Das britische Parteiensystem und die vernachlässigte Europafrage - Tories und Labour vor der Zerreißprobe - Konrad-Adenauer-Stiftung

Die Seite wird erstellt Daniel Popp
 
WEITER LESEN
Das britische Parteiensystem und die vernachlässigte Europafrage - Tories und Labour vor der Zerreißprobe - Konrad-Adenauer-Stiftung
April 2019

Auslandsbüro London

Das britische Parteiensystem und die
vernachlässigte Europafrage – Tories
und Labour vor der Zerreißprobe

Felix Dane, Philipp Burkhardt
Das Votum der britischen Bevölkerung für den Austritt aus der Europäischen Union ist nicht nur
Ausdruck einer Unzufriedenheit vermeintlich Abgehängter, sondern spiegelt ein Problem britischen,
speziell englischen Umgangs mit dem europäischen Kontinent wider. Die in den letzten 40 Jahren
vernachlässigte Europafrage liegt quer zu den Konfliktlinien der beiden großen Parteien, weswegen
weder Tories noch Labour in der Lage sind, handlungsfähige Mehrheiten zu organisieren.
Besonderheiten des politischen Systems, der politischen Kultur und nicht zuletzt historische
Prägefaktoren scheinen die momentan zu beobachtende Blockade nicht nur zu verstärken, sondern
könnten gar die Einheit des Vereinigten Königreichs gefährden.

Dispositionen:       Die   Insel    und     das     Charles de Gaulle, der Sonderansprüche der
Festland                                            Briten    fürchtete,  zweimal   einen     Beitritt
                                                    verhinderte, konnte das Vereinigte Königreich
Das Verhältnis Großbritanniens zum Projekt der      unter dem konservativen Premier Edward Heath
europäischen Integration ist seit jeher von         1973 nach zehn Jahren Wartezeit der EG
Zweckrationalität geprägt. Als historischer         beitreten. De Gaulles Befürchtungen sollten sich
Imperativ, wie in Deutschland und Frankreich,       zumindest in Teilen bewahrheiten. Zahlreiche
wurde das EU-Projekt nie interpretiert. Die viel    Streitigkeiten zwischen Brüssel und London
zitierte Züricher Churchill-Rede, in der er die     wurden mit dem Scheitern bislang dreier
„United States of Europe“ forderte, richtete sich   Premiers an der Europafrage (Margaret Thatcher,
an      die   Staaten    des   Kontinents.     Im   John Major und David Cameron) und zahlreichen
Wahrnehmungshorizont der Entscheidungsträger        Demonstrationen           des         britischen
des British Empire, das damals noch den             Europaverständnisses, wie dem Fernbleiben des
indischen Subkontinent umfasste, schien nichts      Labour-Premiers Gordon Brown bei der
ferner, als dass sich London einer Idee geteilter   Vertragsunterzeichnung von Lissabon, mehr als
europäischer Souveränität unterwirft. Erst die      deutlich.
Enttäuschungen über die Erwartungen an die
„special relationship“ zu den USA, das Verpuffen    Es wäre jedoch fahrlässig, das Verhältnis
der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA        Großbritanniens zum Kontinent lediglich mit
und das mangelnde Kompensationspotential des        einer etwas eigensinnigen Selbstwahrnehmung
Commonwealth haben dazu geführt, sich mit           zu begründen. Zwei Dinge führten dauerhaft zur
dem bereits fortgeschrittenen Europaprojekt auf     Desynchronisation zwischen London und Brüssel:
dem Kontinent zu befassen.                          Zum einen die Doktrin der absoluten
Insofern war die Entscheidung Großbritanniens,      Parlamentssouveränität, die im Widerspruch zu
der Europäischen Gemeinschaft beizutreten, rein     einem übergeordneten europäischen Recht
ökonomisch-pragmatischer Natur. Nachdem             steht. Zum anderen passen die angelsächsische
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
Länderbericht                                                                                  April 2019   2

