Kultsounds: Der Tape Slow- Down-Effekt

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Kultsounds: Der Tape Slow- Down-Effekt
Kultsounds: Der Tape Slow-Down-Effekt | norient.com        18 Nov 2021 22:33:51

    Kultsounds: Der Tape Slow-
    Down-Effekt
    by Immanuel Brockhaus

    Im neu erschienen Buch Kultsounds – Die prägendsten
    Klänge der Popmusik 1960-2014 (Transcript, Bielefeld 2017)
    geht der Pianist, Komponist und Wissenschaftler Immanuel
    Brockhaus auf die Suche nach prägenden Einzelsounds der
    Popmusikgeschichte. Sounds oder Effekte wie der Hand
    Clap, der Synthesizer-Bass, Auto-Tune oder der Klang eines
    DX 7 E-Pianos sind genuine Popsounds und stehen in hohem
    Masse für die Identifizierung von Stilen. Brockhaus hat in
    diesem Buch – seine Dissertation an der Universität Bern –
    über 2000 Songs der Billboard Charts der vergangenen 60
    Jahre analysiert. Er liefert damit Einblicke in Technologie,
    Anwendungspraxis und Ästhetik von Kultsounds sowie den
    damit verbundenen Netzwerken. Einer dieser Kultsounds ist
    nach Brockhaus der Tape Slow-Down-Effekt, der sich dieser
    Tage immer grösserer Beliebtheit erfreut. Ein Auszug aus
    dem Buch.

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Kultsounds: Der Tape Slow- Down-Effekt
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             «Let’s do the Time Warp Again»

    (Song/Tanz aus The Rocky Horror Show, 1973)

    Mit dem Warping in Ableton Live hat das Faszinosum der Zeitkrümmung oder
    des Zeitsprungs seine Realisierung erfahren: Audiodateien können bei
    gleichbleibender Tonhöhe im Tempo verändert werden. Der Bandstopp-
    Effekt scheint am Ursprung dieser Technik zu sein.

    Technische Mängel

    Wenn ältere Bandmaschinen während der Abspielphase gestoppt oder abrupt
    in eine andere Bandgeschwindigkeit umgeschaltet werden, reagieren die
    Motoren und Mechanismen in der Regel nicht unmittelbar, sondern mit einer
    gewissen Verzögerung. Da sich bei diesem verzögerten Abbremsen die
    Bandgeschwindigkeit verringert, verändert sich dabei auch automatisch die
    Tonhöhe des sich auf dem Band befindlichen Materials. Dieser Effekt kann
    auch bei Kompaktcassetten auftreten. Ähnliche Effekte entstehen bei
    gleichzeitigem Playback und Spulen eines Tapes. Auch bei Plattenspielern
    tritt der Pitch-Effekt auf, wenn auf nicht konventionelle Weise die
    Umdrehungsgeschwindigkeit verändert oder der Drehteller manuell
    abgebremst wird.

    Bei der Bandmaschine, von welcher der Bandstopp Effekt primär ausgeht,
    handelt es sich im Prinzip um eine technische Unzulänglichkeit, die in der
    digitalen Ära nicht mehr auftreten kann, da die Systeme keine spürbare
    Trägheit mehr aufweisen und direkt reagieren. Tonbandmaschinen stoppen
    und starten aufgrund ihrer technischen Voraussetzungen (Motor und
    Übertragungsrollen) nicht unmittelbar.

    Bei Tape Editing, dem diffizilen, langwierigen und risikobehafteten Vorgang
    des Schneidens und Kopierens von Ton- und Geräuschmaterial, wird das
    Band von Hand am Tonkopf entlang geführt, um Beginn und Ende des zu
    editierenden Materials zu lokalisieren. Dieser auditive, haptische Vorgang
    wird scrubbing genannt. Das scrubbing hat sich in den DAW’s als Option
    gehalten, um sehr genaue Schnitte durchzuführen, obwohl eine optische
    Kontrolle durch die Sichtbarkeit der Wellenformen bereits vorhanden ist.
    Scrubbing als analoges Relikt führt im digitalen Umfeld eine handwerkliche
    Daseinsberechtigung da es die visuelle Kontrolle um die auditive und
    haptische Komponente erweitert.

    Bandmaschinen aus dem Consumer (Heim-) Bereich (wie etwa die Akai 400
    D) ebenso wie High End Studiogeräte von Studer (A 820) unterlagen
    gewissen technischen Mängeln. Ein erstes Manko ist das Bandrauschen, ein
    weiteres sind die Gleichlaufstörungen (wow and flutter), die auch bei
    Plattenspielern und Kassettenrekordern auftreten. Diese können zwar

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    minimiert werden, sind aber dennoch Teil eines analogen Systems, das auf
    mechanischen Komponenten wie Motoren und Antriebsriemen beruht. Dies
    bedeutet, dass sich der Anwender damit arrangieren muss.

