Cluster-Wohnungen Zukunft Bauen
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Zukunft Bauen Forschung für die Praxis | Band 22 Cluster- Wohnungen Eine neue Wohnungstypologie für eine anpassungsfähige Stadtentwicklung
Grußwort Liebe Leserinnen und Leser, die Anziehungskraft der Großstädte für Menschen aus dem In- und Ausland ist enorm. Damit einher gehen viele Veränderungen: Die Zahl der Haushalte steigt, gleichzeitig nimmt die durchschnittliche Haushaltsgröße ab. In dieser Entwicklung spiegelt sich neben demo- grafischen Trends auch die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft wider. Neben der klassischen Kernfamilie gibt es viele unterschiedliche Formen des Zusammenlebens. Immer mehr Menschen wünschen sich deshalb Wohnmodelle, die mehr Lebensqualität auf begrenzter und bezahlbarer Wohnfläche bieten. Hierfür werden neue Konzepte des Zusam- menlebens, neue Wohnungstypologien und meist auch eine andere Planungskultur benötigt. Wie lassen sich Projekte, die diesen Ansprüchen gerecht werden, am besten realisieren? © Schafgans DGPh Planer und Architekten haben hierauf eine Antwort gefunden: In den letzten Jahren ent- standen sowohl in Deutschland als auch im europäischen Ausland unter dem Sammelbegriff »Cluster-Wohnungen« Gebäude, die geänderte Anforderungen an Wohnraum bedienen. Sie sind ein innovatives Angebot für städtisches Wohnen, die das Zusammenleben von Men- schen in unterschiedlichen Lebensphasen und -modellen ermöglicht, wie beispielsweise Alleinstehenden, Alleinerziehenden, Familien oder auch Senioren. Die Wohnungen zeichnen insbesondere zukunftsweisende Grundrisse aus, die viele Anpassungsmöglichkeiten bieten. Hinter den Projekten stecken unterschiedliche Eigentums- und Organisationsmodelle. Professor Michael Prytula (FH Potsdam) und Professorin Susanne Rexroth (HTW Berlin) untersuchten gemeinsam mit ihrem Team gebaute Praxisbeispiele von Cluster-Wohnungen. Die Forschergruppe wertete die charakteristischen baulichen und wirtschaftlichen Merk- male dieser Wohnungstypologie sowie soziale Merkmale dieser Wohnform aus. Im Fokus der Analyse standen Betriebsmodelle, Wirtschaftlichkeit, Gebäudestruktur, Ausstattung, Energieversorgung und Nutzungsarten. Die Ergebnisse der Forschungsarbeit richten sich vor allem an Planerinnen und Planer, Bauherren und Akteure der Wohnungswirtschaft. Ich freue mich, dass wir Ihnen den Bericht in unserer Reihe »Zukunft Bauen – Forschung für die Praxis« präsentieren. Die Reihe vereint ausgewählte Arbeiten, die im Rahmen der Forschungsförderung des Innovationsprogramms Zukunft Bau unterstützt werden und eine große Bedeutung für die Baupraxis haben. Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre. Dr. Markus Eltges Leiter des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), Bonn Eine neue Wohnungstypologie für eine anpassungsfähige Stadtentwicklung 3
Mitwirkende Autoren: Fachhochschule Potsdam Institut für angewandte Forschung Urbane Zukunft Prof. Dr.-Ing. Michael Prytula Dipl.-Ing. Manuel Lutz HTW Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin FB I Regenerative Energien Prof. Dr.-Ing. Susanne Rexroth Dipl.-Ing. Friedrich May Weitere Mitwirkende: Dipl.