Bulletin Wissenschaft und Politik im Dialog Le dialogue entre les sciences et la politique - VSH-AEU
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Vereinigung der Schweizerischen Hochschuldozierenden VSH AEU Association Suisse des Enseignant-e-s d’Université Bulletin Wissenschaft und Politik im Dialog Le dialogue entre les sciences et la politique Mit Beiträgen von – avec des contributions de Interview mit Eva Herzog und Marcel Tanner Astrid Epiney Bernhard Kempen Claus Beisbart Michael O. Hengartner Jan-Egbert Sturm Servan Grüninger Anna Fill und Brita Bamert Didier Wernli, Bastien Chopard, Nicolas Levrat Martina von Arx und Sophie Girardin Martin Quack 47. Jahrgang, Nr. 2 – August 2021 47ème année, no 2 – août 2021 ISSN 1663–9898
Table of contents Swiss Federal Institute for Forest, Snow and Landscape Research WSL Professor of Climate Impacts in Mountain Regions The Department of Environmental Systems Science (www.usys.ethz.ch) at ETH Zurich and the Swiss Federal Research Institute WSL (www.wsl.ch) invite applications for the abovementioned position to establish a research group on Climate Impacts in Mountain Regions. The joint position will be affiliated with the WSL Institute for Snow and Avalanche Research in Davos (Canton Grisons) and ETH Zurich. Candidates should have an excellent international track record in research, be interested in both disciplinary as well as system-oriented multidisciplinary research, and be able to effectively lead a research team. Applicants are expected to have a background in the use and application of weather and climate model output, with strong expertise and experience in the application in Alpine regions. Process models and data analysis techniques shall be used to characterize, diagnose, and project impacts of extreme events and climate change on natural systems and subsequent hazardous processes and risks. The combination of models and observations, or applications of data assimilation techniques, should be part of the portfolio of the applicants. The successful candidate is encouraged to contribute to field measurement campaigns together with groups at WSL/SLF to support model development and validation. Topics of interest for the professorship include impacts on mountain ecosystems through processes associated with hazards such as droughts, storms, floods, and mass movements. Research conducted by the candidate should be relevant for mountain regions overall, but with a focus on the Alps. In general, at ETH Zurich undergraduate level courses are taught in German or English and graduate level courses are taught in English. Please apply online: www.facultyaffairs.ethz.ch Applications should include a curriculum vitae, a list of publications, a statement of future research and teaching interests, and a description of the three most important achievements. The letter of application should be addressed to the President of ETH Zurich, Prof. Dr. Joël Mesot. The closing date for applications is 30 September 2021. ETH Zurich is an equal opportunity and family friendly employer, values diversity, strives to increase the number of women professors, and is responsive to the needs of dual career couples. Titelbild: Schweizerfahnen / Joujou / pixelio.de Prognosen / Dieter Schütz / pixelio.de Virus / Bild von Gerd Altmann auf Pixabay Ribbon diagram / Karolina Michalska et al.: Crystal structures of SARS-CoV-2 ADP-ribose phosphatase: from the apo form to ligand complexes. In: IUCrJ 7(5), 2020, 814–824, Fig.1. https://doi.org/10.1107/S2052252520009653 OPEN ACCESS. ii Stellenausschreibung – Poste à pourvoir
Inhaltsverzeichnis – Table des matières Editorial 2 Gernot Kostorz Wissenschaft und Politik im Dialog Le dialogue entre les sciences et la politique Was Wissenschaft und Politik in der Krise voneinander gelernt haben 3 Ein Interview mit Eva Herzog und Marcel Tanner Wissenschaft und Politik: unterschiedliche Rollen und Verantwortungen 9 Astrid Epiney Von Distanz und Einmischung Über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik 11 Bernhard Kempen Wie entsteht wissenschaftlich fundierte Politik? 15 Claus Beisbart Wissenschaft und Politik brauchen ständigen Austausch 23 Michael O. Hengartner Die Wissenschaft unterstützt gerne – entscheiden muss die Politik 26 Jan-Egbert Sturm Das Franxini-Projekt sorgt dafür, dass sich Wissenschaft und Politik verstehen 30 Servan Grüninger Dialog Wissenschaft – Politik im europäischen Kontext 36 Anna Fill und Brita Bamert When Computational Power Meets Diplomacy: Training a New Generation of Scientists in Diplomacy and Diplomats in Science 42 Didier Wernli, Bastien Chopard, Nicolas Levrat Brücken bauen: Was junge Forscherinnen in die Politik einbringen können Bâtir des ponts : Ce que les jeunes chercheuses peuvent apporter à la politique 46 Martina von Arx und Sophie Girardin Dialogue Between Science and Politics: The Striking Angela Merkel: Physicist, Quantum Chemist and Politician 52 Martin Quack Stellenausschreibungen – Postes à pourvoir ii, 35, iii VSH-Bulletin Nr. 2, August 2021 | AEU-Bulletin no 2, août 2021 1
Table of contents Editorial innerhalb der Kulturgemeinschaft und der politischen Ver- bände handeln solle, – daß dies beides ganz und gar he- Gernot Kostorz terogene Probleme sind.» Zusammengefasst ergibt sich der immer noch gültige Anspruch auf «schlichte intellek- tuelle Rechtschaffenheit» (wobei «schlicht» als «klar ver- Photo: Heidi Hostettler, D-PHYS, ETH Zürich ständlich» zu lesen ist). Der Staat (samt seinem Stimmvolk) hingegen verfügt über die «sachlichen Betriebsmittel» zur Liebe Leserin, lieber Leser Durchsetzung politischer Ziele.2 Im «rationalen Staat» sol- Ideal wäre es, wenn es Experten, also Exponenten der Wis- len materiell unabhängige Politiker verantwortlich sein, senschaft, gäbe, die immer wissen, was richtig und zudem die drei Qualitäten besitzen müssen: «Leidenschaft – Ver- auch noch gut ist, und die uns dann gerecht regieren kön- antwortungsgefühl – Augenmaß. […] Ob man aber als Ge- nen. Es liegt nicht nur an der zunehmenden Erkenntnis der sinnungsethiker oder als Verantwortungsethiker handeln Komplexität unserer Welt und den aus ihrer Erforschung re- soll, und wann das eine und das andere, darüber kann man sultierenden intellektuellen Herausforderungen, dass diese niemandem Vorschriften machen. […] Nur […]sage ich of- Vorstellung utopisch bleiben wird, denn es gibt fundamen- fen: daß ich zunächst einmal nach dem Maße des inneren tale Einsichten, die einer Realisierung im Wege stehen. Der Schwergewichts frage, was hinter dieser Gesinnungsethik Konflikt zwischen den nie endgültigen Erkenntnissen der steht, und den Eindruck habe: daß ich es in neun von zehn nach Wahrheit strebenden Wissenschaft und dem politisch Fällen mit Windbeuteln zu tun habe, die nicht real fühlen, «Machbaren», das