Crazy, Queer, and Lovable: Ovartaci - DOPPELAUSSTELLUNG
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DOPPELAUSSTELLUNG Crazy, Queer, and Lovable: Ovartaci ICH DU ER SIE XIER: Transidentität 1.Oktober 2019 – 1. März 2020 Montag, 30. September 2019 Presse-Preview: 11 Uhr Vernissage: 18.30 Uhr in Anwesenheit von Mia Lejsted, Direktorin Museum Ovartaci, Århus/Dänemark, und den Künstler*innen Die Gender- und Transgender-Debatte ist hoch aktuell, auch in der Kunst und im Kunstbetrieb. Die zweite Ausstellung der internationalen Trilogie «Das ‚Andere‘ in der Kunst» im Museum im Lagerhaus widmet sich Genderfragen, sexueller Identität und Transidentität. Im Zentrum steht das aussergewöhnliche Gesamtkunstwerk von Louis Marcussen (1894-1985), genannt «Ovartaci», entstanden im Laufe von 56 Jahren in der Psychiatrie. Ovartaci zählt zu den herausragenden Künst- ler*innen Dänemarks wie auch der internationalen Outsider Art. Ovartaci ist der «dänische Wölfli» und ebenso berühmt. Jetzt ist das Werk zum ersten Mal in der Schweiz zu sehen. Zeitlebens beschäftigt Ovartaci das Thema der Trans- formation. Zahlreiche weibliche Figuren und Puppen, kleine bis nahezu lebens- grosse, aus Papier, Karton, Papiermaché, stellen Gefährtinnen dar. Sie zeigen die Sehnsucht, das andere Geschlecht zu verkörpern. Durch Selbstkastration vollzieht Ovartaci schliesslich die gewünschte Anpassung vom Mann zur Frau. Parallel zu Ovartaci präsentiert die Ausstellung «ICH DU ER SIE XIER: Transidentität» zeitgenössische künstlerische Positionen des Weiblichen, Männlichen und von Transidentität. Fotografien, Videoarbeiten, kinetische Objekte und Malerei von Muda Mathis & Sus Zwick, Michelle «Jazzie» Biolley, Francesca Bertolosi und Sascha Alexa Martin Müller ergründen Fragen der Genderzugehörigkeit und der daraus folgenden gesellschaftlichen Erwartungen und Geschlechterklischees. Ein umfangreiches Rahmenprogramm diskutiert «Geschlecht und Kunst», Geschlechtsidentität und das Leben mit Transidentität, Genderselbstbestimmung in der Jugend, aber auch Reinkar- nationsideen. Crazy, Queer, and Lovable: Ovartaci Ovartacis Existenz beginnt als Paradiesvogel, etwa 3'000 Jahre vor Ovartacis menschlichem Dasein. Ob er/sie zu dieser Zeit männlich oder weiblich war, vermag Ovartaci nicht zu sagen. Ins menschliche Leben wird Ovartaci am 26. September 1894 in Ebeltoft, Dänemark, als Louis Marcussen, als Mann geboren. Schon früh beschäftigt sich der junge Louis mit Yoga, Buddhis- mus, Literatur und sucht die Beherrschung von Körper und Geist. Nach Abschluss einer Malerlehre wandert er nach Argenti- nien aus. Wieder zurück in Dänemark, sieht sich die Familie 1929 gezwungen, ihn in die psychiatrische Klinik Risskov in Århus einweisen zu lassen. 1932 wird Ovartaci in die psychiatrische Klinik Dalstrup in Djursland verlegt und kehrt 1942 1