Tradition des Gewohnheitsrechts, die eine              oder gegen EU entschieden. Die nationalistische
schriftliche Verfassung obsolet macht und der          Sinn Féin positioniert sich in Europafragen als
kontinentaleuropäische Kodifizierungsusus nicht        (vorsichtiger) Befürworter der Europäischen
wirklich zueinander. Die nahezu bruchlose              Union, wohingegen die Democratic Unionist Party
Evolution dieser beiden essentiellen Prinzipien        (DUP) im Vorfeld des Referendums den Brexit
und die jahrhundertelange Funktionsfähigkeit in        unterstützte.
der politischen Entscheidungsfindung können            Die stets regierenden Parteien in Westminster,
nicht einfach von Erwartungen an eine bessere,         Tories und Labour, haben es hingegen nicht
gemeinsame europäische Entscheidungsfindung            geschafft, eine eindeutige Position zur EU-Frage
abgelöst werden.                                       zu beziehen. Somit steht keine der beiden
                                                       Parteien eindeutig für oder gegen die
Die Kontinuität britischer Verfassungswirklichkeit,    Mitgliedschaft zur Europäischen Union, sondern
das       Selbstverständnis      immer      wieder     es finden sich zahlreiche EU-freundliche und -
stabilisierend in die Konflikte Kontinentaleuropas     skeptische bis -ablehnende politische Ansätze in
interveniert zu haben und die wirtschaftliche          beiden Parteien. Die quer liegende Europafrage
Räson, die zum EG-Beitritt führte, begründen ein       wurde in beiden Parteien zu wenig bearbeitet
historisch besonderes Verhältnis zwischen Insel        und kann dementsprechend nur schwer
und Festland. Diese Spannungen wurden nie              mehrheitsfähig       in       das       politische
gelöst,     sondern     schwelten     untergründig     Entscheidungssystem übersetzt werden.
permanent weiter und wirken somit in die
Gegenwart hinein. Ein Blick auf die beiden             Auf Seiten der Tories hat Europaskepsis eine
großen Parteien zeigt, dass sowohl Tories als          lange Tradition. Die Tory-Brexiteers führen im
auch Labour nicht in der Lage waren, eine              Kern vier Argumente an, die Europäische Union
konsistente     Position    zum    EU-Projekt   zu     zu verlassen. Zum einen befürchtet man
erarbeiten, sodass sich in beiden Parteien             Souveränitätsverluste und beharrt auf die eigene
Befürworter und Gegner finden.                         Identität.    Zweitens      möchte     man     die
                                                       Überregulierung der „Eurokraten“, wie sie bereits
Auflösungserscheinungen:                  Tories,      Thatcher nannte, beenden, um drittens eine
Labour und die Europafrage                             deregulierte Handelspolitik mit niedrigen Zöllen
                                                       in die Praxis umsetzen zu können, was in der
Häufig     wird      Großbritannien      als    ein    Konsequenz          zu        einem        höheren
Zweiparteiensystem bezeichnet. Das britische           Wirtschaftswachstum führe. „Singapore-upon-
Mehrheitswahlrecht begünstigt die Dominanz             Thames“        ist     ein      Schlagwort     der
zweier Parteien, sodass die jüngste Geschichte         wirtschaftsliberalen Brexiteers, die sich ähnlich
geprägt ist von Regierungswechseln zwischen der        wie Singapur von Regulierungen und Zöllen
Conservative Party (Tories) und der Labour Party.      weitgehend befreien wollen. Viertens, so die
Ein genauerer Blick auf die Parteienlandschaft         Argumentation, könnte man außerhalb der EU
zeigt jedoch, dass sich der englisch-walisische Teil   endlich wieder eigene migrationspolitische
vom schottischen und nordirischen Teil des             Entscheidungen       treffen.    Uneingeschränkte
Vereinigten Königreiches unterscheidet. Sowohl         europäische Migration kombiniert mit der
Tories als auch Labour erreichen ihre Mandate          Inklusion in die Sozialsysteme wandelte sich in
hauptsächlich in England und Wales, wohingegen         den Augen der Tory-Brexiteers zu einem
in Schottland die Scottish National Party (SNP)        Schreckgespenst. Zudem dürften             die in
mit einer klar pro-europäischen Ausrichtung an         Großbritannien kontrovers diskutierten Bilder
Dominanz gewonnen hat. In Nordirland richten           von Migrantenströmen auf dem Höhepunkt der
sich die Parteien hingegen vornehmlich am              Flüchtlingskrise den in Teilen der Bevölkerung
gesellschaftlichen Großkonflikt zwischen irischen      vertretenen Standpunkt, die EU sei ohnmächtig
Nationalisten und Unionisten, den größtenteils         gegenüber dem Migrationsproblem geworden,
protestantischen Befürwortern des Vereinigten          verstärkt haben. Obwohl Großbritannien nicht
Königreichs, aus. Die dort dominierenden               Teil des Schengen-Raums ist, nutzte die Leave-
Parteien haben sich klar für eine Position für
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
Länderbericht                                                                                  April 2019    3

