Das deutsche Gesundheitswesen im Lichte der Corona-Krise - spw
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38 Schwerpunkt spw 2 | 2020 Das deutsche Gesundheitswesen im Lichte der Corona-Krise von Felix Welti I. Einführung ,,Erst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts,“ – das 18. – ,,wird der Gedanke lebendig, daß die Gesundheitspolitik und -recht werden durch Basis der Gesundheit in den elementaren Ver- einschneidende Ereignisse wie Seuchen auf den hältnissen liegt und daß der Schwerpunkt des Prüfstand gestellt und in der weiteren Entwick- Gesundheitswesens statt in der Polizei und der lung geprägt. Beispiele sind die Typhus- und Heilung der bereits vorhandenen Krankheiten Cholera-Epidemien des 19. Jahrhunderts und vielmehr in der Pflege der Bedingungen für die ihr Einfluss auf die Entwicklung von Prävention Erhaltung der Gesundheit liege. Dieser Gedan- und Gesundheitswesen. ke kommt zum Durchbruche durch die Cholera, die in dieser Beziehung ein Segen für Europa ge- Rudolf Virchow erforschte um 1848 die Ur- worden ist.“ sachen des Hungertyphus in Schlesien und im Spessart und begründete die Medizin als soziale Mitten in der Pandemie beherrschen ord- Wissenschaft. An der Bewältigung der letzten nungsrechtliche und medizinische Fragen die großen Cholera-Epidemie in Hamburg 1892 politische und fachliche Diskussion. Für sozi- war wesentlich die in den betroffenen Arbeiter- al- und gesundheitspolitische Schlüsse aus der vierteln handlungsfähige SPD beteiligt, die bis Corona-Krise ist es noch zu früh. Politik und dahin von jeder Beteiligung an den öffentlichen (vergleichende) Forschung werden erst zu Er- Angelegenheiten ausgeschlossen war. Robert gebnissen kommen, wenn die schlimmste Ge- Koch musste für die Erkenntnis kämpfen, dass fahr gebannt ist. Mit Reflexion und Strukturie- Cholera durch übertragbare Erreger ausgelöst rung der Probleme muss aber begonnen werden. wird und durch verhaltens- und verhältnisbezo- Viel spricht dafür, dass auch nach Überwindung gene Interventionen bekämpft werden kann. Er von COVID-19 das Risiko von Pandemien war danach wesentlich an der Erarbeitung des – auch im Zusammenhang mit internationaler Reichsseuchengesetzes beteiligt, des Vor-Vor- Mobilität und Arzneimittelresistenzen – und läufers des Infektionsschutzgesetzes. Richard J. ökologisch bedingter Katastrophen dauerhaft Evans hat in „Tod in Hamburg“ eindrücklich auf der politischen Tagesordnung bleibt. Davon den sozialen, medizinischen und politischen gehen auch Bundesregierung und Gesetzgeber Kontext von Migrations- und Handelsströmen, aus: Das Bundesministerium für Gesundheit politischer Vertuschung aus Geschäftsinteres- (BMG) wird dem Bundestag spätestens zum sen und unhygienischen Lebensbedingungen 31. März 2021 einen Bericht vorlegen, der Er- der Arbeiterschaft beschrieben. In der Folge kenntnisse und Vorschläge beinhalten soll (vgl. rückten soziale und politische Ungleichheit, § 4 Abs. 1a IfSchG, BT-Drs. 19/18111, 19). Wohnverhältnisse, Wasser- und Abwasserver- sorgung und das öffentliche Gesundheitswesen II. Zur Reichweite von Gesundheitspolitik neu in den Blick. Bei Seuchen wird deutlich, dass Krankheits- Lorenz von Stein, Theoretiker der Sozialre- prävention nur zum kleineren Teil Bereitstel- form, schrieb 1870: lung von Gesundheitsleistungen ist. Zum grö- ßeren Teil betrifft sie die Voraussetzungen von Verhalten und Verhältnissen. Dazu gehören De- mokratie und sozialer Rechtsstaat. Sie verhin- Prof. Dr. iur. Felix Welti arbeitet am FB Humanwissenschaften der Uni- dern schnelle und verbindliche Entscheidungen versität Kassel und ist Mitherausgeber der spw. Aktualisierte und gekürzte Fassung des zuerst in Soziale Sicherheit 4/2020, S. 124-128 veröffentlichten nicht, sondern sollen Risiken von Willkür, Fehl- Beitrags. Richard Evans, Tod in Hamburg – Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830-1910, Reinbek 1990. Es ist zu hoffen, dass das Buch Lorenz von Stein, Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungs- bald wieder aufgelegt wird. rechts, 1. Aufl. 1870/2010, 82/72.