-Ing. Christian Berkes, FH Potsdam Nele Trautwein, BA Architektur, FH Potsdam Moritz Henes, BA Architektur, HTW Berlin Projektpartner und weitere Födermittelgeber: Wohnbund e.V. München, Heike Skok Netzwerkagentur / STATTBAU GmbH Berlin, Constance Cremer Verband Privater Bauherren e.V., Corinna Merzyn id22: Institut für kreative Nachhaltigkeit, Dr. Michael LaFond GdW, Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen e.V., Axel Gedaschko Wohnungsbaugesellschaft ProPotsdam, Joern-Michael Westphal HOWOGE, Stefan Schautes GeSoBau, Nadine Gerstner Sozialwissenschaftlicher Beirat: Prof. Birgit Bauer, HTW Berlin Prof. Dr. Antje Michel, FH Potsdam Prof. Dr. Tobias Schröder, FH Potsdam Prof. Dr. Stefan Thomas, FH Potsdam Prof. Dr. Hermann Voesgen, FH Potsdam Fachliche Betreuung: Dr.-Ing. Michael Brüggemann Fraunhofer IRB, Stuttgart 4 Cluster-Wohnungen
Vorwort und Dank der Autoren Wie werden sich Arbeits- und Wohnfor- Wir danken dem Bundesministerium des men sowie die damit verbundenen kulturel- Innern, für Bau und Heimat (BMI) für die len Standards in den nächsten 50 oder 100 Förderung unseres Forschungsprojekts Jahren entwickeln? Wir wissen es nicht. sowie unseren Partnern aus der kommu- Gleichwohl prägen die heutigen Baupro- nalen Wohnungswirtschaft, Wohnungs- jekte maßgeblich die zukünftige Stadtge- verbänden und aus der Wohnberatung. stalt und deren Nutzungsmöglichkeiten. Neben der finanziellen Unterstützung war Was wir jedoch wissen ist: Sämtliche ge- vor allem der fachliche Austausch für uns sellschaftlichen Veränderungen gewinnen von unschätzbarem Wert. Erst diese enge an Dynamik. Es ist daher von entscheiden- Rückkopplung an die Praxis ermöglichte der Bedeutung, heute bauliche Strukturen eine transdisziplinäre Forschung. zu realisieren, die den wachsenden Anfor- Das Autorenteam (v. l. n. r.): derungen an Flexibilität, Anpassungs- und Wir danken auch den Kolleginnen und Kol- Manuel Lutz, Michael Prytula, Susanne Rexroth, Friedrich May Wandlungsfähigkeit ökonomisch, sozial legen von der FH Potsdam und der HTW und ökologisch gerecht werden. Berlin für ihre Mitwirkung als sozialwis- senschaftlicher Forschungsbeirat. Sie wa- In den letzten Jahren entstanden unter ren eine wichtige Unterstützung in allen dem Sammelbegriff »Bauen in der Gruppe« methodischen Fragen und für die Reflexion wichtige Impulse für die Stadtentwicklung unseres Arbeitsprozesses. in Deutschland. Eine Besonderheit sind die unter dem Sammelbegriff »Cluster-Woh- Ein besonderer Dank gilt den Projektent- nungen« entwickelten Pilotprojekte ge- wicklern, Architekten und Bewohnern meinschaftlichen Wohnens, in denen mit von Cluster-Wohnungen in Deutschland unterschiedlichen Sozial-, Bau- und Eigen- und der Schweiz für ihre Experimentier- tumsformen experimentiert wurde. Cluster- freude, ohne die es unseren Forschungs- Wohnungen sind ein baukulturell interes- gegenstand nicht gäbe. Sie gewährten santer Beitrag zu Wohnformen für unsere uns großzügig Einblicke in ihre Ideen- und moderne Gesellschaft, der sich im Sinne Lebenswelten. einer resilienten, d.h. anpassungsfähigen und nachhaltigen Stadtentwicklung mögli- cherweise verallgemeinern und weiter ent- wickeln lässt. Die vorliegende Studie präsentiert in Kurz- form die Ergebnisse einer breiter angeleg- ten, vergleichenden Untersuchung zum Thema »Cluster-Wohnen«. Der Endbericht erschien unter dem Titel »Cluster-Wohnun- gen für baulich und sozial anpassungsfähi- ge Wohnkonzepte einer resilienten Stadt- entwicklung« und ist online abrufbar. Eine neue Wohnungstypologie für eine anpassungsfähige Stadtentwicklung 5