ethischen, materiellen und Akzeptanz- was sie auf sich nehmen, sondern sich an romantischen Sen- bedingten Begrenzungen unterliegt (besonders in demo- sationen berauschen.»3 Erfreulicherweise überwiegt in der kratischen Systemen), kann weder im charismatischen Kö- Pandemiediskussion weitgehend noch die Vernunft, und nigtum noch in der Expertokratie auf Dauer gelöst werden. man kann nur hoffen, dass auch in anderen Bereichen der So begnügen wir uns heute damit, dass sich «die Politik» Politik die Verantwortungsethik Richtschnur sein möge. (d.h., alle, die ordnend in gesellschaftliche Prozesse eingrei- fen) von «der Wissenschaft» beraten lässt. Das vorliegende Die Wissenschaft liefert das unterstützende Grundwissen Heft beleuchtet die Situation aus aktuellem Anlass durch für politische Entscheidungen, wie auch Michael Hengart- ein Doppelinterview mit der Ständerätin Eva Herzog und ner und Jan Egbert Sturm betonen. Wichtig im Dialog zwi- Marcel Tanner, der die «Public Health»-Expertengruppe der schen Wissenschaft und Politik ist auch die Information Covid-19 Science Task Force» geleitet hat. Grundsätzliche der weiteren Öffentlichkeit. Dazu bringt Servan Grüninger Einschätzungen durch Astrid Epiney, Universität Fribourg, das Projekt «Franxini» ins Spiel. Anna Fill und Brita Bamert und Bernhard Kempen, Universität zu Köln, Präsident des zeigen auf, wie staatliche Organe den Wissenschaften hel- Deutschen Hochschulverbands, schliessen sich an. fen können, hier, um den europäischen Forschungsrahmen am Leben zu erhalten. Didier Wernli, Bastien Chopard und Bewertungsproblematiken offenbaren sich im Rahmen eines Nicolas Levrat illustrieren den umgekehrten Fall, wie ange- Werte-basierten politischen Diskurses in Zeiten der post- hende Wissenschafts-Diplomaten mit modernen Metho- modernden Pluralität besonders deutlich; Claus Beisbart, den vertraut gemacht werden. Wiederum eine andere Pers- Wissenschaftsphilosoph, zeigt, dass eine Aufgabenteilung pektive eröffnen Martina von Arx und Sophie Girardin, die schon spätestens in der Zeit der Aufklärung diskutiert wur- auf die mögliche Unterstützung politischer Prozesse durch de und beleuchtet die Entwicklung, die uns von den Ideen junge Forschende eingehen. Schliesslich besteht eine durch- des Philosophenstaates der Antike unwiederbringlich ent- aus wünschenswerte Möglichkeit der Unterstützung der fernt hat. Sein Ideal ist kurz zusammengefasst: Wissenschaft Politik durch «die Wissenschaft» darin, gelegentlich quali- liefert Tatsachen «wertfrei», Politik handelt «rational» auf fizierte Mitglieder der «Community» an «die Politik» ab- der Basis von Wissen und realisierbar erscheinenden Zielen. zugeben. Eine solche Grenzüberschreitung kann und muss nicht jedes Mal im höchstmöglichen Regierungsamt enden; In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, wie zeitlos das von Martin Quack geschilderte Beispiel lässt sich wohl «modern» Max Webers Vorträge vor dem Freistudenti- kaum wiederholen, sollte aber anregend wirken. schen Bund in München 1917 bzw. 1919 noch heute wirken. So werden für «Wissenschaft als Beruf» wichtige Massstäbe Einen schönen Sommer und eine angenehme Lektüre gesetzt:1 Es gilt, «einzusehen, daß Tatsachenfeststellung, wünscht Feststellung mathematischer oder logischer Sachverhalte oder der inneren Struktur von Kulturgütern einerseits, und Ihr andererseits die Beantwortung der Frage nach dem Wert Gernot Kostorz der Kultur und ihrer einzelnen Inhalte und danach: wie man 2 Weber, Max: Politik als Beruf. Duncker & Humblot, München und Leipzig, 1919. 1 Weber, Max: Wissenschaft als Beruf [1917, erweitert 1919]. Duncker & Humblot, Exportiert aus Wikisource am 11. Juli 2021. München und Leipzig, 1919. Exportiert aus Wikisource am 11. Juli 2021. 3 Ibid. 2 VSH-Bulletin Nr. 2, August 2021 | AEU-Bulletin no 2, août 2021
Table of contents Was Wissenschaft und Politik in der Krise voneinander gelernt haben Ein Interview mit Eva Herzog* und Marcel Tanner** Die Wissenschaft liefert Daten und kann mögliche Entwicklungen aufzeigen, die Politik muss Entscheidungen fällen und verantworten. Diese «Arbeitsteilung» hat auch in der Corona-Pandemie funktioniert, wurde aber immer wieder einer kritischen Beobachtung unterzogen. Eva Herzog, Ständerätin Basel-Stadt (SP) und Marcel Tanner, Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz und bis Ende Januar 2021 Leiter der Experten- gruppe Public Health der Covid-19 Science Taskforce, beleuchten das Verhältnis zwischen Politik und Wissen- schaft und erläutern, welche Lehren für künftige Herausforderungen aus der Krise gezogen werden müssen. Interview: Astrid Tomczak-Plewka*** * Weiherhofstrasse 135, 4054 Basel. E-mail: eva.herzog@parl.ch Marcel Tanner, Eva Herzog, am Tag unseres Eva Herzog (Jg. 1961), Dr. phil. I, ist Ständerätin Basel- Gesprächs wird Bundesrat Alain Berset in den Stadt (SP). Nach ihrem Studium in Geschichte, Wirt- Medien mit dem Satz zitiert: «Ich habe die schaftswissenschaft und Spanisch an den Universitäten Wissenschaft zu wenig hinterfragt». Basel und Santiago de Compostela arbeitete sie als Was sagen Sie dazu? wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Forschungsstelle Marcel Tanner: Wir müssen einander nicht hinter- Baselbieter Geschichte. 1994/1995 war sie Koordinatorin des Vereins Frauenstadtrundgang Basel. 1995 promovier- fragen, sondern miteinander reden. Die Politik stellt te sie mit einer Arbeit über die Geschichte des Frauen- Fragen an die Wissenschaft, sie erfragt den neuesten turnens im Kanton Basel-Landschaft. Von 1995 bis 1999 war Herzog Mit- Stand des Wissens, ist interessiert am Wissen und glied des Leitungsteams und der Geschäftsleitung der Kulturwerkstatt am Nichtwissen. Der Bundesrat muss fragen, was Kaserne in Basel. 2000 arbeitete sie als freiberufliche Kulturveranstalterin die wissenschaftlichen Grundlagen sind, aber sicher und von 2001 bis 2004 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Vizerekto- rat Forschung der Universität Basel. Von 1999 bis 2003 gehörte Herzog nicht alles hinterfragen. Alles zu hinterfragen bedeu- dem Verfassungsrat des Kantons Basel-Stadt an. Von 2001 bis 2005 war tet nicht, dass jemand besonders kritisch ist, son- sie Mitglied des Grossen Rates und gehörte der Bildungs- und Kultur- dern dass jemand kein Vertrauen hat. kommission an. 2004/2005 präsidierte sie die SP-Fraktion im Grossen Rat. Eva Herzog: In dieser Absolutheit finde ich die Aus- Von 2005 bis 2019 war sie Regierungsrätin des Kantons Basel-Stadt und sage schwierig. Hinterfragen ist so ein negativer Be- Vorsteherin des Finanzdepartements. Bei den eidgenössischen Wahlen griff, es klingt nach insgesamt in Frage stellen, das 2019 wurde sie am 20. Oktober in den Ständerat gewählt. Eva Herzog lebt mit ihrem Partner und ihren zwei erwachsenen Söhnen in Basel. fände ich ganz