Übungen im öffentlichen Recht II & III Bachelor, Au:austufe - FS 2020 Prof. Dr. Felix Uhlmann RA Dr. Daniela Kühne Montag 16.15-18.00 Uhr Gruppe ...
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Übungen im öffentlichen Recht II & III (Bachelor, Au:austufe) Montag 16.15-18.00 Uhr (Gruppe K-M) Dienstag 16.15-18.00 Uhr (Gruppe W-Z) FS 2020 Prof. Dr. Felix Uhlmann RA Dr. Daniela Kühne 4./5.5.2020 1
Fall 8 Frage 1 Wie wird das Bundesgericht materiell entscheiden? 4./5.5.2020 Dr. Daniela Kühne 2
Art. 29 Abs. 1 BV Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist • Allgemeines Fairnessgebot als Auffangtatbestand, wenn keine der spezifischen Verfahrensgarantien zur Anwendung gelangt (vgl. auch Art. 6 EMRK und Art. 14 UNO-Pakt II) • Dazu gehören die folgenden Teilgehalte: • Verbot der formellen Rechtsverweigerung und der Rechtsverzögerung • Verbot des überspitzten Formalismus • Anspruch auf richtige Zusammensetzung und Unparteilichkeit der Entscheidbehörde • Weitere Fallgruppen (Waffengleichheit, Verfahrensfairness [Treu und Glauben im Prozess]) 4./5.5.2020 3
Art. 30 BV (Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 14 Ziff. 1 UNO-Pakt II) • Jede Person hat Anspruch auf ein durch Gesetz geschaffenes, zuständiges, unabhängiges und unparteiisches Gericht • Art. 30 BV begründet keinen Anspruch auf Zugang zum Gericht • bezieht sich nur auf gerichtliche Verfahren (funktional rechtsprechende Tätigkeit [justizförmiges Verfahren] und institutionelle Unabhängigkeit); für übrige Verfahren sind Ausstandsgründe unter Art. 29 Abs. 1 BV zu subsumieren • Nicht: verwaltungsinterne Rechtspflegeorgane (z.B. Regierungsräte, Departemente, Kommissionen) • bezieht sich neben Richtern auch auf Gerichtsschreiber, Gerichtssachverständige und Schiedsgerichte • Konkretisierung: Art. 10 VwVG, Art. 34 ff. BGG 4./5.5.2020 Dr. Daniela Kühne 4
Art. 30 BV Unabhängigkeit und Unparteilichkeit: • Grundlage für eine faire und gerechte Beurteilung der Streitsache • Lehre unterscheidet zwischen institutionenbezogenen und personenbezogenem Gehalt (vgl. auch Art. 191c BV) • Vss. für die Verletzung des Grundsatzes: Es wird nicht verlangt, dass der/die RichterIn tatsächlich befangen ist. Es genügt, wenn Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen. • Dies kann sich aus einem bestimmten Verhalten des betreffenden Richters oder in gewissen äusseren Umständen funktioneller/organisatorischer Natur ergeben à Zwei Fallgruppen: Subjektive oder objektive Befangenheit 4./5.5.2020 Dr. Daniela Kühne 5
Art. 30 BV Subjektive Befangenheit: • Mitwirkung in eigener Sache bzw. unmittelbares/mittelbares eigenes Interesse am Ausgang eines Verfahrens (Art. 10 Abs. 2 lit. a VwVG, Art. 34 Abs. 1 lit. a und b BGG) • Eine besonders nahe Beziehung zu einer am Verfahren beteiligten Partei (Art. 10 Abs. 1 lit. b VwVG, Art. 34 Abs. 1 lit. c-e BGG). Kriterium: "über das sozial Übliche hinausgehende Beziehungsnähe" • Vertreter einer Partei (Art. 10 Abs. 1 lit. c VwVG, Art. 34 Abs. 1 lit. b BGG) • Aus anderen Gründen (Auffangtatbestand): • Spezifisches Verhalten eines Richters (Äusserungen im Vorfeld oder während eines Verfahrens, Positionsbezüge, abschätzige Bemerkungen) • Äusserer Druck (z.B. BGE 116 Ia 14, 22) • Konkurrenzverhältnisse 4./5.5.2020 Dr. Daniela Kühne 6