wieder nach Risskov zurück, wo er bis zu seinem Tod 1985 lebt. ‹Ovartaci› – ‹Overtossi› im jütländischen Dialekt – bedeutet ‹Ober-Patient›, eine Rolle, die der eines beratenden Psychiaters entspricht. Ovartaci wählt diesen Namen in den frühen 1930er- Jahren in der psychiatrischen Klinik. Mit der Rückkehr nach Risskov beginnt Ovartacis langer Kampf gegen seine Männlichkeit. Auf der Suche nach der reinen, spirituellen Liebe sieht Ovartaci die Frau als edles Wesen. Eine einfache Kastration genügt Ovartaci nicht, zu gross ist sein Leiden unter den starken Trieben. Eine Amputation des Penis soll die Wurzel allen Übels beseitigen, wird jedoch nicht gewährt und in Folge von Ovartaci selbst vollzogen. Doch erst die vollständige Anpassung zur Frau verheisst Frieden und die Operationen werden schliesslich erlaubt. Zu diesem Zeitpunkt ist Ovartaci 63 Jahre alt. Ovartaci besteht darauf, als Frau ange- sprochen zu werden und will in die Frauenabteilung verlegt werden. Doch gegen Ende des Lebens nimmt Ovartaci wieder den bürgerlichen Namen an: Aus Ovartaci wird erneut Louis Marcussen. Ovartaci bewegt sich allerdings nicht allein zwischen einer weiblichen und/oder männlichen Identität. Zeitlebens beschäftigt Ovartaci das Thema der Verwandlung. Bilder, Skulpturen, sogar Flugmaschinen spiegeln Fantasien zu verschiedenen Reinkar- nationszyklen – sei es als Vogel, Schmetterling, Puma oder Tiger. Ovartaci begreift sich jenseits eines binären Systems von Weiblichkeit und Männlichkeit oder des Menschlichen und Animalischen. Existenz bedeutet für Ovartaci vielmehr den Zustand fortwährender Transformation. Das Werk Während des elfjährigen Aufenthaltes in der Anstalt in Dalstrup arbeitet Ovartaci zunächst als Flachmaler und beginnt schliesslich mit der künstlerischen Tätigkeit, die nahezu bis zum Tod andauert. Wände und Decke des Zimmers wie auch das Bett, das sich nun im Sammlungsbestand des Museum Ovartaci in Århus befindet, werden mit stilisierten weiblichen Figuren gestaltet. Viele der Puppen entstehen in Dalstrup sowie auch ein Altarbild für die Anstaltskapelle. Doch nach einem Traum übermalt Ovartaci es eines Nachts mit Frauenfiguren, die sich für eine Kapelle freilich nicht ziemen. Ovartaci erscheint aus vielerlei Sicht ‹unpassend›: als Psychiatriepatient*in und aus einer Familie mit vielen Geschwistern stammend, von denen mehrere eine Beeinträchtigung haben, sowie als Transgender respektive non-binäre Person. Allerdings wird Ovartaci nicht aufgrund von Transidentität hospitalisiert. Eine paranoide Psychose, in deren Folge er seinen blinden Bruder bedroht, führt zur psychiatrischen Einweisung. Das Werk Ovartacis lässt sich kaum fassen. Ovartaci ist ein/e Universalkünstler*in und hat in 56 Jahren Anstaltsleben ein aus- sergewöhnliches Gesamtkunstwerk geschaffen. Heute zählt Ovartaci zu den herausragenden Künstler*innen Dänemarks wie auch der internationalen Outsider Art. Ovartaci ist der ‹dänische Wölfli› und ebenso berühmt. Mit der Ausstellung im Museum im Lagerhaus ist das Werk nun zum ersten Mal in der Schweiz zu sehen. Es umfasst eigenwillige Fabelwesen, halb Mensch, halb Tier, kleine bis nahezu lebensgrosse weibliche Figuren und Puppen aus Papier, Karton oder Papiermaché, Stoff, verarbei- teten Sardinenbüchsen, Frauenfiguren, gefertigt aus Zahnpasta- oder Farbtuben. Es beinhaltet Zeichnungen, Malerei, Bauten und Flugobjekte. Ovartaci kreiert Wörterbücher für eine künftige Weltsprache – und sieht diese weitsichtig im Chinesisch – und gestaltet sich eine eigene Welt aus Spielgefährtinnen und ‹engen Freundinnen›: Sie sind die Lebensgefährtinnen in der Anstalt, Seelenverwandte, mit denen sich Ovartaci im Zimmer umgibt. Die künstlerische Vielfalt unzähliger grosser und kleiner Bilder und Objekte, aber auch die Bibliothek und Fotografien, die Einblick in das Zimmer Ovartacis