten von Blue-Card-Inhaberinnen und Inhabern chen Veränderungen im Bereich der Erwerbsmigration und stellt erhalten sofort uneingeschränkten Arbeitsmarktzugang anschließend Eckdaten zur Erwerbsmigration und zum dadurch (§§ 19a, 29 Abs. 5 AufenthG). diversifizierten Arbeitsmarkt in Deutschland sowie zum Poten- • Auch ohne ein konkretes Job-Angebot können Drittstaats- zial internationaler Studierender an deutschen Hochschulen angehörige mit Hochschulabschluss zur Arbeitssuche nach 8
Deutschland kommen. Wenn der Lebensunterhalt gesichert Lediglich Staatsangehörige Rumäniens und Bulgariens (bis ist, können sie bis sechs Monate lang vor Ort nach einer an- 31.12.2013) sowie Kroatiens (zunächst bis 30.06.2015) sind gemessenen Stelle suchen (§ 18c AufenthG). noch von Übergangsregelungen betroffen, d. h. sie benötigen • Studierende aus Drittstaaten können nach erfolgreichem vorab eine Arbeitserlaubnis, um in Deutschland eine Beschäf- Abschluss ihres Studiums bis zu 18 Monate in Deutschland tigung ausüben zu dürfen. Folgerichtig sind deutlich mehr als bleiben, um eine angemessene Beschäftigung zu finden. die Hälfte der Zuwandernden Unionsbürger/-innen. Während dieser Suche dürfen sie unbegrenzt arbeiten. Auch während des Studiums können sie pro Jahr bis zu 120 Tage Die Entwicklung der Zuwanderung (oder 240 halbe Tage) arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen (§ 16 Abs. 3 und 4 AufenthG). Wie viele Zuwandernde kommen pro Jahr, wie viele ziehen • Außerdem können auch Studieninteressierte einen Aufent- wieder fort und wie viele Personen mit Migrationshintergrund haltstitel erhalten, mit dem sie bis zu neun Monate in leben eigentlich in Deutschland? Mit Veröffentlichung der Deutschland nach einem Studienplatz suchen können Zensusergebnisse (Statistisches Bundesamt 2013a) Ende Mai (§ 16 Abs. 1a AufenthG). 2013 nahm nicht nur die Gesamtbevölkerung Deutschlands scheinbar von einem Tag auf den anderen von 81,8 Mio. auf Eine deutliche Liberalisierung des Arbeitsmarktes für Zuwan- 80,3 Mio. ab (-1,9%). Vor allem wurde deutlich, dass im Bun- derung bedeutet zudem die am 1. Juli 2013 in Kraft getrete- desgebiet wesentlich weniger Zuwanderer/-innen leben, als ne neue Beschäftigungsverordnung: Sie enthält eine Liste von dies aufgrund der Bevölkerungsfortschreibung errechnet wor- (nicht-akademischen) Ausbildungsberufen, für die Absolven- den war: So musste die Zahl der Ausländer/-innen von 7,4 Mio. tinnen und Absolventen aus Drittstaaten ohne die bislang auf 6,3 Mio. (und damit um rund 15%) nach unten korrigiert obligatorische Vorrangprüfung freien Zugang zum deutschen werden; auch hatten im Mai 2011 „nur“ rund 15 Mio. (statt wie Arbeitsmarkt erhalten. Auf dieser so genannten Positivliste ste- bisher angenommen knapp 16 Mio.) Personen einen Migrati- hen u. a. Berufe in der Mechatronik, in der Elektrik und Elektro- onshintergrund (Statistisches Bundesamt 2012a). Dennoch hat technik, in der Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik, im Eisen- damit fast jede/-r Fünfte eine Zuwanderungsgeschichte – ist bahnverkehr sowie in der Alten- und Krankenpflege. Allerdings also entweder Ausländer/-in, oder nach Deutschland zugewan- werden bei den Pflegeberufen keine Drittstaatsangehörigen dert oder verfügt über mindestens ein zugewandertes Elternteil. zugelassen, in deren Herkunftsländern nach Feststellung der World Health Organisation (WHO) ein Mangel an Gesundheits- Die Gesellschaft und damit auch der Arbeitsmarkt haben sich fachkräften besteht. seit der so genannten Gastarbeiterära stark internationalisiert, wobei sich gerade im zurückliegenden Jahrzehnt das Migrations- Durch diese Reformen ist Deutschland nach Ansicht der geschehen mehrfach gewandelt hat. Ausgehend von deutlichen OECD mittlerweile eines der Länder mit den geringsten Be- Wanderungsgewinnen zu Beginn der 2000er Jahre haben sich die schränkungen für die beschäftigungsorientierte Zuwande- Volumina der Zu- und Fortzüge immer stärker angeglichen. Nach rung von hochqualifizierten Fachkräften (vgl. dazu OECD einem zeitweise negativen Gesamtwanderungssaldo lassen sich 2013 sowie den Beitrag von Liebig in diesem Dossier). Von mittlerweile wieder deutliche Wanderungsgewinne verzeichnen. den arbeitsmarktpolitischen Zugangsregelungen des Aufent- Betrachtet man die Entwicklung der Zuzüge nach Deutschland haltsrechts sind jedoch nur Drittstaatsangehörige betroffen; innerhalb der letzten 20 Jahre (Abbildung 1), so fallen ein deut- Ausländer/-innen aus EU-Staaten genießen volle Freizügigkeit – licher Rückgang seit Anfang/Mitte der 1990er Jahre und ein er- bis auf wenige Ausnahmen auch als Arbeitnehmer/-innen. neuter, aber leichter Anstieg seit Mitte der 2000er Jahre auf. Abbildung 1 Zu- und Fortzüge mit Wanderungssalden 1991-2012. Anmerkung: Zahlen für 2012: vorläufige Wanderungs- ergebnisse. Quelle: BMI/BAMF 2013: 15; Statistisches Bundesamt 2013b; eigene Darstellung. 9