Inhaltsverzeichnis Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Mitwirkende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Vorwort und Dank der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Hinweis zu Publikationen des Forschungsprojektes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Teil 1 – Cluster-Wohnungen – eine neue Wohnungstypologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Cluster-Wohnung: Was ist das? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Grundrissvarianten von Cluster-Wohnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Teil 2 – Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Spreefeld (Berlin): Berliner Pionier mit größter Cluster-Wohnung auf zwei Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 mehr als wohnen (Zürich): Vom Modell zur Serienreife. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Neufrankengasse (Zürich): Geschäftsmodell in hochverdichteten Innenstadtlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 wagnisART (München): Gemeinschaft auch sozial wagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Zwicky Süd (Zürich): Urbane Wohnexperimente am Stadtrand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 inklusiv wohnen Köln (Köln): Selbstbestimmtes Zusammenleben in Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 StadtErle (Basel): Genügsamkeit, Nachhaltigkeit und Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Annagarten (Oranienburg): Umnutzung im Bestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Teil 3 – Planungsgrundlagen und Hinweise zur Umsetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 1. Städtebau, Baukörper und Projektgröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2. Vielfalt der Wohnungen und Erschließungstypologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 3. Gemeinschaftsräume innerhalb der Cluster-Wohnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 4. Gemeinschaftsräume außerhalb der Cluster-Wohnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 5. Privaträume in Cluster-Wohnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 6. Baukonstruktive und gebäudetechnische Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 7. Flexibilität durch Umnutzungs- und Rückbauoptionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 8. Barrierefreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 9. Genehmigungsrechtliche Fragen und Rechtsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 10. Baukosten und Finanzierungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 11. Partizipation im Planungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 12. Selbstorganisation und Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Glossar und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Projektliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Literaturhinweise des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Eine neue Wohnungstypologie für eine anpassungsfähige Stadtentwicklung 7