geben, eröffnen uns den Kosmos Ovartaci. In kosmischen Spähren ist Ovartacis Dasein auch mit den Reinkarnationsideen angesiedelt, in denen Ovartaci Zeit und Raum ausser Kraft setzt. Naheliegend ist somit Ovartacis Faszination vom Fliegen. Bereits seit den 1940er-Jahren ist Ovartaci davon gebannt und unternimmt 1973 den Versuch, einen Hubschrauber zu bauen. Unterstützung erhält Ovartaci von der Klinikschreinerei und der Psychiater Thomas Olsen dokumen- tiert das – allerdings erfolglos bleibende – Flugprojekt auf einen 8-mm-Schmalfilm. Das Museum Ovartaci in Århus ist Kunstmuseum und psychiatriehistorisches Museum zugleich. Ovartaci ist die namens- gebende und bedeutendste Künstlerpersönlichkeit des Museums, doch mit rund 9'000 Arbeiten besitzt es eine der grössten Kunstsammlungen von Psychiatriepatient*innen in Europa. Bis Ende letzten Jahres war es im Gebäude der psychiatrischen Klinik Risskov untergebracht, in dem die Anstaltsgeschichte des ‹Jydske Asyl› seit seiner Gründung 1852 in den historischen Räumen anschaulich vermittelt wurde. Seit der Schliessung der ursprünglichen psychiatrischen Klinik in Risskov im Jahr 2018 befindet sich das Museum Ovartaci an einem interimistischen Ort, bevor es Anfang 2021 ein neues, dauerhaftes Zuhause auf dem Gelände des ehemaligen Journalisten-College in Skejby beziehen wird. Auch die Kunst Ovartacis ist geprägt von der Geschichte der Psychiatrie, sowohl in der Auswahl der Materialien als auch in der Konzentration des Werkes, in der Ausprägung von Ovartacis Fokussierung auf das Kunstschaffen und der Entwicklung eines eigenen Universums. Mia Lejsted und Eddie Danielsen erschliessen in ihren folgenden Texten Ovartacis Werk im histo- rischen Kontext des Lebens in der Psychiatrie. Bemerkenswert sind Ovartacis bevorzugte Behandlung durch die Ärzteschaft mit freiem Ausgang und die Anekdote um den Kauf eines Fahrrads. Viele Geschichten erzählen von Begebenheiten und Begegnungen mit Ovartaci. Immer kommt Respekt zum Ausdruck. Zu Recht muss die Frage gestellt werden, ob nicht erst die Lebenssituation Anstalt bei aller Einschränkung zum Freiraum des Schaffens für dieses ausserordentliche Oeuvre führte. So fungiert die Klinik als Schutzraum für den Schöpfer, aber auch für dessen Werk, wo die Kunst nicht nur entstehen konnte, sondern ausserdem Jahrzehnte aufbewahrt wurde. ICH DU ER SIE XIER: Transidentität Die Ausstellung ‹Crazy, Queer, and Lovable: Ovartaci› im Museum im Lagerhaus ist die zweite einer internationalen Ausstel- lungstrilogie, die sich anlässlich des dreissigjährigen Jubiläums von Stiftung und Museum dem ‹Anderen› in der Kunst wid- met. Beleuchtet werden dabei kulturelle, sexuelle/Gender- und religiöse Facetten des ‹Anderen›. Unter den vielen Aspekten, 2
unter denen das Werk Ovartacis zu betrachten ist, wird hier ein Fokus auf Ovartacis Transidentität gelegt, ohne damit das Werk auf diesen einen Punkt reduzieren zu wollen. Doch soll das heute viel diskutierte Gesellschaftsthema von Transidentität und Transgender in die Kunst einbezogen und in diesem Zusammenhang explizit diskutiert werden. Aus diesem Grund zeigt das Museum im Lagerhaus parallel zu Ovartaci eine Ausstellung mit dem Titel ‹ICH DU ER SIE XIER: Transidentität›. Zu sehen sind zeitgenössische künstlerische Positionen des Weiblichen, Männlichen und von Transidentität