Die Ursachen für die Entwicklung Anfang bzw. Mitte der 1990er den sogenannten EU-Krisenstaaten Griechenland, Spanien, Itali- Jahre waren: en und Portugal (+112% zwischen 2009 und 2012). Insgesamt • der erhöhte Zuzug von Spät-/Aussiedlerinnen und Spät-/ betrug der Anteil der Zuzüge aus EU-Staaten an allen Zuzügen Aussiedlern, 2012 64%, 2009 waren es noch 57%. • die bis 1992 gestiegene Zahl von Asylsuchenden (die seitdem jedoch wieder auf ein niedrigeres Niveau gesunken ist), In absoluten Zahlen liegen ebenfalls die EU-2-Staaten sowie Po- • der Zuzug der seit 1991/92 aus dem ehemaligem Jugoslawien len und Ungarn vorne: Im Jahr 2012 betrug der positive Wande- geflohenen Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen (von denen rungssaldo aus diesen vier Staaten +165.015 Personen. Damit die meisten mittlerweile wieder in ihre Heimat zurückgekehrt machten sie rund 43% des gesamten Wanderungsgewinns unter sind) und den Ausländerinnen und Ausländern aus (+387.149). Weitere • eine „gestiegene, aber zeitlich begrenzte Arbeitsmigration aus wichtige Herkunftsstaaten von Zuwandernden waren Italien, Nicht-EU-Staaten“ (BMI/BAMF 2013: 14). Griechenland und Spanien; bei den Drittstaaten waren die Verei- nigten Staaten, die Russische Föderation, China und Indien quan- Mitverantwortlich für den aktuellen, seit 2010 beobachtbaren titativ besonders bedeutsam (Tabelle 1). Aus der Türkei wurden Trend sind vor allem steigende Zuzüge aus EU-Staaten, insbe- zwar 25.414 Zuzüge von Ausländerinnen und Ausländern regis- sondere aus den 2007 beigetretenen Staaten Rumänien und Bul- triert, gleichzeitig aber auch 27.329 Fortzüge, was eine Netto- garien (EU-2; +106% zwischen 2009 und 2012), aber auch aus Abwanderung bedeutet. Tabelle 1 Zu- und Fortzüge von Ausländerinnen und Ausländern, nach den 20 wichtigsten Herkunfts- und Zielstaaten, 2012. Anmerkung: vorläufige Wanderungsergebnisse. Quelle: Statistisches Bundesamt 2013b. 10
Neben der Arbeitsmigration aus Drittstaaten und der EU-Bin- Die differenzierte Betrachtung verdeutlicht, dass der Großteil nenmigration sind bei der Betrachtung der Gesamtwande- der zur Arbeitsaufnahme neu eingereisten Drittstaatsange- rungsstatistik vor allem die Flüchtlingsmigration und der Fami- hörigen zur Gruppe der nicht qualifizierten und qualifizier- liennachzug als wichtige Zuwanderungskategorien zu nennen ten Beschäftigen gehört (Tabelle 2). Das sind beispielsweise (vgl. dazu umfassend BMI/BAMF 2013). Dabei hat sich in den IT-Fachkräfte, Pflegekräfte und leitende Angestellte, aber auch letzten Jahrzehnten nicht nur die Zusammensetzung der Her- Haushaltshilfen oder Köchinnen und Köche. Mehr als die Hälfte kunftsländer verändert, sondern auch das Qualifikationsniveau der Drittstaatsangehörigen, die 2012 zur Ausübung einer Be- der Neuzuwandernden, was mit Blick auf die Arbeitsmarktin- schäftigung, die keine bzw. eine qualifizierte Berufsausbildung tegration besonders bedeutsam ist. So hat sich nach aktuellen nach § 18 AufenthG voraussetzt, eingereist sind, kamen aus In- Mikrozensus-Analysen des Bundesinstituts für Bevölkerungs- dien, Kroatien, den Vereinigten Staaten, Bosnien-Herzegowina forschung zwischen 1996/97 und 2010/11 beispielsweise un- und China. Insgesamt ergibt sich jedoch ein Bild, das im Hinblick ter Neuzuwandernden der Anteil von Frauen mit einem hohen auf die Herkunftsländer von starker Heterogenität geprägt ist (d. h. tertiären, in der Regel akademischen) Bildungsabschluss (Abbildung 2). von 19,6% auf 42,4% mehr als verdoppelt; bei den Männern stieg der Anteil von 22,6% auf 39,6% (Ette et al. 2013). Abbildung 2 Der internationalisierte Arbeitsmarkt: Fachkräftezuwanderung Im Folgenden soll ein Überblick über den quantitativen Umfang der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt nach dem deutschen Aufenthaltsrecht gegeben werden. Seit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes werden im Ausländerzentralregister (AZR) die Rechtsgrundlagen für Einreise und Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen, also Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bür- gern, in Deutschland erfasst. Registriert werden nur Personen, die sich nicht nur vorübergehend (d. h. in der Regel länger als drei Monate) in Deutschland aufhalten, weshalb eine Differenz zur Wanderungsstatistik des Statistischen Bundesamtes besteht. Die Erfassung im AZR ermöglicht eine Betrachtung der Zuwan- Zur Ausübung einer Beschäftigung nach § 18 AufenthG derung von Drittstaatsangehörigen nach ihrem Aufenthalts- eingereiste Drittstaatsangehörige, wichtigste Staatsange- zweck. Unionsbürger/-innen, die Freizügigkeit genießen, benöti- hörigkeiten, 2012. gen keinen Aufenthaltstitel und müssen daher bei der Einreise Quelle: BAMF 2013: 79. keinen Grund für ihren Aufenthalt in Deutschland angeben. Wie die Zuwanderung insgesamt ist auch die Zuwanderung zum Zweck der Erwerbstätigkeit angestiegen. Im Jahr 2012 sind fast 39.000 Drittstaatsangehörige zu Erwerbszwecken nach Deutsch- Zwei Drittel (67,0%) der 2012 eingereisten nicht qualifizierten land eingereist, dies entspricht einem Anstieg gegenüber dem und qualifizierten Beschäftigen wurde eine Aufenthaltserlaub- Vorjahr von 3,4%. Somit ist Erwerbsmigration neben Zuwan- nis zur Ausübung einer Beschäftigung erteilt, die eine qualifizier- derung aus familiären Gründen (17,9%) und Zuwanderung zum te Berufsausbildung erfordert (§ 18 Abs. 4 AufenthG; Tabelle 2). Studium (12,7%) mit einem Anteil von 12,6% einer der zentra- Der