Teil 1 Cluster-Wohnungen – eine neue Wohnungstypologie In den letzten Jahren haben die meisten großen Städte und urbanen Ballungs- räume in Deutschland einen starken Zuzug erlebt. Die Arbeitsmobilität nimmt zu, das Wohnen in der Innenstadt erlebt eine Renaissance. Die Folge: Der öko- nomische Druck auf die innerstädtischen Immobilien wächst. Wohnraum wird kostbar – und teuer. Zugleich nimmt die Zahl der Ein-Personen-Haushalte zu, 1 BiB 2013: Pro-Kopf-Wohnfläche erreicht neuen insbesondere in der wachsenden Altersgruppe der Über-50-Jährigen1. Auf Höchstwert den urbanen Wohnungsmärkten bildet sich dieser Trend in der drastischen Zunahme von Kleinwohnungen, Mikroapartments oder Boarding-House-Mo- dellen ab. Diese Individualisierung der Gesellschaft kann eine Kehrseite ha- ben, insbesondere im Alter: Vereinzelung und Vereinsamung. Bereits seit Beginn der Industrialisierung und Flächenverbrauchs ohne Abstriche an suchen Menschen nach gemeinschaftli- der Wohnqualität und Raum für das Be- chen Wohnformen, die über familiäre Be- dürfnis nach Gemeinschaft. 2 Bollerey 1991: Architekturkonzeptionen der ziehungen hinausgehen2 oder sich jenseits utopischen Sozialisten davon konstituieren. Das nahm seinen An- Wie kann auf weniger Platz als bislang fang mit Produktions- und Wohngenossen- gut und gemeinsam gewohnt werden? schaften der utopischen Sozialisten im 19. Die Bau- und Wohngenossenschaft Kraft- Jahrhundert und setzte sich fort über die werk1 aus Zürich zeigte wegweisende bürgerlichen Einküchenhäuser zu Beginn Antworten auf. Aus den 2001 mit Bünzli & des 20. Jahrhunderts bis zu den Hausbe- Courvoisier entwickelten experimentellen setzer-Kommunen und (studentischen) Großwohnungen für große Wohngemein- Wohngemeinschaften, die sich nach 1968 schaften entstand im Jahr 2011 ein neuer etablierten. Die ab Mitte der 1990er Jah- Wohnungstyp, der im von Adrian Streich re entstehenden »Baugruppen« wieder- Architekten geplanten Projekt Heizenholz um verbanden den Wunsch nach gemein- erstmals umgesetzt wurde: die Cluster- schaftsorientiertem Zusammenwohnen mit Wohnung. Diesem Pilotprojekt folgten seit- dem Bedürfnis, auch auf die Planungspro- dem weitere, und die Nachfrage nach die- zesse Einfluss zu nehmen sowie Wohn- ser Wohnform nimmt zu. Woran liegt das? eigentum zu schaffen. Bereits diese kleine Was sind die besonderen Qualitäten von Auswahl zeigt: Menschen verwirklichen Cluster-Wohnungen? Welche räumlichen, aus unterschiedlichen Motivationen ihre baulichen und sozialen Bedingungen sind Vorstellungen von Zusammenleben. für das Gelingen bei der Entwicklung und in der Nutzung dieser neuen Wohnungsty- Die heutige Herausforderung besteht dar- pologie zu beachten, und welchen Beitrag in, hohe Wohnqualitäten gerade in verdich- leistet sie zu einer resilienten, d.h. anpas- teten urbanen Bereichen zu erreichen, die sungsfähigen und nachhaltigen, Stadtent- 3 Weitere Informationen zur Forschungsmetho- den Anforderungen nachhaltiger Stadtent- wicklung?3. Darum wird es im Folgenden dik siehe Endbericht Cluster-Wohnungen 2019, wicklung gerecht werden. Konkret heißt gehen. Kap. 1.4 und 1.5 das: soziale Durchmischung, Teilhabe und Bezahlbarkeit, Reduktion des Ressourcen- 8 Cluster-Wohnungen
Cluster-Wohnung: Was ist das? Cluster-Wohnungen kombinieren die Vor- Bewohner einer Cluster-Wohnung verbin- Räumliche Organisation gemeinschaftlich teile einer Kleinstwohnung mit denen einer den mit dieser Wohnform ein selbstorgani- Wohngemeinschaften Wohngemeinschaft (WG). Mehrere priva- siertes Zusammenleben und die kollektive te Wohneinheiten sind mit gemeinschaft- Nutzung von Gemeinschaftsflächen be- Cluster- Studierenden- lich genutzten Räumen verbunden. Darin wusst und auf Dauer. Damit unterscheidet Soziale Wohnungen wohnheime Organisation