Art. 30 BV Objektive Befangenheit (Vorbefassung) • Richter hatte bereits in einem früheren Zeitpunkt mit der konkreten Streitsache zu tun und es besteht der objektive Anschein, dass sich der Richter schon eine Meinung über den Ausgang des Verfahrens gebildet hat, so dass er nicht mehr offen erscheint (z.B. BGE 131 I 113) • Einzelfallbetrachtung: Nicht jede Vorbefassung führt zwingend zu einer Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit. Leitlinie: Ein Verfahren erscheint in Bezug auf den konkreten Sachverhalt und die konkret zu entscheidenden Rechtsfragen trotz Vorbefassung als nicht offen und vorbestimmt • In der Regel zulässig: Neubeurteilung nach Rückweisung eines Entscheides an die Vorinstanz, Entscheid über vorsorgliche Massnahme, URP und Hauptsache 4./5.5.2020 Dr. Daniela Kühne 7
Art. 30 BV Geltendmachung des Ausstandgrundes • Betroffenes Gerichtsmitglied: Von Amtes wegen verpflichtet. Partei: Gesuch um Ausstand • Zeitpunkt: Unverzüglich seit Kenntnis vom Ausstandgrund • Glaubhaftmachung genügt (vgl. Art. 36 BGG, BGE 133 I 89 E. 3.2) • Wer vom Ausstandsgrund Kenntnis hat oder bei pflichtgemässer Sorgfalt hätte Kenntnis haben müssen und sich dennoch stillschweigend auf den Prozess einlässt, verwirkt den Anspruch auf spätere Geltendmachung (BGE 136 I 207). Ein späteres Vorbringen verstösst gegen Treu und Glauben 4./5.5.2020 Dr. Daniela Kühne 8
Art. 30 BV • Zuständigkeit • Aufsichtsbehörde, oder, wenn es sich um den Ausstand eines Mitgliedes einer Kollegialbehörde handelt, diese Behörde unter Ausschluss des betreffenden Mitgliedes (Art. 10 Abs. 2 VwVG, Art. 37 BGG) • Entscheid über Ausstand ist ein Zwischenentscheid (vgl. Art. 92 Abs. 1 BGG: wenn selbständig eröffnet immer zulässiges Anfechtungsobjekt der BöA) • Folge des Ausstandsgrundes • Anfechtbarkeit (nicht Nichtigkeit) des betroffenen Entscheids • Aufhebung des entsprechenden Gerichtsentscheides (unbesehen des Inhalts des Entscheids; formelle Natur des Verfahrensgrundrechts) 4./5.5.2020 Dr. Daniela Kühne 9
BGE 140 I 240, E. 2.3.2 «Dem Leiter einer kantonalen Abteilung und seiner Stellvertreterin […] kommt die Aufgabe zu, innerhalb der Abteilung für eine einheitliche gesetzmässige Praxis zu sorgen. Beide haben Weisungsbefugnis über die Mitarbeiter der Abteilung, und zwar nicht nur in personeller, sondern auch in fachlicher Hinsicht. Ihnen steht auch die Weisungsbefugnis in konkreten Einzelfällen zu. Damit kommt dem Abteilungsleiter bzw. seiner Stellvertreterin quasi flächendeckend die Möglichkeit zu, auf jeden Einzelfall (direkt) Einfluss zu nehmen […]. Ist nun ein Verwaltungsrichter bzw. eine Verwaltungsrichterin mit einer solchen weisungsberechtigten Person verheiratet oder in einer dauernden Lebensgemeinschaft, so liegen Umstände vor, die bei objektiver Betrachtung geeignet sind, Misstrauen in die Unparteilichkeit dieses Richters bzw. dieser Richterin zu erwecken.» Dr. Daniela Kühne 4./5.5.2020 10