spw 2 | 2020 Schwerpunkt 39 entscheidungen und der Dominanz politischer lässt vermuten, dass es dabei nicht eine einzige, und wirtschaftlicher Einzelinteressen verklei- sondern verschiedene funktionale Ausgestal- nern. Ob und wo dies gegenwärtig gelingt und tungen gibt. wo sich aus dem Krisenmanagement autoritäre Versuchungen entwickeln, ist aufmerksam zu 1. Information und Koordination beobachten. Noch die Bekämpfung der Cholera-Epide- Der Sozialstaat soll Gewähr bieten, dass Ge- mie von 1892 litt daran, dass die Verbreitung sundheit als soziales Menschenrecht (Art. 12 von Seuchen durch übertragbare Erreger me- des Internationalen Pakts für soziale, wirtschaft- dizinisch und politisch umstritten war. Auch liche und kulturelle Rechte) allen bestmöglich heute ist die Bekämpfung einer neuen Krank- erreichbar ist. Ob und wie Gesundheitspolitik heit Handeln unter Unwissen und Unsicherheit. menschenrechtlich ausgerichtet ist und bleibt, Umso wichtiger sind organisierte Schnittstellen lässt sich daran sehen, wie das ungleiche Risiko zwischen medizinischer, epidemiologischer von älteren und jüngeren, gesundheitlich be- und anderer wissenschaftlicher Erkenntnis und einträchtigten und nichtbeeinträchtigten Men- Politik auf allen Ebenen, die koordinieren und schen und die Gefährdungen an Arbeitsplätzen entscheiden müssen. Wichtig ist dabei, dass und in beengten Wohnverhältnissen gewichtet Wissenschaft, praktische Medizin und Politik und behandelt werden. Da gibt es Unterschiede ihren jeweiligen Funktionslogiken folgen und zwischen Staaten, Politiken und Philosophien. sich zugleich eng austauschen können. Nimmt man die bestmögliche Gesundheit ernst, ist es Aufgabe von Gesundheitspolitik, Auf der globalen Ebene ist die Weltgesund- die besten Möglichkeiten herbeizuführen. heitsorganisation (WHO) als relevanter Akteur in den Blick gerückt. Ohne politische Macht Prävention ist auch das Vorhalten eines Ge- kann sie vor allem durch Aktivität und Glaub- sundheits- und Sozialwesens, das auf plötzliche würdigkeit wirken. Ein hoher Grad an privater aber vorhersehbare Ereignisse wie eine Pan- (Ko-)Finanzierung und enge Kontakte zur glo- demie bestmöglich eingerichtet ist. Das kann balen pharmazeutischen Industrie haben letz- marktwirtschaftliche Organisation nach An- tere durchaus beeinträchtigt. Ebenso ist aber gebot und Nachfrage nicht leisten. Es fordert auch in dieser Krise deutlich geworden, dass die planmäßige Vorsorge für die Wechselfälle des WHO auf ihre Mitgliedstaaten Rücksicht neh- Daseins nicht nur der Einzelnen, sondern auch men muss. Sie und ihre Unabhängigkeit, auch der Gesellschaft als Ganzes. Vorsorge für einen durch engere Verflechtung mit den Zivilgesell- plötzlichen hohen Bedarf an Gesundheitsleis- schaften, zu stärken, ist dringend geboten. tungen und sozialer Unterstützung ist in den letzten Jahrzehnten vor allem im Zusammen- Deutlich geworden ist von Beginn der Coro- hang mit Kriegen und Naturkatastrophen the- na-Krise an, dass ein eng verflochtener Raum matisiert worden, wie an der Inanspruchnahme wie die Europäische Union starker Gesund- von Streitkräften und Katastrophenschutz zu heitsinstitutionen bedarf. Das Europäische sehen ist. Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) in Stockholm ist aber III.Verantwortlichkeiten nicht hinreichend ausgestattet, obwohl die Uni- on ein ergänzendes Mandat für Beobachtung, Sozial- und gesundheitspolitische Fragen frühzeitige Meldung und Bekämpfung schwer- im Zusammenhang der Corona-Krise lassen wiegender grenzüberschreitender Gesundheits- sich an der Zuordnung von Verantwortlich- gefahren hat (Art. 168 Abs. 1 AEUV). keiten betrachten. Der internationale Vergleich In der Bundesrepublik Deutschland hat das Robert-Koch-Institut entsprechende Aufgaben Für die tagesaktuelle Diskussion: www.verfassungsblog.de. Vgl. die Risikoanalyse „Pandemie durch Virus Modi-SARS“, BT-Drs. einschließlich der Vernetzung und Koordina- 17/12051 vom 3.1.2013. tion zwischen internationalen Organisationen,
40 Schwerpunkt spw 2 | 2020 Bund, Ländern, Krankenkassen, Unfallversi- Auch außerhalb des Gesundheitsdienstes cherung, Kassenärztlicher Bundesvereinigung haben infektionsmedizinische Maßnahmen und Krankenhäusern. In Ländern und Kom- infrastrukturelle Voraussetzungen, etwa die flä- munen sind Gesundheitsbehörden und Ge- chendeckende Verfügbarkeit hygienischer Toi- sundheitsämter selbst die Schnittstelle von letten und Waschgelegenheiten im öffentlichen Fachlichkeit und Politik. Auch dort bedarf es Raum und in Verkehrsmitteln, in Betrieben institutioneller und berufsrechtlich gesicherter und Schulen. Arbeits- und Gesundheitsschutz Distanz zwischen beiden Funktionen. Gesund- werden auch deshalb in allen Bereichen aufzu- heitspolitische Fehleinschätzungen auf Grund werten sein. mangelnden Abstands zu kommunalen Parti- kularinteressen kommen vor – von Hamburg Staatliche Maßnahmen und offiziellen An- 1892 bis Ischgl 2020. nahmen müssen der wissenschaftlichen und öffentlichen Kritik ausgesetzt bleiben. Fehlende Schon seit langem wird beklagt, dass die Ge- Aufklärung und Unfreiheit fördern Fehlent- sundheitsämter in Ländern und Kommunen scheidungen, Gerüchte und Panik. Viele Epide- für ihre Aufgaben selbst außerhalb von Krisen mien waren und sind geprägt von gefährlichen nicht hinreichend ausgestattet sind. Sie müssten und ablenkenden Schuldzuweisungen an Frem- Bindeglied zwischen globalen und nationalen de und Juden. Es wäre ein großer Fortschritt, Informationen und Handlungsanweisungen wenn diese Komponente („chinesischer Virus“) zur Kenntnis regionaler und lokaler Gefähr- bei der globalen Bekämpfung von COVID-19 dungs- und Versorgungsstrukturen sein und dauerhaft zurückgedrängt werden könnte. dazu personelle Ressourcen mit medizinischer, gesundheitswissenschaftlicher und pflege- 2. Ordnungsrecht der Prävention rischer Kompetenz vorhalten. Über eine bessere Ausstattung der Gesundheitsämter in Ländern COVID-19 hat die Nationalstaaten als (ein- und Kommunen ist ebenso wie über die insti- zige) Akteure ordnungsrechtlicher Prävention tutionelle Struktur nachzudenken. So könnten nachhaltig in Erinnerung gebracht. Doch wurde die exekutiven Funktionen in Ministerien und zugleich deutlich, wie ineffizient, vielleicht auch Ämtern belassen werden, die (sozial-)medizi- kontraproduktiv Schließungen von Staatsgren- nische, pflegerische und gesundheitswissen- zen in einer ökonomisch globalisierten Welt schaftliche Kompetenz für alle