Chiles neue Barden - Norient

Die Seite wird erstellt Hannes Münch
 
WEITER LESEN
Chiles neue Barden - Norient
Chiles neue Barden | norient.com                                           7 Jun 2022 21:05:42

    Chiles neue Barden
    by Katrin Wilke

    Die Nueva Canción Chilena entstand in den Sechzigerjahren
    des vergangenen Jahrhunderts. Mehr als ein halbes
    Jahrhundert später sind die Heroen jener Zeit im kulturellen
    Gedächtnis nach wie vor präsent und einige der Veteranen
    sogar noch aktiv. Doch viele der damaligen Probleme
    bestehen heute noch. Von musikalischer Seite aus schweigt
    man zu all dem nicht. Im Land von Víctor Jara und Violeta
    Parra, von Inti​Illimani und Quilapayún erheben jetzt jün​gere
    Cantautores ihre Stimme.
    Nach fünfzehnjähriger Militärdiktatur und ersten freien Wahlen versucht man
    sich in Chile seit 1989 mehr schlecht als recht in der Redemokratisierung.
    Dass die Republik Chile seit fast einem Jahr auch bei uns wieder stärker in den
    Schlagzeilen steht, ist den für bessere Studienbedingungen
    demonstrierenden Studierenden zu verdanken. Erst kürzlich tourte Camila
    Vallejo, die Gallionsfigur dieser Bewegung, ausgiebig durch Europa, um für
    einen politischen Wandel zu werben. Würden also die Studierenden nicht so
    massiv auf den Putz hauen, hätte man anderswo auf der Welt womöglich
    noch gar nichts von Chiles rechtskonservativem Staatschef und
    milliardenschweren Unternehmer Sebastián Piñera mitbekommen.

https://norient.com/stories/chiles-neue-barden                                        Page 1 of 6
Chiles neue Barden - Norient
Chiles neue Barden | norient.com                                            7 Jun 2022 21:05:42

    Im vergangenen März, als sich Piñeras Machtantritt zum zweiten Mal jährte,
    wurde es wieder besonders laut auf den Straßen der Hauptstadt. Während
    sich die Regierung damit brüstet, dass Chile zu den Ländern mit dem größten
    Wirtschaftswachstum gehöre, protestieren soziale Organisationen und die
    Studentenbewegung vor allem gegen die extreme marktwirtschaftliche
    Ausrichtung des Landes und die zunehmende Kommerzialisierung aller
    Lebensbereiche.

    Nicht nur in Santiago, auch im südchilenischen Aysén geht man seit Wochen
    gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik des Staatschefs auf die Strasse und
    fordert bessere Lebensstandards ein. Beim internationalen Liedfestival Viña
    del Mar, einem der grössten des Subkontinents, setzte der Liedermacher
    Manuel García im Februar ein unüberhörbares Zeichen: Der in Chile mit Bob
    Dylan und Silvio Rodríguez verglichene Musiker nutzte eine selbst ihn
    überraschende Festivaleinladung, um vor 15.000 Konzertbesuchern einen
    offenen Brief an Piñera zu verlesen. Unter Applaus verwies er auf die
    Ereignisse in Aysén, auf die Misere der Bewohner im Erdbebengebiet und die
    der größten ethnischen Minderheit des Landes, der Mapuche. «Die
    Studierenden werden Sie nicht schlafen lassen, wenn Sie uns nicht träumen
    lassen! Viva Chile!» Danach intonierte García, der bei einigen der
    Protestmärsche dabei war, allein mit Gitarre seine poetisch​melancholische
    Weise vom alten, desillusionierten Kommunisten, «El Viejo Comunista».

    Wie Chile klingt
    Manuel García ist einer der Protagonisten der zwischen Lied, Rock und Pop
    sowie Folklore angesiedelten aktuellen Szene Chiles. Eine prominente
    Vertreterin ist auch die Sängerin und Komponistin Pascuala Ilabaca, die mit
    Vorliebe Akkordeon spielt. Sie trat kürzlich auch in Deutschland auf. «Um der
    Welt zu zeigen, wie Chile, wie Südamerika heute klingt», erklärt Ilabaca. Die
    27​jährige weltgewandte Künstlertochter zog es nicht, wie so viele Kollegen, in

https://norient.com/stories/chiles-neue-barden                                        Page 2 of 6
Chiles neue Barden - Norient
Chiles neue Barden | norient.com                                           7 Jun 2022 21:05:42

    die Hauptstadt. Ilabaca lebt und arbeitet in der Küsten​ und Künstlerstadt
    Valparaíso, wo Salvador Allende zur Welt kam. Die temperamentvolle
    Musikerin, deren langes schwarzes Haar von bunten Bändern durchwirkt ist,
    ähnelt ein wenig ihrem Idol Frida Kahlo. Ihr und der nicht minder
    charismatischen Landsfrau Violeta Parra widmet die Chilenin auch ein Lied
    auf ihrer aktuellen CD Diablo Rojo Diablo Verde. «Es soll die Künstlerinnen im
    machistischen Lateinamerika aufwerten, ihnen mehr Aufmerksamkeit
    verleihen.»