von Michelle ‹Jazzie› Biolley, Muda Mathis & Sus Zwick, Francesca Bertolosi und Sascha Alexa Martin Müller. Zudem sind alle Gäste eingeladen, sich einzubringen und sich in Kommentaren zu ihrer Selbstwahrnehmung zu äussern. Das Werk Ovartacis thematisiert Transidentität im weitesten Sinne. Anders als heute war der Begriff ‹Non-Bi- när› zu dieser Zeit noch nicht weit geläufig. Doch Leben und Werk zeigen, dass das System einer binären Genderfixierung schon für die Per- son Ovartacis nicht galt. Wer oder was bestimmt Genderzugehörigkeit? Die physische Ausprägung von Geschlechtsmerk- malen? Oder ist Gender ein gesellschaftliches Konstrukt? Ist Gender eine Entscheidung für das eine oder das andere Geschlecht? Befindet sich Genderempfinden nicht in einer andauern- den Transformation? Wie würde die Auflösung des binä- ren Geschlechtersystems die individuelle Identität und die Gesellschaft verändern? Spielerisch wirbeln Muda Mathis (*1959) & Sus Zwick (*1950) in einem schnellen Szenenwechsel von Frau-Sein, Frau- Darstellen, Mann-Vorgeben durch die Fotoserie ‹Grüner Donnerstag› (2008). Da passiert es auch mal, dass weibliche und männliche Attribute durcheinandergeraten und Mensch mit Männerhemd und -krawatte und Frauenrock zurückbleibt. Im mit Pflanzen überwucherten Interieur verkörpern sie am Schluss nackt, auf das blosse Mensch-Sein geworfen, ein Menschenpaar im Paradies. Die sechsteilige Fotoarbeit ist eine Hommage an die Serie ‹Paradise Regained› (1968) von Duane Michals (*1932), der in seinen Werken Fragen an die sexuelle Identität stellt. Der gehen auch Muda Mathis & Sus Zwick nach und nehmen Rollen von Frau/Mann, Paarkonventionen sowie Klischees von ‹Butch› und ‹Femme› aufs Korn. Anlässlich ihrer Auszeichnung mit dem Prix Meret Oppenheim 2009 erklären die Performance-, Video-, Installations- und Musikkünstle- rinnen: ‹Das Repräsentieren des Paar- Seins ist ein Thema, bei dem wir bei anderen Repräsentationen von Paaren anknüpfen und versuchen, Bezüge zu schaffen. Wir spielen mit unseren zwei Figuren, mit der Kleinen und der Grossen, dem ungleichen Zwillingspaar. Es sind zwei Gleiche, die doch ganz anders sind und nicht Geschwister. Oder wir spielen das crossgedresste, Geschlechterrollen tauschende Paar, wie man es aus der homosexuellen Subkultur und später aus Genderdiskursen kennt.› (Interview: Isabel Zürcher.) Ungeschönt und unverstellt offenbaren sie den Köper, präsentieren ihn in immer neuen Posen, von allen Seiten, so dass im Schwarz- Weiss des Videos ‹Vereinte Geometrie› (2019) Körper zur Figur, zur Geste gerät, losgelöst von jeder sexualisierten Aufladung. Trotz aller sichtbaren Geschlechtsmerkmale erscheint der pure Körper neutralisiert, ja geschlechtslos. Sascha Alexa Martin Müller (*1964) setzt Geschlechtsdefinition und Genderidentität zeichenhaft um. Piktogramme von Frau und Mann kennzeichnen unseren Lebensalltag und werden in dieser Gewohnheit auf ihre Aussage kaum noch überprüft. Die Grundfigur ist dieselbe, einzig ein stilisiertes Kleid charakterisiert die Figur zur Frau; die Figur ohne Kleid bezeichnet den Mann. Der ‹kleine Unterschied – und seine grossen Folgen› (Alice Schwarzer, 1975): Bei den kinetischen Objekten von Sascha Alexa Martin Müller gerät er zur augenfälligen Beliebigkeit. Einmal ist der Rock nur halb ausgestellt (‹Bigender›, 2018) – ein ‹bisschen› Frau? – ein anderes Mal nur zu einer Seite (‹Genderfluid›, 2018) – eine ‹halbe› Frau? Welche Bedeu- tung hat es, ob der Rock links oder rechts ausgestellt und welche Seite ‹männlich› ist? Welch Folgen für die Gesellschaft hat es, die Grundfigur des Menschen als männlich zu kennzeichnen, die lediglich mittels eines Accessoires zur Frau wird? Sascha Alexa Martin Müller baut Maschineninstallationen, interaktive Klangskulpturen, kinetische Objekte, die immer auf einen Dialog abzielen. Sie sind ‹eine Art Schausteller›, erklärt Sascha Müller, ‹denen ich auch immer wieder gerne zuschaue, wenn andere mit ihnen kommunizieren›. Im ‹Genderpendel› (2017) fügen sich die Symbole für Weiblichkeit und Männlichkeit – die Zeichen für Venus und Mars – zu einem Objekt zusammen. Wie Uhrzeiger laufen sie umeinander, ineinander, überlagern sich und streben wieder auseinander. Eigentlich befinden sie sich in einem fortlaufenden Prozess, doch setzt sich das Pendel erst in Bewegung, wenn man sich ihm nähert. Wahrnehmungen des Männlichen und/oder Weiblichen oder ihres Zusammen- spiels ändern sich also nur durch den Kontakt mit der/dem Betrachter*in. Was ist demnach der Urzustand von Geschlecht/ Gender einer Person ohne den kategorisierenden Blick eines Gegenübers? Piktogramme zeichnen sich durch eine gesuchte Vereinfachung in Form und Aussage aus. Mit leisen Interventionen offenbart Sascha Alexa Martin Müller die Unzulänglich- keit verkürzter Schemata und deren Fragilität, wenn simple Eingriffe diese aushebeln. Tatsächlich eröffnet sich sogar in den typisierten Icons der polarisierten Geschlechterunterscheidung eine Vielfalt an Möglichkeiten. Klare Statements sucht Michelle ‹Jazzie› Biolley (*1976), Video- und Fotokünstlerin, Gender-Aktivistin und Initiantin von ‹Be Queer – Das queer-feministische Magazin aus Zürich›, entstanden aus einer Online-Community, die sich alle zwei Wochen in Zürich trifft. In ihrem Film ‹Genderwonderland› (2016) lässt sie Personen aus verschiedenen Ländern und Konti- nenten zu Wort kommen, die Geschlecht jenseits der gängigen Konventionen und Kategorien leben. Wir erfahren von gelebter Genderutopie der Radical Faeries im französischen Folleterre und hören beklemmendes Schweigen im Oman, stellvertretend für rund 80 Länder, in denen gleichgeschlechtliche Liebe unter Strafe steht. Michelle Biolleys Gesprächspartner*innen berich- ten von ihrer Auseinandersetzung, Geschlecht und Gender in vielen Facetten zu erkunden, aber auch von der Anstrengung, die es bedeutet, in die konventionelle Welt eines binären Gesellschaftssystems, in dem andere Geschlechtsdefinitionen kaum Platz haben, nicht hineinzupassen. Vom alltäglichen Ringen um Selbstbehauptung erzählen ebenfalls die Werke von Francesca Bertolosi (*1977). Von mystischen Themen inspiriert, weisen ihre Bilder und Tonfiguren symbolische Motive auf, die für Stärke (Tiger), Schutz (Drache) und Hilfe (Schmetterlings-Elfe) oder Gefahr (schwarze ‹Mistviecher›) stehen. Es sind persönliche Arbeiten, die einer Verschlüsselung bedürfen. Die Maske ist daher ein häufig verwendetes Sinnbild. Intensiv beschäftigt Francesca Bertolosi der Tod, dem sie in der Queer-Szene begegnet, ist doch das Suizidrisiko von Transmenschen hoch. Der aus Ton geformte Schädel 3
