Das Bilderbuch- Buch Timm Albers
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EEEE EEEEEE verkehrt herum gehalten werden, wenn ein Kind so tut, als ob es den anderen Kindern etwas vorliest. Kinder lernen im Kindergarten und in der Krippe also nicht, wie man liest oder schreibt. Sie lernen aber eine Vielzahl an Situationen kennen, in denen Lesen und Schreiben einen sozialen Sinn erfüllt. Dies sind die wesentlichen Voraussetzungen dafür, dass der Schriftspracherwerbspro- zess im Übergang zur Schule nahtlos an den kindlichen Kompetenzen ansetzt und ein erfolgreicher Schulbesuch sichergestellt ist. Fasst man die aktuellen Erkenntnisse der Literacy-Forschung zusammen, so kann man folgende Thesen festhalten: ■ Die Entwicklung von gesprochener und geschriebener Sprache ist nicht voneinander zu trennen und beginnt zur selben Zeit. Info ■ Die sensiblen Phasen für den Erwerb von auf Literacy bezogenen Kompetenzen liegen im Altersbereich von null bis sechs Jahren. ■ Der Schriftspracherwerbsprozess verläuft kontinuierlich und be ginnt nicht erst im Schulalter. ■ Vor allem diejenigen Erfahrungen im Umgang mit Büchern, Schrift, Sprache und Medien, die einen interaktiven, dialogischen Charak ter haben, eignen sich für die Literacy-Erziehung. Vorerfahrungen mit Büchern Kinder kommen mit völlig unterschiedlichen Vorerfahrungen aus ihrer Familie in Kindertageseinrichtungen. Neuman und Celano (2006) ha- ben in einer großen amerikanischen Erhebung herausgearbeitet, dass einige Kinder mit einem fast uneinholbaren Wissensvorsprung ausge- stattet sind, weil in den Herkunftsfamilien 40 mal mehr vorgelesen wur- de als in anderen Familien. Die repräsentative Studie der Stiftung Lesen (2010) zeigte für Deutschland, dass 42 Prozent der Eltern ihren Kindern gar nicht oder nur gelegentlich vorlesen. Während für einige Kinder der Umgang mit Bilderbüchern einen selbstverständlichen Bestandteil des Alltags darstellt, ist der Kontakt zu Büchern in anderen Familien we- niger selbstverständlich. Hier kommt frühpädagogischen Fachkräften eine wichtige Bedeutung zu. Sie können die Lücke zwar nicht schließen, sie können aber die Lust an Büchern wecken und schaffen es vielleicht auch, dass Kinder ihre Eltern vom Vorlesen überzeugen (siehe dazu Ka- pitel 5). Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen frühen Erfahrungen mit Büchern und des späteren Sprach- und Schriftspracherwerbprozes- ses stellt der möglichst frühzeitige Kontakt mit Bilderbüchern einen ent- scheidenden Vorteil für den Schulerfolg derjenigen Kinder dar, denen regelmäßig vorgelesen wurde. Bundesweit gibt es daher eine Vielzahl 19
EEEEEEEEEE an Initiativen und Projekten, die das Vorlesen und das Heranführen an die Bedeutung von Bildern, Symbolen, Buchstaben und Büchern in Kin- dertageseinrichtungen im Sinne der Herstellung von Chancengleichheit fokussieren. Auch wenn der Grundstein für ein Interesse der Kinder an Sprache in der Familie gelegt wird, leisten Fachkräfte einen zentralen Beitrag dazu, dass auch Kinder mit geringeren Literacy-Erfahrungen den Übergang zur Schule erfolgreich bewältigen können. Bilderbücher als Antwort auf PISA? Dass in mittlerweile allen existierenden Bildungsplänen für Kinderta- geseinrichtungen die Bedeutung von Sprache und Schrift in den Vorder- grund gerückt wird, liegt nicht zuletzt an den Ergebnissen internationaler