falsch. Man soll Fragen stellen, etwa Photo: Martin Bichsel dazu, wie die Wissenschaft zu bestimmten Aussa- gen kommt. Die Wissenschaft ist ja als Erste bereit, ** Swiss TPH, Socinstrasse 57, 4002 Basel. transparent zu machen, was ihre Annahmen und E-mail: marcel.tanner@swisstph.ch Datengrundlagen sind und warum sie zu bestimm- Marcel Tanner (Jg. 1952), Dr. phil., ist Epidemiologe und ten Schlüssen kommt. Die Wissenschaft nimmt Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz. nicht für sich in Anspruch, die absolute Wahrheit Marcel Tanner erwarb einen Doktortitel in medizinischer gepachtet zu haben. Als Politikerin wiederum bin Biologie an der Universität Basel und einen Master in ich auf Informationen und Erkenntnisse der Wissen- Public Health an der Universität London. Bis zu seiner schaft angewiesen, die ich selber nicht haben kann. Pensionierung im Jahr 2017 war er Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Epidemiologie/Public Health und Ich muss sie nachvollziehen und verstehen können medizinische Parasitologie an der naturwissenschaft- und daraus meine Schlüsse ziehen. Für die politi- lichen und medizinischen Fakultät der Universität Basel. Als Forscher, schen Entscheidungen muss ich dann noch andere Gesundheitsplaner und Public Health Experte war er weltweit tätig. So Faktoren berücksichtigen als die rein epidemiologi- war er auch Mitversuchsleiter der ersten afrikanischen Malaria-Impf- schen Empfehlungen. Es gibt also ein dynamisches stoffstudien und Mitleiter der meisten grossen Interventionsstudien Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik, das in zu Malaria und Bilharziose in Afrika. In Tansania hat er das Health Institute Ifakara mit aufgebaut. Von 1997 bis 2015 war Tanner Direktor Fragen stellen besteht. des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts, heute ist er Tanner: Das Hinterfragen blockiert aber genau die- Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz. Von April 2020 bis sen wichtigen Dialog. Januar 2021 war er als Leiter der Expertengruppe Public Health Mitglied Herzog: Genau. der Covid-19 Science Taskforce. Er ist Mitglied und Berater in verschie- denen nationalen und internationalen Gremien und Stiftungen. Marcel Tanner lebt mit seiner Frau seit 1987 wieder in Basel. Photo: Annette Boutellier VSH-Bulletin Nr. 2, August 2021 | AEU-Bulletin no 2, août 2021 3
Table of contents Eva Herzog und Marcel Tanner | Was Wissenschaft und Politik in der Krise voneinander gelernt haben Liegt das nicht auch daran, dass Wissenschaft und Da stellt sich die Frage: Wie viel Wissen ist genug, um Politik eine andere Sprache sprechen? Die Politik daraus politische Handlungsoptionen abzuleiten? setzt oft auf Slogans, die Wissenschaft hingegen auf Erkenntnisgewinn und das konstante Überprüfen dieser Erkenntnisse. Herzog: Etwas plakativ würde ich tatsächlich sagen, die Sprache von Politik und Wissenschaft ist wie Feu- er und Wasser. Die Wissenschaft ist differenziert – so erwarte ich das zumindest – und die Politik muss zu- spitzen, kurze Botschaften formulieren. So lernen wir das. Dann gibt es natürlich auch Schattierungen: Es gibt auch Wissenschaftler, die finden, nur sie hätten Recht und es gibt differenzierte Politikerinnen. Tanner: Es ist schon eine andere Sprache, aber es ist nicht so, dass man sich nicht versteht. Das Problem besteht vielmehr darin, dass man vielleicht nicht be- reit ist, die andere Sprache zu lernen. Man muss sie ja nicht perfekt beherrschen. Aber man muss ver- stehen, wie ein Politiker zu einem Slogan kommt. Als Marcel Tanner: Man kann Handlungen nicht vertagen, bis Wissenschaftler darf man kein Purist sein und sagen, man alles weiss! Photo: Annette Boutellier ein Slogan taugt nie was. Umgekehrt muss ein Poli- tiker verstehen, dass ein Wissenschaftler das gegen- wärtige Wissen abwägt und in den Kontext setzt. Herzog: So allgemein lässt sich diese Frage nicht be- So kommen wir uns näher. Einer meiner wichtigsten antworten. Aber in der aktuellen Krise musste und muss die Politik schneller handeln, als sie es aufgrund der Entscheidungsgrundlagen sonst getan hätte. Das wurde in meinen Augen auch transparent dar- gestellt, aber die Bevölkerung hat trotzdem darauf reagiert wie auf die Wetterprognose, die eine ganz andere Datengrundlage hat und deshalb in ihren Vo- raussagen in der kurzen Frist viel präziser sein kann. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Der Punkt, dass wir genug wissen, war nie erreicht. Der Bundes- rat musste eigentlich aufgrund magerster Datenlage schnelle Entscheidungen fällen. Eine solche Politik ist natürlich auch einfach zu kritisieren. Tanner: Ich würde das nicht als magere Datenlage bezeichnen. Es ist einfach das, was man hat und kei- ne Entschuldigung dafür, nichts zu unternehmen. Das funktioniert aber nur, wenn man im kontinuier- Eva Herzog: Es gibt ein dynamisches Verhältnis zwischen Wis- lichen Dialog steht. Gerade in Ländern in Afrika und senschaft und Politik, das in Fragen stellen besteht. Asien habe ich gelernt, wie wichtig dieser iterative Photo: Martin Bichsel Prozess ist, damit Empfehlungen auch erfolgreich umgesetzt werden können. Bei uns sieht es etwas Leitsätze stammt vom britischen Epidemiologen Sir anders auf. Wenn es nämlich einer Gesellschaft bes- Bradford Hill: Man kann nie alles wissen, aber man ser geht, ist die Profilierung des Einzelnen grösser. hat zu jedem Zeitpunkt Wissen und kann die Umset- Viele Politiker und Wissenschaftler bei uns schauen zung und Handlungen nicht einfach vertagen, bis zu lieber in den Spiegel als durchs Fenster – und das be- dem Moment, wo man alles weiss. Man hat immer hindert den Dialog. genug Wissen, um die Umsetzung anzugehen, der Herzog: Das ist ein gutes Bild, das habe ich mir noch Bevölkerung etwas zu geben. Das ist auch eine zen- nie so überlegt, aber ja: Am Anfang dieser Krise sind trale ethische Frage. Das sehen viele Wissenschaftler wir alle erschrocken und sind zusammengestanden, zu wenig. Wir können uns nicht aus der Verantwor- und dann ging die Profilierung los – auch im Parla- tung stehlen, auch Teilerkenntnisse in den Kontext ment, das fand ich so überflüssig. unserer Gesellschaft zu setzen und weiterzugeben. 4 VSH-Bulletin Nr. 2, August 2021 | AEU-Bulletin no 2, août 2021