ist zugleich eine ‹Funktionierende Tabakpfeife› (2018), mit der sich eine Brücke schlagen lässt zu Ovartacis ‹Rauch-Phanto- men›. Auch Francesca Bertolosis Werk entsteht im institutionellen Kontext. Nach einer Koch-Ausbildung und jahrelanger Arbeit im Beruf wechselte sie 2018 in die Kreativwerkstatt Bürgerspital Basel. Hier zeichnet und malt sie und modelliert mit Ton. ‹Ich war ein Mensch mit tausend Masken›, sagt sie. Post-Feminismus und Non-Binarität Anstelle des aktuell beschworenen Post-Feminismus in der Kunst und im Kunstbetrieb muss die Genderdebatte heute non- binär geführt werden. Es genügt nicht mehr, (Geschlechts-)Inklusion zu betreiben und in den Museen zu zählen, wie viele Künstlerinnen gegenüber einer Anzahl von Künstlern ausgestellt sind. Die Gesellschaft ist divers. Kunst war schon immer divers. Allein der Kunstbetrieb tut sich schwer mit Diversität, stellt sie doch herrschende Wertesysteme und Hierarchien auf den Kopf. So wird weiterhin der ‹richtigen› Kunst, dem ‹richtigen› Künstler und dem ‹richtigen› Kunstmuseum nachgespürt. Sind Outsider Art-Positionen inzwischen auch im Kunstbetrieb angekommen, so wird deren Berechtigung hier mit dem Branding des ‹richtigen› Museums eingelöst. Das Museum im Lagerhaus setzt sich bewusst ein für Kunst aus Grenzbereichen, um Kunstgrenzen zu überwinden. Die Ausstellungen zu ‹Crazy, Queer, and Lovable› als Teil der Trilogie ‹Das «Andere» in der Kunst› akzentuieren verschiedene Aspekte von Diversität. Wir sehen ein Cross-Over von Outsider Art und zeitgenössi- scher Kunst, von Kunst aus psychiatrischem Kontext und nicht-psychiatrischer Kunst, von queeren Künstler*innen, die sich nicht einer binären Skalierung unterwerfen wollen. Kooperation Es ist für das Museum im Lagerhaus eine grosse Freude, das Gesamtkunstwerk Ovartacis zum ersten Mal in der Schweiz zeigen und mit einer umfangreichen, repräsentativen Ausstellung würdigen zu können. Dies ist der zuvorkommenden und part- nerschaftlichen Zusammenarbeit mit dem Museum Ovartaci, in Århus, und hier speziell der Direktorin Mia Lejsted und Eddie Danielsen, Editor und Koordinator, zu verdanken. Sie kennen das Werk Ovartacis am besten. Dank ihrer grosszügigen Unter- stützung sowie Bereitstellung aller Texte für diesen Katalog, die freundlicherweise der Publikation ‹Ovartaci – I flere dimensi- oner/In more Dimensions› (2014), herausgegeben von Mia Lejsted und Eddie Danielsen, entnommen werden konnten, wird das Werk Ovartacis jetzt erstmals in deutscher Sprache publiziert. Die Künstler*innen der Parallelschau ‹ICH DU ER SIE XIER: Transidentität›, lassen mit ihren Arbeiten die Idee erst zu einer Ausstellung werden und bereichern darüber hinaus das Rahmenprogramm um besondere Veranstaltungen. Diese bieten span- nende Beiträge aus verschiedenen Perspektiven mit viel Diskussionsstoff: Mit Sabine August, Ethnologin, Kunstvermittlerin Rahel Flückiger, dem Schweizer Verband ‹Milchjugend›, Dr. David Garcia Nuñez, Leiter für Geschlechtervarianz an der Klinik für Plastische, Rekonstruktive, Ästhetische und Handchirurgie, Basel, sowie Dr. Britta von Stumberg und der Fach- gruppe Trans* und einem Talk zu Gender im Kunstbetrieb mit Muda Mathis & Sus Zwick, Michelle ‹Jazzie› Biolley und Sascha Alexa Martin Müller. Programm Montag, 30. September 2019 11 Uhr: Presse-Preview 18.30 Uhr: Vernissage Begrüssung: Jürg Bachmann, Stiftungsrat Katrin Meier, Leiterin Amt für