Kampagne jene Bilder, um das propagierte
Unvermögen Brüssels zu unterstreichen.                Die     Probleme   der    konservativen    Partei
                                                      beschränken sich nicht lediglich auf den Druck
Diese Ideen sind nicht allein einer radikalen         von einigen Hardlinern, sondern die von der ERG
Minderheit zuzuordnen, sondern sind in den            vertretenen Positionen sind sowohl in Partei als
politischen Standpunkten der Conservative Party       auch in der Wählerschaft aufgrund der speziellen
tief verwurzelt. Trotzdem tritt derzeit eine          Beziehungen zwischen Großbritannien und
Gruppe besonders unter den Befürwortern eines         Kontinentaleuropa anschlussfähig. Dies zeigt sich
harten Brexits hervor: Die European Research          im Verhalten Mays und David Camerons
Group (ERG) unter Führung von Jacob Rees-Mogg         unmittelbar vor dem Brexit-Referendum. Beide
umfasst derzeit etwa 90 der 314 konservativen         vermieden es, sich frühzeitig für eine Seite zu
Abgeordneten       und     pflegt   eine    offene    entscheiden, um ihre Führungsansprüche nicht
Gegnerschaft zur Brexit-Politik Theresa Mays. So      zu gefährden. Dieses Verhalten kann man
genannte „pressure groups“ sind der britischen        kritisieren, es ist allerdings Symptom, nicht
Politik   nicht   fremd.     Dennoch     sprechen     Ursache, der Probleme der Tories.
Beobachter von der ERG als einer „Partei
innerhalb der Partei“. Die ERG hält regelmäßige       Die Euroskepsis der Labour Party hat andere
Treffen ab, hat mit Mark Francois einen eigenen       Gründe      als     eine    zugrunde       liegende
Party Whip, nach deutschem Verständnis eine           Wirtschaftsliberalität. Dennoch ist eine kritische
Mischung           aus         parlamentarischem      Haltung gegenüber der EU auch hier verankert.
Geschäftsführer und Fraktionsvorsitzenden, und        Erst in den 1980er Jahren schloss der damalige
teilt Downing Street 10 regelmäßig Positionen         Labour-Vorsitzende Neil Kinnock die Trotzkisten
und Grenzen mit. Jacob Rees-Mogg war es auch,         aus der Partei aus und überdachte die engen
der im Dezember letzten Jahres Theresa May mit        Verquickungen der Partei mit den sozialistischen
einem parteiinternen Misstrauensvotum zu              Gewerkschaften. Tony Blair löste die Partei in den
stürzen versuchte. Die Niederlagen Mays bei den       1990er und 2000er Jahren mit „New Labour“ von
Abstimmungen über das Austrittsabkommen mit           originär                             sozialistischen
der EU sind maßgeblich auf die ERG                    Verstaatlichungsforderungen. Vorher dominierte
zurückzuführen. Gleichzeitig verfügt die Gruppe       die Europaskepsis in der Partei. Einer klassisch
auch        über       gute       Kontakte       zu   linken Argumentation folgend, befürchtete man
Regierungsmitgliedern. Sie kann jene als              in der Labour Party durch europäischen
Scharnier mit den „Rebellen“ der hinteren             Freihandel einen erhöhten Wettbewerbsdruck
Bankreihen verbinden. Gemäßigtere Gruppen,            auf den industriellen Sektor, der in Konsequenz
wie die Brexit Delivery Group (BDG), die ein          entweder zum Verlust von Arbeitsplätzen oder
Austrittsabkommen befürworten, oder gar               aber zum Abbau des Sozialstaats führen würde.
Remainer gehen wegen der guten Vernetzung             Unter Kinnock entwickelte man in der Partei eine
der ERG beinahe unter, sodass diese sich zu           vorsichtig pro-europäische Position; Tony Blair
einem      der     entscheidenden      Vetospieler    unterzeichnete       zwar     die      europäische
aufschwingen konnte. Grund der ablehnenden            Sozialcharta, diente sich Brüssel allerdings nur so
Haltung der ERG zu Mays Abkommen ist die              lange an, wie es im nationalen Interesse
Befürchtung, die Integrität des Vereinigten           Großbritanniens lag, und trat als Gegner
Königreichs werde durch eine Sonderrolle              weitergehender Integrationsbemühungen auf.
Nordirlands gefährdet. Diese Position teilt man
mit     den    zehn     DUP-Abgeordneten,      den    Insofern kam es auch in der Labour Party nie zu
Mehrheitsbeschaffern der Minderheitsregierung         einem klaren Bekenntnis zur EU. Der derzeitige
May. In der Folge führt die Inkonsistenz der          Vorsitzende Jeremy Corbyn bildet quasi in
Regierungsfraktion zu Blockaden, Instabilität und     persona die Zerrissenheit seiner Partei ab.
auch Misstrauen in der Bevölkerung. Somit sind        Corbyn gilt als langjähriger EU-Skeptiker und ist
nicht die Positionen der ERG an sich, sondern die     dem alten, sozialistischen Flügel der Partei
Inkonsistenz     der     Regierungsfraktion     ein   zuzurechnen. Die EU bezeichnete er einst als
strukturelles Problem.                                „capitalist club“ und lehnte den Beitritt
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
Länderbericht                                                                                   April 2019   4

