Von Art. 3 Abs. 3 GG zum Schutz gegen gruppenbezogene Menschenwürdeverletzungen erstellt im Auftrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im ...
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Positive Verpflichtungen im Zusammenhang mit verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverboten Rechtswissenschaftliche Analyse zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grund- gesetzes (BT-Drs. 19/24434 vom 18. November 2020) im Hinblick auf eine Ergänzung von Art. 3 Abs. 3 GG zum Schutz gegen gruppenbezogene Menschenwürdeverletzungen erstellt im Auftrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Deutschen Bundestag von Prof. Dr. Mehrdad Payandeh, LL.M. (Yale)* Stand: 18. April 2021 * Inhaber des Lehrstuhls für Internationales Recht, Europarecht und Öffentliches Recht an der Bucerius Law School in Hamburg und Mitglied im Ausschuss der Vereinten Nationen zur Beseitigung rassistischer Diskri- minierung (CERD). Die vorliegende Analyse spiegelt meine persönliche Auffassung wider und bringt nicht die offizielle Position des CERD zum Ausdruck. 1
Inhaltsverzeichnis I. Hintergrund und Gegenstand der Untersuchung ............................................................................................. 4 II. Funktionen positiver Verpflichtungen im Zusammenhang mit Diskriminierungsverboten ........... 5 1. Bedeutung und Anwendungsbereich von Schutzpflichten ................................................................................................ 5 a) Tatsächlicher Hintergrund: Diskriminierungen durch Private ......................................................................... 5 b) Präventive und reaktive Dimension von Schutzpflichten .................................................................................... 6 c) Regelungsadressaten und Regelungssaufträge......................................................................................................... 6 2. Bedeutung und Anwendungsbereich von positiven Maßnahmen .................................................................................. 7 a) Tatsächlicher Hintergrund: Strukturelle Diskriminierungen und Benachteiligungen ............................ 7 b) Eröffnung von Regelungsspielräumen ......................................................................................................................... 8 c) Begründung von Handlungspflichten mit weiten Gestaltungsspielräumen................................................. 9 d) Verfahrensbezogene Begleitpflichten: Datenerhebung, Monitoring und Evaluierungen ...................... 9 3. Zusammenhang zur Ausstrahlungswirkung der Grundrechte ..................................................................................... 10 III. Bestandsaufnahme: Positive Verpflichtungen im Rahmen von Art. 3 Abs. 3 GG ............................... 11 1. Positive Verpflichtungen im Rahmen von Gleichheitssätzen und Diskriminierungsverboten........................ 11 a) Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) .......................................................................................................12 b) Gleichberechtigung von Frauen und Männern (Art. 3 Abs. 2 GG) ..................................................................13 c) Benachteiligungsverbot im Hinblick auf Menschen mit Behinderung (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) .......16 2. Schutzpflichten im Rahmen von Art. 3 Abs. 3 GG ............................................................................................................... 17 3. Fördermaßnahmen im Rahmen von Art. 3 Abs. 3 GG ....................................................................................................... 21 IV. Völker- und unionsrechtliche Vorgaben und Rahmenbedingungen ..................................................... 24 1. Völkerrechtliche Vorgaben .......................................................................................................................................................... 