BULLETIN DER BUNDESREGIERUNG - Nr. 125-1 vom 7. Oktober 2021

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BULLETIN
                                DER
                          BUNDESREGIERUNG
                           Nr. 125-1 vom 7. Oktober 2021

Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

zur Verleihung der Ehrenbürgerwürde des Landes Berlin an den Bundespräsidenten
am 4. Oktober 2021 in Berlin:

Ich weiß: Die Reihe der Berliner Ehrenbürger ist lang, und sehr viele Namen auf dieser
Liste kennt man auch weit jenseits von Wannsee und Ahrensfelde, von Frohnau und
Schmöckwitz. Es sind Namen wie Alexander von Humboldt und Heinrich Schliemann,
Robert Koch und Rudolf Virchow, Marie Elisabeth Lüders und Max Liebermann, Willy
Brandt und Anna Seghers, Michail Gorbatschow und Margot Friedländer, um nur we­
nige zu nennen, und viele meiner Vorgänger im Amt des Bundespräsidenten. In eine
solchen Reihe gestellt zu werden, in einem Atemzug mit so manchen meiner größten
Vorbilder, das lässt mich heute dankbar und vor allem demütig vor Sie treten. Demütig
nicht zuletzt, lieber Michael Müller, weil ich ja gar kein waschechter Berliner bin!

Ob waschecht oder eingebürgert: Jeder hat so seine Geschichte mit Berlin. Meine be­
ginnt in den 1970er Jahren, ich war damals Student in der hessischen Provinz. Von
dort aus gesehen lag Berlin ganz am Rande des bekannten Universums und war doch
das Zentrum der Welt, der Ort vieler Träume – oder von heute aus gesehen: eher
Träumereien.

„Herr Lehmann“ war noch lange nicht geschrieben, Sven Regener noch nicht mal in
Berlin, aber es gab sie haufenweise, die Geschichten über das legendäre Berlin, über
Kneipen, Hinterhoftheater und Happenings. Da musste man hin, jeder kannte einen in
Berlin, am besten eine Wohngemeinschaft. Und natürlich sind wir dann auch hin, im­
mer wieder – obwohl es doch eigentlich so beschwerlich war: über Herleshausen oder
Helmstedt – und jedes Mal war einer im Auto dabei, der seinen Pass vergessen hatte
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oder so tief im Rucksack vergraben hatte, dass beim Suchen die Schweißperlen wuch­
sen, je näher wir der Grenze kamen. Auch die, die an Papiere gedacht hatten, waren
nicht frei von dieser seltsamen Beklommenheit, wenn man an der Grenze stand und
lange keiner kam – oder aber: die unbarmherzige Kontrolle gar kein Ende nehmen
wollte. Aber dann: endlich auf der Transitstrecke! Drewitz ab, vorbei am Imbiss Niko­
lassee, den es, glaube ich, heute noch gibt, quer durch die Stadt, Unter den Eichen,
Rheinstraße, Hauptstraße, Goebenstraße, Yorckstraße – nach Kreuzberg. Zwischen
61 und 36, das Land unserer blühenden Fantasien, untergekommen in einer WG am
Mariannenplatz und abgetaucht in den Cafés und Kneipen rundherum – alles chao­
tisch und faszinierend zugleich.

Jahre später lief im „Slumberland“ von den „Fehlfarben: „Geschichte wird gemacht“ –
und was für eine wurde das! Eine Geschichte, die Anfang der 1980er kaum jemand für
möglich gehalten hätte: die Geschichte von Mauerfall und Friedlicher Revolution –
während ich an den letzten Seiten meiner Doktorarbeit schrieb.

Im Januar 1990 – es war bitterkalt – rief Wolfgang Ullmann in Potsdam und Berlin
junge Wissenschaftler zusammen, um über die Zukunft im vereinten Deutschland zu
diskutieren. Nicht nur ich habe schnell gespürt, dass dies nicht die Zeit für längliche
akademische Debatten war, sondern eine Zeit der Tat. Die Zeit drängte, weil die Men­
schen drängten – auf schnelle Einheit. Und die musste sehr konkret in Vereinbarungen
und Verträgen ausgehandelt werden. Das weiß niemand besser als ein anderer Eh­
renbürger Berlins, lieber Wolfgang Schäuble.