öffentlichen sind. Viren und ihre Eindämmung orientieren Einrichtungen aber in einem unabhängigen sich nicht an Grenzen. Es mag notwendig sein, öffentlich-rechtlichen Dienst gebündelt wer- örtliche Freizügigkeiten zum Infektionsschutz den, in dem auch der Medizinische Dienst der einzuschränken. Wenn man sich dazu primär Krankenversicherung (MDK) aufgehen könnte, und einseitig der Staatsgrenzen bedient, weil sie will man überhaupt hinreichend Fachpersonal nun mal da sind, wirkt das hilflos. finden. Wichtig wäre, dass die fachliche Aus- stattung keine Frage der kommunalen Finanz- In Deutschland zeigt sich bisher – unabhän- lage mehr wäre, sondern einheitlich hohen und gig von der aktuellen oder retrospektiven Be- gesichert finanzierten Standards folgte. Die wertung der getroffenen Maßnahmen –, dass der aktuellen Finanzierungsmodi kommunaler kooperative Föderalismus funktionieren kann. Sozial- und Gesundheitspolitik bewirken, dass Der gesundheitliche Ausnahmezustand auf der Ressourcen primär dorthin fließen, wo indivi- Basis des Infektionsschutzgesetzes wurde nicht duelle bundes- und landesrechtliche Ansprüche bundeszentral verfügt, sondern durch überwie- zu erfüllen sind, während Standards für nötige gend abgestimmte Landesverordnungen und Infrastrukturen nach Finanzlage und Prioritä- Allgemeinverfügungen der Kommunen. Damit ten von den Ländern vage gehalten werden, um sind mehr Personen und Interessen in die Ent- der landesverfassungsrechtlichen Konnexität zu scheidungen eingebunden. Das ist ein Vorteil, entgehen, und in den Kommunen nach Finanz- auch wenn man – möglicherweise berechtigte lage gedehnt und gesenkt werden können. – Differenzen innerhalb Deutschlands in Kauf nehmen muss. Solange nicht auf engem Raum
spw 2 | 2020 Schwerpunkt 41 sich ausschließende Strategien verfolgt werden, beim jeweiligen Gesundheitsamt zu sehen. An- ist der „Flickenteppich“ weniger gefährlich als dererseits ist der Test eine Leistung der ambu- die einsame (Fehl-)Entscheidung. lanten Krankenbehandlung an Menschen, die – jedenfalls mit Symptomen – zunächst die Insofern sollte die in der Krise begonnene hausärztliche Versorgung kontaktieren. Dort Ausweitung von Bundeskompetenzen im Infek- allerdings waren Tests und Schutzkleidung oft tionsschutz bei epidemischen Lagen von natio- nicht verfügbar. Die Gesamtverantwortung der naler Tragweite (§ 5 IfSG) bei Außerkrafttreten Kassenärztlichen Vereinigungen führte dann 2021 sorgfältig evaluiert werden Ordnungs- zu deren Verantwortlichkeit, rasch eigene Test- rechtliche Kompetenzen sollten föderal blei- zentren aufzubauen und die Versorgung über ben. Gerne und hilfreich betätigen könnte sich die bislang vielen Menschen nicht bekannte der Bund künftig für einheitliche Standards des Telefonnummer 116 117 zu steuern. Der Ein- öffentlichen Gesundheitsdienstes, die Voraus- druck unklarer Verantwortlichkeiten zwischen setzung für Funktionieren und Abstimmung Gesundheitsamt, Hausarzt, KBV-Ambulanz ordnungsrechtlicher Maßnahmen sind. und der für viele Menschen mental präsenteren Notfallambulanzen der Krankenhäuser hat si- 3. Leistungsrecht der Prävention cherlich zumindest in der Anfangszeit zu Rei- bungsverlusten geführt und sollte in der Nach- Die Corona-Krise