25 a) Bedeutung völkerrechtlicher Vorgaben für das Verfassungsrecht ................................................................25 b) Universelle Verträge zum Schutz der Menschenrechte ......................................................................................26 aa) Positive Verpflichtungen im Zusammenhang mit Diskriminierungsverboten .................................26 bb) Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) ...............................................27 cc) Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form rassistischer Diskriminierung (ICERD) ....................................................................................................................................................................................29 c) Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)................................................................................................33 2. Unionsrechtliche Vorgaben.......................................................................................................................................................... 36 a) Vorgaben aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ...........................................................36 b) Vorgaben aus den Antidiskriminierungs-Richtlinien ..........................................................................................39 V. Verfassungspolitische Bewertung der vorgeschlagenen Verfassungsänderung ................................ 41 1. Stärkung des Schutzes vor Diskriminierung und von Chancengleichheit ............................................................... 41 2. Klarstellung und Änderung der verfassungsrechtlichen Lage ..................................................................................... 42 a) Deklaratorische Klarstellung und Präzisierung .....................................................................................................42 b) Konstitutive Begründung der Verpflichtung zur Nachteilsbeseitigung .......................................................43 2
3. Offenheit der vorgeschlagenen Regelung und verbleibende Unklarheiten ............................................................. 43 4. Öffnung für völkerrechtliche und unionsrechtliche Vorgaben ..................................................................................... 46 5. Wahrung gesetzgeberischer Spielräume und der Rechte Dritter ............................................................................... 48 a) Gesetzgeberische Spielräume .........................................................................................................................................48 b) Rechte Dritter ........................................................................................................................................................................50 6. Die Formulierung im Einzelnen ................................................................................................................................................. 51 a) Lösung vom Kategorienbezug der Diskriminierungsverbote ..........................................................................52 b) Betonung des Gruppenbezugs von Diskriminierungen ......................................................................................53 c) Anknüpfung an Verletzungen der Menschenwürde .............................................................................................54 aa) Betonung der Menschenwürderelevanz von Diskriminierungen ..........................................................54 bb) Gefahr der Relativierung des Verpflichtungsgehalts und Überfrachtung des Verfassungstextes .....................................................................................................................................................................................................55 cc) Zwischenfazit und Alternativvorschlag ..............................................................................................................57 VI. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse ........................................................................................ 58 3