    Die Studer A 820 Studio Master Maschine verfügte bereits über
    umfangreiche Pitch Control Features, die es ermöglichten, die
    Geschwindigkeit während der Wiedergabe individuell anzupassen, was zu
    ähnlichen Effekten führt. Aber selbst die hochtechnisierte Studer Maschine
    erzeugt beim Abstoppen den hier angesprochenen Effekt der bei grober
    manueller Kontrolle (indem man die Spulen per Hand abbremst) eine Art
    Scratching-Effekt erzeugt. DJs wie Ruthless Ramsey oder das Open Reel
    Ensemble arbeiten auf dieser Ebene mit Cassettenrekordern und
    Bandmaschinen. Im Prinzip ist der Tape Stop also primär ein unerwünschter
    Effekt der jedoch durch seine ästhetische Wirkung zum Artefakt invertiert
    wurde.

    Digitaler Tape Stop
    Die digitale Simulation des Effektes stand bereits ab 2008 in Pro Tools als
    freies Plug-in namens vari-fi und ab 2009 in Logic Pro 9 als Fader-
    Zusatzfunktion zur Verfügung. Dabei können sowohl Summen- als auch
    Gruppen- und Einzelsignale bearbeitet werden. Im Prinzip verstehen sich
    beide Applikationen als eine Erweiterung des Pitch-Effektes auf der
    zusätzlichen Zeitebene. Dementsprechend liessen sich auch Tape Slow-
    Down-Effekte mit einem über das Pitch-Bend Rad eines MIDI-Keyboards
    gesteuertes Audio Signal realisieren.

    Aktuelle Plug-ins wie etwa Tape Stop von der Firma Vengeance bieten
    zusätzliche Erweiterungen auf der Filterebene und ein umfangreiches
    Handling an. Auch das Plug-in Effectrix von Sugar Bytes bietet den Effekt an,
    kategorisiert diesen jedoch als Vinyl-Effect: «...für uns ist der Tape Stop
    einfach ein naheliegendes Tool, um schnell und effektiv am Rechner
    Vinyleffekte umzusetzen.»1 Andere Anbieter von DAW’s implementieren den
    Bandstopp-Effekt ebenfalls als Standard, seit sich in den letzten vier Jahren
    eine Popularität eingestellt hat. In diesem Entwicklungsprozess ist (wie auch
    in vergleichbaren, beispielsweise Auto-Tune) zu beobachten, dass ein Effekt
    erst von wenigen Anwendern per Zufall oder Experiment entdeckt wird und
    dann in relativ kurzer Zeit in allen vergleichbaren Produkten zur Verfügung
    steht. Dabei werden die Basisfunktionen von Drittanbietern in speziellen
    Plug-ins erweitert.

    Historische Beispiele

    Historische Beispiele mit Tape Speed-Up- und Tape Slow-Down-Effekten
    sowie Gleichlaufschwankungen lassen sich an Songs der 1970er und 80er
    Jahre wie Nazz «Hang On Paul» (1969), Black Sabbath «War Pigs» / «Lukes
    Wall» (1970), Rocky Horror Picture Show «Time Warp» (1973), Pink Floyd

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    «The Great Gig In The Sky», (1973, Gleichlaufschwankung), Sweet «Sweet
    F.A.» (1974), Joy Division «A Means To An End» (1980), Talking Heads «Wild,
    Wild Life» (1986) oder Tom Petty and the Heartbreakers «Jammin Me»
    (1987), festmachen (Hörbeispiele hier). Diese weisen (ausser letzterem)
    allesamt ähnliche Charakteristika auf: am Ende des Songs wird das Band
    verlangsamt oder beschleunigt und erzeugt einen surrealen Effekt.

    Tape Stop in den Charts – kreativer Einsatz?
    Anhand von 40 untersuchten Beispielen aus den Billboard Charts lassen sich
    noch weitere Charakteristika feststellen. Zunächst wird der Tape Stop als
    Slow-Down und Speed-Up-Effekt in verschiedenen Geschwindigkeiten, bis
    hin zu sehr kurzen rhythmischen Einwürfen eingesetzt. Dies geschieht dann
    auch sowohl als Summen- als auch Gruppen- oder Einzelspureffekt, meist
    jedoch in der Summe aller Tracks. Die dramaturgische Erscheinungsform des
    Effektes reicht von dezent bis zu sehr plakativ, und wird oft an Wendepunkte
    eines Songs, aber auch ganz zu Beginn und am Ende eingesetzt.