ähneln sie WGs. Im Unterschied zu diesen sich Cluster-Wohnen von anderen Formen sind die privaten Wohneinheiten aus einem des Zusammenlebens, wie in Studieren- selbstorganisiert Trägerschaft oder mehreren Zimmern jedoch mit einem den-, Alters- oder Pflegeheimen, die vor Baugruppen Senioren- wohnheime Vario- eigenen Bad und optional einer (Tee-)Kü- allem zweckorientiert und oft temporär er- konventionelle wohnungen Pflege- Wohnungen wohnheime che ausgestattet. Die Gemeinschaftsfläche folgen sowie durch Trägerorganisationen setzt sich aus einzelnen oder mehreren strukturiert und geregelt werden. Mikroapartments Boarding House individuell Wohn-, Koch- und Essbereichen zusam- men; weitere Sanitärräume, Hausarbeits- Cluster-Wohnen zeichnet sich durch Abb. 1: Typologische Einordnung von räume oder flexibel nutzbare Gästezimmer selbstorganisierte Prozesse und einen ho- Cluster-Wohnungen können ebenfalls dazuzählen. hen Grad an Einflussnahme auf die Ent- wicklung, Planung, Verwaltung und den Der Gemeinschaftsbereich ist damit grö- Unterhalt der Räumlichkeiten aus. Die Be- ßer als in klassischen WGs und in Cluster- legungspolitik orientiert sich am Gemein- Wohnungen von zentraler Bedeutung: Hier wohl: Soziale Inklusion und Diversität wer- verbindet sich Privates und Gemeinschaft- den häufig ebenso angestrebt wie eine liches. Oftmals handelt es sich um erwei- ressourcensparende Raumausnutzung. terte Verkehrs- und Erschließungsflächen, die so einen zusätzlichen Nutzen erhalten, Cluster-Wohnungen adressieren somit fünf oder um gemeinschaftliche Wohnräume, wesentliche gesellschaftliche Trends, die die sich die beiden Funktionen Erschlie- Wohn- und Stadtentwicklung betreffen: ßung und Aufenthalt teilen. Die Potenzia- le im Gebrauch dieser Räume entstehen • Wunsch nach Individualität und Rückzug, durch die zumeist großzügige Überlage- • Bedürfnis nach Gemeinschaft, rung von Nutz- und Verkehrsflächen. Das • Wunsch nach Partizipation und Selbst- spart Kosten und erlaubt eine Ausnutzung bestimmung, von Wohnraum, die den Anforderungen • Bedarf an kostengünstigem Wohnraum nach sparsamem Umgang mit Ressourcen sowie ebenso entgegenkommt wie jenen einer • Reduktion von Ressourcen- und Flächen- alternden Gesellschaft nach barrierefreier verbrauch. Gestaltung. Mini- Mini- Mini- Mini- Mini- Mini- Bad Bad Bad Bad Bad Bad Küche Küche Küche Küche Küche Küche Zimmer Zimmer Zimmer Zimmer Zimmer Zimmer Zimmer Zimmer Zimmer 1 2 3 1 2 3 1 2 3 Verkehrsfläche Gemeinschaftsbereich Verkehrsfläche Gemein- Gemein- Gemein- Gemein- Gemein- Gemein- Küche schafts- Speise- schafts- schafts- schafts- schafts- schafts- des Bad Raum Bad Raum Küche (Option) Küche Raum Trägers Wohngemeinschaft Cluster-Wohnung Wohnheim Abb. 2: Schematische Darstellung von Grundrisstypologien im Vergleich Eine neue Wohnungstypologie für eine anpassungsfähige Stadtentwicklung 9
Grundrissvarianten von Cluster-Wohnungen Projekte, deren Erschließung dem Prinzip des Mittelgangs oder Flur entspricht: Kalkbreite, Zürich 2014 Gießerei, Winterthur 2013 Warmbächli, Bern 2020 Wohnen am Maybachufer, Berlin 2012 Projekte, die über einen Zentralraum erschlossen werden: StadtErle, Basel 2017 Haus Noah, Ludwigshafen 2008 Ecoquartier Jonction, Genf 2018 mehr als wohnen, Zürich 2014 Projekte mit Mischformen der Erschliessung: Annagarten, Oranienburg 2019 Abb. 3: Übersicht zu Grundrissen von 23 Cluster-Wohnungen WoGen, Wien 2020 inklusiv wohnen e.V., Köln 2017 10 Cluster-Wohnungen