Table of contents Eva Herzog und Marcel Tanner | Was Wissenschaft und Politik in der Krise voneinander gelernt haben Gab es denn auch Lichtblicke? kann man das brechen? Nur mit Erklären. Auf die Herzog: Ja, ich will kein zu schlechtes Bild zeichnen. Pandemie bezogen: Wenn beispielsweise der Chef Es gab auch sehr gute Momente, wo Bundesrat, Ver- der Taskforce vor einer Woche etwas anderes ge- waltung, Parlament und Wissenschaft gemeinsam sagt hat als jetzt, kann man das schon erklären. Man nach Lösungen gesucht haben. Man hat sich Infor- muss zuhören und sagen, was in der Zwischenzeit mationen in der Wissenschaft geholt, die Verwal- passiert ist. Und da gibt es eben nicht nur das Vi- tung war sehr offen für die Vorschläge aus dem Par- rus, sondern hinzu kommt das Verhalten der Leute, lament, vor allem in den Kommissionen. Geholfen es wurden Schutzmassnahmen getroffen, es wurde hat auch der Zeitdruck: Als das Parlament wieder die Mobilität eingeschränkt – und es kann Ereignis- in der Verantwortung war, mussten wir sehr schnell se wie Ischgl geben oder eben nicht. Man kann von Gesetze verabschieden, uns zu Verordnungen äus- der Wissenschaft ja nicht verlangen, dass sie im Vo- sern etc. Da haben Wissenschaft, Politik und Verwal- raus weiss, wie sich die Leute verhalten. Ich erwarte tung Hand in Hand gearbeitet. von der Wissenschaft nicht, dass sie jede Woche das gleiche erzählt. Ich erwarte lediglich Erklärungen für Das heisst der Zeitdruck war förderlich für den Dialog? ihre Aussagen. Herzog: Ja, das habe ich so empfunden. Tanner: Weil man eben unter Zeitdruck noch viel Haben Sie als Politikerin denn im letzten Jahr nie mehr auf diesen iterativen Prozess angewiesen ist. an der Wissenschaft gezweifelt? Man kann nicht einfach sagen: Da ist was, mach. Herzog: Das ist mir nie in den Sinn gekommen. Ich Man brauchte diesen Austausch. meine zu wissen, wie Wissenschaft funktioniert. Mein Bild von Wissenschaft hat sich durch die Pan- In der Bevölkerung ist immer wieder der Vorwurf demie nicht verändert. Ich habe keinen Zweifel an zu hören, dass die Wissenschaft sich nicht einig ist, der Wissenschaft, aber ich habe mir zunehmend weil sich der Wissensstand – und demnach auch die Gedanken darüber gemacht, wie man den Dialog Information nach aussen – laufend ändert. verbessern kann, wie sich die Wissenschaft erklä- Wie kann man diesem Vorwurf begegnen? ren kann. Die Bevölkerung hat nämlich ein grosses Tanner: Ich fange mal am anderen Ende an, also bei Bedürfnis, das zu verstehen, und das ist ein interes- dem, was überhaupt bei der Bevölkerung ankommt. santes Phänomen. Die Wissenschaft muss sich damit Alle «Policy Briefs» der Taskforce – alle öffentlich auseinandersetzen zu verstehen, was die Leute für – sind in sich nämlich sehr kohärent. Der Eindruck Fragen haben, was sie wissen wollen. Und wer im La- der Inkohärenz ist oft dadurch entstanden, dass die bor sitzt, hat manchmal ein Kästchendenken. Politik Medien nur über Fragmente berichtet haben. Mir und Wissenschaft haben sich ja schon immer gegen- war deshalb beispielsweise immer sehr wichtig, dass seitig beeinflusst, aber jetzt haben wir sozusagen die man Fallzahlen oder Hospitalisierungen immer in Lupe auf dieses Verhältnis gelegt. den Kontext der öffentlichen Gesundheit rückt. Dass Tanner: Völlig einverstanden. Die grosse Diskrepanz man Befunde in den Kontext setzt, ist ganz wichtig. besteht ja zwischen Wissen und Verstehen. Wissen- schaftler müssen sich schon Gedanken darüber ma- Aber genau das ist ja offensichtlich nicht immer chen, wie sie ihr Wissen verständlich machen kön- passiert. Die «Policy Briefs» mögen ja in sich stimmig nen. Das tönt sehr simpel, ist aber entscheidend. sein, aber die liest ja niemand. Ich kann das anhand eines Beispiels illustrieren. Ich Tanner: Der Punkt ist doch: Wenn man zusammen- war lange in Tansania, wo immer wieder die Cholera, arbeitet – also in diesem Fall die Wissenschaft mit eine schlimme Durchfallerkrankung, wütete. Man der Politik – sitzt man im gleichen Boot. Und wenn hat also die Erkrankten aus den Dörfern in die Spi- man im gleichen Boot sitzt, vereint man die Kräfte täler in der Stadt gebracht, um sie dort zu behan- und stellt keine Forderungen auf, auch wenn man viel- deln. Das hatte zur Folge, dass dort neue Infektions- leicht nicht gleicher Meinung ist. Und hier kommen herde entstanden. Wir haben dann angefangen, die auch die Medien ins Spiel, insbesondere diejenigen Leute in den Dörfern zu behandeln, und zwar indem Personen, die Titel setzen. Die Blattmacher können wir Infusionsbeutel an Bäume gehängt haben, unter ein Interview mit einem dummen Satz völlig zerstö- denen die Menschen sassen. Ganz wichtig dabei ren. Sie müssen eben «das Blatt machen», und das war, dass die Leute verstanden, warum wir sie in den muss verkauft werden. Und an diesem Punkt wird Dörfern behalten habe: Sie haben gemerkt, dass wir eine Diskussion in Forderungshaltungen umgesetzt. sie nicht einfach in den Dörfern sterben lassen, son- Herzog: Früher, vielleicht noch vor 10 Jahren hät- dern dass sie dadurch zuhause eine Behandlung er- ten wir diese Diskussion ganz anders geführt. Und halten und nicht noch zusätzlich andere anstecken. zwar deshalb, weil heute alles Meinung, Ansichtssa- Wenn wir jetzt ein Jahr zurückdenken, hat es bei uns che ist – wer Recht hat, ist Verhandlungssache. Wie manchmal an dieser Übersetzungsleistung gefehlt, VSH-Bulletin Nr. 2, August 2021 | AEU-Bulletin no 2, août 2021 5
Table of contents Eva Herzog und Marcel Tanner | Was Wissenschaft und Politik in der Krise voneinander gelernt haben wenn es darum ging, die Massnahmen zu erklären. Informationen zu sammeln und zu bündeln. Weil Das habe ich beispielsweise bei Menschen festge- sich aber heute in den sozialen Medien alle in ver- stellt, die von sogenannten «Coronareflektierern» schiedenen «Bubbles» tummeln, erhalten sie andere beeinflusst sind. Viele haben Angst vor den Mass- Informationen, was die Illusion erzeugt, dass es kei- nahmen, aber wenn man sie ihnen erklärt, kann man ne Fakten gibt. Es ist alles Ansichtssache. Und das doch noch vieles bewirken – ausser man hat es na- macht den Dialog schwierig. türlich mit total fanatischen Verschwörungstheore- tikern zu tun. Und was wäre die Lösung? Herzog: Gruppen wie die so genannten Querden- Herzog: Zunächst mal einzusehen, dass dies der fal- ker verkünden sehr einfache Botschaften und errei- sche Pfad ist. Die Medien müssten in meinen Augen chen so die Leute. Es ist ja auch viel anstrengender, auch stärker subventioniert werden. Aber es gibt zu vermitteln, dass sich Erkenntnisse verändern, und keine einfachen Lösungen. man kann dadurch auch verunsichert werden. Ein- Tanner: Wir sprechen hier vom Dialog zwischen fache Wahrheiten hingegen beruhigen – auch wenn Politik und Wissenschaft – aber eigentlich gehören sie nicht viel mit der Realität zu tun haben – daraus die Medien wie in einem Dreieck zu diesem Dialog. schlagen ja auch manche politische Parteien Kapital. Das unterschätzt man oft. Man schafft falsche Duali- täten, hier die Wissenschaft, da die Politik, oder hier Wenn ich Ihnen so zuhöre, bekomme ich den die Politik und da die Medien. Man muss diese Ak- Eindruck, dass dieser Dialog zwischen Politik, teure zusammenbringen. Wissenschaft und Gesellschaft sehr anstrengend ist. Gibt’s keine Abkürzung? Wer ist denn eigentlich für den Dialog zwischen Tanner: Die