Meine Zukunft in der Wissenschaft, die ich mir erträumt hatte, habe ich in diesem ge­
schichtlichen Moment suspendiert und mich für die Politik entschieden – vorläufig und
vorübergehend, wie ich dachte. Aber es gab natürlich keinen Weg zurück. Und dass
Hannover und die dortige Staatskanzlei am Ende eine Zwischenstation – eine für mich
ganz wichtige Zwischenstation – auf dem Weg in die Hauptstadt sein würden, das
habe ich ebenso wenig geahnt.
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Erst 1999 bin ich dann endgültig hier angekommen, mit den vielen Umzugswagen der
Bundesregierung – und ein Jahr später mit einem einzelnen für meine Familie. Ironi­
scherweise begannen meine Berliner Jahre ausgerechnet am ehemaligen Sitz des
Staatsrats der DDR in den Räumlichkeiten des Staatsratsvorsitzenden Honecker – mit
Blick auf den Palast der Republik und mongolischer Ziegenledertapete im dunklen
Flur.

Anderthalb Jahre später ging es dann ins neue Kanzleramt am Spreebogen, mit Blick
über den Tiergarten, das Brandenburger Tor, ganz ohne Mauer und Stacheldraht, aufs
neu gestaltete Reichstagsgebäude – und jahrelang auf eine Riesenbaustelle, wo jetzt
der Berliner Hauptbahnhof steht. Das faszinierende nächtliche Schauspiel, aufgeführt
von Dutzenden polnischen Schweißern beim Aufbau der Stahlträger, hat sich mir fest
eingeprägt.

2005 war ich wieder zurück am Werderschen Markt und zurück in Räumlichkeiten alter
SED-Herrlichkeiten, diesmal am ehemaligen Sitz des Zentralkomitees, auf dem Flur,
wo einst Honecker, Erich Mielke, Harry Tisch und viele andere ihr zynisches Geschäft
betrieben und heute das Auswärtige Amt seinen Sitz hat. Das Verschwinden des Pa­
lasts der Republik, den Wiederaufbau des Stadtschlosses, habe ich in den acht Jah­
ren, die ich Deutschland in der Welt vertreten durfte, von dort aus beobachtet.

Für meine Familie und mich ist Berlin längst unser Zuhause. Meine Tochter ist hier zur
Kita gegangen und großgeworden. Eingeschult wurde sie in Zehlendorf, in der Dorfkir­
che – und in der Kirchstraße – allerdings in Moabit – wacht meine Frau mit ihren Kol­
leginnen und Kollegen über die Rechtmäßigkeit Berliner Verwaltungsentscheidungen.

Einundzwanzig Jahre sind wir schon in Berlin. Berlin ist uns längst zur Heimat gewor­
den. Das war nicht schwer. Berlin ist bekanntermaßen tolerant gegenüber Neuan­
kömmlingen. Ein einziger Blick in die lange Liste der Ehrenbürger bestätigt das: sehr
viele Zugereiste! Neulinge mag das vielleicht verblüffen, wenn sie zum ersten Mal der
ausgesuchten Herzlichkeit der Berliner Schnauze begegnen.

Ich erinnere mich an meinen ersten Sonntag in Berlin und den ersten Besuch beim
Bäcker in der Nachbarschaft, wo ich ganz arglos zwei Brötchen bestellte. Das Gesicht
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der Verkäuferin verdüsterte sich. Mit offen zutage getragener Empörung antwortete
sie: „Sonntags ham wa keene Schrippen, da ham wa nur Bagetten!“ Wer wollte da
noch ausgefallene Wünsche haben?

Will sagen: Neuankömmlinge fühlen sich also schnell pudelwohl in Berlin, und das
nicht erst seit den coolen 1990er Jahren oder den 2000ern, als die Schwaben, Hanse­
aten und all die anderen Stämme der deutschen Lande in einer Art postmodernen
Völkerwanderung den halben Berliner Altbaubestand in Beschlag genommen haben.

Nein, Berlin ist schon etwas länger ein Sehnsuchtsort für die, denen es anderswo zu
eng geworden ist, die tiefer nachdenken, weiter forschen, höher greifen, die etwas be­
wegen oder anders leben wollen.