    Ilabacas Musik, ihre Art zu denken, verkörpert etwas Panamerikanisches, eine
    spezielle Zuneigung zu den einheimischen, nicht selten in Frauenhand
    liegenden Traditionen. Mit ihrer Band Fauna, mit der sie auch beim
    diesjährigen TFF Rudolstadt auftreten wird, zelebriert sie einen
    farbenprächtigen, tanzbaren Mix aus Folklore, Rock, Jazz sowie Drum & Bass​‐
    Anleihen. Er schöpft nicht nur aus den heimischen Ressourcen, sondern
    enthält auch allerlei Stilelemente der Länder, in denen die neugierige
    Musikerin lebte, z.B. Mexiko und Indien. Das kommt klanglich sehr anmutig
    daher und birgt zumeist auch gewichtige Texte. «Jedem Lied liegt eine kleine
    Schlacht zugrunde. Das, was einen berührt, trifft, ist, was danach verlangt,
    musikalisch Ausdruck zu finden.» Zum einen drehen sich Ilabacas Lieder um
    die Psychologie menschlicher Beziehungen, um die Schwierigkeiten zwischen
    Mann und Frau. Zum anderen geht es um Soziopolitisches in Chile und
    anderswo – um den Respekt vor der indigenen Bevölkerung, vor der Erde, der
    Natur an sich. So wie einst Violeta Parra die ländliche Volksmusik vor dem
    Vergessen zu retten versuchte, so trachtet Ilabacas Generation heute danach,
    ihren eigenen«chilenischen Klang» zu schaffen und ins weltweite
    Bewusstsein zu rücken.

https://norient.com/stories/chiles-neue-barden                                       Page 3 of 6
Chiles neue Barden - Norient
Chiles neue Barden | norient.com                                            7 Jun 2022 21:05:42

    Gesungene Manifeste

    «Ich singe nicht, nur um zu singen oder weil ich eine gute Stimme habe. Ich
    singe, weil meine Gitarre Sinn und Verstand hat», konstatierte Chiles
    Nationalpoet Víctor Jara in «Manifiesto». Dieses schon dem Namen nach
    musikalische Testament entstand kurz vor seiner Ermordung 1973 nach dem
    Putsch gegen Allende. Der grosse Barde ist für viele Musiker Vorbild. So auch
    für Nano Stern mit seinen sozialkritischen und politischen Liedern. Der aus
    einer jüdischen Musikerfamilie stammende Liedermacher und
    Multiinstrumentalist, der im vergangenen Jahr beim Bardentreffen in
    Nürnberg auftrat, gilt als d i e Stimme des Protests gegen die derzeitige
    chilenische Regierung.

    Vielleicht nicht ganz so hautnah dabei, aber allemal hochinteressant mit ihrer
    musikali​schen Energie ist die Sängerin und Komponistin Francesca Ancarola.
    «Sich bilden heisst nicht, sich zu verschulden», lautet ihr Plädoyer für das
    Recht auf kostenloses Studieren, das sie in einer Videobotschaft im Internet
    zur Unterstützung der opponierenden Studenten veröffentlichte. Doch auch
    die 40​jährige Sängerin vollführt in ihren Liedern einen panamerikanischen
    Spagat. Ihr 1999 erschienenes Debütalbum Que el canto tiene sentido («Dass
    der Gesang Sinn hat»), das schon im Titel die Brücke zu Víctor Jara schlägt,
    eröffnet mit dem bereits erwähnten «Manifiesto». Das klingt bei ihr ein
    Vierteljahrhundert später nicht weniger «chilenisch» oder gefühlsintensiv,
    dabei aber leichtfüssiger. Die Inspirationsquellen der Künstlerin in Brasilien,
    Kuba oder Peru sind spürbar: Milton Nascimiento, Chico Buarque, Silvio
    Rodríguez, Chabuca Granda. Aber natürlich auch die im eigenen Land. Violeta
    Parras und Víctor Jaras Lieder sind nicht wegzudenken aus Ancarolas auf
    nunmehr sieben CDs veröffentlichtem Repertoire. So ist ihr vorletztes Album
    Lonquén, benannt nach Jaras Geburtsstadt, eine einzige Verneigung vor
    ihrem Landsmann.