leichte Rückgang im Bereich des § 18 AufenthG kann u. len Zuwanderungszwecke (BAMF 2013: 74 f.). Erwerbszuwande- a. darauf zurückgeführt werden, dass Zuwandernde, denen rung umfasst sowohl die Zuwanderung von Personen, denen ein früher eine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer qualifi- Aufenthaltstitel zum Zweck der Beschäftigung (§ 18 AufenthG) zierten Beschäftigung erteilt worden wäre, seit 1. August 2012 erteilt wurde, als auch Personen, die eine Blaue Karte EU (§ 19a eine Blaue Karte EU erhalten können. Dies ist auch für den AufenthG) besitzen oder die als Forscher/-innen (§ 20 AufenthG) deutlichen Rückgang der Zuwanderung von Hochqualifizier- oder Selbständige (§ 21 AufenthG) nach Deutschland gekom- ten nach § 19 AufenthG ursächlich (BAMF 2013: 77 ff.). In den men sind. Hinzu kommen Hochqualifizierte (§ 19 AufenthG), letzten Jahren ist eine positive Entwicklung der Zuwanderung z. B. Wissenschaftler/-innen mit besonderen fachlichen Kennt- von hoch qualifizierten Personen, inklusive Forscherinnen und nissen oder Inhaber/-innen von Lehrstühlen. Ihnen kann in be- Forschern sowie Akademikerinnen und Akademikern zu beob- sonderen Fällen von Anfang an eine Niederlassungserlaubnis achten (BAMF 2013: 80 ff.). Durch die Einführung der Blauen erteilt werden, wenn davon auszugehen ist, dass die Integration Karte EU im Rahmen der Umsetzung der EU-Hochqualifizier- in die Lebensverhältnisse und die eigenständige Sicherung des ten-Richtlinie ist zu erwarten, dass sich dieser Trend fortset- Lebensunterhalts gewährleistet ist. zen wird. Bereits innerhalb der ersten vier Monate, in denen diese Regelung in Kraft war, wurde 2.190 hochqualifizierten 11
Tabelle 2 Zuwanderung zum Zweck der Erwerbstätigkeit differenziert nach Aufenthaltstiteln, Jahr 2012. Quelle: BAMF 2013: 80 ff. Drittstaatsangehörigen bei der Einreise nach Deutschland Hamburg bis 7,7% in Sachsen-Anhalt und ca. 8% in Mecklen- eine Blaue Karte erteilt. Über ein Drittel (36,7%) erhielt die burg-Vorpommern, Thüringen und Brandenburg (Bundesagen- Blaue Karte für die Beschäftigung in einem Beruf, für den in tur für Arbeit 2013a). Deutschland ein besonderer Bedarf besteht (sog. Mangelbe- ruf); die Mehrheit erhielt die Blaue Karte zur Beschäftigung in Als Indikatoren einer ge- oder misslingenden Integration in einem Regelberuf (63,3%; BAMF 2013: 81). den Arbeitsmarkt werden in der Regel die Erwerbsbeteiligung und die Erwerbslosenquote herangezogen. Die Erwerbsbetei- Der internationalisierte Arbeitsmarkt: strukturelle Integra- ligung, also der Anteil von Erwerbspersonen an der Gesamt- tion der Bestandsbevölkerung bevölkerung, ist bei zugewanderten Personen mit Migrations- hintergrund (ohne Spät-/Aussiedler/-innen) geringer (72,2%) Ein Überblick über den internationalisierten Arbeitsmarkt in als bei Personen ohne Migrationshintergrund (83,3%), wobei der Bundesrepublik Deutschland erfordert nicht nur eine Ana- zugewanderte Personen mit einem EU-Migrationshintergrund lyse der Neuzuwandernden, sondern auch eine Betrachtung eine höhere Erwerbsbeteiligung aufweisen als Zugewanderte der bereits hier lebenden Bevölkerung mit Migrationshinter- aus einem Drittstaat (Tabelle 3). Umgekehrt ist die Erwerbslo- grund im Hinblick auf Beschäftigung und Erwerbstätigkeit. senquote, also der Anteil der Erwerbslosen an allen Erwerbs- Seit Dezember 2012 kann in der Statistik der Bundesagentur personen, bei Zugewanderten mit Migrationshintergrund rund für Arbeit auch der Migrationshintergrund auf Grundlage ei- doppelt so hoch wie bei Personen ohne Migrationshintergrund ner freiwilligen Vollerhebung ausgewiesen werden. Zu die- (10,5% ggü. 4,9%). Bei Zuwandernden aus EU-Staaten liegt sem Zeitpunkt hatten ca. 35% der Arbeitslosen (arbeitslose die Erwerbslosenquote unter der Erwerbslosenquote von Zu- Arbeitsuchende) einen Migrationshintergrund. Unter den wandernden aus einem Drittstaat. Unterschiede zwischen Arbeitslosengeldempfängerinnen und -empfängern lag der Personen mit Migrationshintergrund eines Dritt- und eines Anteil der Personen mit Migrationshintergrund bei 27,2%; bei EU-Staats werden auch in anderen Bereichen deutlich: Bei den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in der Grundsiche- Personen mit EU-Migrationshintergrund wird der Lebensun- rung („Hartz IV“) liegt er bei 42,4%. Die Anteile liegen somit terhalt deutlich häufiger aus einer Erwerbs-/Berufstätigkeit über dem Anteil der Personen mit Migrationshintergrund in bestritten als bei denjenigen mit Migrationshintergrund eines der Gesamtbevölkerung. Es bestehen jedoch regional deutliche Nicht-EU-Staats. Personen mit Migrationshintergrund eines Unterschiede: Ähnlich wie bei der Bevölkerung ohne Migrati- Drittstaats sind demgegenüber deutlich häufiger auf Leistun- onshintergrund macht sich ein deutliches West-Ost-Gefälle gen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) angewiesen bemerkbar. Die Anteile an den Arbeitslosen reichen von 51,3% als diejenigen mit EU-Migrationshintergrund sowie Personen in Baden-Württemberg und 49,5 bzw. 49,4% in Hessen und ohne Migrationshintergrund. 12