Fall 8 Frage 2 Wie würde das Bundesgericht entscheiden, hätten die Eheleute X. bereits bei Beschwerdeerhebung vor dem Verwaltungsgericht gewusst, dass Herr Z., der für ihren Fall zuständige Richter, mit Frau Y. verheiratet ist? 4./5.5.2020 Dr. Daniela Kühne 11
Fall 8 Frage 3 Nach Eingang der Beschwerdeantwort der Gegenpartei setzt das Bundesgericht den Eheleuten X. Frist für eine Replik, welche der Rechtsvertreter der Eheleute X. jedoch versäumt. Einen Tag nach Ablauf der Frist richtet er ein Gesuch um „Fristerstreckung“ an das Bundesgericht und bringt vor, die Eheleute X. hätten ihm am Tag des Ablaufs der Frist ein Feedback zu seinem Repliksentwurf geschickt, aufgrund von technischen Problemen mit dem Server sei es allerdings weder zur Weiterleitung der elektronischen Nachricht an ihn noch zu einer Fehlermeldung gekommen. Deswegen ersuche er nun um „Wiederherstellung“ der Frist zur Erstellung einer Replik. Handelt es sich beim Gesuch des Rechtsvertreters der Eheleute X. um ein Fristerstreckungs- oder Fristwiederherstellungsgesuch? Wie wird das Bundesgericht über dieses Gesuch entscheiden? 4./5.5.2020 Dr. Daniela Kühne 12
Fristberechnung • Der Tag der fristauslösenden Mitteilung wird nicht mitgezählt (Art. 20 VwVG, Art. 44 Abs. 1 BGG). Fristrechnung beginnt also am Folgetag • Fällt der letzte Tag der Frist auf Sa/So/Feiertag, endet Frist am nächstfolgenden Werktag (Art. 20 Abs. 3 VwVG, Art. 45 BGG) • Während der Gerichtsferien steht die Frist still (gewisse Ausnahmefälle) • Fristwahrung: Eingabe muss am letzten Tag der Frist spätestens bis 24:00 Uhr auf einer Schweizer Poststelle oder auf Amtsstelle während Geschäftszeit abgegeben werden (Art. 21 Abs. 1 VwVG, Art. 48 Abs. 1 BGG). Für elektronische Eingaben ist auf die vom Informatiksystem des amtlichen Empfängers abgesandte Empfangsbestätigung abzustellen (Art. 21a Abs. 3 VwVG, Art. 48 Abs. 2 BGG) 4./5.5.2020 Dr. Daniela Kühne 13
Fristerstreckung Gesetzliche und richterliche (behördliche) Fristen • Behördliche Fristen können erstreckt (d.h. «verlängert») werden. Dafür hat die Partei ein zureichend begründetes Erstreckungsgesuch vor Ablauf der Frist einzureichen (Art. 22 Abs. 2 VwVG, Art. 47 Abs. 2 BGG) • Gesetzliche Fristen können nicht erstreckt werden (Art. 22 Abs. 1 VwVG, Art. 47 Abs. 1 BGG). Allerdings Möglichkeit zur Ansetzung von Nachfristen zur Verbesserung gewisser Mängel wie z.B. Fehlen der Unterschrift/Fehlen der Vollmacht (Art. 52 Abs. 2 VwVG, Art. 42 Abs. 5 und 6 BGG) • Zu den gesetzlichen Fristen zählen insbesondere die Rechtsmittelfristen • Hürden für Fristerstreckung i.d.R. nicht besonders hoch 4./5.5.2020 Dr. Daniela Kühne 14