Kultur, Kanton St. Gallen Monika Jagfeld, Museumsleiterin Mia Lejsted, Direktorin Museum Ovartaci Dienstag, 29. Oktober 2019, 18 Uhr Genderselbstbestimmung in der Jugend Genderfragen sind hoch aktuell. In Grossstädten anderer Länder scheint die Selbstverständlichkeit unterschiedlichster Lebens- weisen präsenter als in der Schweiz. Wie erleben das junge Menschen? Vertreter*innen des Schweizer Verbands ‹Milch- jugend› berichten und diskutieren. Dienstag, 12. November 2019, 18 Uhr Frau oder Mann – für immer? Was ist Geschlecht? Ist es nur eine Frage der Identität? Oder der körperlichen Ausstattung? Hat die Gesellschaft etwas damit zu tun? Ist es zeitlich konstant? Und schliesslich: Kann und soll man sein Geschlecht anpassen, wenn dieses weh tut? Vortrag von David Garcia Nuñez, Leiter für Geschlechtervarianz an der Klinik für Plastische, Rekonstruktive, Ästhetische und Hand- chirurgie, Basel. 4
Sonntag, 24. November 2019, 15 Uhr KKK – Kunst Kaffee Kuchen Transidentität: ein aktuelles Thema Wie wird Transidentität erlebt und gelebt? Wie reagiert die Umwelt, wie die Familie? Eine Diskussion mit Vertreter*innen der Fachgruppe Trans eröffnet neue Perspektiven. Dienstag, 26. November 2019, 18 Uhr Film ‹Genderwonderland› (2016) mit der Regisseurin Michelle ‹Jazzie› Biolley, Video- und Fotokünstlerin, Gender-Aktivistin und Initiantin von ‹Be Queer›. Mit Diskussion. Sonntag, 12. Januar 2020, 15 Uhr Künstler*innen-Talk: Geschlecht und Kunst Mit der Forderung nach Gleichstellung der Geschlechter, richtet sich auch im Kunstbetrieb der Fokus verstärkt auf die Gender- frage. Wie sehen sich Künstler*innen im Kunstbetrieb vertreten, was veranlasst sie, sich in ihren Werken mit Genderthemen auseinanderzusetzen? Talk mit Muda Mathis & Sus Zwick, Michelle ‹Jazzie› Biolley und Sascha Alexa Martin Müller. Dienstag, 11. Februar 2020, 18 Uhr Reinkarnation und Transformation Ovartaci war Buddhist und lebte fünf Jahre in Argentinien. Welche Ideen von Reinkarnation und Transformation finden sich in den indigenen Kulturen jener Region? Vortrag von Sabine August, Ethnologin. Kunstvermittlung Führungen oder Workshops für Familien, Kinder und Erwachsene, Gruppen und Schulen, entnehmen Sie bitte der Homepage oder unserem Newsletter. Anmeldung: info@museumimlagerhaus.ch Öffnungszeiten Di bis Fr 14–18 Uhr Sa / So / Feiertage 12–17 Uhr geschlossen: 24./25., 31.12. sowie 1.1. Davidstrasse 44 CH-9000 St. Gallen www.museumimlagerhaus.ch Instagram / facebook / youtube Pressetext und –bilder: http://www.museumimlagerhaus.ch/service/presse/ und auf Anfrage: info@museumimlagerhaus.ch oder telefonisch 071/223 58 57 In Kooperation mit Kanton St. Gallen Kulturförderung Stadt St. Gallen Kulturförderung Appenzell Ausserrhoden Swisslos Stiftung Franz Larese und Jürg Janett Lienhard-Stiftung die Mobiliar Arnold Billwiller Stiftung 5
Crazy, Queer, and Lovable: Ovartaci Pressebilder finden Sie unter http://www.museumimlagerhaus.ch/service/presse/ Bitte fordern Sie zum Download das Login an: info@museumimlagerhaus.ch Ovartaci (1894–1985) Verda (Puppe), Papiermache und Draht Verda (doll), papier mache and wire 165 x 35 x 11 cm © 2019 Museum Ovartaci, Århus Ovartaci (1894–1985) Stalin, Gouache auf Karton Stalin, gouache on cardboard 250 x 40 x 8 cm © 2019 Museum Ovartaci, Århus Ovartaci (1894–1985) Puro in der Badewanne, Gouache Puro in the bath, gouache 57 x 37,7 cm © 2019 Museum Ovartaci, Århus Ovartaci (1894–1985) Ohne Titel (die Sicht aus Ovartacis Fenster in Risskov), Gouache Untitled (the view from Ovartaci's window in Risskov), gouache 233 x 27,5 cm © 2019 Museum Ovartaci, Århus
