Brennen, Schreddern, Grillen - Germanistische Mitteilungen

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Friederike Reents

                                   Brennen, Schreddern, Grillen
                                   Poetik letztmaliger Differenz bei Thomas Kling

                                   Modern literature is characterized by its claim to singularity, originality, and inimitability. In order
                                   to create something new, however, knowledge of tradition is indispensable. The claim to finality
                                   exemplified by Thomas Kling’s ‘poetics of final difference’ goes one step further. In his poems “Das
                                   brennende Archiv” and “geschrebertes idyll für mike feser” Kling presents a detailed examination
                                   of tradition in order not only to destroy and overcome it but also to bring it to an end – by meta-
                                   phorically burning, shredding, and grilling it.
                                   Keywords: tradition, claim to finality, poetics of final difference, Thomas Kling, de(con)struction

                                   Anders als in der Unterhaltungskultur, die regelmäßig auf die Kraft des
                                   Seriellen setzt, lebt die so genannte moderne ernste Kunst, also in unserem
                                   Fall die ,hohe‘ Literatur, von dem Anspruch der Einzigartigkeit, Origina-
                                   lität und Unnachahmbarkeit. Gleichwohl ist gerade bei ihr die Kenntnis
                                   der Tradition in aller Regel Voraussetzung zur Schaffung des Neuen, des
                                   Modernen und damit häufig die vorangehende Wiederholung Vorausset-
                                   zung von Differenz. Noch einen Schritt darüber hinaus geht der Letzt-
                                   maligkeitsanspruch, man könnte auch sagen das Paradigma letztmaliger Dif-
                                   ferenz, das nicht nur tradierte Formen und Gattungen aufgreift, ,entgrenzt‘,
                                   also auflöst und erneuert, sondern diese damit gewissermaßen an ein Ende
                                   zu bringen versucht. Um eines solchen vollendenden Abschlusses willen
                                   geht der Traditionsbruch dabei regelmäßig mit (zum Teil chiffrierter)
                                   Selbsthistorisierung einher, also dem einmal mehr, einmal weniger ver-
                                   deckten Anspruch, eine bestimmte Form oder gar Gattung idealiter letzt-
                                   malig und in uneinholbarer Weise aufzurufen, zu vollenden, um damit ggf.
                                   – im Sinne des Absolutheitsanspruchs moderner Kunst – sogar einen
                                   Schlussstrich unter einen epochen- oder gattungsgeschichtlichen Ab-
                                   schnitt zu ziehen. Am Beispiel von zwei zu diesem Zwecke ausgewählten

                                   Germanistische Mitteilungen 46 | 2020                                                               15
                                                 Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
                                                    © 2020 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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Friederike Reents

                                                                   Gedichten von Thomas Kling, einem der bedeutendsten Lyriker der letz-
                                                                   ten Jahrzehnte, soll dessen Poetik letztmaliger Differenz herausgearbeitet
                                                                   und analysiert werden. Bei den Gedichten handelt es sich um Das brennende
                                                                   Archiv (entstanden 1997, posthum im gleichnamigen Essayband veröffent-
                                                                   licht) und geschrebertes idyll, für mike feser (1989).
            for personal use only / no unauthorized distribution

                                                                       Unter Rückgriff auf Gilles Deleuzes Différence et répétition (1976, dt.
                                                                   1997) und im Anschluss an die von Bronfen et al. vorgeschlagene „Poetik
                                                                   des Seriellen“,1 jedoch unter Abgrenzung von der für die Unterhaltungs-
                                                                   kultur geltenden „Serialität als Programm“,2 wird bei den folgenden Über-
                                                                   legungen zu einer Poetik letztmaliger Differenz von „einer Wiederholung
                              Winter Journals

                                                                   nicht mit, sondern als Differenz“ ausgegangen, was schon bei Deleuze
                                                                   „rückblickend den Begriff der Wiederholung selbst fragwürdig erscheinen
                                                                   lässt“.3 Diese Differenz nämlich besteht nicht in der bloßen „Variation des
                                                                   Invarianten“4 im Sinne eines „dynamische[n] Fortsetzungsmodell[s]“,5
                                                                   sondern ist das Ergebnis eines hoch reflektierten Akts (oder Versuchs)
                                                                                                                                                            Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)

                                                                   traditionsüberschreibender und selbstermächtigender oder -historisieren-
                                                                   der Geste, die sich der bewusst gemachten „anxiety of influence“ (Bloom
                                                                   1973) ebenso zu entziehen versucht wie dem Verdacht von Epigonalität.
                                                                   Damit knüpft die Poetik letztmaliger Differenz einerseits zwar an das
                                                                   frühromantisch zirkulär-transzendentale Denken an, in dem das Alte fort-
                                                                   schreitend und universalistisch als etwas Neues begriffen oder überhaupt

                                                                   1    Bronfen, Elisabeth/Frey, Christiane/Martyn, Dieter: Noch einmal anders. Zu einer Poetik
                                                                        des Seriellen ( = Denkt Kunst). Zürich: Diaphanes 2016.
                                                                   2    Stockinger, Claudia: An den Ursprüngen populärer Serialität. Das Familienblatt Die Garten-
                                                                        laube. Göttingen: Wallstein Verlag 2018. S. 12-17.
                                                                   3    Bronfen/Frey/Martyn: Noch einmal anders. S. 9.
                                                                   4    Stockinger: An den Ursprüngen populärer Serialität. S. 12.
                                                                   5    Juretzka, Christiane: Einlassen auf Irritationen. Ästhetik auf der Spur der Serie. In: Serie. Kunst
                                                                        im Alltag. Hg. v. Peter Hoff und Dieter Wiedemann (= Beiträge zur Film- und Fernseh-
                                                                        wissenschaft 43). Berlin: Vistas 1992. S. 41-48. Hier S. 46.

                                                                   16
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                                                                                    © 2020 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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Brennen, Shreddern, Grillen

                                   erst dazu gemacht wird; andererseits versucht sie, dieses offene, unab-
                                   schließbare Reflexionsmodell durch den selbsthistorisierenden, finalisti-
                                   schen Akt zu erden.
                                       Im Rahmen zurückliegender eigener Forschung habe ich mich aus-
                                   führlich mit den Strategien dichterischer „Stimmungsmache“ auf pro-
                                   duktions-, werk- und rezeptionsästhetischer Ebene auseinandergesetzt.6
                                   Dabei ging es mir nicht nur um den gegenwärtigen bzw. in die Zukunft
                                   gerichteten, kritischen, werkpolitischen Dialog zwischen Autor und Kriti-
                                   ker/Philologen,7 sondern auch um den mit der Vergangenheit, der Tradi-
                                   tion, wobei auffiel, dass die Auseinandersetzung selten nur produktiv,
                                   sondern häufig und zugleich destruktiv war, mit dem Ziel, sich in einer
                                   quasi-dialektischen Bewegung die Tradition anzueignen und zugleich zu
                                   überbieten. Das vergangenheitsorientierte Gespräch war dabei häufig
                                   Auseinandersetzung mit den als Negativfolie dienenden Werken der Vor-
                                   gänger zur Profilierung der eigenen Positionen und damit zur Überbietung
                                   der Tradition.8
                                       Dass die Legitimation von Modernität hier nicht nur in dem Anspruch
                                   auf etwas Neues gründet, sondern in dem auf einen ,Spätstil‘ (Adorno),
                                   „Lateness“9 (Hutchinson 2014) oder auch in „Spätzeitlichkeit“,10 hängt mit
                                   der werkpolitisch ausgerichteten Selbsthistorisierung zusammen, die in ästheti-

                                   6   Vgl. Reents, Friederike: Stimmungsästhetik. Realisierungen in Literatur und Theorie vom 17.
                                       bis ins 21. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein 2015.
                                   7   Vgl. Martus, Steffen: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17.
                                       bis ins 20. Jahrhundert; mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George (Historia Herme-
                                       neutica. Series Studia; 3). Berlin: De Gruyter 2007.
                                   8   Vgl. Hanna, Christian M.: „Die wenigen, die was davon erkannt“. Gottfried Benns (un)heimlicher
                                       Dialog mit Goethe (= Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften 737). Würz-
                                       burg: Königshausen & Neumann 2011.
                                   9   Hutchinson, Ben: Lateness and modern European literature. Oxford: Oxford University
                                       Press 2016.
                                   10 So Sina, Kai, Wellbery, David E.: Goethes Spätwerk. On Late Goethe. Berlin, New York:
                                      de Gruyter 2019.