Tabelle 3 Arbeitsmarktindikatoren bei Zugewanderten mit Migrationshintergrund eines EU- bzw. Drittstaats sowie Personen ohne Migrationshintergrund, 201. Quelle: SVR 2013: 104 ff.; Statistisches Bundesamt 2012b; eigene Zusammenstellung (gerundete Werte) Der internationalisierte Arbeitsmarkt: Studierende aus Dritt- sie streben einen akademischen Bildungsabschluss an einer staaten als Potenzial deutschen Hochschule an, der nicht erst geprüft bzw. aner- kannt werden muss. Darüber hinaus sind sie bei Abschluss Besonderes Augenmerk gilt seit einigen Jahren der Zuwan- ihres Studiums in der Regel gut vernetzt und haben erste Er- derung von so genannten Bildungsausländerinnen und -aus- fahrungen am Arbeitsmarkt gesammelt. ländern – Personen, die ihre Hochschulzugangsberechtigung im Ausland erworben haben – für ein Studium in Deutsch- In den letzten 15 Jahren hat sich die Anzahl der ausländischen land. Rund jede/-r zehnte eingeschriebene Student/-in hat Studierenden an deutschen Hochschulen mehr als verdop- nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Die meisten davon pelt, wobei die größten Steigerungsraten in den 1990er und sind Bildungsausländer/-innen, haben also ihre Hochschul- frühen 2000er Jahren zu verzeichnen waren. Ab 2003/2004 zugangsberechtigung nicht in Deutschland erworben. Da- kam es jedoch zu einer Stagnation bei den Neueinschreibun- mit liegt Deutschland nach den Vereinigten Staaten, Groß- gen, die in der Folge zeitweilig zu einem Rückgang auch bei britannien und Australien auf Rang vier der – gemessen an den Gesamtstudierendenzahlen führte; seit 2008 ist jedoch der absoluten Zahl international mobiler Studierenden – am wieder ein stabiler Aufwärtstrend zu beobachten (Abbil- stärksten internationalisierten Hochschulmärkte (DAAD/ dung 3). Zuletzt waren im Wintersemester 2012/2013 über HIS 2013: 43). Ausländische Studierende gelten in mehrerlei 280.000 ausländische Studierende an deutschen Hochschu- Hinsicht als „Idealzuwandernde“: Sie sind jung, verfügen über len eingeschrieben, davon knapp drei Viertel Bildungsauslän- eine gute Schulbildung, die zum Studium berechtigt, und der/-innen. 13
Abbildung 3 Nicht-Deutsche Studierende insgesamt sowie Studienanfänger/-innen an deutschen Hochschulen, 1993 bis 2013. * Lesehilfe: Die Zahl der Studierenden des Jahres 2012 bezeichnet die im Wintersemester 2011/2012 eingeschriebenen Studierenden (analog für alle anderen Jahre). ** Lesehilfe: Die Zahl der Studienanfänger/-innen im Studienjahr 2011 bezeichnet alle Studienanfänger/-innen im Sommersemester 2011 und im Wintersemester 2011/2012 (analog für alle anderen Jahre). Quelle: Statistisches Bundesamt, FS 11 Reihe 4.1 (verschiedene Jahrgänge); HIS; eigene Zusammenstellung (Zahlen für 2012 und 2013 z. T. nicht verfügbar bzw. vorläufig) Wichtigstes Herkunftsland internationaler Studierender ist Deutschland nicht dauerhaft willkommen zu fühlen oder sogar mit Abstand die Volksrepublik China (23.883 Studierende im diskriminiert worden zu sein (vgl. SVR-Forschungsbereich 2012). Jahr 2012). Weitere quantitativ bedeutsame Herkunftsstaaten sind die Russische Föderation, Österreich, Bulgarien, Polen, die Fachkräftebedarf und Engpässe: Ist-Situation und mögliche Türkei, die Ukraine und Indien (vgl. hierzu und im Folgenden Entwicklungen DAAD/HIS 2013). Dabei sind bei den indischen Studierenden die höchsten Zuwächse zu beobachten: Nach jeweils zweistel- Der durch den demografischen Wandel bedingte Rückgang der ligem Wachstum in den letzten drei Jahren studierten im Jahr erwerbsfähigen Bevölkerung hat bereits zu einem feststellba- 2012 über 5.700 Zuwandernde mit indischer Staatsange- ren Fachkräftemangel in bestimmten Branchen geführt. Diesem hörigkeit an deutschen Hochschulen. Daneben gab es einen Mangel kann nicht nur durch eine Steigerung bei den Absolven- deutlichen Anstieg bei den spanischen Studienanfängerinnen tinnen und Absolventen deutscher Studien- und Ausbildungs- und -anfängern; auch der Iran und die Vereinigten Staaten ver- gänge begegnet werden; auch die direkte Zuwanderung von zeichneten zuletzt als Herkunftsländer internationaler Studie- qualifizierten Arbeitnehmenden kann dazu beitragen, Lücken render hohe Wachstumsraten. im Fachkräfteangebot zu schließen und Entlastung auf ange- spannten Arbeitsmärkten bringen. Sie bietet sich deshalb als Die Studierenden von heute gelten als die Fachkräfte von mor- arbeitsmarktpolitische Ergänzung an. Im März 2013 bestand gen, weswegen es sich bildungspolitische Akteurinnen und Ak- etwa im MINT-Bereich (Mathematik-Informatik-Naturwis- teure zum Ziel gesetzt haben, einerseits die Zahl der internati- senschaft-Technik) eine Arbeitskräftelücke von 123.000 nicht onalen Studierenden weiter zu steigern – mit einer durch den besetzbaren Vakanzen. Davon entfiel die Hälfte (64.000) auf DAAD formulierten und äußerst ambitionierten Zielgröße von den Bereich der hochkomplexen Expertentätigkeiten. Auf sol- mindestens 350.000 ausländischen Studierenden im Jahr 2020 – che Stellen passen in der Regel weder die dem Arbeitsmarkt und andererseits die Bleiberaten von ausländischen Studienab- zur Verfügung stehenden arbeitsuchenden Ingenieurinnen und solventinnen und -absolventen zu erhöhen. Denn obwohl bis zu Ingenieure, noch können sie in absehbarer Zeit durch Nach- 80% der internationalen Master-Studierenden eine Bleibeab- qualifizierungsmaßnahmen besetzt werden (IW Köln 2013: sicht für die Zeit nach dem Studium äußern, realisiert nur ein 7, 54). In Zukunft wird der Bedarf an qualifizierten Fachkräften Bruchteil dieses Vorhaben; Gründe sind vor allem mangelnde In- sogar noch steigen. Prognosen verschiedener Institute bewegen formation über die Bleibemöglichkeiten sowie das Gefühl, sich in sich zwischen zwei und fünf Millionen fehlenden Fachkräften 14
