Hat das Dorf Zukunft? - Argumente und Strategien für Erhalt und Förderung des ländlichen Raumes von Gerhard Henkel - Kritischen Agrarbericht

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Der kritische Agrarbericht 2020

( Schwerpunkt »Stadt, Land – im Fluss«

Hat das Dorf Zukunft?
Argumente und Strategien für Erhalt und Förderung des ländlichen Raumes

von Gerhard Henkel

                       Bei aller »Landlust« und auch wenn rund die Hälfte der Deutschen auf dem Land lebt: Viele Dörfer
                       befinden sich in einer Existenzkrise. Arbeitsplätze, Schulen, Gasthöfe, Dorfläden verschwinden. Die
                       Jungen wandern ab, die Älteren bleiben zurück, Kultur- und Naturlandschaften sind in Gefahr. Doch
                       Dörfer und Landgemeinden sind für die Zukunft der Gesamtgesellschaft genauso wichtig wie die
                       großen Städte: nicht nur als Produzenten hochwertiger Lebensmittel und vielseitiger Kulturland­
                       schaften, sondern auch als Orte alternativer Lebensformen, die durch Natur- und Menschennähe
                       sowie durch vor- und fürsorgliches Denken und Handeln geprägt sind. Der folgende Beitrag be­
                       nennt zentrale Problemfelder dörflicher und ländlicher Entwicklung, zeigt aber auch Perspektiven
                       für ­einen positiven Wandel auf und macht darauf aufmerksam, wie unverzichtbar für unsere Ge­
                       samtgesellschaft vitale Dörfer und ländliche Regionen sind. Ein leidenschaftliches Plädoyer, warum
                       das Dorf gerade in Zeiten zunehmender Globalisierung und Urbanisierung nicht sterben darf.

In unseren Dörfern * hat in wenigen Jahrzehnten ein                    Schichten, Katholiken und Protestanten oder Alt- und
epochaler ökonomischer und sozialer Wandel stattge-                    Neubürgern sind (fast) vorbei. Ländliche Lebensstile
funden. In den 1950er-Jahren war das Dorf noch ein                     sind wieder »in«. Könnte es sein, dass das Dorf momen-
wirtschaftlich und sozial lebendiger und enger, über-                  tan vielleicht die beste Phase seiner Geschichte hat?
wiegend auf sich selbst bezogener Kosmos, und vor al-
lem in mehrfacher Hinsicht voll: an Menschen, an Ar-                   Gegen Leerstand angehen
beitsplätzen, an öffentlicher und privater Infrastruktur.
Heute werden die Dörfer immer leerer: an Menschen,                     Was fällt dem aufmerksamen Dorfbesucher heute
an Arbeitsplätzen, an Schulen, Gasthöfen und Läden.                    sofort ins Auge: leer stehende Gebäude – vor allem
Die Jugendlichen wandern ab, die Älteren bleiben al-                   im Ortskern. Noch vor 50 oder 60 Jahren sah er das
lein zurück, Kulturlandschaften wandeln sich in inten-                 Gegenteil: Alle Dörfer in Deutschland waren im
siv bewirtschaftete »Agrarwüsten« oder veröden. Ein                    wahrsten Sinne des Wortes »voll«: Jeder Quadratme-
Teufelskreis von realen Verlusten und schlechter Stim-                 ter wurde genutzt – durch Wohnungen, Handwerks-
mung prägt zehntausendfach das Dorfleben. Nicht                        und Gewerbebetriebe, Ställe für Tiere, Speicher für
wenige sprechen von einer Existenzkrise des Dorfes.                    Erntevorräte und Schuppen für Maschinen. Da nicht
   In Kontrast dazu sind aber auch unzählige Aktivitä-                 genügend Platz in den Dorfkernen war, schuf man
ten und Erfolgserlebnisse in den Dörfern zu beobach-                   Neubaugebiete an den Rändern, verlegte landwirt-
ten, die verdeutlichen, dass längst nicht alles verloren               schaftliche Betriebe in die Flur.
ist. Generell hat das Dorf mit dem Wandel auch Wert-                      Heute leiden die meisten deutschen Dörfer und
volles gewonnen. Durch Bildung und Mobilisierung                       Kleinstädte zunehmend an Leerstand von Gebäuden;
ist die Bevölkerung auf dem Land heute wohlhaben-                      die Leerstandsquote schwankt zwischen fünf und
der, liberaler und weltoffener. Die ehemals schroffen                  40 Prozent. In einigen kleineren Dörfern hat der Leer-
Abgrenzungen und Anfeindungen zwischen sozialen                        stand bereits zur völligen Aufgabe des Ortes geführt.
* U nter »Dorf« werden hier – generalisiert – alle ländlich gepräg-   Auch wenn derlei »Wüstungen« noch eine Ausnahme
  ten Ortschaften bis etwa 10.000 Einwohner gefasst. Damit sind        bilden: Der Leerstand betrifft generell nicht nur die
  Tausende von Kleinstädten in die Betrachtung einbezogen, deren
  Probleme und Chancen mit denen der größeren Dörfer durchaus          wirtschaftsschwachen, sondern auch die prosperie-
  vergleichbar sind.                                                   renden Dorfregionen.