zeigte Unsicherheit und bereitung diskutiert werden. Uneinheitlichkeit in Deutschland bei der Ver- antwortlichkeit für die zunächst einzige zur Es zeigt sich, dass im deutschen Gesund- Verfügung stehende spezifische Gesundheits- heitswesen Klärungsbedarf besteht, wo bevöl- leistung: den Test. Da sein Ergebnis jedenfalls kerungsbezogene Interventionen wie Tests und (und oft auch hauptsächlich) der Steuerung ord- Impfungen im Versorgungssystem anzusiedeln nungsrechtlicher und statistischer Maßnahmen sind. Das gerade erst in Kraft getretene Masern- dient, konnte es naheliegen, die Verantwortung schutzgesetz hat das Impfrecht geöffnet, so dass VERLAG WESTFÄLISCHES DAMPFBOOT Widersprüche 155 Dialogisches Handeln und Forschen Mit Freire die neoliberalen Verwüstungen überwinden 2020 – 144 Seiten – 15,00 € ISBN 978-3-89691-025-7 Heft 155 der „Widersprüche“ zeigt Zugänge zum dialogischen Verstehen und zur Transformation der eigenen Umwelt auf und geht auf aktuelle Auseinandersetzungen um Paulo Freire ein. WWW . DAMPFBOOT - VERLAG . DE
42 Schwerpunkt spw 2 | 2020 Masern- oder Grippeimpfungen nun durch alle Rahmen des Möglichen Schritte zur Kapazitäts- Ärzte und auch in Apotheken erfolgen können. erweiterung und Beschaffung unternommen. Ob das – bessere Materialausstattung vorausge- Die große Bedeutung rascher und jederzeit setzt – auch der Weg für künftige Pandemien verfügbarer Versorgung mit Medizinprodukten wäre oder ob es einer Zuordnung zumindest und Arzneimitteln dürfte neue Argumente zur der Federführung für Impf- und Testinterven- Diskussion über die Regeln für die Vorsorge tionen bedarf, z.B. an die Gesundheitsämter, und Beschaffung durch Staat, Krankenkassen wird zu klären sein. Dabei wird deutlich, dass und öffentlich finanzierte Gesundheitseinrich- bevölkerungsbezogene Präventionsleistungen tungen schaffen. Im Krisenfall stark steigende letztlich fremd in einem System sind, das auf Preise und mangelnde Verfügbarkeit lebens- individuellen Versicherungsleistungen aufbaut. wichtiger Güter könnten auf Systemfehler hin- Bei einer Masern-Impfung oder einem Sars- deuten. Das könnte sich auch darauf auswirken, CoV-2-Test geht es nicht primär um individu- wie zukünftig in der EU mit der Geltung des elle Leistungsansprüche, sondern darum, dass Wettbewerbsrechts für Dienstleistungen von möglichst viele Personen eine Leistung mög- allgemeinem wirtschaftlichen Interesse umge- lichst schnell bekommen, egal ob gesetzlich, gangen wird und was nötig ist, damit die Erfül- privat oder nicht versichert, In- oder Ausländer. lung ihrer Aufgaben nicht beeinträchtigt wird In Deutschland ist das Versorgungssystem um (Art. 106 Abs. 2 AEUV). die gesetzliche Krankenversicherung herum aufgebaut. Das Diktum „versicherungsfremd“ Absehbar noch problematischer – und einerseits und das Veto der Länder und Kom- das auch im Normalbetrieb – ist ein Mangel munen gegen Regelungen, die sie Geld kosten, an ärztlichem und pflegerischem Personal. andererseits, haben manche sinnvolle Reform in Dessen Verfügbarkeit wird bestimmt durch diesem System verlangsamt. Es wäre gut, wenn vormalige Entscheidungen über Ausbildungs- die Krise Auslöser für eine klare und praktikab- kapazitäten, Personalschlüssel und (fehlende) le Präventionsverantwortlichkeit würde, wie sie Anreize zur Berufstätigkeit, durch die Gestal- das Präventionsgesetz von 2015 nicht erreicht tung von Arbeitsbedingungen und Entgelten. hat. Es zeigt sich, dass Prävention eine zu ernste Bereits in den letzten Jahren ist dies für die Sache ist, um sie weiter als Marketing-Instru- Pflegeberufe Gegenstand der Gesundheitspo- ment im Kassenwettbewerb misszuverstehen. litik geworden (so Pflegelöhneverbesserungs- gesetz, BT-Drs. 19/14416, Pflegepersonal-Stär- 4. Leistungsvorsorge als Prävention kungsgesetz, BT-Drs. 19/5593). Die aktuelle Ausweitung der Zulassung heilkundlicher Die Corona-Krise stellt auch die Frage: Wer Tätigkeiten durch Pflegeberufe in der Krise (§ ist dafür verantwortlich, dass die infrastruktu- 5a IfSG) weist darauf, dass auch traditionelle rellen Voraussetzungen individueller Leistun- Rangverhältnisse zwischen den Berufen dabei gen gesichert sind, möglichst auch in atypischen dringend auf den Prüfstand müssen. Drin- Situationen wie dieser? In einer solchen Situati- gend zu beachten ist dabei, dass Maßnahmen on sind die Regelungen zur Infrastrukturver- in der stationären Akutversorgung nicht zu antwortung der Sozialleistungsträger (§ 17 SGB Knappheiten in der ambulanten Versorgung I) und zum Sicherstellungsauftrag der vertrags- und Langzeitpflege führen sollten, die dann ärztlichen Versorgung für Krankenkassen und wieder zur Überlastung der stationären Ver- Vertragsärzte (§ 72 SGB V) nicht ausreichend. sorgung führen können. Insofern mag es auch Weder Krankenhäuser noch Vertragsärzte als unzureichend sein, nur die stationäre medizi- selbstständig wirtschaftende Einheiten haben nische Versorgung als kritische Infrastruktur ein Interesse, beispielsweise mehr Schutzklei- zu definieren (§ 6 BSI-KritisV). In der aktu- dung oder Beatmungsgeräte vorzuhalten als ellen Krise wird darauf immerhin reagiert, normalerweise benötigt. Auch die Kranken- indem die einzelleistungsorientierte Finan- kassen haben weder Materiallager noch finan- zierung gesundheitlicher, pflegerischer und zieren sie diese. In der jetzigen Krise sind Bund sozialer Dienste und Einrichtungen befristet und Länder rasch eingesprungen und haben im auf eine infrastruktursichernde Finanzierung
spw 2 | 2020 Schwerpunkt 43 umgestellt wird (BT-Drs. 19/18107, 14, 34). Es ist. Strukturell wird in Deutschland zwar kli- gehört aktuell zu den wichtigen Aufgaben der nische Forschung an Universitäten und ihren sozialen und kommunalen Selbstverwaltung Krankenhäusern überwiegend staatlich finan- in der Krise, Lücken in diesen eilig geschaf- ziert, die pharmazeutische Forschung ist je- fenen Rechtsgrundlagen zu überbrücken. doch in der Systematik des Gesundheitswesens primär privat finanziert und muss sich daher an Medizinisches und pflegerisches Personal ihrer Refinanzierung über den Markt ausrich- ist von fehlender Kapazität und Ressourcen ten. Damit konzentriert sie sich auf häufige und in der Pandemie (und auch im „Normal- in zahlungskräftigen Ländern vorkommende betrieb“) selbst physisch und psychisch ge- Krankheiten. Ihre allgemeine Zugänglichkeit fährdet. „Schutz des Gesundheitswesens vor ist oft durch Patentrechte erschwert; auch diese Überlastung“ ist