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                                                Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Friederike Reents

                                   scher Hinsicht weit über die hinreichend untersuchten Wege schriftstelleri-
                                   scher Selbstinszenierung11 hinausgeht. Denn jenseits der oft publikums-
                                   wirksamen Selbstverortung eines Autors und seines Werks im gegenwärti-
                                   gen Literaturbetrieb zielt die literaturhistorische Verortung auf die Zuschrei-
                                   bung historischer Bedeutsamkeit und Stiftung neuer, die Lebenszeit des
                                   Autors überdauernder Tradition. Mit der Destruktion der Form als Spezifi-
                                   kum von Modernität12 ist hier nun nicht nur der plakative und häufig poli-
                                   tisch motivierte Umgang mit der Tradition gemeint, den vor allem die
                                   Avantgarde-Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts pflegten,13 sondern
                                   die mal mehr, mal weniger subtile, in jedem Fall aber finalistische Über-
                                   schreibung dessen, was bislang als festgeschriebene Form Geltung bean-
                                   spruchen konnte. Selbsthistorisierung ist nach bisheriger Definition als An-
                                   spruch eines Autors zu verstehen, „sich selbst als Größe [zu] setz[en] und
                                   die (posthume) Tradition der eigenen Werkbiographie vor[zu]bereite[n]“.14
                                   Kling knüpft hierbei an frühere Formen der Selbsthistorisierung (von Goe-
                                   the bis Thomas Mann15) an, aber radikalisiert diese.
                                       Bei der hier nun ins Auge gefassten Poetik letztmaliger Differenz geht
                                   es darum, das „Verhältnis der Konventionen zur Subjektivität selber [..]

                                   11 z.B. Grimm, Gunther E./Schärf, Christian (2008): Schriftsteller-Inszenierungen. Bielefeld:
                                      Aisthesis 2008; John-Wenndorf, Carolin: Der öffentliche Autor. Über die Selbstinszenierung
                                      von Schriftstellern. Bielefeld: Transcript 2014; Jürgensen, Christoph/Kaiser, Gerhard:
                                      Schriftstellerische Inszenierungspraktiken. Typologie und Geschichte (= Beihefte zum Euphorion
                                      62). Heidelberg: Winter 2011; Reents, Friederike (2014): Autorinszenierung und Zen-
                                      surprovokation, in: Kunstfreiheit und Zensur in der Bundesrepublik 1949-2009. Hg. v. York-
                                      Gothart Mix. Berlin/New York: de Gruyter 2014. S. 165-186.
                                   12 Vgl. Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne: Sprache, Ästhetik, Dichtung im
                                      zwanzigsten Jahrhundert. München: C.H. Beck 2004.
                                   13 Fähnders, Walther: „Das leidenschaftlichste Buch gegen den Krieg“. Leonhard Frank: Der Mensch
                                      ist gut (1917). In: Amsterdamer Beiträge Zur Neueren Germanistik 2003, 53(1). S. 71-84.
                                   14 Stockinger, Claudia: Das 19. Jahrhundert. Zeitalter des Realismus. Berlin: Akademie-Verlag
                                      2010. S. 355.
                                   15 Reents, Friederike: Von deutscher Qualität. Modernität und Selbsthistorisierung beim frühen Tho-
                                      mas Mann. In: Thomas Mann Jahrbuch 2018, Bd. 31. Frankfurt a. M., S. 77-92.

                                   18
                                                Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Brennen, Shreddern, Grillen

                                   als Formgesetz“ zu verstehen, aus dem jedoch nicht nur, wie bei Adorno,
                                   „der Gehalt der Spätwerke entspringt“,16 sondern auch Werke aus frühe-
                                   ren Schaffensphasen (also gewissermaßen von so genannten ,Frühvollen-
                                   deten‘) davon tangiert sein können, wenn auch der Letztmaligkeitsan-
                                   spruch sich vermehrt in späteren Werken findet, wie vielleicht am ein-
                                   drücklichsten auf dem sorgfältig komponierten Cover von Klings letztem
                                   zu Lebzeiten entstandenen Gedichtband Auswertung der Flugdaten. Dort
                                   zeigt sich sein Anspruch, sich selbst zu historisieren, oder, in seinen eige-
                                   nen Worten, sich als „Memorizer“, als „Gedächtnisverantwortliche[r] un-
                                   ter den Clanmitgliedern“17 zu verstehen und sich dabei quasi-histrionisch18
                                   als entsprechend posthum zu würdigende Größe zu setzen, indem er sich
                                   gewissermaßen als „Meister der Selbst-Installation“19 präsentiert: Dekla-
                                   mierend oder rezitierend steht er vor einem alten Gemäuer auf einem Säu-
                                   lenrest wie ein Säulenheiliger, und dies in dreifach exponierter Position:
                                   „über den Zuhörern und Zuschauern stehend, aber in einsamer Stellung
                                   und in einer letztlich gefährdeten Situation, die Standfestigkeit und Auf-
                                   merksamkeit erfordert“.20 Während anderen in aller Regel erst nach ihrem
                                   Ableben ein Denkmal gesetzt wird, tut Kling dies auf nur teilweise ironi-
                                   sche Weise hier selbst und stellt sich damit nicht nur in die Tradition der

                                   16 Adorno, Theodor W. (1982): Spätstil Beethovens [1937], in: Musikalische Schriften IV
                                      (= Gesammelte Schriften 17, hg. v. Rolf Tiedemann). Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982.
                                      S. 13-17. Hier: S. 15.
                                   17 Kling, Thomas: Itinerar. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997. S. 16.
                                   18 Vgl. dazu Kling: Zu den deutschsprachigen Avantgarden, in: ders.: Botenstoffe, Köln: Dumont
                                      2001. S. 9-31, wo er vom „Histrionenfieber“ (S. 31) der Avantgardisten spricht.
                                   19 Klimek, Sonja: Sterben als Sprach- und Selbstinstallation. Arnikabläue und die Autorinszenie-
                                      rungen in Thomas Klings letztem Gedichtband, in: Frieder von Ammon/Rüdiger Zymner
                                      (Hgg.): Thomas Kling. Interpretationen. Paderborn: Mentis 2019. S. 251-268. Hier: S. 267.
                                      Vgl. auch Kling, Thomas (2001): Peter Huchel Dankabstattung. »Die Wespen singen drüber
                                      wild«. In: ders.: Botenstoffe. Köln: Dumont: 2001. S. 164–171. Hier S. 170. Vgl. auch:
                                      Kling, Thomas (2001): Spracharbeit. Botenstoffe. Berliner Vortrag über das 17. Jahrhundert. In:
                                      Botenstoffe, S. 51–69. Hier S. 57.
                                   20 Korte, Hermann: Der Stylit auf der Säulenplattform. Thomas Klings Manhattan-Zyklen. In:
                                      von Ammon/Zymner (Hgg.): Thomas Kling, S. 181-209. Hier S. 193.