Schulleistungsvergleiche. Nach dem sogenannten PISA-Schock (PISA ist die Abkürzung für Programme for International Student Assessment, eine internationale Studie zur Bestimmung von Schülerleistungen) besteht die bildungspolitische Hoffnung darin, dass mit der Fokussierung von Literacy schon im Kindergarten Defizite zum Schuleintritt wettgemacht werden können. Die PISA-Studie deckte deutliche Mängel im Leistungsvermögen in der untersuchten Gruppe der 15-Jährigen unter anderem bei den Basis- fähigkeiten Lesekompetenz, mathematische und naturwissenschaftliche Grundbildung auf. Insgesamt stellte sich dabei heraus, dass die gemes- senen Kompetenzen in entscheidender Weise von Faktoren beeinflusst werden, die sich auf die Herkunft der Kinder bezieht: Vor allem die Er- gebnisse der Kinder aus Familien mit einem niedrigen sozio-ökonomi- schen Status und der Kinder mit Migrationshintergrund führten dazu, dass sie als Risikogruppen identifiziert wurden. Ebenso wie in der zuvor dargestellten Studie von Neuman und Celano (2006) zeigt sich bei den Ergebnissen der PISA-Studie, dass das Leistungsvermögen von Kindern und Jugendlichen vor allem auch von der Anregungsqualität des Eltern- hauses und den damit gegebenenfalls verbundenen Nachteilen in der Sprachkompetenz der Kinder abhängt. Dies ist zwar eine vereinfachende und in vielen Fällen sicher auch verkürzende Darstellung der Situation von Familien in benachteiligten Lebenslagen, stellt allerdings den statis- tischen Zusammenhang einer Bildungsbenachteiligung für eine große Bevölkerungsgruppe dar. Ein Erklärungsansatz für die enge Kopplung von Bildungserfolg von Kindern und ihrer Herkunft wird in der mangelnden Sprachkompetenz in der Unterrichtssprache Deutsch gesehen. Dieser Zusammenhang ist nicht erst durch die aktuellen Schulleistungsvergleiche offensichtlich ge- worden, sondern wurde schon in Untersuchungen aus den 1960er-Jah- ren nachgewiesen, in denen sich zeigte, dass der Zugang zu den schu- lisch vermittelten Inhalten von der Überwindung sprachlicher Barrieren 20
EEEE EEEEEE abhängt. Die Sprachkompetenz, die in der Schule verlangt wird, ent- spricht nicht der Alltagssprache, die in vielen Familien gesprochen wird. Die Sprache, die in Büchern verwendet wird, kann in diesem Zusam- menhang aber die sprachlichen Strukturen liefern, die die Schulsprache erfordert, da sie sich durch höhere Komplexität auszeichnet. Die Kenntnisse der deutschen Sprache werden auch in der aktuellen Diskussion als die entscheidende Schlüsselqualifikation beschrieben, dem Unterricht folgen zu können und ein Kompetenzniveau zu errei- chen, welches einen erfolgreichen Schulbesuch und in der Folge die Teilhabe am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben im Erwach- senenalter ermöglicht. Der Einsatz von Bilderbüchern in Kindertages- einrichtungen kann die große Lücke in Bezug auf die Erfahrungen, die Kinder in ihren Familien sammeln, nicht allein schließen. Die Hoffnung besteht aber darin, dass sich die Schere zwischen den Kompetenzen von Kindern nicht noch weiter öffnet, wenn sie in Kindertageseinrichtun- gen auf eine Umgebung stoßen, die ihnen die Welt zu Büchern und Ge- schichten öffnet. Im Folgenden sollen anhand von ausgewählten Forschungsergebnis- sen die zuvor dargestellten Ergebnisse vertieft werden. Forschungsergebnisse Internationale Forschungsergebnisse sprechen eine