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Einleitung

   Ein quasi »natürliches« Ende des gegenwärtigen        Fast alle Erwerbstätigen arbeiteten im eigenen Ort:
Leerstands ist nicht in Sicht, da seine wesentlichen     in Betrieben der Land- und Forstwirtschaft sowie im
Ursachen als konstant erscheinen: Abwanderung und        Handwerk und Handel, nur wenige wie Lehrer und
genereller Geburtenrückgang, Verluste der dörflichen     Geistliche in Dienstleistungsberufen. Inzwischen hat
Arbeitsplätze und Infrastruktur sowie ein nach wie       das Dorf den Großteil seiner agrarischen und hand-
vor ungebrochener Boom neuer Wohnbauten »auf             werklichen Arbeitsplätze verloren. Die an Zahl ge-
der grünen Wiese« am Dorfrand. Immer noch gehört         schrumpften ländlichen Betriebe produzieren heute
es auf dem Land zum guten Image, »draußen« ein           für den nationalen und internationalen Markt. Viele
»modernes« Haus zu bauen. So kann man beobach-           Dorfregionen haben den verlust- und schmerzreichen
ten, dass sogar in Dörfern, die an Einwohner zuneh-      Strukturwandel der letzten 60 Jahre gemeistert. An-
men, der Leerstand im Kern wächst – zugunsten neuer      dere nicht, sie befinden sich in einem wirtschaftlichen
Wohngebiete am Dorfrand. Generell sind daher na-         Teufelskreis von Schrumpfung und Abwanderung.
hezu alle Dörfer in Deutschland von Leerstand in den     Wie kann die ökonomische Basis des Dorfes in allen
Kernen betroffen – auch wenn es erhebliche regionale     Regionen stabilisiert oder gar verbessert werden?
Unterschiede gibt.                                          Der Wandel von der Agrar- zur Industrie- und
   Wie kann der Teufelskreis Leerstand, der unsere       Dienstleistungsgesellschaft, der in Deutschland in den
Dörfer von innen her erodieren lässt, energisch und      letzten 200 Jahren und endgültig seit 1945 vollzogen
flächendeckend bekämpft werden? Zunächst müss-           wurde, hat insbesondere das agrarisch geprägte und
ten die Kommunen mehr als bisher die Leerstände          -definierte Dorf in dramatischer Weise verändert. In
ins Zentrum kommunaler Politik stellen. Leerstand        nur wenigen Jahrzehnten gab es millionenfache Ver-
ist für viele Bürgermeister und Gemeinderäte immer       luste an Arbeitsplätzen und Betrieben im Agrarbereich
noch eher ein privatwirtschaftliches Problem von         und dörflichen Handwerk. Allein in der Landwirt-
Eigentümern, die für ihre ungenutzten Immobilien         schaft ging die Zahl der Betriebe von 1950 bis heute
selbst verantwortlich sind – nicht aber eine vorrangig   von circa 2,4 Millionen auf etwa 300.000, die Zahl der
kommunale Aufgabe. Der Leerstand wird in vielen          Erwerbspersonen von 7,1 Millionen auf rund 620.000
Dörfern erst dann ein öffentliches Thema, wenn durch     zurück. Ähnlich stark verlief die Schrumpfung in der
eine Bürgeraktion ein markantes und für die Grund-       Forstwirtschaft und im Landhandwerk. Nahezu alle