                                                                                                                                 19
                                                Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Friederike Reents

                                   in Denkmälern gewürdigten verstorbenen Kollegen, sondern nimmt zu-
                                   gleich die Dichter-Priester-Pose des von ihm verehrten Hugo Ball ein.21
                                   Auch wenn es, inhaltlich gesehen, näher zu liegen scheint, sich zur Ver-
                                   anschaulichung der Poetik letztmaliger Differenz Klings Spätwerk, also
                                   vor allem seinen von Krankheit und Tod gezeichneten letzten Band an-
                                   zusehen, so möchte ich mich, nicht zuletzt zur Plausibilisierung meiner
                                   These, dass fortgeschrittenes Lebensalter bzw. Vergegenwärtigung des
                                   eigenen Endes nicht Bedingung dieser Poetik sind, auf zwei Gedichte aus
                                   früheren Werkphasen konzentrieren.

                                   I. Brennen
                                        Das brennende Archiv
                                        menschen gedenken eines menschen
                                        herz – brennendes archiv!
                                        es ist erinnerung der engel;
                                        erinnerung an alte gaben.
                                        die formel tod, die überfahrt –
                                        die wir zu übersetzen haben.22

                                   Dass das unbestreitbar „signifikante Bild“ vom brennenden Archiv und
                                   Klings zweifelsohne „eigenwilliger Umgang mit dem Gedächtnisspeichern

                                   21 Vgl. dazu die Grabrede seines Lektors Christian Döring, der anlässlich der Beerdigung
                                      Klings am 15.4.2005 das Cover des letzten Bandes folgendermaßen beschreibt: „Von
                                      einem Säulensockel vor altem Gemäuer, die Hand intonierend erhoben, den Mund
                                      vielleicht rezitierend geöffnet, – schaut er uns entgegen. Ein Säulenheiliger, wie ein
                                      Hugo Ball z.B., über den er bis zuletzt schrieb, dessen sicheres Gespür für das Magisch-
                                      Theatralische er bewunderte, mit dem er sich ,in die innerste Alchemie des Wortes
                                      zurückziehen‘ konnte. Sprachekstatiker beide.“ Vgl. http://www.dumont-buchverlag.
                                      de/autor/thomas-kling (letzter Zugriff am 10.4.2019).
                                   22 Kling, Thomas: „Das brennende Archiv“. Unveröffentlichte Gedichte, Briefe, Handschriften und
                                      Fotografien aus dem Nachlass sowie zu Lebzeiten entlegen publizierte Gedichte, Essays und Ge-
                                      spräche. Zusammengestellt von Norbert Wehr und Ute Langanky. Berlin: Suhrkamp
                                      2012. S. 5.

                                   20
                                                Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Brennen, Shreddern, Grillen

                                   der Kultur“ in erster Linie dem „Kampf gegen das Vergessen“ gelten,23 ist
                                   zu bezweifeln. Auch wenn sein kritischer Umgang mit Fragen und Tech-
                                   niken der Rezeption und Überlieferung, mit Prozessen von Verdrängen
                                   und Vergessen offensichtlich ist, so verkennt diese kulturkritische, auf Be-
                                   wahrung ausgerichtete Deutung des „brennende[n] Archiv[s]“ die explo-
                                   sive, selbsthistorisierende Mischung des dichterischen Selbstverständ-
                                   nisses, dessen Energie sich aus einer durchaus auch destruktionsästheti-
                                   schen Poetik speist. Der von Kling an anderer Stelle bemerkte „Zungen-
                                   schwund“,24 also das Verstummen etwa der Zeitzeugen, das Verschwin-
                                   den der Zeitzeugnisse, ist nur die eine Seite der Medaille, der wohl am
                                   wirkungsmächtigsten Walter Kempowski als Arrangeur unzähliger, ge-
                                   ringfügig bearbeiteter Zeitzeugenberichte mit seinem Echolot begegnet ist.
                                   Die andere Seite von Klings Selbstverständnis ist dagegen seine produkti-
                                   ve Lust an der Zerstörung und Überbietung jenseits therapeutischer oder
                                   heilender Absicht; sein Interesse war ein dezidiert spracharchäologisches
                                   und zugleich -artistisches, das er nur ausleben konnte, wenn er sich in das
                                   von ihm als „Sprachspeicher“25 verstandene, alles umfassende Archiv be-
                                   gab, das „in Rauch auf[..]gehen“ wird.“26
                                       Zentral ist in Das brennende Archiv aber gerade der Aspekt des Nicht-
                                   Vergessens, des Gedenkens, der Erinnerung. Augenfällig ist hierbei die
                                   Anlehnung an Hölderlins Andenken, das mit dem berühmten Vers „Was
                                   bleibet aber, stiften die Dichter“ schließt.27 Während Hölderlin, mit dessen

                                   23 May, Markus: „Kartenlesen im Unverzeichneten“. In: von Ammon/Zymner (Hgg.): Thomas
                                      Kling, S. 211-22. Hier S. 214, Fn. 11.
                                   24 Kling, Thomas: Skulpturen aus Ozeanien. In: Du: die Zeitschrift der Kultur 12 (1997). S. 65–
                                      71. Hier S. 66.
                                   25 Sprachspeicher. 200 Gedichte auf Deutsch vom achten bis zum zwanzigsten Jahrhundert. Eingela-
                                      gert und moderiert von Thomas Kling. Köln: DuMont 2001.
                                   26 Kling: Skulpturen aus Ozeanien? S. 66.
                                   27 Hölderlin, Friedrich: Andenken, in: Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Bd. 2, hg. von
                                      Friedrich Beißner. Stuttgart: Cotta 1951. S. 188f.

                                                                                                                               21
                                                Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Friederike Reents

                                   Werk sich Kling verschiedentlich auseinandersetzt,28 den höheren Dich-
                                   tungsauftrag, etwas Überdauerndes zu schaffen, jedoch als Faktum kon-
                                   statiert, wird dieser Auftrag bei Kling überhaupt erst formuliert („die wir
                                   zu übersetzen haben“), obwohl die konkrete Aufforderung in Bezug auf
                                   die Übersetzung des Todes als „überfahrt“ längst ausgeführt ist. Nicht das
                                   Bild vom Tod als Überquerung des Styx ist hier besonders originell, wohl
                                   aber die in diesem Kontext aufgerufene Doppeldeutigkeit des Wortes
                                   „übersetzen“ als „überfahrt“ in einen anderen Seinszustand oder Raum,
                                   aber eben auch als künstlerische Übersetzungsleistung einer Begebenheit
                                   in ein Kunstwerk, in Klings Fall in einen literarischen Text. Und dieser
                                   wandert irgendwann, wenn er als gelungen genug eingeschätzt wird, in ein
                                   Archiv, was seinen Bestand sichern soll, aber nicht unbedingt bedeutet,
                                   dass er auch wahrgenommen wird, man sich seiner als einer von den
                                   „alte[n] gaben“ überhaupt erinnert. Interessanterweise spricht auch Höl-
                                   derlin in einer von Kling markierten Passage in der ihm von Jürgen Balmes
                                   1997 geschenkten Hölderlin-Ausgabe, im Grund zum Empedokles, von einer
                                   Gabe, einer „glückliche[n] Gabe“ der
                                        Passivität[...], die auch ohne geflissentliches und wissentliches Ordnen und
                                        Denken und Bilden geneigt ist, jene Bildsamkeit der Sinne und des Gemüts,
                                        die alles solche leicht und schnell in seiner Ganzheit lebendig aufnimmt und
                                        die der künstlerischen Tätigkeit mehr zu sprechen als zu tun gibt.29