klare Sprache, wenn es um die Bedeutung von Bilderbüchern für die Entwicklung von Kin- dern geht. Insbesondere werden dabei zunächst die Vorteile genannt, die das Aufwachsen mit Bilderbüchern zu Hause für die Entwicklung mit sich bringt. Eine australische Forschergruppe (Eisenchlas u. a. 2013) fasst diese eindrucksvoll zusammen: Kinder, die mit Bilderbüchern auf- wachsen, haben Vorteile im Bereich der linguistischen Kompetenzen. Zweisprachig aufwachsende Kinder wachsen darüber hinaus schneller in die Umgebungssprache hinein, was den Eintritt in die Schule und da- mit auch in alle schulisch vermittelten Inhalte erleichtert. Die Autoren- gruppe warnt auf der anderen Seite aber auch davor, dass der Eintritt in Kindergarten und Schule häufig auch mit einer starken Vernachläs- sigung der Herkunftssprachen der Kinder einhergeht. Diese aus eng- lischsprachigen Untersuchungen bekannten Ergebnisse lassen sich ohne Zweifel auch auf deutschsprachige Länder übertragen. Bilderbücher in anderen Sprachen bieten jedoch hohes Potenzial, wenn es darum geht, Lust auf andere Sprachen zu wecken oder auch Kenntnisse in anderen Sprachen aufrecht zu erhalten und zu vertiefen. Kindertageseinrichtungen stellen jedoch nicht nur den institutionel- len Rahmen für den Spracherwerb dar, sondern können den Erwerb von Literacy-Kompetenzen im Allgemeinen positiv beeinflussen. Einrich- tungen mit einer hohen sprachlichen Anregungsqualität sorgen dafür, 21
EEEEEEEEEE dass Kinder ihre sprach- und kommunikationsspezifischen Kompeten- zen ausbauen können. Erste Ergebnisse der repräsentativen Nubbek-Stu- die (Nubbek 2012) machen deutlich, dass Einrichtungen, die lediglich eine mittelmäßige oder sogar schlechte Qualität in den pädagogischen Prozessen nachweisen können, den bildungspolitischen Anspruch der Herstellung von Chancengleichheit nicht erfüllen können. Die Entwick- lung von Kindern hängt damit stark von der Qualität einer Kindertages- einrichtung ab. Dass die Qualität der Kindertageseinrichtung entscheidend für die Unterstützung des Spracherwerbs ist, belegt auch die Forschergruppe um Murray (2006), die zum Ergebnis kommt, dass Kinder in einer hoch- wertigen Tageseinrichtung einer ähnlichen Qualität im sprachlichen Input ausgesetzt sind wie Kinder, die in einer Familie mit hohem sozio- ökonomischen Status aufwachsen. Diese individuellen Unterschiede in der Qualität der sprachlichen Umwelt beeinflussen den Verlauf und die Geschwindigkeit des kindlichen Spracherwerbs. Zwar weisen die vorliegenden Untersuchungen auf die Bedeutung der sozialen Umwelt für den Spracherwerb hin, die Ergebnisse der darge- legten Studien müssen jedoch im Zusammenhang mit dem Einsatz von Bilderbüchern kritisch reflektiert und eingeordnet werden, da sie an den Kontext des jeweiligen Forschungsdesigns gebunden sind. So un- terscheiden sich die Untersuchungen der Interaktion zwischen Erwach- senem und Kind innerhalb eines Laborsettings deutlich von natürlichen Interaktionsanalysen zum Erst- und Zweitspracherwerb, die im pädago- gischen Setting, also im Alltag von Kindertageseinrichtungen durchge- führt wurden. Häufig bieten Ergebnisse aus Einzelfallstudien mehr Hin- weise für die konkrete pädagogische Praxis, als dies in groß angelegten Überblicksstudien der Fall ist. So kann Katz (2004) in diesem Kontext innerhalb einer intensiven Analyse von Situationen aus