versorgung wichtiges Gebäude »gerettet« und mit          Familien des Dorfes waren von diesen harten Wand-
neuem Leben gefüllt wird. Es ist ein Unding, dass im-    lungsprozessen betroffen, Millionen Dorfbewohner
mer noch viel zu wenige Gemeinden die Bekämpfung         verließen das Land. Die ökonomischen, psychologi-
des Leerstands zu einer kommunalen Kernaufgabe ge-       schen, sozialen und baulichen Wunden dieser Verän-
macht haben und z. B. die niedrigen Immobilien- und      derungen sind in den Dörfern und bei vielen seiner
Mietpreise auf dem Land – in Richtung potenzieller       Menschen bis heute erkennbar. Durch den starken
Zuwanderer – besser vermarkten.                          Rückgang der lokalen Arbeitsplätze und Betriebe ist der
   Die ländlichen Gemeinden brauchen aber auch           Dorfbewohner sehr häufig zum Auspendler geworden.
ihrerseits entschiedene Anreize, das Problem anzupa-        Den genannten Verlusten stehen aber auch Ge-
cken. Bund und Länder sind nach dem Grundgesetz          winne gegenüber. Für die meisten Dorfbewohner ist
verpflichtet, für eine Gleichwertigkeit der Lebensver-   die tägliche harte und körperlich schwere Arbeit, die
hältnisse in Stadt und Land zu sorgen. Vonnöten ist      die Menschen früh altern ließ, heute vorbei. Durch
daher ein groß angelegtes, bundesweites kommunales       die großen technischen Fortschritte und den Maschi-
Initiativ- und Förderprogramm, das allen ländlichen      neneinsatz in der Land- und Forstwirtschaft sowie
Gemeinden offensteht und diesen nicht nur Geld,          im Handwerk ist vieles zumindest körperlich leichter
sondern auch Leitbilder und Beratung zur Verfügung       geworden. Zudem haben Freizeit und Muße als Er-
stellt, um auch unter den gegenwärtigen Schrump-         rungenschaften der Moderne (für das breite Volk)
fungsbedingungen lebens- und zukunftsfähige Dörfer       auch Eingang ins Dorf gefunden. Die jüngere Dorf-
zu erhalten. Denn der Leerstand in den Dörfern ge-       bevölkerung kann sich heute kaum vorstellen, dass
fährdet die Lebensqualität auf dem Lande. Er ist somit   das Dorfleben jahrhundertelang bis in die Mitte des
ein gesamtgesellschaftliches Problem – und kein rein     20. Jahrhunderts überwiegend durch Armut, Not und
kommunal-ländliches.                                     Kampf um das tägliche Brot geprägt war. Aus heutiger
                                                         (ökonomischer) Sicht war der Strukturwandel in der
Arbeitsplätze schaffen und erhalten                      deutschen Agrarwirtschaft – begleitet durch Maßnah-
                                                         men wie Flurbereinigung und Betriebsaussiedlungen
Noch vor 60 Jahren war das Dorf ein nahezu ge-           in die Feldflur – sicher notwendig. Mit ihren klein-
schlossener Wirtschaftsraum. Es versorgte sich selbst    bäuerlichen Strukturen war sie z. B. gegenüber den
mit Nahrungsmitteln, Gütern und Dienstleistungen.        europäischen Nachbarländern mit ihren größeren