                                   28 Vgl. die Beiträge von Reents, Friederike: Mit Hölderlin und Benn im Ratinger Hof. Thomas
                                      Klings tiefschürfende „nachtperformance“ und von Weder, Christine (2019): Lyrische Schnapp-
                                      schüsse mit Hölderlin, Apollinaire und Schreber,...: Thomas Klings (v)erdichtete Psychiatrie und Me-
                                      diengeschichte. In: von Ammon, Frieder/Zymner, Rüdiger (Hgg.): Thomas Kling, S. 11-36
                                      und 85-107. Zum Zwiegespräch mit Hölderlin vgl. Böschenstein, Bernhard: Im Zwiege-
                                      spräch mit Hölderlin: George, Rilke, Trakl, Celan. In: ders.: Von Morgen nach Abend. Filiationen
                                      der Dichtung von Hölderlin zu Celan. München: Fink 2006. S. 78–92; vgl. dazu auch von
                                      Ammon, Frieder: Über pontifikale und profane Dichtung. Hölderlin in der deutschen Lyrik des
                                      20.Jahrhunderts. In: Vollhardt, Friedrich (Hg.): Hölderlin in der Moderne. Kolloquium für
                                      Dieter Henrich zum 85. Geburtstag, Berlin: Erich Schmidt 2014. S. 147–170.
                                   29 Hölderlin, Friedrich: Grund zum Empedokles, in: ders.: Werke in einem Band. Auf der Grund-
                                      lage der Ausgabe von Jürgen Mieth, hg. v. Hans Jürgen Balmes, München: Hanser ²1996.
                                      S. 563. Der Band wurde Kling laut Widmung (»,kein Gefäß ihn zu fassen’ –«, Verweis

                                   22
                                                 Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Brennen, Shreddern, Grillen

                                   Bei Kling ist es nun die Erinnerung an „alte gaben“, also vielleicht auch
                                   an die „glückliche Gabe“ der durchaus nicht negativ zu verstehenden
                                   „Passivität“, über die die Alten (Empedokles, Hölderlin) vermeintlich
                                   noch einfacher verfügten als die zum „geflissentliche[n] und wissentli-
                                   che[n] Ordnen und Denken und Bilden geneigt[e]“ heutige Dichtergene-
                                   ration, die sich in erster Linie der hier zentral gesetzten Erinnerung be-
                                   dient. Und um diese Erinnerung entsprechend anzufachen, bedarf es des
                                   Feuers. Erst dieses bringt das Archiv überhaupt zum Brennen, damit der
                                   Dichter aus den überlieferten Texten, aus der zum Archiv gewordenen
                                   Tradition, wieder neue Funken schlagen kann.
                                       Das im Gedicht benannte Herz ist hierbei zunächst nur als das zu
                                   verstehen, was irgendwann, wenn der Tod eintritt, aufhört zu schlagen
                                   oder aber, im übertragenen Sinne, als Übersetzung für das brennende Ar-
                                   chiv, also als loderndes Herz, als Herzstück, dem das Gedenken gilt. Be-
                                   denkt man die „zentrale Bedeutung der Metapher ,Herz‘ für das literari-
                                   sche Schaffen Klings“30 vor dem Hintergrund seiner in Bezug auf die
                                   „herzstärkende[n] mittel“ geäußerte Poetik des „Weiterhinsehens“, der
                                   „Sprachenfindung“ und des „Fortsetzens dichterischer Traditionsli-
                                   nien“,31 so bestätigt dies die Lesart der Zeile „herz – brennendes archiv!“
                                   als Beschreibung des Umgangs mit der Tradition. Das brennende Archiv ist
                                   ein Paradebeispiel für ein höchst konzentriertes, zur Allgemeinheit ten-
                                   dierendes Gedicht, bei dem das „menschen / herz“ als Äquivalent für

                                       auf das Hölderlin-Gedicht Buonaparte) vom »5.4.97« von »Hans Jürgen [Balmes]« zuge-
                                       eignet.
                                   30 Wix, Gabriele: »hirnschlindernder herzdolmetsch, / merkur in etwa«. Kunst, Künstler und Atelier im
                                      Werk Thomas Klings von 1977 bis 1994. In: Wix, Gabriele/Stüssel, Kerstin (Hgg.): Thomas
                                      Kling. Double Exposure, Köln: Kunst- und Museumsbibliothek der Stadt Köln 2017. S. 19–
                                      34. Hier S. 30.
                                   31 Kling, Thomas: Sprachinstallation 2. In: ders.: Itinerar, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997.
                                      S. 15–26. Hier S. 15. Dass Kling hier im Essay dezidiert vom „Fortsetzen der Tradi-
                                      tionslinien“, nicht aber vom Überbieten oder Finalisieren spricht, bedeutet nicht, dass
                                      er die radikalere Form, also das Überbieten und Finalisieren, in seiner Lyrik nicht
                                      zugleich praktiziert, gewissermaßen also die beschriebene Fortschreibung ihrerseits
                                      überbietet.

                                                                                                                                    23
                                                Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Friederike Reents

                                   kulturelle Leistungen (etwa eines Hölderlin) auch über dessen Tod hinaus
                                   am Leben erhalten wird, allerdings versehen mit der Signatur dessen, der
                                   die richtigen Worte dafür findet.
                                       Meine These aber war ja gerade, dass es Kling, dem „Autor der pro-
                                   grammatisch-pyromanischen brennstabm-Gedichte“32, nicht nur um das
                                   Fortsetzen dichterischer Traditionslinien geht, sondern, im Sinne der Poe-
                                   tik letztmaliger Differenz, um deren durchaus auch destruktionsästhetisch
                                   zu verstehende Überbietung, in diesem Fall sogar Vernichtung, was im
                                   Bild des in Flammen aufgehenden Archivs deutlich wird. Dabei geht es
                                   nicht um die Entscheidung zwischen der Anbetung der Asche und der
                                   Weitergabe des Feuers, als die Tradition gerne gefasst wird, sondern um
                                   den in dichterische Sprache zu übersetzenden Akt des produktiven, näm-
                                   lich Licht und Wärme spendenden (man könnte auch sagen: herzstär-
                                   kenden) Verbrennens, der immer zugleich den Verzehr des Materials
                                   bedeutet. So gesehen, scheint es mir auch zu vorsichtig ausgedrückt zu
                                   sein, von einer „poetischen Aneignung und Bearbeitung“ zu sprechen, die
                                   „Geschichte aus dem Zustand der Archivierung befreit“.33 Kling tut weit
                                   mehr, als sich „seiner eigenen Traditionen, Herkünfte, Genealogien“
                                   anzunehmen und die „,ahnenstrecke‘ zu gestalten“,34 wenn er sich das Ar-
                                   chiv als brennendes imaginiert. Auch die Analogie zur Foucaultschen Dis-
                                   kurskritik und der Vorschlag, „Klings Projekt einer revidierten Geschichte
                                   der literarischen Traditionen, die so sehr auf eine Defizitbilanz der
                                   Ausschlussmechanismen von Diskurs-Macht […] abzielt“35, diskursanaly-
                                   tisch bzw. diskursarchäologisch zu untersuchen, verkennt die Macht
                                   dessen, der die Diskurs-Macht der anderen einer neuen Lesart unterzieht.
                                   Während Foucault mit seinem Anspruch, die (Un-)Ordnung der Dinge zu
                                   entlarven, indem er sie auf den Kopf stellt und ihnen dadurch eine neue

                                   32 May: „Kartenlesen im Unverzeichneten“. S. 213.
                                   33 Trilcke, Peer: Restnachrichten‘ von einem ,verplombten Jahrhundert, in: In: von Ammon/Zym-
                                      ner (Hgg.): Thomas Kling, S. 167-179. Hier S. 170.
                                   34 Ebd.
                                   35 May: „Kartenlesen im Unverzeichneten“, S. 214.