Abkürzung ist, wenn diejenigen, die in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft zuständig? diesem Prozess involviert sind, am Boden der Reali- Jede/r für sich alleine? Oder ein zentraler Akteur? tät angeschraubt sind. Wenn die Wissenschaft nicht Tanner: Fragt sich auf welcher Ebene. Die Akade- einem Selbstzweck dient, wenn sie ein Problem lösen mien der Wissenschaften haben das staatliche Man- muss und auch eine Verantwortung für die Umset- dat, den Dialog zwischen Wissenschaft und Politik zung hat, ist es kein anstrengender Prozess. Denn dann und Wissenschaft und Gesellschaft zu pflegen. Das weiss man, dass man nicht einfach ein wissenschaft- ist in der BFI-Botschaft so definiert. liches Resultat liefern und sich dann aufregen kann, Herzog: Aber das weiss doch niemand, die BFI-Bot- dass die Prozesse nicht funktionieren. Da ist man vol- schaft lesen doch nur eine Handvoll Leute. ler Enthusiasmus dabei, und das ist nicht anstrengend. Tanner: Deshalb sage ich ja auch immer, die Wis- Herzog: Eine ganz wichtige Rolle spielt dabei der senschaft soll keine «policy prescriptions» machen Wissenschaftsjournalismus. Es ist ja paradox: Da sondern «policy relevant statements», Handlungs- wurden in den letzten Jahren x Redaktionsstellen ab- optionen aufzeigen und zur Diskussion stellen. gebaut und jetzt wundert man sich, warum so wenig Aber weg von Mandaten: In der Gesellschaft haben Knowhow vorhanden ist. Vielleicht ist es eine gesun- wir alle in unseren Rollen und Verantwortungen zu de Erkenntnis aus der Pandemie, dass Medienschaf- diesem Dialog beizutragen. Das war auch ein Prob- fende wichtige Übersetzerinnen und Übersetzer lem in Bezug auf die Science Taskforce: Jedes Mitglied wissenschaftlicher Erkenntnisse sind. kann quasi als Privatperson oder als Vertreter seiner Universität seine Einschätzung der Situation abge- Die Realität sieht doch aber oft noch anders aus. ben, teilweise mit sehr prononcierten Äusserungen. Warum? Und das führte wiederum zum falschen Eindruck Herzog: Die klare Trennung zwischen Fakten und einer Kakophonie. Womit wir wieder bei einer frü- Meinung, wie sie früher zumindest noch propagiert heren Frage sind: «Policy Briefs» sind kohärent, aber wurde, und die damit verbundene Übersetzungsleis- die lesen nur wenige, genau so wenige wie die BFI- tung, insbesondere auch in Bezug auf wissenschaft- Botschaft lesen… Und hier kommt eben wieder der liche Themen, ist nicht mehr anerkannt. Dafür wer- Wissenschaftsjournalismus ins Spiel: Journalistinnen den zu wenig Ressourcen zur Verfügung gestellt, weil und Journalisten müssen gut übersetzen können und die Medienhäuser finden, das liest niemand, es muss nicht einfach inkohärent Schlagwörter rauspicken. einfach sein und gute Schlagzeilen liefern. Das liegt Herzog: Auch Institutionen wie die Universität Basel, auch daran, dass mit dem Aufkommen des Internets die ich gut kenne, leisten einen wertvollen Beitrag zu jeder findet, er kann sich selber seine Informatio- diesem Dialog. Beispielsweise mit Veranstaltungen, nen holen. Das überfordert uns aber alle und viele die auf spielerische Art und Weise zeigen, was an der merken nicht, dass sie sich in einer Blase bewegen, Uni geschieht – ohne Abstriche am wissenschaftli- die immer wieder die gleichen Resultate liefert. Hier chen Anspruch. Damit regt man die Leute an, sich hätten die Medien eine wichtige Funktion, nämlich mit Wissenschaft auseinanderzusetzen. 6 VSH-Bulletin Nr. 2, August 2021 | AEU-Bulletin no 2, août 2021
Table of contents Eva Herzog und Marcel Tanner | Was Wissenschaft und Politik in der Krise voneinander gelernt haben Tanner: Das finde ich auch ganz wichtig. Die Wissen- aber gleichzeitig auch bescheiden. Keiner sollte den schaft lebt nämlich von drei Freuden: Der Freude an Anspruch haben, zum Krisenkommunikator zu wer- der Entdeckung, der Freude am Teilen – also dem den, wer bis anhin seine Modelle gemacht hat, sollte Unterrichten und Vermitteln –, und der Freude, an dies auch weiterhin tun – meinetwegen mit dem Fo- einer Veränderung beteiligt zu sein. Dieses Dreieck hat kus auf die aktuelle Thematik. Aber er sollte nicht mei- mich durch meine ganze Laufbahn getragen. Und das nen, dass er jetzt direkt zu Alain Berset rennen muss. zweite Dreieck ist dasjenige zwischen Lehre, Forschung Herzog: Es könnte ja auch eine heilsame Erfahrung und Umsetzung. Wenn man das den Menschen zeigen sein, weil die Wissenschaftlerinnen und Wissen- kann, fördert man das Interesse und den Dialog. schaftler die jetzt im Rampenlicht stehen, viel direk- Herzog: Die Wissenschaft ist ja nicht von unserem ter mit den Resultaten ihrer Forschung konfrontiert Alltag abgetrennt, sie ist ja unsere Welt. Und das sind, mit deren Interpretationen und mit den Emp- fängt schon in der Schule an. Wenn Kinder Fragen fehlungen die daraus abgeleitet werden. Sie tragen stellen, sollen sie eine Erklärung erhalten. also eine Verantwortung, die sie sonst nicht täglich Tanner: Das führt mich zu einem Punkt, der mir spüren. Vielleicht löst das bei Einzelnen ein Nach- wirklich wichtig ist. Viele Fragen, die wir hier dis- denken darüber aus, wie die Wissenschaft sich in der kutieren, hängen auch zusammen mit der Wissen- Öffentlichkeit positionieren soll. schaftskultur. Unsere Wissenschaftskultur ist noch zu sehr auf Personen und metrische Faktoren kon- Das würde bedeuten, dass sich Wissenschaft und zentriert und nicht auf die Gemeinschaft. Meine Er- Politik durch die Krise nähergekommen sind? fahrung hat aber immer gezeigt, dass die Gruppen- Herzog: Ja. Wir Politikerinnen und Politiker haben leistungen zählen und nicht der einzelne Professor, sofort Feedback auf das was wir tun oder nicht tun, der für sich eine Denkmalschnitzübung macht. Diese und die Wissenschaft hat diese Aufmerksamkeit Kultur ist eben auch schädlich für den Dialog. Des- normalerweise nicht. Auch die Wissenschaft ist ja wegen bin ich auch gegen das «Expertentum»– der nicht davor gefeit, uns dafür zu kritisieren, wie wenig «Experte» ist weniger Teil des Ganzen und nimmt faktenbasiert wir Entscheidungen treffen. Ich kann oft keine direkte Verantwortung wahr. Wichtiger ist, mir vorstellen, dass manche WissenschaftlerInnen dass jede und jeder Wissen und Erfahrung zur Prob- jetzt die Erfahrung gemacht haben, was es heisst, in lemlösung beitragen kann. der Öffentlichkeit zu stehen und Empfehlungen ab- Herzog: Ich störe mich nicht am Begriff «Experten- zugeben, ohne noch 100 Tage länger darüber nach- tum», aber ich spreche lieber von Arbeitsteilung. Ich denken zu können. habe das kürzlich einer Person versucht darzulegen, Tanner: Ich nenne diese Empfehlungen Handlungs- die mir erklären wollte, warum sie gegenüber Imp- optionen. Aber wenn ein wissenschaftliches «facts- fungen skeptisch ist. Ich habe sie gefragt: ‘Warum heet» am Schluss nur eine einzige Empfehlung weisst Du das jetzt besser als jemand, der sich schon auflistet, dann stimmt was nicht, dann ist es keine seit 20 Jahren wissenschaftlich damit auseinander- Wissenschaft, sondern eher schon irgendwas Akti- setzt?’ Ich bin froh darum, dass wir eine Arbeits- vistisches. Die Wissenschaft setzt in Kontext, wägt teilung haben und sich alle mit unterschiedlichen Risiken und Nutzen ab und so entstehen Hand- Themen befassen. Wir sollten einander darin auch lungsoptionen. respektieren. Ich finde es heute ganz schwierig, dass die Leute denken, sie müssten nur ein bisschen im Nun geht es ja nicht nur darum, auf Krisen zu Internet rumsurfen und wüssten es dann besser als reagieren, sondern auch proaktiv den Dialog jemand, der auf diesem Gebiet forscht. zwischen Wissenschaft und Politik und Gesellschaft Tanner: Nur zur Präzisierung: Mein Problem mit den zu fördern. Wie kann dieser Dialog dauerhaft «Experten» ist folgendes: Sie treffen viele gute Aus- installiert werden, und soll er das überhaupt? sagen, übernehmen aber keine Verantwortung für Tanner: Zu antizipieren, was auf die Gesellschaft die Umsetzung. zukommt ist eine Kernaufgabe der Akademien der Wissenschaften, die ein Milizsystem von 100‘000 Wenn wir auf die letzten Monate zurückblicken, Menschen repräsentieren. Und vielleicht sollten wir entsteht der Eindruck, dass die Wissenschaft uns dabei tatsächlich an den Ländern orientieren, vor allem in der Krise gefragt ist – erst war es welche die wissenschaftliche Politikberatung institu- die Klimakrise, jetzt die Covid19-Pandemie. Wie tionalisiert haben. Es braucht vielleicht nicht einen können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Chief Scientist wie Anthony Fauci. Aber es wäre gar damit umgehen, dass sie plötzlich so im Fokus der nicht schlecht, wenn ich gemeinsam mit anderen Aufmerksamkeit stehen? Trägern des Wissenschaftsystems beispielsweise mit Tanner: Jede und jeder sollte wissen, was sie oder er der Bundeskanzlei einen monatlichen Austausch zur Krisenbewältigung beitragen kann – engagiert und damit einen direkten Draht zum Bundesrat hät- VSH-Bulletin Nr. 2, August 2021 | AEU-Bulletin no 2, août 2021 7
Table of contents Eva Herzog und Marcel Tanner | Was Wissenschaft und Politik in der Krise voneinander gelernt haben te. So könnten wir aus unserer Position heraus sagen, Der Ständerat hat in der letzten Herbstsession ein wie wir die grossen Themen beurteilen, die auf unse- Postulat überwiesen, in dem der Bundesrat beauf- re Gesellschaft zukommen. Im angelsächsischen tragt wird, zu prüfen, «wie ein interdisziplinäres Raum, aber auch in Holland und Frankreich finden wissenschaftliches Netzwerk oder Kompetenz- die Konsultationen auf dieser Ebene statt. zentrum für Krisenlagen geschaffen werden kann». Herzog: Ich finde eine Institutionalisierung wäre gut, Wie geht es jetzt konkret weiter? es wäre schlecht, wenn wir jetzt alles vergessen wür- Herzog: Die Bundeskanzlei muss das Postulat bearbei- den, was funktioniert und was nicht. Ein rein infor- ten, ein erster Bericht mit «Lehren aus Covid» wurde meller Austausch versandet schnell nach der akuten bereits vorgelegt, weitere sind in Erarbeitung, die Ana- Krise. Wir waren am Anfang dieser Krise institutio- lyse findet jetzt also statt. Meines Wissens sollte der Be- nell nicht gut aufgestellt. Die Kommission für Pande- richt bis September nächsten Jahres verabschiedet sein. miebewältigung beispielsweise wurde gar nie einbe- Tanner: Angesichts der Dringlichkeit dieser Fragen rufen, dann hat man eine Taskforce einberufen, was muss das jetzt auch passieren. Und es passt jetzt auch. allerdings ein ziemlich holpriger Prozess war. Dann Herzog: Genau. Jetzt ist das Thema noch im Be- wurde über die Funktion dieser Taskforce gespro- wusstsein, man darf da nicht zu lange warten. chen – ist sie beratend tätig, muss sie das Gleiche Tanner: Ich dränge, denn ich bin da ein bisschen sagen wie der Bundesrat, soll sie vor oder nach dem gebrannt durch Ebola im Jahr 2014/2015, das auch Bundesrat reden, soll sie in der Öffentlichkeit auftre- eine weltweiter Gesundheitsnotfall war, aber nicht ten oder nicht etc. Das sind Fragen, die wir im Hin- bei uns. 2015 sind wir dann von einem Seminar zum blick auf künftige Herausforderungen klären müssen. andern gerannt, um über «lessons learnt» zu de- Also: Welche Organe hat der Bundesrat zur Verfü- battieren – und trotzdem waren wir nicht bereit. gung, wer hat welche Kompetenzen, was liegt beim Die Antwort auf solche Krisen ist ein Surveillance BAG, hat das BAG alle Ressourcen und Kompetenzen and Response System, wo man mit wenigen, essen- die es braucht, was könnte vielleicht auch delegiert tiell nötigen Daten erkennt, wenn sich was in Raum werden. Ich würde nicht für alle Krisen eine Riesen- und Zeit verändert, damit man rasch und gezielt re- organisation aufbauen, aber man könnte ein paar agieren und damit eine Antwort für das öffentliche Säulen etablieren, etwa Cybersicherheit, Gesundheit Gesundheitssystem geben kann. Dieses System hat und Pandemien und darunter eine Organisation, wo man schon bei vielen Gesundheitsproblemen, so dann klar ist, was am Tag x passiert. Da müssen Leute auch bei SARS 1 propagiert, und jetzt fast 20 Jahre parat sein, und es muss klar sein, wer welche Kompe- später taucht es wieder unter «lessons learnt» auf. tenzen hat, wer berät, wer entscheidet. Ich hoffe sehr, dass man das jetzt angesichts der ak- Tanner: Die Rollen und Verantwortung zu definie- tuellen Pandemie nun wirklich begriffen hat und ren ist ganz wichtig. Und dann Kompetenzzentren konsequent global umsetzt. mit spezifischem Knowhow einzubinden. Wir brau- chen einen Ansatz, der Cluster schafft und nicht die Welche Lehren haben Sie aus diesem Jahr für den ganze Welt umarmt. Dialog Wissenschaft und Politik gezogen? Herzog: Zunächst mal, dass dieser Dialog dringend nötig ist. Die Wissenschaft muss sich vermehrt Ge- danken darüber machen, was sie für ein Bild gegen- über der Bevölkerung abgeben will. Unsere Aufgabe in der Politik ist es, dass wir uns auf eine nächste Pande- *** Carl-Lutz-Weg 3, 3006 Bern. mie vorbereiten. Dass wir auf die Fragen, die konstant E-mail: astrid.tomczak@akademien-schweiz.ch diskutiert wurden, institutionelle Antworten haben. Tanner: Ich wiederhole mich: Dass wir kontinuierlich Estrid Tomczak-Plewka (Jg. 1971), lic.phil.hist., ist an diesem iterativen Dialog arbeiten und nicht die Hal- Wissenschaftsredaktorin bei den Akademien der Wissenschaften Schweiz, Redaktorin beim Forschungs- tung vertreten ‘take it or leave it’. Wir müssen schau- magazin «Horizonte» und freie Journalistin. Bereits en, wie wir Kompetenzzentren schaffen und mit be- während ihres Studiums in Deutscher Literatur, stehenden Institutionen abstimmen können, denen Geschichte und Politikwissenschaften an den Uni- wir Verantwortung übertragen können, damit wir versitäten Bern und Wien freie Einsätze als (Lokal- und Gesellschaft und Politik eine solide Grundlage für den Kultur-)Journalistin bei «Bund», «Berner Zeitung» und «Radio Förderband». Nach Studienabschluss Redaktorin bei der «Berner kontinuierlichen Dialog bieten können. Und dass wir Zeitung», 2006 bis 2011 Wissenschaftsredaktorin bei der Universität die Medien einbinden – nicht als Staatsmedien, die Bern, dort verantwortlich für «UniPress». 2011 Gründung von Textwerk monopolisierte Meinungen wiedergeben, sondern Me- Tomczak (www.dastextwerk.ch). dien, die genug Mittel haben um ihre Funktion wahr- Sie lebt mit ihrem Mann und den beiden Töchtern in Bern. nehmen zu können und die Medienvielfalt widerspie- Photo: Annette Boutellier geln und damit zum iterativen Dialog beitragen. n 8 VSH-Bulletin Nr. 2, August 2021 | AEU-Bulletin no 2, août 2021