Kindertageseinrichtungen nachweisen, dass Kinder in Krippen und Kindergärten ihre Beziehungen häufig über ihre sprachliche Interaktion aufbauen. Der Aufbau von Beziehungen hängt dabei von den Möglichkeiten ab, die die Kindertageseinrichtung Kin- dern zum sprachlichen Austausch bereithält: Dazu gehören sprachre levante Formate, also immer wiederkehrende Routinen im Alltag, die dem Kind Sicherheit vermitteln und zur sprachlichen Beteiligung an- regen: ■ Sprachanlässe im Sitzkreis Info ■ Erzählkreise ■ Betrachten von Bildern, Bilder als Erzählanlass ■ Einbeziehen dialogischen Bilderbuchlesens ■ Symbol- und Rollenspiele 22
EEEE EEEEEE Diese Formate im Alltag liefern motivierende Sprechanlässe und ge- ben den Kindern einen bedeutungsvollen Rahmen, in dem sie Sprache gezielt einsetzen und erste Einblicke in die Funktion von Sprache und Schrift erhalten. Die Bedeutung von Bilderbüchern als wichtiges Format für den Spracherwerb wird in Abschnitt 3.1 vertieft. In Kapitel 4 wird das sprachförderliche Potenzial in Bezug auf den Einsatz von Bilderbüchern in Kindertageseinrichtungen konkretisiert. 1.3 Aufbau und inhaltlicher Überblick Der Aufbau des Bilderbuch-Buchs ist so gestaltet, dass es nicht von vor- ne bis hinten gelesen werden muss. Es lädt vielmehr zum Schmökern ein, da jedes Kapitel die fachlichen Grundlagen an konkreten Beispielen aus Bilderbüchern illustriert. Am Ende einiger Kapitel können interes- sierte Leserinnen und Leser in einem Überblick die wichtigsten Studien zum jeweiligen inhaltlichen Schwerpunkt nachvollziehen. Die vertiefte Darstellung der Studien ist aber keinesfalls Voraussetzung, um die ande- ren Kapitel verstehen zu können. Das zweite Kapitel gibt Beispiele, welche Bilderbücher sich für be- stimmte Altersgruppen eignen. Was sind Kriterien für die Auswahl von Büchern, welche Bücher sind ein Muss für die Kita-Bibliothek und wie wählen eigentlich Kinder ihre Lieblingsbücher aus? An einer konkreten Auswahl an Bilderbüchern wird gezeigt, mit welchen sprachlichen und illustrativen Mitteln Bilderbücher arbeiten, und was Kinder an Bildern und Sprache fasziniert. Kapitel drei vertieft die in der Einleitung skizzierte Bedeutung von Bilderbüchern für unterschiedliche Entwicklungsbereiche. Welche Bil- derbücher eignen sich zur Förderung der Sozialkompetenz? Wie lassen sich Themen wie Angst und Mut kindgerecht verarbeiten? Welche Bü- cher thematisieren Vielfalt und Stereotypien, zum Beispiel im Umgang mit Kindern mit Behinderung oder mit vermeintlichen Unterschieden von Mädchen und Jungen? Dabei versteht sich das Kapitel nicht als Re- zeptsammlung, sondern liefert Impulse zur zielgerichteten Arbeit mit Bilderbüchern. So sollen Bilderbücher beispielsweise nicht als Allheil- mittel für Schwierigkeiten in der sozial-emotionalen Entwicklung von Kindern betrachtet werden, sie können aber ein Baustein für die Unter- stützung von Kindern sein, wenn sie Bewältigungsstrategien in belasten- den Situationen entwickeln. In Kapitel vier dreht sich alles um die unterschiedlichsten Einsatz- möglichkeiten von Bilderbüchern in der Familie und in der Kita. Vom Bilderbuchkino bis zum dialogischen Lesen, vom Weitererzählen klei- ner Episoden bis zum Kinderdiktat selbst erfundener Geschichten. Der Einsatz von Fragetechniken und Sprachlehrstrategien zur Förderung der 23
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