                                   24
                                               Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Brennen, Shreddern, Grillen

                                   Ordnung gibt, noch vergleichsweise verdeckt operiert, drückt sich Kling
                                   überdeutlich aus: Sein Versuch, „den sprachlich und kulturell vergessenen
                                   und verdrängten Phänomenen in seiner Dichtung wieder zu einer
                                   aktualisierten und überprüfenden Geltung zu verhelfen“,36 basiert,
                                   wiederum im Bild des brennenden Archivs, auf deren zerstörerischer
                                   Überbietung, deren Ausschlachtung. Die Tradition wird gewissermaßen
                                   verheizt, verfeuert, damit es ein Spektakel gibt. Zurück bleiben Asche und
                                   kalter Rauch.
                                       Diese Lesart lässt sich noch einmal im Rückgriff auf die Tradition stär-
                                   ken, wenn man nämlich Das brennende Archiv als Übersetzung von Marinet-
                                   tis im Futuristischen Manifest geäußerter, skandalstrategischer Erklärung,
                                   „wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien zerstören“,
                                   liest.37 Denn was den Futuristen nicht wirklich gelungen ist, nämlich: ihren
                                   Thesen auch ernst zu nehmende künstlerische Taten folgen zu lassen,
                                   schafft der von den Avantgarden stark beeinflusste Kling,38 indem er vom
                                   „brennende[n] archiv“ und, ebenfalls in der ersten Person Plural, von der
                                   „formel tod“, von der „überfahrt“ spricht, „die wir zu übersetzen haben“.
                                   Mithilfe der Poetik letztmaliger Differenz greift Kling also die Traditions-
                                   linien, hier von Hölderlins „glücklicher Gabe“ und Vorstellung über-
                                   dauernder Dichtung bishin zu Marinettis antibildungsbürgerlichem Zer-
                                   störungsfuror auf, differenziert diese, indem er diese Stränge mit der ihm
                                   eigenen Ästhetik der ineinander blendenden Doppelbelichtung zusam-
                                   menführt. Schließlich überbietet er die Tradition mit seinem Gedicht, in

                                   36 Ebd.
                                   37 Marinetti, Filippo Tomasso: Manifest des Futurismus. In: Le Figaro, Paris, 20. Februar
                                      1909. S. 1.
                                   38 Vgl. Kling, Thomas: Zu den deutschsprachigen Avantgarden, in: Ders: Botenstoffe, Köln:
                                      Dumont 2001. S. 9-31. Zu Klings Avantgarde-Rezeption vgl. Stahl, Enno: Die Geburt
                                      des Geschmacksverstärkers aus dem Geiste des Punk, in: von Ammon, Frieder/Trilcke, Peer/
                                      Scharfschwert, Alena (Hgg.): Das Gellen der Tinte. Zum Werk Thomas Klings. Deutsch-
                                      sprachige Gegenwartsliteratur und Medien, Bd. 9. Göttingen: V&R Unipress 2012.
                                      S. 69-80; vgl. dazu auch May: „Kartenlesen im Unverzeichneten“. S. 215.

                                                                                                                          25
                                               Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Friederike Reents

                                   dem er diese im Bild des Archivs in Flammen aufgehen und dadurch, wie
                                   er an anderer Stelle sagte, ein „Aufglühen von Sinn“39 entstehen lässt.

                                   II. Schreddern
                                   Im Jahr 1997, acht Jahre nach Erscheinen von Klings geschrebertem idyll,
                                   sprach Rüdiger Görner vom ,Tod der Idylle‘40 und meinte – so jedenfalls
                                   resümiert Renate Böschenstein Görners Essay in ihrem Beitrag „Idyl-
                                   lisch/Idylle“ in den Ästhetischen Grundbegriffen –, dass das „,ungebrochen
                                   Idyllische‘ des 19. Jh. nur noch als postmodernes Zitat weiterleben
                                   könne“:41 Dass diese These in heutigen Zeiten, wo ein Gespräch über
                                   Bäume kein Verbrechen mehr zu sein scheint, nicht mehr haltbar ist, zeigt
                                   ein Blick auf die ,neue Naturlyrik‘, von der seit einiger Zeit viel die Rede
                                   und zu der auch die Idyllendichtung zu zählen ist. Die Gegenwartslyrik,
                                   so heißt es in einem aktuellen Band über Idyllen in Literatur und Medien der
                                   Gegenwart aus dem Jahr 2018, „kennt die Idylle“.42
                                       Gattungsgeschichtlich betrachtet, lebt die antike Form schon seit dem
                                   frühen 19. Jahrhundert „nur noch in der Idee des ,Idyllischen‘ oder als

                                   39 Kling, Thomas: brennstabm. Gedichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp ²1997. S. 6f. – Aller-
                                      dings spricht er in diesem Zitat des Vorworts, dem „Flaggensignal zur zweiten Aufla-
                                      ge“, gerade von einem „andere[n] Aufglühen von Sinn“, womit er das auf Mündlichkeit
                                      angelegte Gedicht meint, das durch das Lesen „eine körperliche Rückkehr, ein anderes
                                      Aufglühen von Sinn, erfährt.“
                                   40 Görner, Rüdiger: Spuren der Idylle. Über ein Motiv der Moderne, in: Schweizer Monatshefte 77
                                      (1997), H. 3. S. 28-32. Hier S. 31 („Die Idylle ist tot, es lebe der Mythos von der
                                      Idylle“).
                                   41 Böschenstein, Renate: Idyllisch/Idylle: in Ästhetische Grundbegriffe, historisches Wörterbuch in
                                      sieben Bänden, hg. v. Karlheinz Barck et al. Bd. 3. Stuttgart: Metzler 2005. S. 119-138.
                                      Hier S. 119.
                                   42 Kuhlmann, Hauke: Die Idylle in der Lyrik der Gegenwart, in: Gerstner, Jan/Riedel, Chris-
                                      tian (Hgg.). Idyllen in Literatur und Medien der Gegenwart (Philologie und Kulturgeschichte;
                                      Bd. 6). Bielefeld: Aisthesis 2018. S. 63-80. Hier S. 63.