Table of contents Wissenschaft und Politik: unterschiedliche Rollen und Verantwortungen Astrid Epiney* Seit nunmehr mehr als einem Jahr sind der Alltag – Aber auch wenn gesicherte Erkenntnisse über und das (Berufs-) Leben in der Schweiz und anders- Sachverhalte und Kausalitäten bestehen, folgen wo nicht nur von den vom Bundesrat verordneten hieraus nicht zwingend bestimmte politische Ent- Präventionsmassnahmen im Zusammenhang mit scheidungen. So ist es heute kaum zu bestreiten, COVID-19 geprägt. Die Pandemie ruft vielmehr da- dass Rauchen ein signifikantes Gesundheitsrisiko rüber hinaus eine auch allgemein höchst relevante darstellt, ohne dass man hieraus zwingend ein ge- Thematik in Erinnerung, nämlich die Rolle von Wis- nerelles Rauchverbot für alle ableiten muss. Auch senschaft einerseits und Politik andererseits. So sind kann man beim Betreten eines Gletschers in eine Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, insbe- Spalte fallen, ohne dass hieraus ein Verbot dieser sondere aus den Bereichen Virologie und Epidemio- Aktivität folgt. Diese in den beiden Beispielen evi- logie, höchst gefragt und quasi omnipräsent. Wie dent erscheinende Feststellung (obwohl im Fal- selten in den letzten Jahren scheint ein allgemeines le der Realisierung der erwähnten Risiken hohe Bedürfnis nach wissenschaftlichen «Sicherheiten» Kosten für die Allgemeinheit entstehen können) und klaren Handlungsanweisungen zu bestehen, gilt auch für komplexere Fragestellungen bzw. dies nicht nur für individuelles Verhalten, sondern Sachverhalte: So können z.B. aus dem (wissen- auch für politische Entscheidungen, und von der schaftlich belegten) Beitrag der Menschen zum Wissenschaft werden «klare» Aussagen erwartet, Klimawandel nicht logisch zwingend bestimmte was zu tun sei. politische Massnahmen abgeleitet werden. Viel- mehr geht es hier regelmässig um (häufig komple- Nur: Diese Erwartungen – die oft implizit davon aus- xe) Zusammenhänge, Güterabwägungen und ggf. gehen, dass es auf die sich stellenden Fragen eine bi- Risikobewertungen, entfalten doch bestimmte näre Antwort (falsch oder richtig) gibt – kann die Massnahmen immer eine Reihe von Implikatio- Wissenschaft nicht erfüllen, dies aus mindestens nen für andere Rechtsgüter oder Interessen. Diese zwei Gründen: Abwägungen sind aber von der Politik bzw. durch – Zunächst ist auf die häufig zu beobachtende Re- die zuständigen Organe und in den vorgesehenen lativität auch sehr seriöser wissenschaftlicher Er- Verfahren – selbstverständlich auf der Grundlage kenntnisse hinzuweisen: Auch wenn es zweifellos der verfassungsrechtlichen Vorgaben, die sich wei- wissenschaftlich klar nachgewiesene Sachverhalte terentwickeln können, wie jüngst ein Urteil des und Kausalitäten gibt, sind zahlreiche Fragen nicht deutschen Bundesverfassungsgerichts illustriert, abschliessend geklärt. Dies gilt insbesondere für welches aus den grundrechtlichen Schutzpflichten relativ neue und komplexe Fragestellungen, und recht weitgehende Verpflichtungen des Gesetzge- hiervon legen die unterschiedlichen Meinungen bers zum Ergreifen von wirksamen Massnahmen und Äusserungen von Wissenschaftlern betref- gegen den Klimawandel ableitet – vorzunehmen, fend diverse Fragen rund um COVID-19 ein bered- tes Zeugnis ab. Man mag zwar die Frage aufwerfen, * Universität Freiburg / CH, Rektorat, av. de l’Europe 20, 1700 Fribourg. warum sich die Wissenschaft äussert, wenn noch E-mail: astrid.epiney@unifr.ch Zweifel an der Belastbarkeit der Aussagen be- http://www.unifr.ch/ stehen, und anregen, die Wissenschaft möge sich Astrid Epiney, Dr. iur., LL.M., ist seit 1994 Professorin für zuerst einigen und sich erst dann zu Wort melden. Völkerrecht, Europarecht und öffentliches Recht an Ein solcher Ansatz verkennt aber die Eigenheit des der Universität Freiburg / CH, seit 2015 Rektorin der Entstehens wissenschaftlicher Erkenntnisse: Die- Universität sowie seit 2020 Präsidentin der Kammer se beruhen auf einem wissenschaftlichen Diskurs, Universitäre Hochschulen der Schweizerischen Rektoren- der sich sukzessive über oft auch aufeinander auf- konferenz, swissuniversities. Studium der Rechtswissen- bauende und sich ergänzende Studien entwickelt. schaft an den Universitäten Mainz, Lausanne und Florenz. Staatsexamen 1989, Promotion 1991 und Habilitation Erst auf diese Weise kommt es zu innovativen For- 1994 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsprojekte schungen, so dass die Veröffentlichung auch vor- und Publikationen in den Bereichen des Europäischen Unionsrechts (ins- läufiger Ergebnisse und die Debatte über Risiken besondere EU-Verfassungsrecht, Grundfreiheiten, Verkehrsrecht und Um- und Wahrscheinlichkeiten integraler Teil der wis- weltrecht), Beziehungen Schweiz – EU sowie Schweizerisches Verfassungs- senschaftlichen Logik und Grundvoraussetzung recht. Mitherausgeberin verschiedener umweltrechtlicher Zeitschriften. Photo: Astrid Epiney für den wissenschaftlichen Fortschritt sind. VSH-Bulletin Nr. 2, August 2021 | AEU-Bulletin no 2, août 2021 9
