Übungen im öffentlichen Recht II & III Bachelor, Au:austufe - FS 2020 Prof. Dr. Felix Uhlmann RA Dr. Daniela Kühne Montag 16.15-18.00 Uhr Gruppe ...

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Übungen im öffentlichen Recht II & III
                   (Bachelor, Au:austufe)
                     Montag 16.15-18.00 Uhr (Gruppe K-M)
                     Dienstag 16.15-18.00 Uhr (Gruppe W-Z)

                                                 FS 2020
                                                 Prof. Dr. Felix Uhlmann
                                                 RA Dr. Daniela Kühne

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Fall 8

Frage 1

Wie wird das Bundesgericht materiell entscheiden?

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Art. 29 Abs. 1 BV
Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch
auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert
angemessener Frist
       • Allgemeines Fairnessgebot als Auffangtatbestand, wenn keine der spezifischen
         Verfahrensgarantien zur Anwendung gelangt (vgl. auch Art. 6 EMRK und Art. 14
         UNO-Pakt II)
       • Dazu gehören die folgenden Teilgehalte:
           • Verbot der formellen Rechtsverweigerung und der Rechtsverzögerung
           • Verbot des überspitzten Formalismus
           • Anspruch auf richtige Zusammensetzung und Unparteilichkeit der
             Entscheidbehörde
           • Weitere Fallgruppen (Waffengleichheit, Verfahrensfairness [Treu und Glauben im
             Prozess])

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Art. 30 BV (Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 14 Ziff. 1 UNO-Pakt II)
• Jede Person hat Anspruch auf ein durch Gesetz geschaffenes, zuständiges,
  unabhängiges und unparteiisches Gericht
       • Art. 30 BV begründet keinen Anspruch auf Zugang zum Gericht
       • bezieht sich nur auf gerichtliche Verfahren (funktional rechtsprechende
         Tätigkeit [justizförmiges Verfahren] und institutionelle Unabhängigkeit); für
         übrige Verfahren sind Ausstandsgründe unter Art. 29 Abs. 1 BV zu
         subsumieren
       • Nicht: verwaltungsinterne Rechtspflegeorgane (z.B. Regierungsräte,
         Departemente, Kommissionen)
       • bezieht sich neben Richtern auch auf Gerichtsschreiber,
         Gerichtssachverständige und Schiedsgerichte
       • Konkretisierung: Art. 10 VwVG, Art. 34 ff. BGG

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Art. 30 BV
Unabhängigkeit und Unparteilichkeit:
       • Grundlage für eine faire und gerechte Beurteilung der Streitsache
       • Lehre unterscheidet zwischen institutionenbezogenen und
         personenbezogenem Gehalt (vgl. auch Art. 191c BV)
       • Vss. für die Verletzung des Grundsatzes: Es wird nicht verlangt, dass der/die
         RichterIn tatsächlich befangen ist. Es genügt, wenn Umstände vorliegen, die
         bei objektiver Betrachtung den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der
         Voreingenommenheit zu begründen vermögen.
       • Dies kann sich aus einem bestimmten Verhalten des betreffenden Richters
         oder in gewissen äusseren Umständen funktioneller/organisatorischer Natur
         ergeben à Zwei Fallgruppen: Subjektive oder objektive Befangenheit

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Art. 30 BV
Subjektive Befangenheit:
       • Mitwirkung in eigener Sache bzw. unmittelbares/mittelbares eigenes
         Interesse am Ausgang eines Verfahrens (Art. 10 Abs. 2 lit. a VwVG, Art. 34
         Abs. 1 lit. a und b BGG)
       • Eine besonders nahe Beziehung zu einer am Verfahren beteiligten Partei (Art.
         10 Abs. 1 lit. b VwVG, Art. 34 Abs. 1 lit. c-e BGG). Kriterium: "über das sozial
         Übliche hinausgehende Beziehungsnähe"
       • Vertreter einer Partei (Art. 10 Abs. 1 lit. c VwVG, Art. 34 Abs. 1 lit. b BGG)
       • Aus anderen Gründen (Auffangtatbestand):
              • Spezifisches Verhalten eines Richters (Äusserungen im Vorfeld oder während eines
                Verfahrens, Positionsbezüge, abschätzige Bemerkungen)
              • Äusserer Druck (z.B. BGE 116 Ia 14, 22)
              • Konkurrenzverhältnisse