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                                                Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
                                                   © 2020 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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Brennen, Shreddern, Grillen

                                   Antibild im Sinne einer herausfordernden Negation der Tradition“43 fort.
                                   Im späten 18. Jahrhundert war es Salomon Gessner, der
                                       zwischen der Bewahrung der antiken Modelle und der Integration
                                       moderner – insbesondere psychischer – Elemente, zwischen Fiktionalität
                                       und Verweisen auf die äußere Realität, zwischen der Evokation einer zur
                                       Evasion einladenden imaginären Welt und dem Hindeuten auf die Kluft
                                       zwischen der dort herrschenden Harmonie und der Disharmonie der
                                       ständischen Gesellschaft44

                                   hinwies. In der ,neuen Naturlyrik‘ ist die Idylle zwar durchaus vorhanden,
                                   jedoch aber, wie schon etwa bei Peter Huchel, in aller Regel eine „trüge-
                                   rische, brüchige“,45 das Verhältnis zur Natur längst ambivalent.
                                       Wie lässt sich nun Klings Schrebergarten-Idylle, sein Gedicht geschre-
                                   bertes idyll, für mike feser aus dem Band geschmacksverstärker in dieses Feld
                                   einordnen? Dass es sich dabei weder um in Verse gepackte „nostalgische
                                   Weltabkehr“ noch um schlichte „Beschleunigungs- und Entfremdungs-
                                   kritik“ 46 handelt, dürfte schon beim ersten Lesen oder Hören offenkundig
                                   sein. Ist aber das Idyllische bei ihm nur noch postmodernes Zitat? Dient
                                   das Idyll im Titel lediglich als „Frame“?47 Oder ist Klings Kleingarten nur
                                   „Schauplatz“, nur „spießbürgerliche[s] Setting einer Schrebergartenkolo-
                                   nie“?48
                                       Klings Kenntnis der Gattung und Tradition von Idylle bzw. des
                                   Idyllischen reicht sehr viel weiter, er behält, wie im Folgenden ausgeführt

                                   43 Ebd., 400.
                                   44 Böschenstein: Idyllisch/Idylle. S. 124.
                                   45 Götz, Thomas: Die brüchige Idylle. Peter Huchels Lyrik zwischen Magie und Entzauberung.
                                      Frankfurt a. M.: Peter Lang 1999. S. 171.
                                   46 Gerstner, Jan/Riedel, Christian: Idyllen in Literatur und Medien der Gegenwart (Philologie
                                      und Kulturgeschichte ; Bd. 6). Bielefeld: Aisthesis 2019. S. 8.
                                   47 Böttcher, Philipp: Fake und narrative Struktur. Zu Thomas Klings Gedichten »geschrebertes idyll,
                                      für mike feser« und »weegee’s finger«. In: Ammon/Trilcke/ Scharfschwert (Hgg.): Das Gellen
                                      der Tinte, S. 349–362. Hier S. 352.
                                   48 Wesche, Jörg: Hortusskopie. Schauplatz Kleingarten in Klings, geschrebertes idyll für mike feser‘.
                                      In: von Ammon/Zymner (Hgg.): Thomas Kling, S. 49-60. Hier S. 54.

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                                                Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Friederike Reents

                                   wird, von der ersten bis zur letzten Zeile nicht nur die Entwicklung der
                                   Tradition genau im Blick, sondern führt diese hinter der Maske seines
                                   vermeintlich schnodderigen Tons mit modernem Gestus fort und über-
                                   bietet diese zugleich mit einem der Postmoderne nicht eigenen Engage-
                                   ment, was zuletzt auch die These vom postmodernen Zitat widerlegt. Die
                                   narrative Struktur des in vier Abschnitte untergliederten, aus 33 Zeilen
                                   bestehenden Gedichts, die dieses wie eine „Mikroerzählung[...]“ erschei-
                                   nen lässt, eignet sich bereits für die Anknüpfung an die antike episch-
                                   lyrische Gattung. Ein „Dabeigewesener“,49 also die typisch moderne
                                   „subjektive Perspektive auf den Idyllenraum“50, berichtet vom Ablauf und
                                   von den zum Teil sich parallel ereignenden Ereignissen eines gemein-
                                   schaftlichen Grillabends in einer Schrebergartenkolonie, die Stadtbewoh-
                                   nern die Möglichkeit eines quasiländlichen Naturerlebens schafft. Auf den
                                   ersten Blick könnte man meinen, es handele sich hier um die Fortschrei-
                                   bung des „Glücks im Winkel“, der „Schrebergartenidylle“ des 19. Jahr-
                                   hunderts, die hier nun als ironisch-parodistisch entlarvte Anti-Idylle prä-
                                   sentiert wird. Schrebergärtner führen naturgemäß nur ein partiell ,ländli-
                                   ches‘ Dasein, die buchstäblich pastorale Dimension im ursprünglichen
                                   Sinne hat darin keinen Platz. Gleichwohl greift Kling das pastorale Ele-
                                   ment mit seiner Frage „WER HAT DIE SCHÖNSTEN SCHÄFCHEN?“ auf,
                                   womit jedoch das männliche Dominanzverhalten im Hinblick auf den
                                   Wettstreit um die attraktivste weibliche Entourage (also nicht nur ein
                                   „Schäfchen“, sondern gleich mehrere) gemeint sein dürfte. Die Szenerie
                                   im Schrebergarten ist so überschaubar wie der durch Zäune und Regeln
                                   eingegrenzte Kleingarten selbst, wodurch auch die Anzahl der auch hier
                                   nicht ständisch Agierenden (hier durch markierte Zitate, wie etwa „lüft-
                                   chen wi / ausm ei gepellt“, „den schein ma wieder / losgewordn“, und bei
                                   der Tonbandaufnahme durch variierte Stimmen), wie im traditionellen
                                   Genre, nicht groß. Der Überschaubarkeit der Szenerie tut es auch keinen
                                   Abbruch, dass zwischen verschiedenen Schauplätzen explizit gewechselt

                                   49 Böttcher: Fake und narrative Struktur, S. 351.
                                   50 Böschenstein: Idyllisch/Idylle, S. 127.

                                   28
                                                Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Brennen, Shreddern, Grillen

                                   wird, nämlich zwischen dem Garten und dem darin gelegenen Binnen-
                                   raum, der unterkellerten Gartenlaube, in der über entsprechende Abbil-
                                   dungen und dort stattfindende Handlungen auch die Erotik Einzug hält,
                                   wenngleich diese nur noch wenig mit der idealisierenden Vorstellung
                                   sinnlicher Anziehung oder intimer Begegnung im Rahmen eines Schäfer-
                                   stündchens zu tun hat. Auch die für die Idylle typische „Kunstübung, ins-
                                   besondere [der] Gesang“ findet ihren Platz, zum einen in der Widmung
                                   des Gedichts an den Rave-DJ Mike Feser, der „insbesondere für die Tech-
                                   no-Variante des Hard Trance“51 steht, wodurch nicht zuletzt der „sprach-
                                   akustischen Ausdrucksdimension der Lyrik Klings musikalische Kontur
                                   [ge]geben“52 wird. Aber auch gesungen, besser gesagt: bierselig-haltlos „g
                                   / gröhlt“ wird im Kleingarten, nämlich „wildschwäne-rausch / aus aller
                                   mund“, das im Ersten Weltkrieg entstandene, ursprünglich melancholisch
                                   grundierte Soldatenlied Wildgänse rauschen durch die Nacht von Walter Flex,
                                   das sich zunächst in der Wandervogelbewegung verbreitete, durch die
                                   zackige, marschliedhafte Vertonung Ende der 1920er Jahre breit rezipiert
                                   und in der Folge nicht nur bei den Nazis, sondern später auch in der Bun-
                                   deswehr und bei Studentenverbindungen sowie bis in die 1970er Jahre im
                                   Schulunterricht beliebtes Liedgut war. Über das gemeinsame Essen, Trin-
                                   ken, Singen und Austauschen wird auch der Aspekt der Freundschaft
                                   aufgerufen. Der auch ästhetisch typisierte und organisierte dargestellte
                                   Binnenraum ist dabei von elementaren Auseinandersetzungen frei.
                                       Und doch ist die Wendung der Tradition alles andere als harmlos, es
                                   handelt sich um einen destruktionsästhetischen Akt, wie der für Kling
                                   typische Neologismus „geschrebertes“ zeigt, der nicht nur die Schreber-
                                   gartenidylle aufruft, sondern auch das Schreddern, also Zerstören und
                                   Zerkleinern, was in der Landschaftspflege ein gängiges Mittel ist, um
                                   Gartenabfälle nach der Arbeit zu entsorgen und zu recyclen. Das ehemals
                                   idyllische, friedlich-naive Naturerlebnis ist, so könnte man meinen, nur
                                   noch im Kleingarten möglich, die Tradition wird noch einmal aufgerufen