Table of contents Astrid Epiney | Wissenschaft und Politik: unterschiedliche Rollen und Verantwortungen und auf dieser Basis sind die entsprechenden (ge- fänglich wahrnehmen und im Rahmen ihrer jeweili- setzlichen) Massnahmen zu ergreifen. gen Rollen auch klare Aussagen machen (unter Ein- schluss des Hinweises auf Unwägbarkeiten). Deutlich werden damit die unterschiedlichen Rol- len und Verantwortlichkeiten von Wissenschaft Insoweit kommen Wissenschaft und Politik komple- und Politik: Erstere steht in der Verantwortung, mentäre Rollen zu, was keineswegs bedeutet, dass nach Antworten auf die sich stellenden Fragen zu die Wissenschaft sich hier zu sehr zurücknimmt. Das suchen und das Wissen auf den jeweiligen Gebieten Risiko, dass (gewisse) wissenschaftliche Erkenntnis- voranzutreiben. Dazu gehört freilich auch, aus wis- se nicht hinreichend berücksichtigt werden, besteht senschaftlicher Sicht klare Aussagen sowohl über zwar (worauf die Wissenschaft im Diskurs übrigens «Sicherheiten» als auch über fortbestehende Unsi- auch hinweisen kann und sollte); allerdings ist dies cherheiten zu formulieren. Der Politik obliegt es, auf der Entscheidungsfindung in einem demokratischen dieser Grundlage (und damit auch unter möglichst und rechtsstaatlichen Prozess, der auch einen stän- frühzeitigem und hinreichendem Einbezug wissen- digen Aushandlungsprozess impliziert, inhärent, schaftlicher Erkenntnisse) in Berücksichtigung der ganz abgesehen davon, dass nur ganz wenige Fra- Unwägbarkeiten, Risiken und Unsicherheiten Ent- gestellungen und jedenfalls nicht die komplexeren scheidungen über die zu treffenden Massnahmen (wie Pandemieprävention, Klimawandel, Altersvor- zu fällen und damit die Güterabwägung auch mit sorge, u.a.m.) auf das binäre «richtig» oder «falsch» anderen Interessen vorzunehmen. Es ist weder an reduziert werden können. Dass aber der demokrati- der Wissenschaft, der Politik konkrete Handlungsan- sche Rechtsstaat eine unabdingbare Voraussetzung weisungen zu geben und damit eine Rolle einzuneh- nicht nur für den Schutz der Rechte der Einzelnen, men, die ihr in einem demokratischen Rechtsstaat sondern auch für Stabilität, Wohlfahrt und Frieden nicht zukommt, noch darf die Politik von der Wis- und übrigens auch die Wissenschaftsfreiheit dar- senschaft solche Handlungsanweisungen erwarten, stellt, dürften die letzten 100 Jahre gezeigt haben. würde sie sich doch damit ihrer Verantwortung ent- Tragen wir ihm in jeder Lebenslage angemessen Sor- ziehen. Vielmehr müssen Wissenschaft und Politik ge: Er ist keineswegs selbstverständlich. n ihre jeweils spezifischen Verantwortungen vollum- 10 VSH-Bulletin Nr. 2, August 2021 | AEU-Bulletin no 2, août 2021
Table of contents Von Distanz und Einmischung – Über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik Bernhard Kempen* 1. Wissenschaft und Politik als Die Versuchung, mit Wissenschaft Politik zu ma- aufeinander bezogene Sphären chen, ist groß. Auch Teile der Scientific Community Wissenschaft und Technologie prägen unser Leben. sind ihr erlegen. Auf Demonstrationen marschieren Die Durchdringung aller Daseinsbereiche mit wis- «Scientists for Future» Seite an Seite mit der «Fridays senschaftlichen Methoden schreitet voran. Entschei- for Future»-Bewegung und streiten öffentlich und dungen und Produkte ohne wissenschaftliche Ex- vehement um den richtigen Kurs in der Klimapoli- pertise sind in modernen Gesellschaften kaum mehr tik. Angesichts der elementaren Herausforderun- vertretbar. Beim Kampf gegen die Covid-19-Pande- gen, die die globale Erderwärmung für die Zukunft mie wird dies aktuell beispielhaft sichtbar. Für die der Planeten und der Menschheit bedeute, dürfe Gesellschaft hängt in dieser Ausnahmesituation na- Wissenschaft nicht länger schweigen, sie müsse Ver- hezu alles von den Erkenntnissen, Fortschritten und antwortung übernehmen und konkrete Standpunk- Erfolgen der Wissenschaft ab. Die Pflege und Hege te beziehen, heißt es dann. Auch im Kampf gegen von Bildung und Forschung im 21. Jahrhundert ist Fake-News und Verschwörungstheorien sehen viele für alle Staaten essentiell, besonders für die, deren die Wissenschaft gefragt. Sie biete im Gegensatz zu wichtigste Ressource kluge Köpfe sind. bloßen Meinungen verlässliche Fakten, denen sich niemand entziehen könne. Wie unter einem Brennglas veranschaulicht die Pandemie, dass Wissenschaft und Politik aufeinan- «Follow the Science»: Übernehmen sich Wissen- der bezogen sind. Grundsätzlich verfolgen sie aber schaftlerinnen und Wissenschaftler, wenn sie Hand- verschiedene Ziele. Wissenschaftlerinnen und Wis- lungsempfehlungen formulieren, denen Politik tun- senschaftler streben nach Erkenntnisgewinn und lichst folgen soll? In welchem Maß sollen sie sich in die Mehrung von Wissen; Politikerinnen und Politi- Staat und Gesellschaft einmischen? Wann und wo ker auf den Ausgleich von Interessen und letztlich nach Gestaltungsmacht. Berührungspunkte zwi- schen beiden Sphären entstehen immer dort, wo * Deutscher Hochschulverband, Wissens- und Informationsdefizite zu beseitigen Rheinallee 18–20, 53173 Bonn, Deutschland. sind oder beabsichtigte Entscheidungen, manchmal E-mail: praesident@hochschulverband.de aber auch bereits vollzogene Handlungen fachlich https://www.hochschulverband.de abgesichert werden sollen. Das birgt Chancen wie Bernhard Kempen, Dr. iur., seit 2001 Gefahren. Wissenschaftsberatung kann den Weg Universitätsprofessor für Öffentliches Recht und zu politischen Entscheidungen ebnen, im Idealfall Völkerrecht an der Universität zu Köln, zugleich mithin Entscheidungsqualität erhöhen. Umgekehrt Direktor des Instituts für Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht der Universität zu Köln, Mitdirektor kann sie der Politik auch als Feigenblatt dienen. des Instituts für deutsches und europäisches Bei komplexen Abwägungsfragen können Politike- Wissenschaftsrecht der Universität zu Köln, Mitdirektor rinnen und Politiker, denen nach dem Willen der des International Investment Law Centre Cologne Wählerinnen und Wähler die Entscheidungshoheit (IILCC), Mitdirektor des Instituts für Europäische Rechtslinguistik der obliegt, durchaus unter Berufung auf externen Sach- Universität zu Köln. Studium der Rechtswissenschaften an der Universität des Saarlandes verstand die alleinige Verantwortung relativieren. Je in Saarbrücken (1977 bis 1983), Promotion (1998) und Habilitation mehr in den fragmentierten und individualisierten (1994) an der Universität zu Köln, Inhaber des Lehrstuhls für Gesellschaften der westlichen Industrienationen die Staatsrecht, Völkerrecht, Internationales Wirtschaftsrecht und Kraft zum politischen Kompromiss und Interessen- Wirtschaftsverwaltungsrecht der Universität Würzburg (1995 bis ausgleich schwindet, umso größer wird die Neigung, 2001). Zahlreiche Beiträge und Interviews in Rundfunk, Fernsehen und strittige Entscheidungen an Expertinnen und Exper- Printmedien, insbesondere zu völkerrechtlichen, staatsrechtlichen und hochschulrechtlichen Fragen. Präsident des Deutschen ten und damit sehr häufig an Wissenschaftlerinnen Hochschulverbandes, der Berufsvertretung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu delegieren. Die Demokratie und Wissenschaftler in Deutschland (33.000 Mitglieder), Vorstand kann dadurch auf die Dauer Schaden nehmen. Dem der Deutschen Universitätsstiftung, Mitglied der Deutschen politischen Diskurs, von dem sie lebt, drohen essen- Staatsrechtslehrervereinigung; Mitglied der Deutschen Gesellschaft für tielle Streitfragen entzogen zu werden. Internationales Recht; Mitglied der International Law Association. Photo: ©Till Eitel eyetill.com VSH-Bulletin Nr. 2, August 2021 | AEU-Bulletin no 2, août 2021 11
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