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Art. 30 BV
Objektive Befangenheit (Vorbefassung)
       • Richter hatte bereits in einem früheren Zeitpunkt mit der konkreten
         Streitsache zu tun und es besteht der objektive Anschein, dass sich der
         Richter schon eine Meinung über den Ausgang des Verfahrens gebildet hat, so
         dass er nicht mehr offen erscheint (z.B. BGE 131 I 113)
       • Einzelfallbetrachtung: Nicht jede Vorbefassung führt zwingend zu einer
         Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit. Leitlinie: Ein Verfahren
         erscheint in Bezug auf den konkreten Sachverhalt und die konkret zu
         entscheidenden Rechtsfragen trotz Vorbefassung als nicht offen und
         vorbestimmt
       • In der Regel zulässig: Neubeurteilung nach Rückweisung eines Entscheides an
         die Vorinstanz, Entscheid über vorsorgliche Massnahme, URP und Hauptsache

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Art. 30 BV
Geltendmachung des Ausstandgrundes
       • Betroffenes Gerichtsmitglied: Von Amtes wegen verpflichtet. Partei: Gesuch
         um Ausstand
       • Zeitpunkt: Unverzüglich seit Kenntnis vom Ausstandgrund
       • Glaubhaftmachung genügt (vgl. Art. 36 BGG, BGE 133 I 89 E. 3.2)
       • Wer vom Ausstandsgrund Kenntnis hat oder bei pflichtgemässer Sorgfalt
         hätte Kenntnis haben müssen und sich dennoch stillschweigend auf den
         Prozess einlässt, verwirkt den Anspruch auf spätere Geltendmachung (BGE
         136 I 207). Ein späteres Vorbringen verstösst gegen Treu und Glauben

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Art. 30 BV
• Zuständigkeit
       • Aufsichtsbehörde, oder, wenn es sich um den Ausstand eines Mitgliedes einer
         Kollegialbehörde handelt, diese Behörde unter Ausschluss des betreffenden
         Mitgliedes (Art. 10 Abs. 2 VwVG, Art. 37 BGG)
       • Entscheid über Ausstand ist ein Zwischenentscheid (vgl. Art. 92 Abs. 1 BGG:
         wenn selbständig eröffnet immer zulässiges Anfechtungsobjekt der BöA)

• Folge des Ausstandsgrundes
       • Anfechtbarkeit (nicht Nichtigkeit) des betroffenen Entscheids
       • Aufhebung des entsprechenden Gerichtsentscheides (unbesehen des Inhalts
         des Entscheids; formelle Natur des Verfahrensgrundrechts)

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BGE 140 I 240, E. 2.3.2

«Dem Leiter einer kantonalen Abteilung und seiner Stellvertreterin […]
kommt die Aufgabe zu, innerhalb der Abteilung für eine einheitliche
gesetzmässige Praxis zu sorgen. Beide haben Weisungsbefugnis über die
Mitarbeiter der Abteilung, und zwar nicht nur in personeller, sondern auch in
fachlicher Hinsicht. Ihnen steht auch die Weisungsbefugnis in konkreten
Einzelfällen zu. Damit kommt dem Abteilungsleiter bzw. seiner
Stellvertreterin quasi flächendeckend die Möglichkeit zu, auf jeden Einzelfall
(direkt) Einfluss zu nehmen […]. Ist nun ein Verwaltungsrichter bzw. eine
Verwaltungsrichterin mit einer solchen weisungsberechtigten Person
verheiratet oder in einer dauernden Lebensgemeinschaft, so liegen
Umstände vor, die bei objektiver Betrachtung geeignet sind, Misstrauen in
die Unparteilichkeit dieses Richters bzw. dieser Richterin zu erwecken.»