bis zum Jahr 2020 bzw. 2030 (Prognos AG 2011, Mc Kinsey tion und des Zusammenlebens von Zuwandernden und Mehr- 2011, IW Köln 2013). Schätzungen zufolge wäre bis 2020 je heitsbevölkerung, also das allgemeine „Integrationsklima“ in nach Altersstruktur der Zuwandernden eine Nettozuwanderung der unmittelbaren Nachbarschaft, von Bedeutung; diese As- nach Deutschland von bis zu einer halben Million Personen pro pekte können jedoch an dieser Stelle nicht vertieft werden Jahr notwendig – allein um die derzeitige Zahl der Personen im (vgl. dazu u. a. die Gutachten mit den Integrationsbarometern erwerbsfähigen Alter konstant zu halten (UN 2001). Mit einem des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration Wanderungssaldo von 369.000 Personen 2012 ist somit erst- und Migration; SVR 2010, 2012). mals seit Jahren ein Zuzug in einer Größenordnung erreicht, der den demografischen Wandel abfedern kann. Aktuell gehen wirtschaftswissenschaftliche Analysen von ei- nem umfassend positiven Beitrag der Zuwanderung auf den Der Bedarf an Arbeitskräften unterscheidet sich sowohl regio- Arbeitsmarkt, den Sozialstaat und die fiskalische Gesamtbi- nal, als auch bezüglich der Unternehmensgröße sowie einzelner lanz Deutschlands aus (vgl. z. B. Brücker 2013); der interna- Wirtschaftsbereiche: Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufs- tionalisierte Arbeitsmarkt und die daran gekoppelte Volks- forschung (IAB) ermittelte in seiner regelmäßig durchgeführten wirtschaft sind aus der 2008/2009 einsetzenden Finanz- und Arbeitgeberbefragung im ersten Quartal 2013 949.900 offene Wirtschaftskrise relativ unbeschadet hervorgegangen und Stellen; 71% der Stellen waren sofort zu besetzen, die meisten gelten als robust bis expansiv (siehe dazu auch den Beitrag offenen Stellen gab es in Westdeutschland (85%), 41% waren in von von Loeffelholz in diesem Dossier). Allerdings bleiben ei- kleinen Betrieben mit weniger als zehn Beschäftigten zu beset- nige Baustellen: Trotz des eingangs beschriebenen Wandels zen. Bezogen auf einzelne Wirtschaftsbereiche war die Entwick- der Rechtsgrundlagen gilt Deutschland im internationalen lung der Arbeitskräftenachfrage sehr unterschiedlich: Während Rahmen weiterhin nicht als offenes Einwanderungsland, sind im Bereich Metalle/Metallerzeugnisse die offenen Stellen um die liberalen Zugangsregeln für qualifizierte und hochqualifi- ein Viertel niedriger als im Vorjahresquartal lagen, sind sie in an- zierte Zuwandernde zu wenig bekannt. Kontraproduktiv sind deren Bereichen deutlich angestiegen, beispielsweise im Gast- Signale wie zuletzt das bekannt gewordene Versagen der Si- gewerbe (+38%), im Bereich Handel/Reparatur (+36%) sowie cherheitsorgane im Falle der NSU-Mordserie oder teilweise im Bereich Erziehung und Unterricht (+32%; IAB 2013). Den- ausbeuterische Lebens- und Arbeitsbedingungen von Werk- noch besteht derzeit kein flächendeckender Fachkräftemangel. vertragsarbeitnehmenden oder Leiharbeiterinnen und -ar- Eher lassen sich in der Engpassanalyse der Bundesagentur für beitern. Im Hinblick auf die ausbildungs-, arbeitsmarkt- und Arbeit vom Juli 2013 Anzeichen einer Entspannung erkennen. wohnraumbezogene Integration der so genannten Bestands- Sie wird auf eine schwächere wirtschaftliche Entwicklung in zuwanderer/-innen gibt es verschiedentlich Hinweise auf eth- den Vormonaten zurückgeführt. Die Anzahl der Mangelberufe nische Diskriminierung; so scheint es etwa eine strukturelle hat im Vergleich zur Analyse von Ende 2012 leicht abgenom- Benachteiligung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund men und selbst in IT-Berufen ist kein genereller Mangel festzu- beim Übergang von der Schule in die Berufsausbildung zu ge- stellen. Allenfalls in den Spezialbereichen Informatik und Soft- ben (Beicht/Granato 2010). wareentwicklung mangelt es bundesweit an Expertinnen und Experten; in Westdeutschland ferner vor allem in technischen Eine weitere Herausforderung stellt die Anerkennung oder Teil- Berufsfeldern, beispielsweise in der Elektrotechnik oder Me- anerkennung von im Ausland erworbenen Bildungsabschlüssen chatronik (Bundesagentur für Arbeit 2013b: 3). Darüber hinaus dar: Ein wichtiger Schritt zur besseren Nutzung des Erwerbs- fehlen im Bereich nichtakademischer Fachkräfte besonders in personenpotenzials von Neu- wie Bestandszuwandernden war den alten Bundesländern Spezialistinnen und Spezialisten, z. B. das Inkrafttreten des Anerkennungsgesetzes im April 2012. Es in der Automatisierungs- oder Energietechnik. In Gesundheits- umfasst einen Rechtsanspruch auf eine individuelle Gleich- und Pflegeberufen, bei Humanmedizinerinnen und -medizinern wertigkeitsprüfung bei Berufen im Zuständigkeitsbereich (ausgenommen