                                                                                                              15
Der kritische Agrarbericht 2020

Betrieben nicht konkurrenzfähig. Nur so konnte auch          Insgesamt jedoch sind ländlicher Raum und Dorf
hierzulande der Weg vom Selbstversorger zum Produ-        nicht generell zum Armenhaus oder zum Wirtschafts-
zenten für den nationalen und internationalen Markt       zwerg der Nation geworden. Die ländlichen Räume er-
erfolgreich beschritten werden.                           bringen heute insgesamt 57 Prozent der Wirtschafts-
   Die inzwischen sehr produktive deutsche Agrar-         leistung des Staates; 59 Prozent aller Arbeitsplätze in
wirtschaft ist heute selbst im ländlichen Raum jedoch     Deutschland sind auf dem Land angesiedelt. Viele
nur noch die dritte Kraft gegenüber dem sekundären        ländliche Regionen wie das niedersächsische Emsland
und tertiären Wirtschaftssektor. Nichtagrarische Ge-      oder das südliche Westfalen liegen mit ihrer Wirt-
werbe-, Industrie- und Dienstleistungsbetriebe sind       schaftskraft sogar über dem jeweiligen Landes- und
auf dem Land sesshaft geworden bzw. haben sich dort       Bundesdurchschnitt, dies gilt generell auch für die
aus den Anfängen im Handwerk und Handel entwi-            neuen Bundesländer. Andere Landregionen sind je-
ckelt. Viele ländliche Regionen haben in den letzten      doch – in allen Teilen der Republik – durch den Struk-
25 Jahren eine über dem jeweiligen Landesdurch-           turwandel und fehlende ökonomische Alternativen
schnitt liegende ökonomische Entwicklung genom-           ins Abseits geraten. Hier finden – in einem wirtschaft-
men. Der ländliche Raum verfügt durch seine Indus-        lichen Teufelskreislauf – eine verstärkte Schrumpfung
trie- und Handwerksbetriebe insgesamt über eine           der Betriebe und der Infrastruktur und folglich Ab-
hohe wirtschaftliche Leistungskraft. Und häufig auch      wanderung und letztlich Leerstand und Verfall statt.
über eine robustere Wirtschaftsstruktur, was auf die      Die Sicherung einer basalen Infrastruktur und der
hier vorherrschenden, flexibel agierenden mittelstän-     Daseinsvorsorge sind hier die großen Herausforde-
dischen Betriebe zurückgeführt wird, die inzwischen       rungen für Politik und Zivilgesellschaft.
vielfach erfolgreich auf dem Weltmarkt ihre Produkte         Wo aber zeigt der ländliche Raum seine heutige
anbieten. Auch die Arbeitslosenquote auf dem Land         Wirtschaftskraft und wie könnte sie weiter gefördert
ist überwiegend niedriger als im Landes- oder Bun-        werden? Die originäre Stärke des Landes liegt in sei-
desdurchschnitt.                                          nen vielfältigen natürlichen Ressourcen: nutzbarer
   Neben den Betrieben mit ihren Arbeitsplätzen tra-      Boden für Ackerbau, Viehzucht, Holz- und Energie-
gen informelles Wirtschaften und soziales Kapital we-     wirtschaft, Wasser als Rohstoff und Energielieferant,