I. Hintergrund und Gegenstand der Untersuchung Der von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Deutschen Bundestag eingebrachte Gesetzentwurf1 zielt nicht nur auf die Ersetzung des Begriffs der „Rasse“ in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ab, sondern sieht darüber hinaus die Verankerung eines ausdrücklichen staat- lichen Handlungsauftrags vor. Der Vorschlag für einen neuen Satz 3 lautet: „Der Staat gewährleistet Schutz gegen jedwede gruppenbezogene Verletzung der gleichen Würde aller Men- schen und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Der Gesetzentwurf zielt damit auf die ausdrückliche Verankerung positiver Verpflichtun- gen des Staates im Zusammenhang mit dem verfassungsrechtlichen Diskriminierungsver- bot, insbesondere aber nicht nur mit dem Verbot rassistischer Diskriminierung ab. Dabei handelt es sich einerseits um eine Schutzpflicht, andererseits um ein zum Teil Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG nachempfundenes Fördergebot. Die Begründung des Gesetzentwurfs führt hierzu weiter aus: „Der neue Satz 3 erfasst nicht nur die in Art. 3 Abs. 3 genannten Diskriminierungsmerkmale[,] sondern stellt zugleich klar, dass sämtliche Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit verfassungsrechtlich ge- ächtet sind und dass ein staatlicher Schutzauftrag besteht gegen jede Form gruppenbezogener Anfeindung und Abwertung, sei sie z. B. rassistisch, sexistisch oder homosexuellenfeindlich.“ Die mit dem Gesetzentwurf verfolgte Grundgesetzänderung ist ohne Zweifel verfassungs- rechtlich zulässig. Sie wird im Folgenden in verfassungspolitischer Hinsicht gewürdigt, primär unter dem Gesichtspunkt, wie sie sich in das bestehende verfassungsrechtliche, aber auch durch das Völkerrecht und das Recht der Europäischen Union geprägte Norm- gefüge eingliedern würde. In verfassungspolitischer Hinsicht stellt sich zunächst die Frage, welche Funktion der Anerkennung positiver Verpflichtungen im Zusammenhang mit den Diskriminierungsverboten zukommt (II.). Sodann stellt sich die Frage, wie sich der Gesetzentwurf zum geltenden Recht verhält, inwiefern er also zu einer Bestätigung, Klärung, Konkretisierung oder Änderung der verfassungsrechtlichen Lage führen würde (III.). Von verfassungspolitischer Bedeutung ist zudem, wie sich der Entwurf zu völker- und unionsrechtlichen Vorgaben zum Schutz vor und zur Bekämpfung von Diskriminie- rung, insbesondere rassistischer Diskriminierung, verhält (IV.). Auf dieser Grundlage werden schließlich einzelne Bestandteile des Gesetzentwurfs näher in den Blick genom- men und ihre möglichen Vor- und Nachteile diskutiert, und es kann auf mögliche Ein- wände eingegangen werden (V.). 1 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 3 Absatz 3 – Ersetzung des Wortes Rasse und Ergänzung zum Schutz gegen gruppenbezogene Menschenwürdeverletzungen), BT-Drs. 19/24434 v. 18.11.2020. 4
II. Funktionen positiver Verpflichtungen im Zusammenhang mit Diskriminie- rungsverboten Die vorgeschlagene Neuregelung steht im Zusammenhang mit den Diskriminierungsver- boten des Art. 3 Abs. 3 GG. Diese Diskriminierungsverbote haben – ungeachtet des allge- mein schwierig zu bestimmenden Verhältnisses zwischen Gleichheitsgarantien und Frei- heitsrechten auf der einen Seite 2 und allgemeinem Gleichheitssatz und besonderen Gleichheitsgarantien auf der anderen Seite3 – eine abwehrrechtliche Stoßrichtung: Sie ge- währen ein Grundrecht gegen Diskriminierung, das sich gegen die staatliche Hoheitsge- walt richtet. 4 Es handelt sich insofern um negative Verpflichtungen mit einer abwehr- rechtlichen Funktion. Die vorgeschlagene Neuregelung zielt hingegen auf die Normierung von positiven Verpflichtungen in Form von Schutzpflichten sowie eines Gebots zur Besei- tigung bestehender Nachteile, damit eines Fördergebots bzw. einer Pflicht zum Ergreifen von positiven Maßnahmen ab. 1. Bedeutung und Anwendungsbereich von Schutzpflichten Schutzpflichten richten sich primär gegen Diskriminierungen, die von Privaten ausgehen, und verpflichten staatliche Akteure auf unterschiedliche Weise dazu, solchen Diskrimi- nierungen vorzubeugen und auf erfolgte Diskriminierungen zu reagieren. a) Tatsächlicher Hintergrund: Diskriminierungen durch Private Im Zusammenhang mit Diskriminierungsverboten zielen Schutzpflichten darauf ab, dis- kriminierende Verhaltensweisen, die sich nicht auf staatliches Handeln zurückführen las- sen, in den Blick zu nehmen. Dahinter steht die Erkenntnis, dass diskriminierende Prak- tiken und auf Diskriminierung beruhende Verletzungen nicht nur von staatlichen Akteu- ren ausgehen, sondern auch von Privaten. Diskriminierungen können dabei in verschie- denen Kontexten erfolgen, etwa am Arbeitsplatz, bei der Wohnungssuche oder in der Öf- fentlichkeit. Sie können unterschiedliche Formen annehmen, von diskriminierenden Ent- scheidungen (etwa im Bewerbungsverfahren, bei der Wohnungssuche oder bei der Inan- 2 Dazu Langenfeld, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: 2015, Art. 3 Abs. 3 Rn. 19. 