Berlin und Sachsen) und bei examinierten Pfle- des Bundes. Seitdem traten und treten in fast allen Bundes- gefachkräften ist nahezu bundesweit ein Mangel an Fachkräften ländern Anerkennungsgesetze für die auf Länderebene gere- zu verzeichnen (Bundesagentur für Arbeit 2013b: 12 ff.). gelten Berufe in Kraft, zuletzt in Bayern am 1. August 2013. Auch wenn die Zahl der Berufsanerkennungen noch weit von Herausforderungen: Willkommenskultur, berufliche Aner- dem geschätzten Potenzial von 300.000 entfernt ist, zeigen kennung und interkulturelle Öffnung Zwischenbilanzen, dass die Reformen maßgeblich dazu bei- tragen werden, Zuwanderinnen und Zuwanderern bessere Ar- Die Bedarfslagen des Arbeitsmarktes in Deutschland stehen beitsmarktchancen in Deutschland zu eröffnen. So wurden in bei der Diskussion um Migration und eine stärkere Interna- Rheinland-Pfalz 89% aller Anträge positiv beschieden. tionalisierung häufig im Vordergrund. Mit der Zuwanderung, die – wie eingangs erwähnt – bei weitem nicht nur zu Erwerb- Vor allem im praktischen alltäglichen Umgang mit Vielfalt szwecken erfolgt, ergeben sich jedoch vielfältige Herausforde- können Unternehmen und Kammern, die Arbeitsverwaltung rungen für die Einwanderungsgesellschaft. Neben der Einglie- und die Hochschulen, aber auch die deutschen Auslandsver- derung in strukturelle Systeme wie Arbeitsmarkt, Bildung und tretungen und die kommunalen Ausländerbehörden noch soziale Sicherung sind Fragen der identifikatorischen Integra- einiges dazulernen: Diversity Management und Prozesse der 15
interkulturellen Öffnung lassen sich letztlich auf alle Bereiche Die Verfasser arbeiten in der Geschäftsstelle des Sachver- der Einwanderungsgesellschaft übertragen. Mit den nötigen ständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Anpassungen hin zu einer umfassenden Willkommens- und Migration (SVR). Der Beitrag gibt ihre persönliche Auffassung Anerkennungskultur in Deutschland, die auf potenzielle Zu- wieder. Dank gilt Julia Tran und Stephan Liebscher für ihre wandernde entsprechend attraktiv wirkt und im Sinne einer hilfreichen Recherchen und Zusammenstellungen. interkulturellen Öffnung auch die Bestandsbevölkerung mit Migrationshintergrund „mitnimmt“, könnte der Ertrag der In- Website des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen ternationalisierung nochmals erheblich gesteigert werden. für Integration und Migration: www.svr-migration.de Literatur: BAMF (2013): Das Bundesamt in Zahlen 2012. Asyl, Migration OECD (2013): Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte: und Integration. Nürnberg. Deutschland. Paris. Beicht, Ursula/Granato, Mona (2010): Ausbildungsplatzsuche: Prognos AG (2011): Studie – Arbeitslandschaft 2030. Im Auftrag Geringere Chancen für junge Frauen und Männer mit Migrations- der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. München. hintergrund. BIBB-Report 15/10. Bonn. Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2012): BMI/BAMF (2013): Migrationsbericht des Bundesamtes für Arbeitsmärkte im Wandel. Wiesbaden. Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung. Migrationsbericht 2011. Nürnberg. Statistisches Bundesamt (2012a): Bevölkerung und Erwerbs- tätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund, Ergebnisse des Brücker, Herbert (2013): Auswirkungen der Einwanderung auf Mikrozensus 2011. Wiesbaden. Arbeitsmarkt und Sozialstaat: Neue Erkenntnisse und Schlussfol- gerungen für die Einwanderungspolitik. Gütersloh. Statistisches Bundesamt (2012b): Sonderauswertung des Mi- krozensus 2011 für den SVR. Wiesbaden. Bundesagentur für Arbeit (2013a): Arbeitsmarkt in Zahlen. Migrationshintergrund nach § 281 Abs. 2 SGB III. Deutschland. Statistisches Bundesamt (2013a): Bevölkerung und Erwerbs- Dezember 2012. Nürnberg. tätigkeit. Vorläufige Ergebnisse der Bevölkerungsfortschreibung auf Grundlage des Zensus 2011. Wiesbaden. Bundesagentur für Arbeit (2013b): Fachkräfteengpassanalyse Juni 2013. Nürnberg. Statistisches Bundesamt (2013b): Bevölkerung und Erwerbstä- tigkeit. Vorläufige Wanderungsergebnisse 2012. Wiesbaden. DAAD/HIS-Institut für Hochschulforschung (2013): Wissen- schaft weltoffen 2013. Daten und Fakten zur Internationalität SVR (2010): Einwanderungsgesellschaft 2010. Jahresgutachten von Studium und Forschung in Deutschland. Bielefeld. 2010 mit Integrationsbarometer. Berlin. Ette, Andreas/Mundil-Schwarz, Rabea/Sauer, Lenore/Sulak, SVR (2012): Integration im föderalen System: Bund, Länder und Harun (2013): Ein neues Bild der Migration: Sozioökonomische die Rolle der Kommunen. Jahresgutachten 2012 mit Integrations- Struktur und Arbeitsmarktintegration von Neuzuwanderern barometer. Berlin. aus Drittstaaten in Deutschland, in: Bevölkerungsforschung 34, März 2013, S. 2–11. SVR (2013): Erfolgsfall Europa? Folgen und Herausforderungen der EU-Freizügigkeit für Deutschland. Jahresgutachten 2013 mit IAB (2013): Entwicklung des gesamtwirtschaftlichen Stellenan- Migrationsbarometer. Berlin. gebots im ersten Quartal 2013. Nürnberg. SVR-Forschungsbereich (2012): Mobile Talente? Ein Vergleich IW Köln (2013): MINT-Frühjahrsreport 2013 Innovationskraft, der Bleibeabsichten internationaler Studierender in fünf Staaten Aufstiegschance und demografische Herausforderung. Gutach- der Europäischen Union. Berlin. ten für BDA, BDI, MINT Zukunft schaffen und Gesamtmetall. Köln. UN (2001): Replacement Migration: Is It a Solution to Declining McKinsey Deutschland (2011): Wettbewerbsfaktor Fachkräfte. and Ageing Populations? New York. Strategien für Deutschlands Unternehmen. Berlin. 16