                                   51 Wesche: Hortusskopie, S. 57.
                                   52 Ebd., S. 53.

                                                                                                                 29
                                               Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
                                                  © 2020 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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Friederike Reents

                                   und zugleich geschreddert. Und nicht nur die Behandlung von Gattung
                                   und Sprache, auch die Szenerie selbst ist alles andere als friedlich, denn es
                                   wird – allerdings offenbar einvernehmlich – gegrölt, geprahlt, gelästert und
                                   gehetzt. Die für die Gessner’sche Idylle typische mimetische Darstellung
                                   der Szenerie bezieht sich hier kaum mehr auf die Natur, sondern auf den
                                   selbstbezogenen Umgang des Menschen damit. Natur kommt im Garten
                                   (anders als im evozierten Mallorca bzw. im Lied) nur als ebenfalls zerklei-
                                   nertes, in Alkohol eingelegtes Obst („erdbeerbowle“) oder Kompott bzw.
                                   als schlechter Geruch davon („kartoffelmuff“) vor, das zuletzt – samt
                                   „reingezogn[en]“ „leckerbissen“: „pfundweise fleischsalat“ und „bratn-
                                   saft“ – der Natur zurückgegeben wird, denn die „stachelbeeren“, also pars
                                   pro toto wohl die Stachelbeerbüsche, werden zuletzt noch „vollgereihert“.
                                   Von einem harmonischen Miteinander zwischen Mensch und Natur kann
                                   angesichts dieser Völlerei und mangelnden Wertschätzung nicht die Rede
                                   sein. Dass hier „seit acht gekokelt“, also um die Wette gegrillt („WER HAT
                                   DEN SCHÄRFSTEN / GARTNGRILL?“) und neben Bowle auch kräftig Bier
                                   getrunken (g / gröhtles fassbier und und und“) und dabei offenbar nicht
                                   viel Wert auf Tisch- und auch sonstige Manieren gelegt wurde, erfährt man
                                   durch politisch inkorrekte Witze über Behinderte („mongölchen“) und
                                   Homosexuelle („schwulenwitzchen“), durch schlüpfrige Details vom
                                   „nebnschau / platz“, „vaters hobby keller“ und durch das neonationalis-
                                   tisch-revisionistische Gerede („die ärmel hoch die fahnen später“, „WER
                                   HAT DAS GHETTO BOMBARDIERT?“), aber auch durch die Essensreste auf
                                   der Kleidung und an den Fingern („mit ketschuppfingern“) bzw. durch
                                   den Abfall im Gebüsch („pappteller leppern sich im rettich-/schattn“).
                                       Kling hat nicht nur die die doppelte pastorale Tradition (Bukolik und
                                   die Idyllendichtung) und die damit einhergehende öko-kritische Dimen-
                                   sion53 im Blick, sondern auch, dass sich das Idyllische in der Moderne auf
                                   durchaus ungute Weise „aufgespalten“ hat:

                                   53 Die ökokritische Dimension des Gedichts mit Verweis auf die Ende der 1980er Jahre
                                      durch Tschernobyl hoch brisante Atomproblematik wird an anderer Stelle dargelegt
                                      (Band Naturlyrik nach 1945, 2020; Handbuch Europäische Naturlyrik).

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                                              Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Brennen, Shreddern, Grillen

                                       Zum einen in seine ästhetische Verselbständigung, die mit seiner Bre-
                                       chung und zitathaften Zerstückelung einherging, zum anderen in seine
                                       quasi ideologische Vereinnahmung in Gestalt eines forcierten Heimat-
                                       Kults mit seiner spießbürgerlichen Kitschkomponente und bluttriefenden
                                       und allzu bodenständigen Depravierung.54

                                   Die zwischen den geltungs- und genusssüchtigen Gartengästen verhandel-
                                   ten Konflikte (Wettstreit, Deutungshoheit) werden in einen „gedanklich
                                   evozierten, nicht [mehr] unmittelbar präsenten Außenraum“,55 nämlich in
                                   besagten Raum der Geschichte projiziert, der lediglich aufgrund des zeitli-
                                   chen Abstands ein Außenraum ist. Der Schrebergarten-Schauplatz, auf
                                   dem wenige Jahrzehnte nach Auschwitz nazideutsche Lieder gegrölt, Min-
                                   derheiten herabgesetzt und Geschichtsklitterung betrieben wird, befindet
                                   sich auf deutschem, in mehrfacher Hinsicht besudeltem Boden, was histo-
                                   rischen Außenraum und geographisch-ideologischen Innenraum mitein-
                                   ander verschmelzen lassen. Die sichtbar werdenden ,Harmonieideale‘ die-
                                   ser Gesellschaft fußen auf dumpfem, Minderheiten ausgrenzendem Grup-
                                   penerlebnis.
                                       Wie genau sich Kling mit der Entwicklung und Rezeption der Tra-
                                   dition der Gattung auseinandersetzt hat, zeigt schließlich auch sein Wissen
                                   um die lange Zeit tradierte Übersetzung des Wortes „Eidillion“ mit „Bild-
                                   chen“ statt „kleines Gedicht“, was in der Folge zur Dominanz des Vi-
                                   suellen als Charakteristikum der Idylle führte. Innerhalb von Klings Ge-
                                   dicht gibt es bei genauerem Hinsehen mehrere solcher Bildchen oder En-
                                   klaven, deren idyllischer Anteil von Bild zu Bild abnimmt bzw. sich in das
                                   einer Anti-Idylle verkehrt: Neben dem möglicherweise auf einem der
                                   Urlaubsdias präsentierten oder sonst anderweitig evozierten Mallorca-Bild
                                   gibt es Vaters Hobbykeller-Vorrats-Kammer-Spiel, darauf folgt der als

                                   54 Görner: Spuren der Idylle, S. 30. Das im Titel enthaltene ,Schrebern‘ verweist nicht nur
                                      auf die Schrebergartenkultur, sondern vor allem auch auf ihren Namensgeber, den
                                      Hauptvertreter der ,schwarzen Pädagogik‘ Moritz Schreber und dessen psychisch kran-
                                      ken Sohn Daniel Paul. Für diesen Hinweis danke ich Judith Ryan und Peter Burgard.
                                   55 Mix, York-Gothart (2009): Idylle. In: Lamping, Dieter (Hg.): Handbuch der literarischen
                                      Gattungen, Stuttgart: Metzler 2009. S. 393-402. Hier S. 394.