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Fall 8

Frage 2
Wie würde das Bundesgericht entscheiden, hätten die Eheleute X.
bereits bei Beschwerdeerhebung vor dem Verwaltungsgericht gewusst,
dass Herr Z., der für ihren Fall zuständige Richter, mit Frau Y. verheiratet
ist?

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Fall 8
Frage 3
Nach Eingang der Beschwerdeantwort der Gegenpartei setzt das
Bundesgericht den Eheleuten X. Frist für eine Replik, welche der
Rechtsvertreter der Eheleute X. jedoch versäumt. Einen Tag nach Ablauf der
Frist richtet er ein Gesuch um „Fristerstreckung“ an das Bundesgericht und
bringt vor, die Eheleute X. hätten ihm am Tag des Ablaufs der Frist ein
Feedback zu seinem Repliksentwurf geschickt, aufgrund von technischen
Problemen mit dem Server sei es allerdings weder zur Weiterleitung der
elektronischen Nachricht an ihn noch zu einer Fehlermeldung gekommen.
Deswegen ersuche er nun um „Wiederherstellung“ der Frist zur Erstellung
einer Replik. Handelt es sich beim Gesuch des Rechtsvertreters der Eheleute
X. um ein Fristerstreckungs- oder Fristwiederherstellungsgesuch? Wie wird
das Bundesgericht über dieses Gesuch entscheiden?

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Fristberechnung
• Der Tag der fristauslösenden Mitteilung wird nicht mitgezählt (Art. 20
  VwVG, Art. 44 Abs. 1 BGG). Fristrechnung beginnt also am Folgetag
• Fällt der letzte Tag der Frist auf Sa/So/Feiertag, endet Frist am
  nächstfolgenden Werktag (Art. 20 Abs. 3 VwVG, Art. 45 BGG)
• Während der Gerichtsferien steht die Frist still (gewisse Ausnahmefälle)
• Fristwahrung: Eingabe muss am letzten Tag der Frist spätestens bis 24:00
  Uhr auf einer Schweizer Poststelle oder auf Amtsstelle während
  Geschäftszeit abgegeben werden (Art. 21 Abs. 1 VwVG, Art. 48 Abs. 1
  BGG). Für elektronische Eingaben ist auf die vom Informatiksystem des
  amtlichen Empfängers abgesandte Empfangsbestätigung abzustellen
  (Art. 21a Abs. 3 VwVG, Art. 48 Abs. 2 BGG)
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Fristerstreckung
Gesetzliche und richterliche (behördliche) Fristen
       • Behördliche Fristen können erstreckt (d.h. «verlängert») werden. Dafür hat
         die Partei ein zureichend begründetes Erstreckungsgesuch vor Ablauf der Frist
         einzureichen (Art. 22 Abs. 2 VwVG, Art. 47 Abs. 2 BGG)
       • Gesetzliche Fristen können nicht erstreckt werden (Art. 22 Abs. 1 VwVG, Art.
         47 Abs. 1 BGG). Allerdings Möglichkeit zur Ansetzung von Nachfristen zur
         Verbesserung gewisser Mängel wie z.B. Fehlen der Unterschrift/Fehlen der
         Vollmacht (Art. 52 Abs. 2 VwVG, Art. 42 Abs. 5 und 6 BGG)
       • Zu den gesetzlichen Fristen zählen insbesondere die Rechtsmittelfristen
       • Hürden für Fristerstreckung i.d.R. nicht besonders hoch

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Fristerstreckung und -wiederherstellung