als Schutzgut der aktuellen sind krisenbedingt nun eingeschränkt (§ 5 Abs. Politik kein Abstraktum, sondern auch für die 2 Nr. 5 IfSG). Selbst global ist die von der WHO Zukunft essenziell. mitgetragene Impfstoff-Allianz GAVI auf pri- vate Kofinanzierung durch die Gates-Stiftung Bisher gingen die Krankenhausplanung der und Partnerschaft mit privaten Unternehmen Länder und die Bedarfsplanung der Kassen- angewiesen. ärztlichen Vereinigungen davon aus, dass sich zukünftige Bedarfe an Gesundheitsleistungen 5. Soziale Ungleichheit im Wesentlichen aus vergangenen Bedarfen und demografischen Daten ermitteln lassen. Seuchen können Treiber sozialen Fort- Die Finanzierung des ambulanten und sta- schritts sein, wenn gesellschaftlich und politisch tionären Sektors richtet sich vor allem nach erkannt wird, dass ihre schädliche Wirkung alle erbrachten Leistungen. Bei den Krankenhäu- sozialen Schichten, Klassen und Interessen be- sern kommt die Investitionsförderung der trifft. Gleichwohl wirken sie nur selten als die Länder hinzu, die jedoch oft als unzureichend Gleichmacher, den die mittelalterlichen To- kritisiert wird und sich, wenn überhaupt, am tentänze aus der Zeit der Pest zeigen. Häufiger „Normalbedarf “ ausrichtet. Sieht man das Ge- treffen sie, wie Typhus und Cholera, vor allem sundheitswesen als Ganzes jedoch als kritische ohnehin sozial Benachteiligte. International soziale Infrastruktur einer Gesellschaft, scheint wird sich in der Nachbetrachtung von COVID- eine integrierte und auch außergewöhnliche 19 zeigen, wer warum am stärksten getroffen Fälle stärker umfassende Planung nötig. Das worden ist. Generell trifft dieses Virus, soweit impliziert staatliche Verantwortung für not- wir bisher wissen, am schwersten Ältere und wendige Vorsorge durch Vorratshaltung und gesundheitlich Eingeschränkte. Welche Rolle materielle und personelle Reservekapazität. dabei strukturelle Versorgungsmängel der am- Blickt man in die Welt, ist es wahrscheinlich, bulanten Gesundheitsversorgung und in Wohn- dass nach der Corona-Krise die Argumente und Pflegeeinrichtungen, Vorschäden der Lun- für Marktwirtschaft im Gesundheitssystem ge durch Industriearbeit, Luftverschmutzung sich nicht vermehrt haben. Es gibt aber auch und Tabakrauch gespielt haben werden, ist auf- schlechte Beispiele für staatliche Krankenhäu- merksam zu beachten. ser und Gesundheitsdienste, gerade wenn die- se der Austeritäts-Politik unterlegen haben. Schon außerhalb der Krise ist die medizi- nische Versorgung in Pflege- und Wohneinrich- Zur Vorsorge für das Gesundheitswesen ge- tungen und die Gewährleistung professioneller hört auch die Organisation des medizinischen ambulanter Pflege und Unterstützung schwie- Fortschritts. Sicher kann es nicht für jede neu rig. Vorsorge mit Material und Personal war auftretende Krankheit Impfung und Medika- dort noch weniger getroffen. Hier wird es in der ment „auf Vorrat“ geben. Doch wird zu fragen Krise gerade in Behinderteneinrichtungen zu sein, ob nach dem Auftreten von SARS-1 und Mehrkosten kommen, die durch die Beschlüsse MERS die Forschung über Corona-Viren der des ersten Sozialpakets nicht gedeckt sind. Auch bekannten Gefährdung angemessen gewesen hier ist die Selbstverwaltung gefordert.