Denken wir an den Prenzlauer Berg in Ostberlin, dieses wichtige Zentrum der Regime­
kritikerinnen und Bürgerrechtler, Künstlerinnen und Kirchenleute in der damaligen
DDR, deren Widerstand die Mauer ins Wanken brachte und die Teilung der Stadt und
des Landes überwinden half.

Denken wir an das Kreuzberg, das Schöneberg, das Charlottenburg der 1960er,
1970er und 1980er Jahre, an Wehrdienstverweigerer aus Westdeutschland und Frie­
densaktivistinnen aus Amerika und David Bowie aus dem Himmel der Musik.

Denken wir an die wilden 1920er Jahre, die in Berlin ein ganz besonderes kulturelles
Feuerwerk entfacht haben, mit dem Sound von Friedrich Holländer – geboren in Lon­
don – und von Kurt Weil – geboren in Dessau.

Denken wir an die preußische Hauptstadtzeit, als der andere Humboldt, Wilhelm, die
Berliner Universität gegründet hat, die heute nach dem berühmten Bruderpaar benannt
ist und die Berlin zum Zentrum von Geist und Wissenschaft gemacht hat.

Denken wir an 1848, als die Berliner für Demokratie, Freiheit und soziale Gerechtigkeit
auf die Barrikaden gingen, die Arbeiter, Handwerksgesellen und Studenten aus vielen
Teilen Deutschlands, denken wir an den Thüringer Tierarzt Friedrich Ludwig Urban,
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der damals die wichtige Barrikade zwischen Schloss und Alexanderplatz verteidigte
und vielen Aufständischen das Leben rettete.

Und denken wir an die 60 Jahre seit dem Anwerbeabkommen mit der Türkei, an die
sogenannten Gastarbeiter, an die Studierenden, die Kreativen, denken wir an die Tau­
senden Menschen und Familien aus aller Herren Länder, für die Berlin heute Heimat
ist, deren Kinder auf Berliner Schulen gehen, auf Berliner Spielplätzen spielen und bei
einem der vielen Berliner Fußballclubs trainieren gehen.

Ja: Das Fremde, das Andere, das Neue nicht abzustoßen und auszuschließen, son­
dern es hungrig aufzunehmen und neugierig einzusaugen, diesen Sauerstoff, den jede
Millionenstadt braucht, um echte Metropole zu sein – diese Offenheit zeichnet Berlin
aus wie kaum eine andere Stadt in Deutschland, die ich kenne.

Also, wenn ich Kazim Akbogas berühmten Songtext für die ebenso berühmte Berliner
Verkehrsbetriebe zitieren darf: „Is' mir egal“ – das ist keine Absage an die Mitmensch­
lichkeit. Ganz im Gegenteil, es ist die selbstbewusste Gelassenheit der Berliner ge­
genüber dem Anderen, dem Neuen, dem Fremden. Eine Gelassenheit, die Freiheit
zulässt.

Und vergessen wir nie: Diese Freiheit, die ist wahrlich nicht vom „Himmel über Berlin“
gefallen, sondern sie wurde hart erkämpft. Von alliierten Soldaten, Straße für Straße,
in einer Stadt, die bis Mai 1945 in weiten Teilen zerstört worden war im hier erdachten
und entfesselten Zweiten Weltkrieg. Von den Piloten der unzähligen Rosinenbomber,
die während der Blockade von 1948 den Westen der Stadt mit dem Nötigsten versorg­
ten. Und von mutigen Berlinerinnen und Berliner selbst, immer wieder im Lauf der Ge­
schichte und zuletzt im Jahr 1989, als die Berliner Mauer endlich zum Einsturz ge­
bracht wurde.

Gerade mal seit dreißig Jahren – im Grunde ein Wimpernschlag – ist die jahrhunder­
tealte Berliner Geschichte die Geschichte eines freien, wiedervereinten, demokrati­
schen Berlins. Und ich verneige mich, als neuster Ehrenbürger dieser Stadt, vor allen,
die vor mir kamen und die dieses freie und vereinte Berlin errungen haben.
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Mit dem Humboldt Forum, gleich hier um die Ecke, haben wir vor wenigen Tagen einen
Ort eröffnet, der – hinter seinen monumentalen barocken Fassaden – wie kein zweiter
für diese Offenheit stehen könnte: für Debatte, für kritisches und selbstkritisches Den­
ken und für die Auseinandersetzung mit der Welt. Ein hoher Anspruch. Für Berlin und
für unser Land hoffe ich sehr, dass er eingelöst wird.