Ovartaci (1894–1985) Hubschrauber-Modell, Holz Helicopter model, wood 34,5 x 12,5 x 33,5 cm © 2019 Museum Ovartaci, Århus Ovartaci (1894–1985) Dr. Barfods, Gouache Dr. Barfods, gouache 29,5 x 21 cm © 2019 Museum Ovartaci, Århus Ovartaci (1894–1985) Flammen-Menschen, Gouache auf Leinwand Flame people, gouache on canvas 76,7 x 39,5 cm © 2019 Museum Ovartaci, Århus Ovartaci (1894–1985) Ohne Titel, Gouache Untitled, gouache 350 x 50 cm © 2019 Museum Ovartaci, Århus Ovartaci (1894–1985) Ohne Titel, (weiblicher Vogel), ausgeschnitten, Gouache Untitled (female bird), cut out, gouache 40 x 30 cm © 2019 Museum Ovartaci, Århus 7
Ovartaci küsst eine seiner Lieblings-Freundinnen, 1975, Fotografie Ovartaci kissing one of his favourite close girlfriends, 1975, photography © 2019 Museum Ovartaci, Århus Ovartaci mit einem Rauch-Phantom in seinem Zimmer, um 1970, Fotografie Ovartaci with smoking phantom in his room, around 1970, photography © 2019 Museum Ovartaci, Århus Ovartacis Zimmer mit Arbeitstisch und Banner mit chinesischer Schrift, Fotografie Ovartaci’s room with worktable and Chinese banners, photography © 2019 Museum Ovartaci, Århus 8
ICH DU ER SIE XIER: Transidentität Muda Mathis (*1959) & Sus Zwick (*1950) Paar, 2001, Videostills, C-Print Couple, 2001, video stills, C-print 81 x 57cm © 2019 Muda Mathis & Sus Zwick Sascha Alexa Martin Müller (*1964) Genderfluid, Mechanische Skulptur, 2018, MDF, schwarz geölt, Stahlteile, Sockel: Stahlblech, farblos lackiert, Motor mit Bewegungssensor Genderfluid, mechanical sculpture, 2018, MDF, oiled in black, steel parts, base: sheet steel, transparent lacquer, motor with motion sensor 190 x 86 cm, ø 48 cm © 2019 Sascha Alexa Martin Müller Sascha Alexa Martin Müller (*1964) Genderpendel, Mechanisches Wandobjekt, 2017 (Autobiografische Mechanik), Stahl- und Messingblech, Stahlteile, Motor mit Bewegungssensor Gender pendulum, mechanical wall object, 2017 (autobiographical mechanics), sheet steel and sheet brass, steel parts, motor with motion sensor ø 80 cm, Tiefe 18 cm © 2019 Sascha Alexa Martin Müller Michelle ‹Jazzie› Biolley (*1976) Genderwonderland, 2016, Regie, Kamera, Schnitt, Filmstill ‹ Aude› Genderwonderland, 2016, direction, camera, cut, film still ‹ Aude› © 2019 Michelle ‹Jazzie› Biolley Michelle ‹Jazzie› Biolley (*1976) Genderwonderland, 2016, Regie, Kamera, Schnitt, Filmstill ‹ Berlin› Genderwonderland, 2016, direction, camera, cut, film still ‹ Berlin› © 2019 Michelle ‹Jazzie› Biolley 9
Francesca Bertolosi (*1977) Fruchtgummi-Land (Elfe mit schwarzen ‹Mistviechern›), 2019, Pastellkreide, Farbstift, Filzstift auf Papier Fruit gum country (Elf with black ‘dung bugs’), 2019, chalk pastels, coloured pencil, felt-tip pen on paper 40 x 50 cm © 2019 Kreativwerkstatt Bürgerspital Basel Mit freundlicher Unterstützung von Kanton St. Gallen Kulturförderung Stadt St. Gallen Kulturförderung Appenzell Ausserrhoden Swisslos Stiftung Franz Larese und Jürg Janett Lienhard-Stiftung die Mobiliar Arnold Billwiller Stiftung 10
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