Fristerstreckung und -wiederherstellung Folgen einer verpassten Frist • Grundsatz: Unbeachtlichkeit der Eingabe bzw. formelles Nichteintreten auf ein Rechtsmittel/Gesuch, Verwirkung eines prozessualen Rechts (Art. 23 VwVG, Art. 108 Abs. 1 lit. a BGG) • Ausnahmsweise: Wiederherstellung • Möglich für behördliche und gesetzliche Fristen (im Gegensatz zur Fristerstreckung) • Gilt als allgemeiner Rechtsgrundsatz, findet sich aber in den meisten Verfahrensgesetzen ausdrücklich (Art. 24 VwVG, Art. 50 BGG) 4./5.5.2020 Dr. Daniela Kühne 15
Wiederherstellung (Art. 24 VwVG, Art. 50 BGG) Voraussetzungen • Wiederherstellung wird i.d.R. dann gegeben, wenn das Fristversäumnis unverschuldet ist (Achtung: spezifisches Verfahrensgesetz konsultieren!) • Bger: Partei/ihr Vertreter hat unter Angabe des Grundes innert 30 Tagen nach Wegfall des Hindernisses um die Wiederherstellung der Frist zu ersuchen und die versäumte Rechtshandlung nachzuholen (Art. 50 Abs. 1 BGG) • Unverschuldete Hindernisse: Plötzliche Erkrankung, Unfall. Nicht aber: Arbeitsüberlastung, Ferienabwesenheit, organisatorische Unzulänglichkeit • Bger: Strenge Praxis, es muss klare Schuldlosigkeit vorliegen • Für Anwälte noch strengere Massstäbe: Sie müssen ihren Kanzleibetrieb so organisieren, dass Fristen auch während ihrer Abwesenheit/Verhinderung gewahrt werden können 4./5.5.2020 Dr. Daniela Kühne 16
Bger 2C_699/2012 «Es kann heute als allgemein bekannt vorausgesetzt werden, dass der Verkehr mit E-Mails gefahrenbehaftet und im Allgemeinen nur beschränkt verlässlich ist. […] Eine entscheidrelevante Mitteilung per E-Mail zu versenden, ohne weitere (Kontroll-)Massnahmen zu ergreifen, entspricht nicht sorgfältiger Erfüllung des Auftragsverhältnisses (Art. 398 OR). […] Hier heisst dies, dass der Treuhänder verpflichtet ist, das Verhalten des Providers zu kontrollieren. […] Schwierigkeiten im Umgang mit Informatiksystemen wurden denn auch in der bisherigen Rechtsprechung nicht als Fristwiederherstellungsgründe anerkannt, auch dann nicht, wenn geltend gemacht wurde, sie seien auf das Verhalten von Hilfspersonen zurückzuführen (Urteile 8C_910/2008 vom 30. Januar 2009 E. 3.4, in: SVR 2009 UV 26 Nr. 95; 4P.171/1996 vom 14. Oktober 1996 E. 4b).» 4./5.5.2020 Dr. Daniela Kühne 17
Fall 8 Frage 4 Mit welchem Beschwerdegrund könnten sich die Eheleute X. zur Wehr setzen, wenn ihr Einkommen für das Steuerjahr 2009 sowohl in Kanton W. als auch Kanton Y. versteuert würde? Welchem Kanton würde das Gericht die Besteuerung zuweisen? 4./5.5.2020 Dr. Daniela Kühne 18
Verbot der interkantonalen Doppelbesteuerung (Art. 127 Abs. 3 BV) • Verbot der Besteuerung des gleichen Steuerpflichtigen für das gleiche Steuerobjekt und die gleiche Steuerperiode durch zwei oder mehr Kantone • Gilt als verfassungsmässiges Recht für die subs. Beschwerde vor Bger • Kollisionsregeln: • Die Besteuerung ist dem Kanton zuzuweisen, zu dem der die Steuerpflicht auslösende Sachverhalt die engsten Beziehungen hat • Kriterien: Wirtschaftliche Überlegungen, Notwendigkeit, zwischen Kantonen einen gerechten Ausgleich zu finden, Praktikabilität • Bsp: Einkommen aus unselbständiger Tätigkeit ist im Wohnsitzkanton zu besteuern, aus selbständiger Tätigkeit im Kanton der Berufsausübung 4./5.5.2020 19
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