3 Dazu Boysen, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz, 7. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 116 ff.; ausführlich Kingreen, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 2020, Art. 3 Rn. 84 ff. 4 Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 404; Boysen, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz, 7. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 116; Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 117; Langenfeld, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: 2015, Art. 3 Abs. 3 Rn. 14; Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Grundgesetz, 14. Aufl. 2017, Art. 3 Rn. 54. 5
spruchnahme von Dienstleistungen) über Belästigungen und Beleidigungen bis hin zu Ge- walttaten und Tötungsdelikten. Schutzpflichten zielen darauf ab, den Staat auch für diese Konstellationen von Diskriminierungen in die Verantwortung zu nehmen. Sie verlangen auf unterschiedliche Art und Weise nach staatlichem Handeln. b) Präventive und reaktive Dimension von Schutzpflichten Schutzpflichten haben eine präventive wie auch eine reaktive Dimension. Sie zielen einer- seits darauf ab, dass diskriminierende Handlungen oder auf Diskriminierung beruhende Verletzungen nach Möglichkeit vermieden werden. Insofern kommen eine Vielzahl mög- licher Maßnahmen und Instrumente in Betracht, von gesetzlichen Verboten und Straftat- beständen bis zu Aufklärungs-, Informations- und Sensibilisierungsmaßnahmen. Schutz- pflichten begründen dabei Verhaltenspflichten, keine Erfolgspflichten. Sie verlangen ef- fektive Bemühungen vom Staat, nehmen diesen aber nicht für jede diskriminierende Handlung, die von Privaten ausgeht, in die Verantwortung. Zudem können Schutzpflich- ten an erfolgte Diskriminierungen und Verletzungen anknüpfen. Dann verlangen sie etwa Aufklärungs- und Ermittlungstätigkeit des Staates, die Sanktionierung von Diskriminie- rungen, die Unterstützung der von Diskriminierungen Betroffenen und ggf. die Anerken- nung von Schadensersatz- und Entschädigungsansprüchen. c) Regelungsadressaten und Regelungssaufträge Schutzpflichten adressieren unterschiedliche staatliche Instanzen in unterschiedlicher Weise. Sie können Regelungsaufträge begründen und damit vor allem den Gesetzgeber aber auch andere rechtsetzende und normierende Institutionen adressieren: Schutz- pflichten verlangen auf dieser abstrakt-generellen Ebene nach gesetzlichen Regelungen, die Diskriminierungen unter sowohl präventiven wie auch reaktiven Gesichtspunkten in den Blick nehmen. In konkret-individueller Hinsicht können Schutzpflichten aber auch Ansprüche des Einzelnen im Hinblick auf konkrete drohende oder erfolgte Diskriminie- rungen begründen und insofern staatliches Handeln erforderlich machen. 6
2. Bedeutung und Anwendungsbereich von positiven Maßnahmen Positive Maßnahmen, also Fördermaßnahmen, gehen, auch wenn sie oftmals mit Schutz- pflichten in Verbindung gebracht werden,5 über Schutzpflichten hinaus bzw. verfolgen ei- nen anderen Regelungsansatz. a) Tatsächlicher Hintergrund: Strukturelle Diskriminierungen und Benachteili- gungen Hinter der Diskussion um positive Maßnahmen steht die Erkenntnis, dass Diskriminie- rungen und diskriminierende Verletzungen sich nicht in einzelnen Handlungen erschöp- fen und allein ein Problem einzelner diskriminierend gesinnter Personen oder individu- eller Fehltritte darstellen, sondern dass strukturelle Benachteiligungen für Angehörige verschiedener Gruppen bestehen. Ursache und Wirkungen dieser benachteiligenden Strukturen können sehr unterschiedlich ausfallen. Sie gehen regelmäßig auf historische Unrechtserfahrungen und Ausgrenzungen zurück.6 Sie knüpfen an bestimmte – tatsäch- lich bestehende oder zugeschriebene – Merkmale einer Person an, mit der die Zuordnung zu einer bestimmten Gruppe erfolgt. Diskriminierungen treffen eine Person daher vor al- lem oder ausschließlich aufgrund ihrer – tatsächlichen oder vermeintlichen – Zugehörig- keit zu einer entsprechenden Gruppe. Positive Maßnahmen stehen damit in einem engen Zusammenhang zu konkreten historischen Kontexten: Während