    Der digitale Effekt trat erstmals 2001 auf, erreichte aber erst in den Jahren
    2010 bis 2014 grosse Beliebtheit. Fast ausnahmslos findet sich der Sound in
    Hip Hop, R&B und EDM-Produktionen, also in einem Bereich, in dem ohnehin
    schon stark mit elektronischen Effekten gearbeitet wird. Hier eröffnen sich
    durch die digitalen Möglichkeiten neue Varianten des Effektes.

    Ein Grossteil der untersuchten Produktionen stammt aus den USA, einige
    davon wurden im Conway Studio in Los Angeles realisiert, ein Studiokomplex
    der mit vielen aktuellen Chart-Künstlern zusammenarbeitet. An sechs
    Beispielen sollen verschiedene Einsatzmöglichkeiten des Tape Slow Down
    Effektes erläutert werden:
     Kevin Rudolf feat. Lil Wayne: «Let It Rock» (2009) direkt zu Beginn des Songs, dann bei 2:22 plakativ und am Ende mit
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                                                             Ellie Goulding: «Lights» (2012) als Breakdown-Effekt bei 2:30
      Ke$ha: «Tik Tok» (2010) zu Beginn des Songs (0:39) sehr plakativ, bei 2:44 mit komplexen Speed-Up und Slow-Down-
                                                                                                               Effekten
       Flo Rida: «Good Feeling» (2012) an vielen kleinen Stellen wird der Effekt als rhythmische Komponente eingesetzt, ab
                                                                                                          3:59 spielerisch
        Nicki Minaj: «Starships» (2012) hier finden vordergründige Speed-Up und Slow-Down-Effekte statt, die sich laufend
                                                                                                             wiederholen
         David Guetta: «Turn Me On» (2012) bei 2:45 wird ein Slow-Down-Effekt als Einleitung zu einem Rap Teil verwendet

    Mehrheitlich handelt es sich also im Kontext von kommerziell orientierten
    Popsongs beim Tape Stop Effekt um ein Sound Gadget, welches spielerisch-
    plakativ eingesetzt wird, die musikalische Substanz jedoch nicht bereichert.

    Vom Glitch zum Artefakt

    Der Tape-Stop-Effekt kann auch unter die Kategorisierung der Glitch-Sounds
    oder Glitch-Effekte gezählt werden, da es sich gewissermassen um eine
    produktbedingte Fehlerhaftigkeit handelt. Die bei Bandmaschinen wie auch
    bei Plattenspielern oder Kassettengeräten angesprochenen technischen

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    «Unzulänglichkeiten», die zum Wesen des Analogen gehören, werden als
    Plug-ins (so zum Beispiel Virtual Tape Machine der Firma Slate Digital, das
    Gleichlaufschwankungen simuliert) in DAW’s «implantiert», um der DAW zu
    suggerieren, sie solle sich so verhalten wie ihre medialen Vorfahren.

    Abgesehen von einigen als gimmick eingesetzten Stellen ist der Tape-Stop-
    Effekt ein kennzeichnendes Exempel für den Transfer des pseudo-Analogen
    in das Digitale. Der Bandstopp-Effekt in der heutigen Form wird nicht nur
    deswegen häufig angewandt, weil sich die Handhabung einfach gestaltet.
    Auch die kreativen Möglichkeiten durch neue Plug-ins führen in populärer
    Musik zur Entwicklung neuer ästhetischer Strömungen, die sich schon längst
    nicht mehr nach den gängigen Beurteilungsmustern richten. Ob, wann und
    wie der Bandstopp-Effekt abebbt oder wieder aufblüht, bleibt ungewiss.

    Videos
     Beispiel des Bandstopp-Effekts in einer Studiosituation. Ebenfalls zu sehen ist der Scrubbing-Effekt, der einem Scratch-
                                                                                                                Sound gleicht.
                                                          Beispiel einer Bandstopp-Software mit verschiedenen Editiermodi.
                                                                                                    DJ Ruthless Ramsey 1991
                                                                                                   Open Reel Ensemble 2015

    → Footnotes
    1.  Entwickler Markus Leucht im Interview mit dem Autor, 30.9.2015.

    Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch Kultsounds: Die prägendsten
    Klänge der Popmusik 1960-2014, erschienen bei Transcript 2017, S. 339-341.

    → Published on October 11, 2017

    → Last updated on August 06, 2020

    Immanuel Brockhaus is a jazz pianist, keyboardist, composer, producer, teacher
    and author. He published several books about piano and band playing. His latest
    publication is a research project about digital editing techniques in popular music
    («Inside The Cut», Transcript 2010) and an article about the early sound of ECM
    productions. He is doctorand in sound studies at The University Bern and the
    University of the Arts Bern. His project «Cult Sounds» is supported by the SNF
    (Swiss National Fond). Immanuel Brockhaus lives in Bern and Berlin.

    → Topics
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    → Topics

          Music Production
             Nostalgia
             Sampling
            Technology
             All Topics
    → Snap

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