Folgen einer verpassten Frist
       • Grundsatz: Unbeachtlichkeit der Eingabe bzw. formelles Nichteintreten auf
         ein Rechtsmittel/Gesuch, Verwirkung eines prozessualen Rechts (Art. 23
         VwVG, Art. 108 Abs. 1 lit. a BGG)
       • Ausnahmsweise: Wiederherstellung
              • Möglich für behördliche und gesetzliche Fristen (im Gegensatz zur
                Fristerstreckung)
              • Gilt als allgemeiner Rechtsgrundsatz, findet sich aber in den meisten
                Verfahrensgesetzen ausdrücklich (Art. 24 VwVG, Art. 50 BGG)

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Wiederherstellung
(Art. 24 VwVG, Art. 50 BGG)
Voraussetzungen
       • Wiederherstellung wird i.d.R. dann gegeben, wenn das Fristversäumnis
         unverschuldet ist (Achtung: spezifisches Verfahrensgesetz konsultieren!)
       • Bger: Partei/ihr Vertreter hat unter Angabe des Grundes innert 30 Tagen nach
         Wegfall des Hindernisses um die Wiederherstellung der Frist zu ersuchen und
         die versäumte Rechtshandlung nachzuholen (Art. 50 Abs. 1 BGG)
       • Unverschuldete Hindernisse: Plötzliche Erkrankung, Unfall. Nicht aber:
         Arbeitsüberlastung, Ferienabwesenheit, organisatorische Unzulänglichkeit
       • Bger: Strenge Praxis, es muss klare Schuldlosigkeit vorliegen
       • Für Anwälte noch strengere Massstäbe: Sie müssen ihren Kanzleibetrieb so
         organisieren, dass Fristen auch während ihrer Abwesenheit/Verhinderung
         gewahrt werden können

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Bger 2C_699/2012

«Es kann heute als allgemein bekannt vorausgesetzt werden, dass der
Verkehr mit E-Mails gefahrenbehaftet und im Allgemeinen nur beschränkt
verlässlich ist. […] Eine entscheidrelevante Mitteilung per E-Mail zu
versenden, ohne weitere (Kontroll-)Massnahmen zu ergreifen, entspricht
nicht sorgfältiger Erfüllung des Auftragsverhältnisses (Art. 398 OR). […] Hier
heisst dies, dass der Treuhänder verpflichtet ist, das Verhalten des Providers
zu kontrollieren. […] Schwierigkeiten im Umgang mit Informatiksystemen
wurden denn auch in der bisherigen Rechtsprechung nicht als
Fristwiederherstellungsgründe anerkannt, auch dann nicht, wenn geltend
gemacht wurde, sie seien auf das Verhalten von Hilfspersonen
zurückzuführen (Urteile 8C_910/2008 vom 30. Januar 2009 E. 3.4, in: SVR
2009 UV 26 Nr. 95; 4P.171/1996 vom 14. Oktober 1996 E. 4b).»

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Fall 8

Frage 4

Mit welchem Beschwerdegrund könnten sich die Eheleute X. zur Wehr
setzen, wenn ihr Einkommen für das Steuerjahr 2009 sowohl in Kanton
W. als auch Kanton Y. versteuert würde? Welchem Kanton würde das
Gericht die Besteuerung zuweisen?

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Verbot der interkantonalen Doppelbesteuerung (Art. 127 Abs. 3 BV)

• Verbot der Besteuerung des gleichen Steuerpflichtigen für das gleiche
  Steuerobjekt und die gleiche Steuerperiode durch zwei oder mehr
  Kantone
• Gilt als verfassungsmässiges Recht für die subs. Beschwerde vor Bger
• Kollisionsregeln:
       • Die Besteuerung ist dem Kanton zuzuweisen, zu dem der die Steuerpflicht
         auslösende Sachverhalt die engsten Beziehungen hat
       • Kriterien: Wirtschaftliche Überlegungen, Notwendigkeit, zwischen Kantonen einen
         gerechten Ausgleich zu finden, Praktikabilität
       • Bsp: Einkommen aus unselbständiger Tätigkeit ist im Wohnsitzkanton zu besteuern,
         aus selbständiger Tätigkeit im Kanton der Berufsausübung

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