etwa in den USA die Un- rechtserfahrung von Schwarzen durch Sklaverei sowie nachfolgende diskriminierende und ausgrenzende Praktiken im Vordergrund stehen und die Debatten um positive Maß- nahmen (affirmative action) prägen,7 entfalten in Deutschland das Unrechtsregime des Nationalsozialismus sowie der Holocaust prägende Nachwirkungen, insbesondere im Hinblick auf rassistische und antisemitische Diskriminierungen. Tradierte Diskriminierungen und Ausgrenzungen können sich in unterschiedlicher Weise bemerkbar machen: Sie können darin zum Ausdruck kommen, dass bestimmte Gruppen in staatlichen oder gesellschaftlichen Institutionen überhaupt nicht oder nicht hinrei- chend stark vertreten sind. Das kann einerseits ein Indiz für diskriminierende Praktiken sein, sich andererseits unter Teilhabe- und Partizipationsgesichtspunkten als problema- tisch erweisen, insbesondere, wenn es um Repräsentation in staatlichen Gremien (wie 5 Siehe etwa Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 139; Wollenschläger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Bd. I, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 175; Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), Grund- gesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 281 ff.; siehe dazu auch Kingreen, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 2020, Art. 3 Rn. 312. 6 Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 418. 7 Dazu Kingreen, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 2020, Art. 3 Rn. 443 ff. 7
etwa Parlamenten) oder Teilhabe an der Ausübung von Staatsgewalt im Übrigen geht. In- teressen und Perspektiven spezifischer Gruppen können dann in staatlichen Entschei- dungsprozessen und Handlungsabläufen nicht oder nicht hinreichend präsent sein und keine ausreichende Berücksichtigung finden. Bestehende Benachteiligungen können zu- dem in mangelnder Chancengleichheit zum Ausdruck gelangen, wie etwa in schlechteren Bildungschancen oder Benachteiligungen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt sowie im Sozialwesen. Strukturelle Benachteiligungen können auch daraus folgen, dass Vorur- teile und Stereotype in der Gesellschaft und in staatlichen Instanzen bestehen, die zu un- bewussten Benachteiligungen wie etwa der erhöhten Wahrscheinlichkeit staatlicher Kon- trollen, beleidigenden Ansprachen sowie Ausgrenzungen und Benachteiligungen im Bil- dungswesen oder Wirtschaftsleben führen können. b) Eröffnung von Regelungsspielräumen In rechtlicher Hinsicht ist im Hinblick auf positive Maßnahmen zu differenzieren: Zu un- terscheiden ist einerseits die Frage nach der Zulässigkeit positiver Maßnahmen von der Frage, inwiefern eine entsprechende staatliche Pflicht besteht. Die Verpflichtung des Staa- tes, auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken, kann zudem unterschiedliche Maßnahmen in den Blick nehmen, die sehr unterschiedliche Rechtsfragen aufwerfen: Nicht jede Maßnahme, die auf die Beseitigung bestehender Nachteile abzielt, stellt eine positive Diskriminierung dar, die ggf. ihrerseits vor den Diskriminierungsverboten zu rechtfertigen wäre. Die bloße Tatsache, dass eine staatliche Fördermaßnahme Angehöri- gen bestimmter Gruppen zugutekommt, beinhaltet noch keine Diskriminierung zulasten anderer, die rechtfertigungsbedürftig wäre. 8 Rechtfertigungsbedürftig können demge- genüber Fördermaßnahmen sein, die sich als Benachteiligung von Personen darstellen, die nicht der geförderten Gruppe angehören oder zugeschrieben werden. Je nach positiv- rechtlicher Ausgestaltung und zugrunde liegendem Diskriminierungsverständnis können solche Maßnahmen – unter bestimmten Voraussetzungen – aus dem Anwendungsbereich der Diskriminierungsverbote herausgenommen werden oder sie können unter dem Ge- sichtspunkt des Abbaus von Benachteiligungen gerechtfertigt werden.9 8 Siehe Langenfeld, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: 2015, Art. 3 Abs. 3 Rn. 30; Boysen, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz, 7. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 135 f. 9 Siehe Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 418 ff. 8