sentlich zum Wohlstand in den Dörfern bei. Im Ver-        Sonne und Wind als Energiequelle, abwechslungsrei-
gleich zur Stadt besteht auf dem Land noch ein hohes      che Kultur- und Naturlandschaften für Freizeitnut-
Maß an »Selbstversorgungskultur«. Dabei helfen die        zung und Tourismus.
Menschen sich gegenseitig oder tauschen sich aus –           Eine prosperierende Agrarwirtschaft ist – allein
mit Gütern und Dienstleistungen. Dies gilt traditionell   schon aufgrund der Flächen, die sie bewirtschaftet –
für Garten-, Haus- und Bauarbeiten oder die Betreu-       immer noch die Basis der ländlichen Wirtschaft.
ung von Kindern, kranken und älteren Menschen. Die        Vergessen sind die Zeiten der 1970er-Jahre, als in
Wissenschaft spricht von »lokalen Wertschöpfungs-         manchen Regionen nutzbare Agrarflächen bis zu
ketten«, die oft zugleich einen ökologischen und sozia­   40 Prozent brachfielen. Heute ist das nutzbare Land
len Mehrwert erbringen.                                   knapp und kostbar. Die Kauf- und Pachtpreise für
   Der relativ hohe Wohlstand im ländlichen Raum          landwirtschaftliche Böden haben sich in den Agrar-
basiert nicht zuletzt auf einer Eigenheimquote, die mit   landschaften Norddeutschlands innerhalb von zehn
rund 80 Prozent mehr als doppelt so hoch liegt wie in     Jahren mehr als verdoppelt.
den Großstädten. Auch bei den Mieten klaffen Stadt           Gerade für die Landwirtschaft haben sich in jünge-
und Land weit auseinander: Während die Menschen           rer Zeit neue Chancen und Aufgaben ergeben. Neben
in Großstädten wie München, Hannover, Freiburg            der Nahrungsmittelproduktion sind attraktive wirt-
oder Heidelberg 25 bis 45 Prozent ihres frei verfügba-    schaftliche Nischen wie Hof- und Regionalvermark-
ren Einkommens für die Miete ausgeben müssen, sind        tung oder größere Bereiche wie Energiegewinnung
es in Landregionen wie Südwestpfalz, Vulkaneifel,         und Tourismus oder auch die Kultur- und Natur-
den Kreisen Höxter oder Birkenfeld sowie vor allem        landschaftspflege hinzugekommen. Seit gut 20 Jahren
in vielen Regionen Ostdeutschlands oftmals weniger        nutzt das Land verstärkt (wieder) die ihm eigenen
als zehn Prozent.                                         Energiepotenziale wie Wind- und Solarkraft, Bio-
   Eine generelle Schwäche der ländlichen Wirtschaft      masse und Wasserkraft. In allen Regionen Deutsch-
besteht darin, dass es zu wenig Arbeitsplätze für hö-     lands sind inzwischen große und kleinere Windparks
her qualifizierte Erwerbspersonen gibt, vor allem im      entstanden. Allerdings stößt der massive Ausbau von
Dienstleistungsbereich. Dieser Mangel gilt vor allem      Windkraft- und Biogasanlagen wegen der Beeinträch-
im Medizin-, Sozial- und Kulturbereich, was dazu          tigung der Wohnbevölkerung, der Kommunalent-
führt, dass besonders viele hoch qualifizierte Frauen     wicklung und des Landschaftsbildes zunehmend auf
das Land verlassen.                                       Widerstand.