                                                                                                                          31
                                               Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Friederike Reents

                                   Lied integrierte, durch die Rezeption und Performanz besudelte Flug der
                                   Wildschwäne und schließlich, am untersten Ende, das im Zitat aufgeru-
                                   fene Ghetto als für Minderheiten vorgesehene Enklave, über deren Bom-
                                   bardierung man sich im Gedicht auf gleicher Ebene streitet wie über den
                                   schärfsten Grill oder die schönste Begleitung. Beim Zeigen der Bilder ist
                                   nicht die verweilende Anschauung eines besonders gelungenen Bildes von
                                   Interesse, sondern das Abfackeln eines aus vielen Einzelbildern bestehen-
                                   den Feuerwerks. Das hervorgehobene Zitat „AUF EINZEL- / BILDER MUSS
                                   VERZICHTET WERN“ lässt sich nicht nur auf das Durchjagen der Urlaubs-
                                   dias beziehen, sondern, gattungstheoretisch, als Absage an die Idyllen-,
                                   also Bildchentradition lesen, an deren Stelle das „horrorvideo“ getreten
                                   ist.
                                        An dem Gedicht geschrebertes idyll lässt sich also zeigen, wie Klings
                                   Kenntnis der Tradition unabdingbare Voraussetzung zur Schaffung des
                                   Gedichts ist, die damit einhergehende, wenn auch stark variierte Wieder-
                                   holung Voraussetzung von Differenz. Seine Art und Weise des Aufgrei-
                                   fens, Entgrenzens und Erneuerns geht jedoch noch einen Schritt weiter,
                                   da er mit Hilfe der bei ihm zu beobachtenden Poetik letztmaliger Diffe-
                                   renz die Gattung und die Idee des Idyllischen an ein Ende zu bringen ver-
                                   sucht. Das Durchjagen der Einzelbilder entspricht hierbei dem schred-
                                   dernden ,Schrebern‘ oder auch schrebernden Schreddern der sich zuneh-
                                   mend als Anti-Idylle entpuppenden Szenerie, die am Ende und im über-
                                   tragenen Sinne unverdaut erbrochen wird, so dass der Leser idealerweise
                                   sozial-, geschichts- und ökokritisch zu denken und ggf. auch zu handeln
                                   beginnt.

                                   III. Grillen
                                   Das Gedicht bietet uns aber schließlich auch noch eine versteckte, durch
                                   die Verfremdung ironisierte, selbstermächtigende Geste des Dichters
                                   selbst an. Traditionell verbirgt sich hinter der Maske des Schäfers natürlich
                                   der Dichter selbst. So gesehen ist die hervorgehobene Frage nach dem
                                   schärfsten Gartengrill durchaus lesbar als Frage nach dem Dichter mit

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                                              Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Brennen, Shreddern, Grillen

                                   dem, um es salopp zu sagen, schärfsten Mundwerk – ein sich dem in den
                                   80er Jahren aufgekommenen „Bestenlisten-Fetischismus“56 verdanken-
                                   des, von Kling spöttisch kommentiertes Dichter-Ranking. Dass nun der
                                   zunächst abwegig erscheinende Gedanke, der in der Schrebergarten-Idylle
                                   aufgebaute Grill könne dem dichterischen Handwerk entsprechen, zutref-
                                   fen könnte, legt der Abschnitt über Harsdörffers „Inszenierte Fotografie“
                                   aus Klings Berliner Vortrag zum 17. Jahrhundert nahe, bei dem der „in idylli-
                                   scher Flusslandschaft“ sitzende Mann sich mit dem Grillen beschäftigt:
                                       Grillen? Grillen: vor sich liegen hat er zwei Halbkreise gebildet aus
                                       Steinchen – mit beschrifteten Kieseln, jeder mit einem Buchstaben be-
                                       zeichnet. Er ist im Begriff, nach einem der selbstbeschrifteten Sprach-
                                       steine zu greifen, um ihn zu versetzen. Hier macht jemand Anagramme,
                                       ein Hauptvergnügen der auf ars combinatoria versessenen Barockautoren.57

                                   Dieser Mann, so heißt es weiter, „ist Schäfer“. Und zwar einer, der nicht
                                   nur am Fluss lagert, sondern – und hier schließt Kling die Jahrhunderte
                                   kurz –: „Am Datenstrom“. Und das macht ihn (und nicht nur ihn) zum
                                   „Dichter, in der zeittypischen, inflationär benutzen Hirtenmaske“, zu
                                   einem der „Bukolik-Junkies“, die er auch in der Gegenwartslyrik als „Scha-
                                   fe im Schafspelz“ ausmacht, die „zartblökend ihre Stimme zu erheben
                                   suchen“.58 Der Mann dagegen ist „Dichterschäfer“ à la Harsdörffer, der
                                   seinen „Stab (Buchstab? Brennstab?) […] in den Sprachfluß hält“ und der
                                   seine „fromm im Wiesengrund“ grasende „Herde […] hinter sich gelas-
                                   sen“ hat.59 Die im geschreberten Idyll auf Überbietung und Deutungshoheit
                                   angelegten, graphisch hervorgehobenen Fragen „WER HAT DEN SCHÄRF-
                                   STEN GARTNGRILL? / WER HAT DIE SCHÖNSTEN SCHÄFCHEN? WER /

                                   56 Kling, Thomas: Spracharbeit. Botenstoffe. Berliner Vortrag über das 17. Jahrhundert, in: ders.:
                                      Botenstoffe. Köln: Du Mont 2001. S. 51-69. Hier S. 51.
                                   57 Ebd., S. 64.
                                   58 Ebd., S. 65.
                                   59 Die Rede von der fromm grasenden Schäfchen-Herde wirft u.a. die Frage nach der
                                      Geschlechterspezifik einer solchen Poetik letztmaliger Differenz auf, der an anderer
                                      Stelle nachzugehen sein wird.

                                                                                                                                 33
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                                   HAT DAS GHETTO BOMBARDIERT?“               verbindet die Poetik letztmaliger
                                   Differenz am Beispiel der Bukolik- bzw. Idyllentradition im Bild dessen,
                                   der das Feuer beherrscht, sei dies der Besitzer des schärfsten Grills bzw.
                                   der schärfsten Zunge oder aber, geschichtskritisch gewendet, der
                                   Bomberpilot, dessen Bombardement das Ghetto in Flammen aufgehen
                                   lässt. So wie im Gedicht Das brennende Archiv eben dieses in Flammen auf-
                                   geht, wird in geschrebertes idyll die Idyllentradition letztmalig aufgerufen,
                                   bevor sie geschreddert wird. Klings selbsthistorisierender Anspruch ist
                                   mittlerweile eingelöst worden, da sich die Bedeutung seines Werks durch
                                   eine anhaltende wissenschaftliche Auseinandersetzung unwiederbringlich
                                   in die Geschichte deutschsprachiger Lyrik eingeschrieben hat. Anders als
                                   es in der Einleitung des jüngsten Interpretationsbandes zu Klings Lyrik
                                   heißt, nämlich, dass er es wohl „kaum geahnt“ habe, dass sein Werk „ein
                                   Vierteljahrhundert Jahre später einmal das Interesse der Literaturwis-
                                   senschaft auf sich ziehen würde“,60 scheint er es – nicht zuletzt dank seiner
                                   Poetik letztmaliger Differenz – nicht nur geahnt, sondern vielmehr
                                   gewusst, oder es wenigstens darauf angelegt zu haben.

                                   60 Frieder von Ammon/Rüdiger Zymner: Vorbemerkung, in: dies. (Hgg.): Thomas Kling.
                                      Interpretationen, S. 8f.

                                   34
                                              Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
                                                 © 2020 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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