Großbritanniens seinerzeit ab. Auch der innere         EU-Austritts teilweise mancher       Tory-Position
Kreis seiner Mitarbeiter gilt als EU-skeptisch. Die    näher als ihrer eigenen Partei.
Ablehnung der Gruppe um Corbyn entzündet
sich konkret vor allem am EU-Beihilferecht, das        Zusammenfassend kann man also feststellen,
den stark von Staatssubventionen abhängigen            dass die Notwendigkeit, das Europaverhältnis
Sozialismusvorstellungen der Gruppe von Corbyn         nach dem Referendum zu verhandeln, die
im Weg steht. Öffentlich akzeptiert Corbyn das         verschiedenen, widersprüchlichen Positionen
Ergebnis des Austrittsreferendums, allerdings          innerhalb der beiden großen Parteien zutage
fehlt ein klares Bekenntnis für oder gegen die EU.     gefördert hat. Von völlig unterschiedlichen Seiten
Seine Position zum von Teilen seiner Partei            wird am Europathema „gezerrt“, ohne, dass so
geforderten zweiten EU-Referendum bleibt               eine mehrheitsfähige Position erarbeitet werden
weiterhin unklar. Er versucht damit einen              kann. Jede Regierung, unabhängig davon, welche
unmöglichen Spagat zwischen den vornehmlich            Partei unter welcher personellen Führung sie
für den Brexit votierenden ländlichen Regionen         stellt, wird sich die Frage stellen müssen, ob
und Kleinstädten und den urbanen, EU-                  Entscheidungen für das Gesamtwohl des Landes
befürwortenden Metropolen. Seine politischen           oder aber die Einheit der Partei getroffen
Initiativen rund um die Verhandlungen über den         werden. Beides ist in der aktuellen Gemengelage
EU-Austritt sind daher in erster Linie als taktische   nur schwer zu vereinen.
Maßnahmen zu verstehen, einen „Tory-Brexit“ zu
verhindern.                                            Konsequenzen:       Systemblockade,
                                                       mögliche Profiteure und zentrifugale
Gleichzeitig sind viele Parlamentsabgeordnete
                                                       Kräfte
mit der Führung Corbyns unzufrieden. Einerseits
gehen ihnen die auf dem radikal linken
                                                       Die Besonderheiten im politischen System des
politischen     Spektrum       zu    verordnenden
                                                       Vereinigten Königreichs verstärken den Cross-
Forderungen Corbyns zu weit. Andererseits
                                                       Party-Konflikt, anstatt eine Lösung desselben
finden sich unter ihnen viele Remainer, die der
                                                       aufzuzeigen. Mehrere Faktoren bremsen eine
europaskeptischen Führungsgruppe misstrauen.
                                                       konsensuale Mehrheitsfindung aus, sodass man
Die Abspaltung der mittlerweile zur Partei
                                                       Theresa May im Einzelnen wohl Führungsfehler
(„Change UK“) avancierten Independent Group,
                                                       diagnostizieren, nicht aber die zugrunde
der neben acht Labour-Abgeordneten auch drei
                                                       liegenden strukturellen Umstände ausblenden
ehemalige Tories angehören, fordert ein zweites
                                                       kann.
Referendum und kann – vorerst – einem
gemäßigten sozialdemokratischen Spektrum
                                                       Wo beispielsweise das politische System der
zugeordnet werden. Die Unzufriedenheit mit der
                                                       Bundesrepublik            Deutschland           auf
Labour-Führung wurde kürzlich durch einen
                                                       Kompromissfindung angelegt ist, wird in
Antisemitismusskandal befeuert und treibt viele
                                                       Großbritannien die eindeutige Zuordnung
Mitglieder in die Arme der gemäßigteren Future
                                                       politischer Entscheidungen zu einer Partei
Britain Group um Tom Watson. Dieser versucht,
                                                       konsensualen Mechanismen übergeordnet. So
Labour erneut an der Mitte des linken Spektrums
                                                       zieht das britische reine Mehrheitswahlrecht (first
zu orientieren. Gleichzeitig fürchten viele Labour-
                                                       past the post voting) vornehmlich darauf ab, den
Abgeordnete ein zweites Referendum, weil ihre
                                                       Wählerwillen – äußert er sich auch noch so knapp
Wahlkreise in jenen ländlichen Regionen liegen,
                                                       – direkt in Regierungsverantwortung umzusetzen,
die mehrheitlich für den Brexit gestimmt haben.
                                                       anstatt die Wählerpräferenzen verhältnismäßig
Die öffentliche Forderung nach einem zweiten
                                                       darzustellen. Deswegen gibt es bei britischen
Referendum würde, so die Befürchtung, von der
                                                       Unterhauswahlen entweder Gewinner oder
Wählerschaft als Verrat gewertet und somit
                                                       Verlierer. Koalitionen sind nahezu undenkbar,
Parlamentssitze kosten. Zudem gibt es auch
                                                       Parteiloyalität und Fraktionsdisziplin spielen eine
innerhalb der Labour Party Brexiteers. Deren
                                                       große Rolle. Falls eine Partei nicht mit absoluter
Anzahl ist zwar geringer als in der Conservative
                                                       Mehrheit regieren kann, so wird mit den dann
Party. Dennoch stehen diese in Kernfragen des
                                                       üblichen Minderheitsregierungen die eindeutige
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
Länderbericht                                                                                     April 2019   5