16
Einleitung

   Durch eine verstärkte Beteiligung von Betroffenen     mit ihrer Seelsorge aus den Dörfern zurück und lö-
durch Bürgerwindparks, Energiegenossenschaften,          sen die Dorfpfarreien auf. Parallel dazu verlaufen die
Wärmenetze und Bürgernetzgesellschaften können je-       Verluste an privater Grundversorgung wie Dorfladen,
doch manche Interessenskonflikte verringert werden,      Gasthof und Arzt.
die derzeit in vielen Dörfern und Kommunen ausge-           Doch die Betroffenheit über die schmerzhaften
tragen werden. Vielfach gelingt es, durch lokale Bür-    Verluste hat zu einer außergewöhnlichen Aufbruch-
gergenossenschaften oder kommunale Beteiligungen         stimmung geführt, die bundesweit anzutreffen ist.
die Erträge den Dorfbewohnern oder kommunalen            Neue Bürgervereine, Genossenschaften und Stiftun-
Einrichtungen zugutekommen zu lassen und damit im        gen übernehmen geschlossene Läden, Gasthöfe, Frei-
jeweiligen Dorf zu halten. In der Summe profitiert der   bäder, Bibliotheken, Bürgerbusse und soziale Dienste
ländliche Raum eindeutig von der Energiewende. Mit       aller Art. Die wichtigste Voraussetzung für eine Auf-
zunehmender Nutzung der lokalen und regionalen           bruch- und Mitmachstimmung sind meist ein, zwei
»Ökoenergie« kann er einen wesentlichen Teil seiner      oder drei lokale Motivatoren, »Leitwölfe«, Kümmerer
früheren Rolle (vor dem Zeitalter der fossilen Brenn-    oder Schlüsselakteure, die eine Idee haben und diese
stoffe Kohle und Öl) als dezentraler Energieproduzent    auch charismatisch vermitteln und damit auch Mit-
zurückgewinnen – und damit auch unabhängiger von         streiter gewinnen und möglichst lange bei Laune hal-
externen Kosten und Steuerungen werden.                  ten können, um ein bestimmtes Projekt zum Erfolg
                                                         zu führen.
Infrastruktur sichern und ausbauen                          Auch wenn die Erosion der Grundversorgung in
                                                         unseren Dörfern nur durch ein breites bürgerschaft­
Trotz einer immer produktiver werdenden Agrarpro-        liches Engagement aufgehalten werden kann, sind
duktion und zunehmender Einnahmequellen durch            auch die ländlichen Kommunen mehr als bisher ge-
die Nutzung erneuerbarer Energien liegt die Haupt-       fordert. Sie sollten nicht mehr nur den Vollzug der
wirtschaftskraft des ländlichen Raums heute in sei-      staatlich verordneten Schulschließungen abwickeln
nen nichtagrarischen Betrieben und Arbeitsplätzen.       (müssen), sondern mit den Bürgern überlegen (dür-
Schwerpunkte des deutschen Maschinenbaus oder            fen), was alternativ noch machbar ist. Mehr denn je
der Elektroindustrie befinden sich in ländlichen Re-     wird es eine Aufgabe der ländlichen Kommunen sein,
gionen Baden-Württembergs, Westfalens, Nieder-           den dringend notwendigen ehrenamtlichen Einsatz
sachsens, Thüringens oder Sachsens. Zunehmend von        der Bürgerinnen und Bürger für ihr Dorf einzufordern
Bedeutung für den ländlichen Raum ist daher seine        und auch zu fördern: durch ständige Information,
Erschließung mit den Netzen der modernen Infor-          Motivation, Begleitung, Einbindung in Entscheidun-
mationstechnologie. Die Telearbeit nimmt in den          gen und eine Kultur der Wertschätzung und Aner-
Dörfern rasant zu, sie bietet generell Chancen auch      kennung. Nur so lassen sich Bürgerinnen und Bürger
für hochwertige Arbeitsplätze in ländlichen Regio-       gewinnen, der freiwilligen Feuerwehr beizutreten oder
nen. Viele Ingenieure, Wirtschaftsberater, Kaufleute,    die Gemeindebücherei zu führen. Gelingt dies, sind
Wissenschaftler und Künstler wohnen und arbeiten         wir dem allgemein angestrebten Leitbild der »Bürger-
bereits dort, oft mit einem zweiten Standbein in der     kommune« sehr nahe, wobei Kommune und Bürger-
Stadt. Sie haben sich z. B. in ehemaligen Bauernhöfen,   schaft sich bei ihrem Einsatz für das Gemeinwohl auf
Gasthäusern oder Schulgebäuden niedergelassen. Es        Augenhöhe begegnen.
ist zu erwarten, dass mit den modernen Telekommu-
nikationsnetzen ein wesentlicher Standortnachteil des    Natur- und Kulturlandschaften erhalten
Dorfes behoben werden kann – wenn denn die ent-          und entwickeln
sprechenden Infrastrukturen zügig und zeitnah aus-
gebaut werden.                                           Deutschland ist ein schönes Land. Vor allem die ab-
   Damit sind wir bei der generellen Frage angelangt:    wechslungsreiche ländliche Kulturlandschaft hat
Wie kann die Infrastruktur und damit auch die Le-        viele Bewunderer. Aber sie wird zugleich auch wirt-
bensqualität in den großen und kleineren Dörfern         schaftlich genutzt. Daher gibt es sehr unterschiedliche
gesichert oder gar verbessert werden? Denn die Inf-      Sichtweisen, Ansprüche und Wünsche an die Land-
rastrukturverluste unserer Dörfer sind bereits weit      schaft. Die einen sehen sie als täglich zu bearbeitenden
fortgeschritten. Der Rückzug der staatlich oder kom-     Wirtschaftsraum, die anderen wollen sie als Heimat
munal organisierten Daseinsvorsorge hinterlässt im-      oder ästhetisch wertvollen Natur- und Kulturraum
mer mehr »Versorgungslöcher«. Dörfer ohne Schule,        genießen und erhalten. Fakt ist: Der starke ökonomi-
Kindergarten, Bürgermeisteramt, Bankfiliale, Post        sche Wandel der letzten Jahrzehnte hat zu einer er-
und Anbindung an den öffentlichen Busverkehr sind        heblichen Verarmung des natürlichen und kulturel-
keine Seltenheit mehr, die großen Kirchen ziehen sich    len Erbes unserer Kulturlandschaften geführt. Dörfer