Prof. Dr. Maria Böhmer Internationalität und Vielfalt als Chance für Wirtschaft und Gesellschaft Prof. Dr. Maria Böhmer Deutschland ist vielfältig. Unser Reichtum besteht aus unseren Menschen mit ihren Ideen und Fähigkeiten, ihrer Kreativität Prof. Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin bei der Bundes- und ihrer Unterschiedlichkeit. Es geht um Frauen und Männer, kanzlerin und Beauftragte der Bundesregierung für Migra- um Mütter und Väter, um Junge und Ältere. Um behinderte tion, Flüchtlinge und Integration seit November 2005. Menschen, um Migrantinnen und Migranten, die zu uns gekom- Studium der Mathematik, Physik, Politikwissenschaft und men sind. Wir müssen auf die Vielfalt in unserem Land setzen. Pädagogik an der Universität Mainz; Habilitation in Päd- Denn die demografische Entwicklung ist ganz klar: Wir werden agogik an der Universität Mainz. Mitglied des Deutschen älter und wir werden weniger. Damit sind wir in immer höhe- Bundestages seit 1990. rem Maße auf die Talente aller angewiesen. Wir brauchen eine stärkere Beteiligung von Frauen, Älteren und Migrantinnen und Migranten am Erwerbsleben. Der aktuelle Zensus ergab: 15 Millionen Menschen mit Migrati- Damit Deutschland weiterhin wettbewerbsfähig bleibt, reichen onshintergrund leben bei uns. Das ist knapp ein Fünftel der 80,2 eine höhere Erwerbsbeteiligung des vorhandenen Potenzials Millionen Einwohner/-innen. Rund 6,2 Millionen Bürger/-innen und vergleichsweise ausgezeichnete wirtschaftliche Rahmen- besitzen eine ausländische Staatsangehörigkeit. bedingungen nicht aus. Parallel zur Erschließung und Förderung des inländischen Potenzials ist auch eine an den Bedürfnissen Unter den vielen Migrantinnen und Migranten sind 700.000 der Arbeitsmärkte orientierte und gesteuerte Zuwanderung Selbständige. Sie tragen als Unternehmer/-innen und Freiberuf- qualifizierter Fachkräfte aus dem Ausland notwendig. ler/-innen zur wirtschaftlichen Stabilität bei: Sie schaffen Wer- te, sie investieren, bilden aus und schaffen Arbeitsplätze. Wir brauchen aber auch eine ausgeprägte Willkommenskultur, die nicht nur die Unterschiede in Kultur und Sprache, sondern Über eine Million Menschen sind 2012 nach Deutschland ge- auch die Unterschiede in den Kompetenzprofilen und Bildungs- kommen. Das ist die höchste Zuwanderungsrate seit 1995. Die abschlüssen anerkennt. meisten Zuwandernden – über 600.000 Menschen – kamen aus Ländern der EU. Zieht man diejenigen ab, die 2012 aus Deutsch- Vielfalt ist eine Chance! Für die Zukunfts- und Wettbewerbs- land fortgezogen sind, dann beträgt die Nettozuwanderung fähigkeit unseres Landes. Aber auch für den Zusammenhalt immer noch über 360.000 Menschen. unserer Gesellschaft. Oder wie es der Vorstandsvorsitzende der Metro Group, Olaf Koch, beim 6. Integrationsgipfel mit der Bun- Wir wissen, dass Deutschland sich in den kommenden Jahren deskanzlerin Ende Mai 2013 ausgedrückt hat: „Vielfalt ist ein noch stärker als andere Länder einer massiven Alterung der Bevöl- Motor des Erfolgs!“. kerung ausgesetzt sieht. Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter wird bis zum Jahr 2030 um acht Millionen Personen abnehmen. Paradigmenwechsel: Von der nachholenden zur vorausschau- enden Integrationspolitik Fachleute rechnen damit, dass das Angebot an Arbeitskräften bereits bis zum Jahr 2025 um 6,5 Millionen Personen zurück- Die Bundesregierung hat umgesteuert. Die Fehler der Vergan- geht. Selbst wenn man eine höhere Erwerbsbeteiligung von genheit dürfen sich angesichts der Herausforderungen, vor Frauen, eine längere Lebensarbeitszeit und eine moderate Net- denen wir heute stehen, nicht wiederholen. tozuwanderung einrechnet, wird der Rückgang nur auf 3,5 Mil- lionen Personen abgeschwächt. Bereits heute sind in einzelnen Zuwanderung und Integration werden von Anfang an gemein- Branchen und Berufen Fachkräftelücken deutlich erkennbar. In sam gedacht. Wir können deshalb in Deutschland heute von den Gesundheitsberufen, in den Pflegeberufen, in den Erzie- einer Integrationspolitik mit erkennbarer Strategie und erkenn- hungsberufen, aber auch bei Ingenieurinnen und Ingenieuren, baren Strukturen sprechen. Das ist ein Paradigmenwechsel: von Informatikerinnen und Informatikern und in den naturwissen- der nachholenden zur vorausschauenden Integrationspolitik. schaftlichen Berufen werden die Suchprozesse deutlich länger. Das ist derzeit noch regional und branchenspezifisch sehr unter- Mit dem Nationalen Aktionsplan Integration legt die Bundesre- schiedlich ausgeprägt. Fachkräfteengpässe wird es in den kom- gierung einen strategischen Schwerpunkt auf die Beschäftigung menden Jahren aber immer deutlicher geben. von Menschen mit Migrationshintergrund. 17