Zurechenbarkeit          der        Entscheidungen       Mitgliedschaft in der EU beendet sein wird.
sichergestellt.    Dementsprechend         ist    eine   Insofern wird es interessant, wie Tories und
„deutsche“ Lösung einer parteiübergreifenden             Labours      die     widerstreitenden    Positionen
Koalitionsbildung mit dem Ziel, einen Brexit-            innerhalb ihrer Parteien zu vereinen suchen
Kompromiss zu finden, für Großbritannien nicht           werden. Es besteht die Gefahr, dass eine oder gar
realistisch. Vor diesem Hintergrund bleibt es            beide Parteien an der Europafrage zerrieben
abzuwarten,      wie    sich     die     historischen    werden, weil Wähler nun nach konsistenten
parteiübergreifenden       Gespräche         zwischen    Antworten auf die Europafrage suchen. Die
Theresa May und Jeremy Corbyn entwickeln.                Liberal Democrats konnten in der Vergangenheit
Zweifel scheinen angebracht, ob der Brexit der           immer wieder als gemäßigte Alternative sowohl
richtige Anlass ist, eine politische Kultur, die bis     Tories als auch Labour Wähler abringen. In der
zu den Anfängen des Parlamentarismus                     Europafrage       bilden    sie   den    klar   EU-
überhaupt zurückreicht, entscheidend zu ändern.          befürwortenden Pol ab. Der Gegenpol bestünde
Das Wahlrecht koppelt zudem die Mandatsträger            demnach in Bewegungen wie der ERG oder ihr
an ihre Wahlkreise, sodass Abgeordnete aus               nahestehenden Gruppen. Insofern wird dieser
Brexit-Wahlkreisen im Eigeninteresse schlecht als        Konflikt beide Parteien künftig fordern.
Kompromissagenten auftreten können und                   Schließlich kann ein englisch-walisisches Ringen
umgekehrt. In der Vergangenheit waren es vor             um die Europafrage die zentrifugalen Kräfte
allem solche Hinterbänkler, die aus Sorge ihre           innerhalb des Vereinigten Königreichs fördern. Es
Wahlkreise      zu    verlieren,     ihre     eigenen    ist     denkbar,       dass     die    schottischen
Regierungen unter Druck setzten oder gar                 Unabhängigkeitsbestrebungen           erneut     an
stürzten.                                                Zuspruch                 gewinnen.              Das
                                                         Unabhängigkeitsreferendum von 2014 ist nur
Außerdem ist die Rolle des Unterhauses in der            äußerst knapp gescheitert. Die schottische
Entscheidungsfindung      zu    schwach,      um         Position in der EU-Frage ist klar befürwortend
gestalterisch großen Einfluss zu nehmen. Seine           und die SNP ist mittlerweile ausreichend
Hauptfunktion besteht im Kampf um öffentliche            institutionalisiert, um solche Forderungen auch
Meinung. So sitzen sich Regierung und                    erfolgsversprechend zu kanalisieren. Indes
Opposition     konfrontativ    gegenüber,     die        befürchten nicht wenige Beobachter ein
Opposition unterhält ein Schattenkabinett und ist        Wiederaufflammen des Nordirland-Konflikts. Eine
somit Regierung im Wartezustand. Zwar                    harte Grenze zwischen dem Norden und Süden
existieren auch im Unterhaus Ausschüsse, diese           der irischen Insel könnte die noch nicht
werden jedoch meist ad-hoc einberufen, sodass            ausgeheilten Wunden der „Troubles“ wieder
das Parlament kaum starke Kontrollinstrumente            aufreißen. Der mit dem Karfreitagsabkommen
ausbilden    konnte.    Die   daraus    folgende         von 1998 lediglich beruhigte Antagonismus
dominante Stellung der Regierung wird                    zwischen nordirischen Unionisten und irischen
problematisch, wenn, wie im Falle der                    Nationalisten könnte mit ungewissem Ausgang
Europafrage, die Regierung selbst uneins ist.            erneut die Schwelle zur Gewalt überschreiten.