                                                                                                               17
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und Flurbilder verlieren ihre Identität und vertraute       geschätzten Werten und Alleinstellungsmerkmalen
Schönheit und gleichen sich immer mehr an.                  des ländlichen Raumes gehören.
   Seit rund 50 Jahren gibt es vielfältige Bemühungen          Es sollte daher allen Politikern und Bürgern auf
des Staates um den Erhalt der noch vorhandenen na-          dem Lande bewusst sein: Orte und Regionen, die ihre
türlichen und kulturräumlichen Werte unserer Kul-           natürliche und kulturelle Identität bewahren, sind be-
turlandschaften. Trotz mancher Verbesserungen und           liebt und attraktiv für die einheimischen Bewohner
Erfolge muss die Bilanz aus Sicht der »Schützer und         ebenso wie für Besucher, Touristen und potenzielle
Bewahrer« eher bescheiden ausfallen:                        Zuzügler. Deshalb darf unsere Gesellschaft die oben
                                                            aufgezeigten Verluste nicht länger in Kauf nehmen.
■■   Trotz spektakulärer Wiedereingliederung bestimm-       Sie einzudämmen ist ein Querschnittsaufgabe, die
     ter Wildtiere in die Natur wie Wolf oder Luchs ist     alle Politikbereiche betrifft, vom Bund bis hin zu den
     ein genereller Verlust an wertvollen Biotopen sowie    Kommunen, wo nicht zuletzt die Bürger vor Ort stär-
     ein zunehmender Artenrückgang in der Tier- und         ker als bisher für den Erhalt der Kulturlandschaft sen-
     Pflanzenwelt zu beobachten.                            sibilisiert werden müssen.
■■   Ein galoppierender Flächenverbrauch durch Sied-
     lungs-, Gewerbe- und Infrastrukturbauten und -flä-     Neun Gründe, warum wir das Dorf brauchen
     chen, oft auch in den Bördenlandschaften mit den
     besten Böden, verharrt auf einem sehr hohen Niveau     In den Zentren von Politik, Wissenschaft und Medi-
     und übertrifft die Ausweitung von Schutzgebieten       en wird die Bedeutung des Wirtschafts- und Lebens-
     bei Weitem.                                            raums Dorf für den Staat und die Gesellschaft häu-
■■   Durch die Energiewende profitieren die ländlichen      fig unterschätzt und zu wenig respektiert. Das Dorf
     Räume zwar wirtschaftlich, sie erfahren jedoch häu-    hat zwar derzeit mit mancherlei Schwierigkeiten zu
     fig zugleich große Belastungen durch Veränderun-       kämpfen, aber in den großen Städten ist das Ausmaß
     gen des Landschaftsbildes (z. B. durch Windkraft       an Problemen mindestens ebenso groß wie auf dem
     und große Leitungstrassen) und die landwirtschaft-     Lande. Hier wie dort stehen Politik und Bürgergesell-
     lichen Monokulturen (vor allem Mais).                  schaft vor großen Herausforderungen!
■■   Eine Intensivierung der Landnutzung ist deutlich er-      Warum ist es wichtig, dass die Dörfer bestehen
     kennbar, z. B. durch den starken Rückgang von Dau-     bleiben? Warum verdient auch das Land(leben) den
     ergrünland. Der Druck auf die Fläche, selbst auf we-   Respekt und die Fürsorge des Staates? Über 40 Mil-
     niger günstige Standorte, nimmt weiterhin zu. Die      lionen Deutsche leben auf dem Land und fühlen sich
     Lebensmittelproduktion, der Anbau von Pflanzen für     dort wohl. Und es gibt viele positive Merkmale, Werte
     die energetische Nutzung und die Ziele von Natur-      oder auch Produkte, die das Land und seine Bewohner
     und Umweltschutz stehen sich dabei in einer zuneh-     für die gesamte Gesellschaft bereitstellen:
     mend stärker werdenden Konkurrenz gegenüber.
■■   Durch das Verschwinden älterer Kulturlandschafts-      ■■   Wirtschaftlich ist das Land, das etwa 90 Prozent der
     elemente wie Wüstungsplätze, Bauern- oder Hand-             Staatsfläche ausmacht und 50 Prozent der Bevöl-
     werkshäuser, Kapellen, Dorfteiche, Bruchstein-              kerung Lebensraum bietet, keinesfalls das Armen-
     mauern, Gruben oder Steinbrüche gleichen sich               haus der Nation. Gut die Hälfte der Wertschöpfung
     die Dorf- und Landschaftsbilder immer mehr an               des Staates erfolgt hier. Viele Dorfregionen, z. B. in
     und verlieren zunehmend ihren regionaltypischen             Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen oder
     Charakter. Die Kulturlandschaften verarmen damit            Niedersachsen, rangieren ökonomisch über dem je-
     nicht nur in ästhetischer Hinsicht, sondern auch in         weiligen Landesdurchschnitt, was vor allem der auf
     ihrer Identitäts- und Heimatbildung, wenn zuneh-            dem Land dominierenden mittelständischen Wirt-
     mend Orte und Räume der Vertrautheit und Orien-             schaft zu verdanken ist. Zahlreiche Weltmarktführer
     tierung verschwinden.                                       (»Hidden Champions«) sitzen auf dem Land.
                                                            ■■   In der Landbevölkerung herrscht ein relativ hoher
Als nüchternes Fazit bleibt festzuhalten: Die Wucht              Wohlstand. Gründe hierfür sind die hohe Eigen-
des ökonomischen Wandels, der dem Land zwar öko-                 heimquote (über 80 Prozent) oder auch das sog.
nomische Vorteile bringt, verändert durch intensive              »informelle Wirtschaften«, das ständige Geben und
Landnutzung und Flächenverbrauch mehr und mehr                   Nehmen in der Nachbarschafts- und Verwandt-
die ländlichen Kulturlandschaften. Auf der Kehrsei-              schaftshilfe.
te des ökonomischen Booms stehen zunehmend die              ■■   Das Land versorgt die gesamte Gesellschaft mit Le-
Verluste an natürlichen und kulturellen Ressourcen               bensmitteln und zunehmend mit erneuerbarer En-
und Potenzialen sowie an regionaltypischen Dorf-                 ergie, darüber hinaus mit wichtigen Rohstoffen und
und Flurbildern, die generell ebenfalls zu den hoch              Naturgütern wie Bodenschätzen, Wasser und Holz.