Mit dem Fachkräftekonzept verfolgt die Bundesregierung ein Arbeitsmarkt besser zu nutzen und eine qualifikationsnahe Be- langfristig angelegtes Konzept zur Sicherung der Fachkräftebasis. schäftigung zu ermöglichen. Wir haben damit international eine Vorreiterfunktion eingenommen! Entscheidende Voraussetzung und ein Schlüssel für eine nach- haltige Integration sind gute Sprachkenntnisse und eine solide Mehr Verbindlichkeit in der Integration berufliche Qualifikation. Daher ist die Förderung von jungen Migrantinnen und Migranten ein Schwerpunkt des Nationalen Mehr Verbindlichkeit und eine verbesserte Willkommens- und Ausbildungspaktes von Politik und Wirtschaft, dessen Feder- Anerkennungskultur erreichen wir auch durch die interkultu- führung ich gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz und relle Öffnung des öffentlichen Dienstes und die Erweiterung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände im der interkulturellen Kompetenzen der Beschäftigten, aber vor letzten Jahr übernommen habe. allem auch durch innovative Projekte: Mein bundesweites Mo- dellprojekt der individuellen Integrationsvereinbarungen hat den Seit Mitte letzten Jahres sind die Hürden für den Zugang aus- Praxistest bestanden: In einem Zeitraum von eineinhalb Jahren ländischer Akademiker/-innen aus Drittstaaten und deren Fami- wurden in 18 Kommunen und insgesamt 87 Migrationsbera- lien gesenkt worden. Möglich macht das die „Blaue Karte EU“, tungsstellen mehr als 4.000 Integrationsvereinbarungen mit die jede/-r ausländische Akademiker/-in, die/der ein Brutto-Jah- Migrantinnen und Migranten abgeschlossen. In den Vereinba- resverdienst von 46.400 Euro nachweisen kann, erhält. rungen wird individuell festgehalten, mit welchen Vorausset- zungen Zuwandernde nach Deutschland kommen und welche Eine weitere Erleichterung ist die Vereinfachung der Beschäftig- Hilfen sie beispielsweise bei Spracherwerb, Ausbildung, Kinder- tenverordnung, die Arbeitsmärkte für Fachkräfte aus Drittstaa- betreuung oder bei der Anerkennung ihres Berufsabschlusses ten mit mittlerer Qualifikation öffnet. benötigen. Umgekehrt werden den Zuwandernden nach einer ausführlichen Beratung passgenaue Angebote gemacht. Es Willkommen und Anerkennung. Zuwanderung ist Triebfeder kommt jetzt darauf an, die Integrationsvereinbarungen in die für die Wirtschaft Fläche zu bringen. Deshalb appelliere ich an alle Kommunen und Migrationsberatungsstellen, dieses Instrument für eine höhere Viele Unternehmen haben die Vorteile einer vielfältigen, un- Verbindlichkeit einzusetzen und den bereitgestellten Hand- terschiedliche kulturelle und sprachliche Hintergründe verbin- lungsleitfaden zu nutzen. denden Belegschaft erkannt und die „Charta der Vielfalt“ unter- zeichnet. Sie verpflichtet Unternehmen und Institutionen dazu, Die Integrationsvereinbarungen stehen für unseren Paradig- allen Talenten in einem wertschätzenden und vorurteilsfreien menwechsel von der nachholenden zur vorausschauenden Umfeld optimale Arbeitsbedingungen zu schaffen. Die Charta Integration. Und sie sind Ausdruck einer Willkommens- und der Vielfalt ist Ausdruck dieser Erkenntnis. Mit mehr als 6,5 Mil- Anerkennungskultur. Die zentrale Erkenntnis ist: Eine gute Ver- lionen Beschäftigten in über 1.600 Organisationen ist die Char- netzung und Zusammenarbeit aller beteiligten Akteurinnen und ta mittlerweile eines der größten sozialen Unternehmensnetz- Akteure vor Ort ist entscheidend, damit Ratsuchende rasch und werke. Bei dem von der Charta initiierten ersten „Diversity-Tag“ zielgenau an Angebote gelangen. am 11. Juni 2013 haben bundesweit über 240 Unternehmen und Institutionen in rund 350 Aktionen sichtbar gemacht, dass Es gibt nicht „die“ Migrantinnen und Migranten als eine ho- sie bereits jetzt erfolgreich auf vielfältige Teams setzen. mogene Gruppe. Sie unterscheiden sich nicht nur durch das Herkunftsland und ihren Rechtsstatus, sondern auch durch Übereinstimmend stellen die OECD in ihrer jüngsten Studie und Alter, Familienstand, Bildungsgrad und soziale Verhältnisse. der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen im Jahresgutach- Integrationspolitik steht künftig verstärkt vor der Aufgabe, ten 2013 fest: Deutschland entwickelt sich zum Magneten für für diese unterschiedlichen Zielgruppen passgenaue und spe- qualifizierte und hoch qualifizierte Unionsbürger/-innen und zifische Integrationsangebote zu schaffen. Zuwanderung und Drittstaatsangehörige. Im europäischen Vergleich hat Deutsch- Integration müssen stets zusammengedacht werden und eine land eine der liberalsten Zuwanderungsregelungen. Deutschland höhere Verbindlichkeit der Integration erleichtert allen die Ak- profitiert wirtschaftlich von der derzeitigen Einwanderungswel- zeptanz der Vielfalt. le. Ich will einen weiteren Punkt anfügen, der für eine Verbes- serung der Willkommens- und Anerkennungskultur in unserem Land steht. Es geht um die beruflichen Perspektiven von Zu- Website der Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und wanderern und ihre Integration in den Arbeitmarkt. Mit dem Integration hier. „Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen“, dem sogenannten Anerkennungsgesetz, wurden die Grundlagen geschaffen, im Ausland erworbene Berufsqualifikationen für den deutschen 18
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