Neufrankengasse, Zürich 2015 Musikerhaus, Basel 2010 Spreefeld, 2 OG, Berlin 2014 Forstenried, München 2015 WagnisArt, München 2016 Kanzleigasse 50, Winterthur 2012 Heizenholz, Zürich 2011 St. Pauli, Zürich 2012 Ecoquartier Les Vergers, Genf 2019 Generationenwohnen, Wien 2019 Gundeli, Basel 2016 Zwicky Süd, Dübendorf 2016 Eine neue Wohnungstypologie für eine anpassungsfähige Stadtentwicklung 11
Abb. 59: Blick auf das Haus von der Straße aus inklusiv wohnen Köln (Köln) Kenndaten Adresse Sürther Feldallee 12, D-50996 Köln-Rodenkirchen Projektbeginn 2012 Fertigstellung 2017 Bauherr inklusiv wohnen Köln e. V. zusammen mit GAG Immobilien AG Architekten Architekturbüro Pacher, Dormagen Anzahl Cluster-Wohnungen (gesamtes Gebäude) 2 Anzahl Wohnungen (gesamtes Gebäude) 11 Fläche der dargestellten Cluster-Wohnung 425,5 in m2 Wohnfläche Fläche aller Wohnungen in m2 Wohnfläche 1.386,54 Gewerbefläche (gesamtes Gebäude) in m2 keine Gewerbefläche vorhanden Servicefläche Gemeinschaftsflächen (gesamtes Gebäude inklu- 140,08 sive Terrassen und gemeinschaftlichen Lagerräu- men / Abstellräumen wie z.B. Fahrradkeller) in m2 Konstruktion Gebäude Massivbau mit Stahlbetondecken. Tiefgarage zusammen mit dem Nachbarhaus 36 Cluster-Wohnungen
inklusiv wohnen Köln Selbstbestimmtes Zusammenleben in Gemeinschaft Projektbeschreibung Cluster-Wohnungen eignen sich für neue Bereitstellung professioneller Pflegeleis- aufnahm und den Eltern Mitsprache bei der Formen inklusiven Wohnens. Das Projekt tungen – festangestellte Fachkräfte, Assis- Planung und Ausstattung der Wohnungen inklusiv wohnen Köln geht auf die Initia- tenzdienste, Nachtwachen etc. – zur Unter- gewährte. Das in Massivbauweise errich- tive von Eltern zurück, die ihren teilweise stützung der WG übernimmt der Verein tete viergeschossige Gebäude ist in einem schwerbehinderten Kindern langfristige inklusiv wohnen Köln e.V., der sich auch für Stadterweiterungsgebiet im Außenbe- Wohnperspektiven eröffnen wollten. Inspi- eine lebendige Nachbarschaft engagiert. reich Kölns gelegen. Die gesamte Erschlie- riert durch ein Münchner Vorbild, fördern ßung ist barrierefrei und rollstuhlgeeignet. sie in einer normalen Wohnumgebung die Weder selbständige Wohngruppe noch Neben zwei Cluster-Wohnungen im 1. und Integration von Menschen mit Behinde- Pflegeheim, verhilft das Projekt den Be- 2. Stock gibt es in Erd- und Dachgeschoss rung in die Gesellschaft. Nach dem Prinzip wohnern mit Behinderungen dank ambu- Wohnungen für ältere oder alleinstehen- »Wohnen für Hilfe« leben in dieser inklusi- lanter Pflege und inklusivem Wohnen in de Mieter sowie Familien, die teilweise die ven Wohngemeinschaft Studierende, die der Gemeinschaft zu einem hohen Maß Pflegeangebote im Haus mitnutzen. Dank im Gegenzug für eine niedrige Miete Hilfe- an Lebensqualität. Der innovative Ansatz dieser Synergieeffekte kann das Projekt leistungen erbringen, und Menschen mit wurde mehrfach mit Auszeichnungen ge- eine ambulante Rund-um-die-Uhr-Betreu- Behinderung zusammen. Die WG organi- würdigt und erfährt große Nachfrage. Die ung anbieten. Im Erdgeschoss befinden siert ihr Zusammenleben selbst und mietet Umsetzung erfolgte durch die kommuna- sich zudem die Büros des Vereins und ein die Cluster-Wohnung gemeinsam als GbR. le Wohnungsgesellschaft GAG Immobilien Gemeinschaftsraum, der als Begegnungs- Die Verwaltung des Wohnhauses und die AG aus Köln, die das Konzept des Vereins ort allen Hausbewohnern offensteht. »Ich glaube das ist eine Form des Zusammenlebens, die sich gut reproduzieren ließe, aber man muss total aufpassen: Man darf die Einheiten nicht zu klein machen. [Größere Gruppen] machen zwar ein komplexes System, aber es bietet auch jedem die Möglichkeit irgendwo anzudocken und sich beziehungsmäßig, ja symmetrisch wohlzufühlen.