Die Chancen, dass personelle Neubesetzungen in           Das politische System Großbritanniens hat sich
der Führung einer der beiden oder beider                 jahrhundertelang als äußerst funktions- und
Parteien      die       zugrunde       liegenden         lernfähig erwiesen. Dennoch treten mit der
Strukturprobleme lösen können, sind gering. Es           Europafrage offensichtliche Schwächen zutage.
ist daher davon auszugehen, dass die Frage, wie          Diese werden jedoch nur zu einem Teil von
sich Großbritannien zu Europa, insbesondere zur          institutionellen            Rahmenbedingungen
EU, positioniert, auf unbestimmte Zeit den               hervorgerufen. Der in der Gesellschaft lange Zeit
politischen Kampf im Vereinigten Königreich              nur schwelende und somit nicht ausreichend
bestimmen wird – unabhängig davon, ob und                ausgetragene Europakonflikt lähmt nun das
unter welchen Bedingungen Großbritannien                 gesamte Land. Es wird sich zeigen, wie die beiden
ausscheidet. Schließlich wird Großbritannien ein         großen Parteien mit den Herausforderungen der
Teil des Systems Europa bleiben, auch wenn die           Zukunft umgehen.
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
Länderbericht                                                 April 2019   6

Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.

Felix Dane
Leiter
Länderprojekt Großbritannien / Irland
Europäische und Internationale Zusammenarbeit
www.kas.de
felix.dane@kas.de

Der Text dieses Werkes ist lizenziert unter den Bedingungen
von „Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter
gleichen Bedingungen 4.0 international”,
CC BY-SA 4.0 (abrufbar unter: https://creativecom

                                                                 www.kas.de
Sie können auch lesen