44 Schwerpunkt spw 2 | 2020 Priorisierung und Rationierung von Ge- Evans schreibt zur Cholera 1892: „Die Epide- sundheitsleistungen in der Epidemie ist sehr an- mie kennzeichnete – auch wenn sie ihn nicht als fällig dafür, soziale Ungleichheiten zu reprodu- einzige herbeiführte – den Sieg des Preußentums zieren und zu verstärken. Eine Benachteiligung über den Liberalismus, den Triumph der staat- auch bei Versorgungsengpässen wegen Alter, lichen Intervention über das Laisser-Faire.“ Mit chronischer Krankheit oder Behinderung ist dem Wissen, dass „danach“ im 20. Jahrhundert in Deutschland verboten (§ 2a SGB V; § 33c ebenso der historische Aufbau des Sozial- und SGB I; §§ 1, 2 Abs. 1 Nr. 5 AGG). Schon Triage- Gesundheitswesens wie Nationalismus und Kriterien wie Erfolgsaussicht und Priorität sind Krieg lagen, ist der Ausblick auch heute am- mit Blick auf ihre mittelbaren Wirkungen sehr bivalent. In einer längerfristigen Betrachtung problematisch. mag die Corona-Krise in einer längeren Linie stehen, die seit der Finanzkrise 2008/2009 ei- Gerade beim Infektionsschutz wird deutlich, nerseits eine Renaissance sozialstaatlicher Re- dass das Gesundheitswesen im Ganzen, Diens- gulierung, andererseits einen Wiederaufstieg te, Einrichtungen, Berufsträger und Behörden des Nationalismus markiert. auf Menschen zu achten haben, die schlechten Zugang zu Gesundheitsleistungen und -infor- In einer optimistischen Version dessen, was mationen haben, seien sie geistig und seelisch bevorsteht, mag COVID-19 die Notwendigkeit behindert, mobilitäts- und sinnesbeeinträch- verdeutlicht haben, die internationale Koope- tigt, Pflegebedürftige, Analphabeten, Menschen ration für die Verwirklichung des Menschen- mit geringen Deutschkenntnissen, Obdachlose, rechts auf Gesundheit substanziell zu verstär- Prostituierte, Menschen in Gemeinschaftsun- ken. Denn vor allem führt die Corona-Krise terkünften und Menschen mit ungesichertem vor Augen, dass Gesundheitspolitik weniger Aufenthaltsstatus. Wenn sie nicht gleichen und denn je national beschränkt sein kann, wenn barrierefreien Zugang zu Informationen, Tests internationale Verflechtung von Produktion, und Behandlung haben wie andere auch, ihre Konsum, Kommunikation und Mobilität alle Wohn- und Lebenssituation verbessert wird, sozialen Bedingungen von Gesundheit globali- sind sie gefährdet – und gefährden damit auch siert haben und damit ebenso die Gefahren wie andere. COVID-19 ist ein weiterer Warnruf, die Lösungswege. Friedrich Engels, Kritiker bür- ungleiche Gesundheitschancen dieser Gruppen gerlicher Sozialreformen des 19. Jahrhunderts, zu bessern. schrieb 1872 „Zur Wohnungsfrage“: „Die Brut- stätten der Seuchen, die infamsten Höhlen und IV. Ausblick Löcher, worin die kapitalistische Produktionswei- se unsre Arbeiter Nacht für Nacht einsperrt, sie Es ist richtig, in der Krise zuerst das Drän- werden nicht beseitigt, sie werden nur – verlegt!“ gendste zu erledigen. Doch aus Erfahrungen – die Folgen waren etwa 1892 in Hamburg zu sollte gelernt werden können. § 4 Abs. 1a IfSchG spüren. Nicht die Externalisierung von Ge- ist ein Merkposten. Auch nach der Krise werden fahren, sondern nur eine globale Politik, die Deutungsmacht und Einfluss von Interessen anerkennt, dass die bestmögliche Gesundheit unterschiedlich verteilt sein. Verschiebungen eines jeden die Bedingung der Gesundheit aller von Ressourcen sind leichter durchsetzbar als ist, kann die nachhaltige Konsequenz sein. ó qualitative Änderungen an Verantwortlich- keiten und Strukturen. Auch deswegen brau- chen in und nach der Krise vulnerable Gruppen und die für ihre Behandlung und Unterstützung wichtigen Dienste, Einrichtungen und Berufe besondere Aufmerksamkeit. Siehe die Dokumentation kritischer Stellungnahmen auf www.reha-recht.de.
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