« Michaela Mucke, Vorsitzende des Vereins inklusiv wohnen Abb. 60: Grundriss einer Cluster-Wohnung mit Be- legung im 2. Obergeschoss, inklusiv wohnen Köln Eine neue Wohnungstypologie für eine anpassungsfähige Stadtentwicklung 37
Abb. 61: Außenliegende zweite Erschließung Abb. 62: Gemeinschaftlich genutztes Pflegebad Abb. 63: Platz für Mobilitätshilfen Die Cluster-Wohnung Mit Vorerfahrungen aus Hausgemein- wie einen Aufenthaltsraum, einen Medien- schaften, aber ohne Kenntnis anderer raum und ein vollausgestattetes Pflegebad Cluster-Wohnungen entwickelte der Ver- erschließen, sehr langgestreckt. Die priva- ein ein Grundrisskonzept, das dem Prinzip ten Zimmer sind relativ klein und mit einem der Cluster-Wohnung entspricht. Für in- eigenen Bad ausgestattet. Im linken Flügel klusive WGs ist diese Wohntypologie be- teilen sich zwei Zimmer ein in der Mitte lie- sonders geeignet, da sie den Bedürfnis- gendes Bad. (Tee-)Küchen sind nicht in- sen nach Rückzug und individueller Pflege stalliert, doch verfügt jedes Zimmer über ebenso gerecht wird wie dem Wunsch entsprechende Anschlüsse. Mit dieser nach Begegnung und Unterstützung durch Rückbauoption in konventionelle Kleinst- die Gemeinschaft. Kennzeichnend für die wohnungen möchte der Bauherr das Leer- Cluster-Wohnung ist ein großer offener standrisiko minimieren. Abb. 64: Gartenbereich des Projektes Eingangsbereich, der Abstellfläche für Rollstühle u. Ä. bietet und in eine Wohn- küche übergeht. Dieses intensiv genutzte Zentrum der Wohnung wird durch eine als Balkon genutzte metallene Außentreppe erweitert, die von den Behörden als zweiter Fluchtweg verlangt wurde. Die ursprüng- lich geplante zweite, kleinere Wohnküche für die Studenten wurde bereits im Bau zu- gunsten einer großen Wohnküche für alle verworfen. Die besondere Qualität dieses offenen, lichtdurchfluteten Gemeinschafts- bereichs wird im Vergleich zur darunterlie- genden Cluster-Wohnung deutlich. Obwohl fast baugleich, ist die Wohnküche dort stärker abgetrennt. Ein türbreiter Durch- gang lässt zwar Licht in den Eingangs- bereich, aber deutlich weniger als oben. Dadurch wirken die Flure, die rechts und links des Eingangs die privaten Zimmer so- Abb. 65: Eingangsbereich der Cluster-Wohnung 38 Cluster-Wohnungen
Abb. 66: Gemeinschaftsküche und Gemeinschaftsraum der Cluster-Wohnung Abb. 67: Einzimmer-Individualbereich »Ich glaube das ist eine Form des Zusammenlebens, die sich gut reproduzieren ließe, aber man muss total aufpassen: Man darf die Einheiten nicht zu klein machen. [Größere Gruppen] machen zwar ein komplexes System, aber es bietet auch jedem die Möglichkeit irgendwo anzudocken und sich beziehungsmäßig, ja symmetrisch wohlzufühlen.« Michaela Mucke, Vorsitzende des Vereins inklusiv wohnen Abb. 68: Schwellenloser Übergang Abb. 69: Lageplan Eine neue Wohnungstypologie für eine anpassungsfähige Stadtentwicklung 39
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