Ihnen brauche ich gar nicht erst zu erklären, wie viele Herausforderungen ins Haus
stehen, wenn eine Stadt so magnetisch auf die Menschen wirkt: vom Wohnungsbau
über die Schulpolitik und die Bürgerservices bis zur öffentlichen Ordnung. Deshalb hat
es niemanden überrascht, dass diese Themen im jüngsten Landeswahlkampf eine
große Rolle gespielt haben. Und jetzt, nach der Wahl, ist es Aufgabe der Politik und
derjenigen, die Verantwortung übernehmen, für einen Ausgleich der vielen verschie­
denen Interessen zu sorgen, es zu versuchen und das jeden Tag.

Als Bundespräsident bin ich vor allem anderen froh und dankbar, wie lebendig und
vielfältig und zupackend die Demokratie in dieser Stadt ist – das haben diese Wochen
und Monate auf jeden Fall bewiesen!

Ja, werden Sie sagen, aber in Berlin klappt doch nicht immer alles! Stimmt. Eins stimmt
aber auch: Wenn es nicht klappt, dann kriegt es in dieser Stadt wirklich jeder mit, der
nicht aktiv weghört – und ganz Berlin diskutiert darüber. Für eine lebendige Demokra­
tie, lieber Michael Müller, liebe Mitglieder des Abgeordnetenhauses, kann man sich
eigentlich keine aufgewecktere und kritischere Stadtgesellschaft wünschen, als wir
hier in Berlin haben.

Aber mindestens ebenso wichtig für die Demokratie wie eine diskussionsfreudige
Stadtgesellschaft ist das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in ihren Staat, sind
starke Institutionen und verlässliche demokratische Prozesse. Und das darf uns allen
nicht egal sein – nicht jetzt und auch künftig nicht!

Wie aufgeweckt, wie offen, wie lebendig diese Stadt ist, das merke ich bei allen meinen
Terminen in der Stadt, ob in den Kiezschulen oder in den Opernhäusern, ob in den
alten Genossenschaftssiedlungen der 1920er Jahre oder in meiner Nachbarschaft, der
Nachbarschaft von Bellevue, in Moabit. Dort, im Hansaviertel, steht auch das Grips-
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Theater, wo seit 1986 die „Linie 1“ aufgeführt wird, diese einmalige Berlin-Revue über
eine Frau, die zum ersten Mal in Berlin ankommt.

Die, die schon einmal dort waren, erinnern sich, im ersten Song heißt es: „Sechs Uhr
fünfzehn, Bahnhof Zoo / Ich steh und atme, ganz tief ein / Es riecht nach Großstadt,
nach Ruß und Abenteuer / Nach Kino, Weltkrieg und Benzin / Schicksal und“ …naja…
„Wahnsinn: das isse / Die Luft von Berlin.“

Berlin, das ist Leben im Kiez und Leben mit der Welt. Das ist große Bühne und Hinter­
hof. Das ist Kultur und Kreativität. Das ist Kebab und Currywurst. Ich mag Berlin – mit
allen seinen Ecken und Kanten, mit seinen Menschen, die das Herz auf der Zunge
tragen.

Ich wünsche dieser Stadt, meinem Berlin, der Ort von Träumen und Träumereien zu
bleiben. Ich wünsche mir, dass die geballte Kraft dieser Stadt weiterhin Start-ups und
große Unternehmen anzieht – und dass alle Berlinerinnen und Berliner ihren Anteil an
Kultur und Bildung haben können, dass Berlin Platz bietet für Menschen aus allen
Schichten und Perspektiven für die ganz Jungen, die ihr Leben noch vor sich haben.
Und ich wünsche mir, dass Berlin weiter viele wunderbare Menschen anzieht, aus allen
Teilen des Landes und der Welt, und dass der eine oder die andere darunter dann
eines Tages genauso stolz wie ich heute hier stehen darf – als neue Berliner Ehren­
bürger.

Vielen Dank für diese sehr besondere Auszeichnung – es ist mir eine Ehre!

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