    Rock'n'Roll und educación

    In der erwähnten Videobotschaft richten noch weitere Musiker ihren Gruss an
    die Studenten, z. B. Yogui Alvarado von Emociones Clandestinas, einer
    Pionierband des chilenischen Rock. Er fordert gleiche Chancen bei der
    Bildung «für die Kinder der Arbeiterklasse, für alle vom sogenannten
    Mittelstand an abwärts». Mit einem nachdenklich​heiteren «Es lebe der Rock
    ’n’ Roll und die Bildung» endet sein unverblümtes Statement. Und auch eher
    im Pop beheimatete Singer/Songwriter wie María Magdalena Ortiz alias
    María Colores zeigen sich solidarisch. Diese junge Musikerin war vor kurzem
    selbst noch Studentin. Lange vor der Veröffentlichung ihres Debütalbums
    Llamadas perdidas konnte man sie Gitarre spielend auf der Straße erleben.

https://norient.com/stories/chiles-neue-barden                                        Page 4 of 6
Chiles neue Barden | norient.com                                             7 Jun 2022 21:05:42

    In Chiles aktueller Musikszene haben etliche – vor allem junge,
    charismatische – Frauen das Sagen. Ana Tijoux (siehe norient-Artikel Words
    like hails of bullets), als Tochter von Exil​-Chilenen geboren und in Frankreich
    aufgewachsen, kehrte mit dreizehn Jahren ins Land der Eltern zurück. Sie war
    Tänzerin, bevor sie zum Rappen fand. Ihr Song «Shock» avancierte im
    vergangenen Jahr zur regelrechten Protesthymne der Studenten. «Dieses
    Lied wurde von den sozialen Bewegungen inspiriert, aus meiner Sicht als
    Mutter, Musikerin und Bürgerin. Ich denke, es ist wichtig, eine Hommage an
    diese Demonstranten zu schreiben.» Von Streicher​ und Bläser-​Samples
    angepeitschte Verse rechnen mit allen nur denkbaren Widrigkeiten von
    Gegenwart und Vergangenheit ab: «Die Stunde hat geschlagen. Wir werden
    nicht länger deine Schock​Doktrin zulassen...». Mit ihrem Hitpa​raden​‐
    kompatiblen Revolutionsgeist mit Sexappeal schaffte es die «Königin des
    chilenischen Hip​Hop» im vergangenen Jahr sogar bis zur Grammy​‐
    nominierung.

    Nicht minder rebellisch gibt sich Camila Moreno – eine Singer/Songwriterin,
    die sich mehr von Björk inspiriert fühlt als von den Liedermacherveteranen
    ihres Landes. Dennoch teilt Moreno bisweilen mit ihnen die Bühne. So trat sie
    im Januar in Berlin bei der Veranstaltung «Gegen Banken Macht» mit
    Quilapayún auf, neben den niederländischen Bots und der Gruppe Neues Glas
    aus alten Scherben. Am Abend danach konnte sich die Chilenin allein in einem
    Club vor jungen, ihre Texte mitsingenden Landsleuten dann noch mal wirklich
    austoben. «Mir macht es Vergnügen, mein Publikum in eine unbequeme

https://norient.com/stories/chiles-neue-barden                                         Page 5 of 6
Chiles neue Barden | norient.com                                         7 Jun 2022 21:05:42

    Situation zu versetzen. Würde meine Musik in einem Supermarkt als
    Hintergrundmusik laufen, wär das wohl sehr frustrierend», malt sich Moreno
    lachend aus. «Mir geht es ums Provozieren von Gefühlen – egal welchen.»

    Dies gelang besonders mit dem folkrockig​ungestümen Song «Millones»,
    einem an den Präsidenten gerichteten Schmähgesang auf den Ausverkauf in
    ihrem Land. Dessen Fernsehkanal zensierte daher auch ein Video dieses
    2009 bei den Latin Grammy Awards nominierten Lieds. Lateinamerikanische
    Realität, wie sie vielleicht besonders gut in Chile gedeihen kann – in einem
    diktaturgebeutelten Land, dessen musikalisch​politisches Flaggschiff Inti​‐
    Illimani ausgerechnet durch Eitelkeiten und Machtgelüsten unterging, und
    das seit zwanzig Jahren die Honecker​s Witwe beherbergt.

    Dieser Artikel ist zuerst erschienen im Magazin Folker Nr. 3/12

    → Published on July 09, 2012

    → Last updated on October 08, 2020

    → Topics

                  Place
                 Protest
                Tradition
                All Topics

https://norient.com/stories/chiles-neue-barden                                     Page 6 of 6
Sie können auch lesen