18
Einleitung

■■   Ein hohes Plus des Dorfes ist die immer noch höhere          tergibt. Insgesamt ist das vorsorgende Leben und
     natürliche Geburtenquote gegenüber der Großstadt.            Wirtschaften auf dem Lande stärker verbreitet als in
     Außerdem haben Kinder und Jugendliche auf dem                der Großstadt.
     Land offenbar bessere Chancen der persönlichen          ■■   Dorfbewohner haben eine – seit dem Mittelalter
     und sozialen Entwicklung. Laut einer UNICEF-                 aufgebaute – hohe Kompetenz, lokale Fragen und
     Studie aus dem Jahr 2011 sind Bildung sowie mate-            Probleme ehrenamtlich oder genossenschaftlich an-
     rielles, soziales, körperliches und psychisches Wohl-        zugehen und Verantwortung für das Gemeinwesen
     befinden bei Kindern und Jugendlichen auf dem                zu tragen. Selbstverantwortung und Anpackkultur
     Lande tendenziell auf einem höheren Niveau als in            sind im Dorf tief verwurzelt.
     der Großstadt. Viele von ihnen übernehmen später        ■■   Ein großer Schatz des Landes sind seine abwechs-
     Führungsaufgaben in den Großstädten.                         lungsreichen und regionalspezifischen Natur- und
■■   Generell ist auch bei den Erwachsenen die Zufrie-            Kulturlandschaften samt ihrer Dörfer und Klein-
     denheit mit dem Wohnumfeld auf dem Lande höher               städte mit ihren sehr unterschiedlichen Bautraditio-
     als in Großstädten. Die Dorfbewohner schätzen ihr            nen, die auch von der Großstadtbevölkerung sehr
     Dorf mehr als die Großstädter ihre Stadt. Das Dorf           geliebt und häufig für Erholung und Freizeit besucht
     mit seiner vertrauten und überschaubaren Gemein-             und genutzt werden.
     schaft bleibt offenbar in unserer immer hektischeren
     Zeit eine beliebte Alternative zur Großstadt, quasi     Das Land »liefert« also nicht nur hochwertige Kul-
     eine Basisstation zum Auftanken.                        turlandschaften, Wirtschaftsgüter und Lebensmittel,
■■   Die Zufriedenheit und Kraft des Dorfes sind ein Re-     es bietet auch der Gesamtgesellschaft und damit den
     sultat der ländlichen Lebensstile. Diese sind natur-,   Großstädten eine alternative Lebensform, die durch
     traditions-, gemeinschafts- und handlungsorien-         Natur- und Menschennähe sowie durch vor- und für-
     tiert. Man lebt intensiv mit und in der Natur und       sorgliches Denken und Handeln geprägt ist. Warum
     mit den Jahreszeiten. Durch Feste und Brauchtums-       sollte der Staat dies »abschaffen«? Stadt und Land sind
     pflege werden Traditionen lebendig gehalten. Das        nicht nur gleichwertig in ihrer Bedeutung für den Ge-
     intensive Gemeinschaftsleben zeigt sich vor allem in    samtstaat und die Gesellschaft. Sie sind aufeinander
     den vielfältigen und oft außergewöhnlichen Aktivi-      angewiesen.1
     täten der Vereine: beim regelmäßigen Training der
     Musik- und Sportvereine, bei festlichen Anlässen
     wie Schützen- oder Karnevalsfesten, bei konkreten       Anmerkung
     Hilfsaktionen wie der Renovierung eines Spiel­           1 Der vorliegende Beitrag basiert auf dem Buch des Verf.: Rettet
                                                                das Dorf! Was jetzt zu tun ist. München, 2. aktualisierte Auflage
     platzes oder der Errichtung eines bürgerschaftlichen
                                                                2018 (dort auch weitere Literatur- und Quellennachweise).
     Dorfladens. Dorfkultur ist durch aktives Mitmachen         Generell zum Thema siehe auch vom Verf.: Das Dorf. Landleben
     geprägt.                                                   in Deutschland – gestern und heute. Darmstadt, 3. Auflage 2015,
■■   Das Sich-Auskennen und Handeln in vielen prak-             sowie: Der Ländliche Raum. Stuttgart, 5. Auflage 2019.
     tischen und natürlichen Bereichen ist ein weiterer
     Kernbereich des dörflichen Lebens. Genannt sei das
     Arbeiten im Garten, das Einmachen und Einlagern                             Prof. Dr. Gerhard Henkel
     von Garten-, Feld- und Waldprodukten, das Holz-                             Universitätsprofessor für Humangeographie
     machen im Walde, das Hausbauen und viele hand-                              mit Schwerpunkt Dorfforschung am Institut
     werkliche Tätigkeiten, das Gestalten von Festen, das                        für Geographie der Universität Duisburg-Essen
                                                                                 und Autor viel beachteter Standardwerke zur
     Pflegen und Betreuen von älteren und gebrechlichen                          Dorf- und ­L andentwicklung.
     Menschen, wobei man sich ständig austauscht und
     hilft und dies auch an die nächste Generation wei-                          gerhard.henkel@uni-due.de

                                                                                                                              19
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