c) Begründung von Handlungspflichten mit weiten Gestaltungsspielräumen Fördergebote verpflichten staatliche Akteure im Regelfall nicht dazu, bestimmte Maßnah- men zu ergreifen, sondern belassen ihnen weite Gestaltungsspielräume. Dadurch wird vermieden, dass das Handeln der staatlichen Akteure – vor allem, aber nicht nur des Ge- setzgebers – zu sehr durch inhaltliche verfassungsrechtliche Vorgaben eingeschränkt wird. Die Entscheidungsprärogative des Gesetzgebers bleibt erhalten, und die Exekutive und die Judikative können nur begrenzt unmittelbare rechtliche Konsequenzen aus För- dergeboten ableiten. Derartige Gestaltungsspielräume erscheinen zudem deshalb sachge- recht, weil sie den staatlichen Instanzen erlauben, auf der Grundlage von Bestandsauf- nahmen über Ursachen und Ausmaß bestehender Benachteiligungen bereichsspezifisch und sachbereichsadäquat über geeignete Fördermaßnahmen zu entscheiden. Benachtei- ligungen im Bildungswesen und auf dem Arbeitsmarkt ist anders zu begegnen als man- gelnder Repräsentation in Parlamenten oder im Staatsdienst generell. Welche Maßnah- men angemessen sind, um auf bestehende Benachteiligungen zu reagieren, ist letztlich eine politische Entscheidung, die zwar rechtlich fundiert und gerahmt, aber nicht im Ein- zelnen determiniert ist. d) Verfahrensbezogene Begleitpflichten: Datenerhebung, Monitoring und Evaluie- rungen Vor allem positive Maßnahmen setzen allerdings eine hinreichend aussagekräftige Be- standsaufnahme über das Ausmaß und die Ursachen bestehender Benachteiligungen vo- raus. Die Anerkennung von Fördergeboten ist daher im Zusammenhang mit im antidis- kriminierungsrechtlichen Diskurs schon seit langem erhobenen Forderungen nach aus- sagekräftigen Daten über die Repräsentanz verschiedener Gruppen in staatlichen und ge- sellschaftlichen Institutionen wie auch über Diskriminierungserfahrungen zu sehen. 10 Die Pflicht des Staates, bestehenden Benachteiligungen entgegenzuwirken, impliziert, dass der Staat bestehende Benachteiligungen untersucht, identifiziert und bewertet. So- weit Maßnahmen ergriffen werden, um entsprechende Benachteiligungen zu beseitigen bzw. auszugleichen, bedarf es eines ständigen Monitorings der Effektivität der ergriffenen Maßnahmen und regelmäßiger Evaluationen, um entscheiden zu können, ob weitere Maßnahmen ergriffen werden müssen, bestehende Maßnahmen angepasst werden müs- sen oder sich Fördermaßnahmen als nicht mehr erforderlich erweisen. 10 Siehe nur CERD, Concluding observations on the combined nineteenth to twenty-second periodic reports of Germany, CERD/C/DEU/CO/19-22 (2015), Rn. 6; CERD, Concluding observations of the Committee on the Elimination of Racial Discrimination on Germany, CERD/C/DEU/CO/18 (2008), Rn. 14. 9
3. Zusammenhang zur Ausstrahlungswirkung der Grundrechte Die hier diskutierten positiven Verpflichtungen – Schutzpflichten und positive Maßnah- men – weisen einen engen Bezug zur dogmatischen Figur der mittelbaren Drittwirkung von grundrechtlichen Diskriminierungsverboten auf. Insofern wird – wie bei anderen Grundrechten auch, allerdings mit besonderen Akzenten im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes sowie der Diskriminierungsverbote – die Frage der Ausstrahlungswir- kung der Diskriminierungsverbote in das einfache Recht diskutiert. Diese wird zum Teil abgelehnt, 11 größtenteils aber bejaht,12 wenngleich mit sehr unterschiedlichen Akzent- setzungen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage in der Stadionverbots-Entschei- dung offengelassen.13 Erneut geht es in der Diskussion weniger um die grundsätzliche Be- rechtigung der mittelbaren Drittwirkung als dogmatische Figur als vielmehr um die Frage ihrer Reichweite, insbesondere im Hinblick auf die Privatautonomie und das daraus (ver- meintlich) folgende Recht auf weitgehend „willkürliche“ Entscheidung. Betont wird zu- dem die geringe Bedeutung der verfassungsrechtlichen Frage angesichts einer weitge- henden Verselbständigung der zivilrechtlichen Entwicklung, sowohl im Hinblick auf die Entwicklung der wissenschaftlichen Diskurse und der Rechtsprechung als auch im Hin- blick auf die viel stärker unionsrechtlich als verfassungsrechtlich überlagerte einfachge- setzliche Ausgestaltung etwa durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG).14 Die Figur der mittelbaren Drittwirkung weist Überschneidungen mit der Frage der grund- rechtlichen Schutzpflicht auf, sodass zum Teil eine Zusammenführung zu einer einheitli- chen Schutzpflicht angeregt wird.15 Die mittelbare Drittwirkung in Form der grundrecht- lichen Ausstrahlungswirkung in das einfache Recht fließt jedenfalls aus der grundrechtli- chen Schutzpflicht16 und lässt sich als eine Form der Konkretisierung bzw. der Wahrneh- mung der Schutzpflicht begreifen. Allerdings erschöpft sich die Schutzpflicht nicht in der mittelbaren Drittwirkung, weil letztere engere Voraussetzungen hat (insbesondere muss 11 Siehe insbesondere Langenfeld, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: 2015, Art. 3 Abs. 3 Rn. 82; restrik- tiv auch Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: 15.2.2021, Art. 3 Rn. 210. 12 Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 3 Rn. 151; Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 139; Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 415; Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 75 und Rn. 238; Englisch, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 2. Aufl. 2016, Art. 3 Rn. 106; Peters/König, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Konkordanzkommentar, 2. Aufl. 2013, Kap. 21 Rn. 91; Kühner, NJW 1986, S. 1397 (1400 f.). 13 BVerfGE 148, 267 (283). 14 Kingreen, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 2020, Art. 3 Rn. 227; Boysen, in: v. Münch/Ku- nig, Grundgesetz, 7. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 146 ff. 15 Siehe Langenfeld, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: 2015, Art. 3 Abs. 3 Rn. 82 unter Verweis auf Leh- ner, Zivilrechtlicher Diskriminierungsschutz und Grundrechte, 2013, S. 297 ff. 16 So deutlich Peters/König, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Konkordanzkommentar, 2. Aufl. 2013, Kap. 21 Rn. 91. 10
das einfache Recht geeignete Anknüpfungspunkte dafür bieten, die grundrechtlichen Dis- kriminierungsverbote zur Geltung bringen zu können) und die Schutzpflicht auch dar- über hinaus auf ein Handeln der staatlichen Organe, etwa durch effektive Strafverfolgung gegen diskriminierende Handlungen oder durch Aufklärungspflichten, abzielt. III. Bestandsaufnahme: Positive Verpflichtungen im Rahmen von Art. 3 Abs. 3 GG Damit stellt sich die Frage, inwiefern sich schon auf der Grundlage des geltenden Verfas- sungsrechts Vorgaben zum Schutz vor Diskriminierung und zur Beseitigung von Benach- teiligungen aus Art. 3 Abs. 3 GG ableiten lassen. Erst auf dieser Grundlage lässt sich be- stimmen, inwiefern der Gesetzentwurf eine konstitutive Grundgesetzänderung darstellen würde oder deklaratorischer Natur wäre und inwieweit er zu einer Modifikation oder Konkretisierung bestehender verfassungsrechtlicher Vorgaben führte. Zur Frage positi- ver Verpflichtungen im Zusammenhang mit Art. 3 Abs. 3 GG gibt es allerdings kaum un- mittelbar einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 17 Und auch im verfassungsrechtlichen Schrifttum steht die Frage selten im Zentrum der Aufmerksam- keit. 1. Positive Verpflichtungen im Rahmen von Gleichheitssätzen und Diskriminie- rungsverboten Die Debatte um positive Verpflichtungen im Rahmen der besonderen Diskriminierungs- verbote des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ist eingebettet in den Kontext der allgemeinen Diskus- sion um positive Verpflichtungen im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG sowie der Sonderregelungen, die für die Gleichberechtigung der Geschlechter in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG und für Menschen mit Behinderung in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verankert sind. Diese sind daher zunächst in den Blick zu nehmen und auf ihren Aussage- gehalt für die Frage positiver Verpflichtungen im Rahmen von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG zu untersuchen. 17 Zur generell geringen Bedeutung des Verbots rassistischer Diskriminierung in der Rechtsprechung Stix, in: Festschrift zu 60 Jahren Assistententagung – Junge Tagung Öffentliches Recht, 2020, S. 217 (225 f.) mit weiteren Nachweisen; die geringe praktische Relevanz begrüßend Kischel, AöR 145 (2020), S. 227 (228 f.), allerdings auf der Grundlage eines sehr engen Verständnisses des Diskriminierungsverbotes; kritisch ge- genüber einer solchen Argumentation („Kurzschluss“) auch Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 410. 11
a) Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) Auch im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes werden objektiv-rechtliche Grund- rechtsgehalte und damit auch positive staatliche Verpflichtungen diskutiert. 18 Für die Frage nach positiven Verpflichtungen aus Art. 3 Abs. 3 GG lassen sich hieraus allerdings nur sehr begrenzt Rückschlüsse ziehen. Im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes werden unter dem Schlagwort der Schutzpflicht im Wesentlichen zwei nicht immer klar voneinander getrennte Fragen verhandelt: einerseits die Frage, ob eine staatliche Schutz- pflicht im Hinblick auf von Privaten ausgehende Diskriminierungen besteht, was fast aus- schließlich mit Blick auf den Privatrechtsverkehr diskutiert wird; andererseits die Frage, ob der Staat dazu verpflichtet ist, auf die Herstellung faktischer Gleichheit hinzuwirken.19 Mit Blick auf Diskriminierungen im Privatrechtsverkehr wird insofern regelmäßig betont, dass der Grundsatz der Privatautonomie und die Freiheit von Privatrechtssubjektiven der Annahme einer Schutzpflicht entgegenstehen, da eine solche dazu führen müsste, dass der bzw. die Einzelne zu einer an Gleichheitsgedanken orientierten Ausgestaltung seiner bzw. ihrer Privatrechtsverhältnisse verpflichtet werden müsste. 20 Auch wenn man die dieser Kritik zugrundeliegenden Prämissen nicht oder nicht vollumfänglich teilt,21 wird deutlich, dass Schutzpflichten im Zusammenhang mit dem Gleichbehandlungsgebot nicht auf eine allgemeine Gleichbehandlung ausgerichtet sein können, sondern sich auf spezifi- sche Gründe der Ungleichbehandlung beziehen müssen. Zu Recht wird daher darauf hin- gewiesen, dass Schutzpflichten im Rahmen des Art. 3 GG vor allem im Zusammenhang mit den Diskriminierungsverboten relevant werden. 22 Soweit unter dem Stichwort der Schutzpflicht die Frage erörtert wird, inwiefern Art. 3 Abs. 1 GG den Staat dazu verpflich- tet auf die Herstellung faktischer Gleichheit hinzuwirken, wird die Maßstabsarmut des Art. 3 Abs. 1 GG betont,23 und der richtige Ort für die verfassungsrechtliche Thematisie- rung von Fragen sozialer Ungleichheit wird in anderen Verfassungsnormen, vor allem im 18 Überblick zur Diskussion bei Wollenschläger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Bd. I, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 175 ff.; differenzierend Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Grund- gesetz, 14. Aufl. 2017, Art. 3 Rn. 12. 19 Siehe etwa die leicht unterschiedlichen Fragestellungen bei Wollenschläger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Bd. I, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 175 („Beseitigung von Ungleichheiten inter privatos“); Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: 15.2.2021, Art. 3 Rn. 91; Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 3 Rn. 16; Englisch, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 2. Aufl. 2016, Art. 3 Rn. 120 ff. 20 Siehe Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: 15.2.2021, Art. 3 Rn. 91; Englisch, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 2. Aufl. 2016, Art. 3 Rn. 120; Sachs, in: Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, 2011, S. 1438 (1581). 21 Die Bedenken relativierend etwa Wollenschläger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Bd. I, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 177; grundlegende Kritik bei Grünberger, Personale Gleichheit, 2013. 22 Kingreen, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 2020, Art. 3 Rn. 311; Boysen, in: v. Münch/Ku- nig, Grundgesetz, 7. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 49. 23 Wollenschläger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Bd. I, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 177. 12
Sozialstaatsprinzip gesehen.24 Insgesamt zeigt sich, dass die Debatten, die im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG im Hinblick auf positive Verpflichtungen geführt werden, eng auf den all- gemeinen Gleichheitssatz bezogen sind, sodass sich Rückschlüsse hieraus für die Frage von Schutzpflichten und Förderaufträgen im Rahmen des Art. 3 Abs. 3 GG nicht ziehen lassen. b) Gleichberechtigung von Frauen und Männern (Art. 3 Abs. 2 GG) Als aussagekräftiger für die Frage positiver Verpflichtungen im Rahmen von Art. 3 Abs. 3 GG könnte sich die spezielle Vorschrift des Art. 3 Abs. 2 GG erweisen. Die Regelung des Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind, war von Anfang an Bestandteil des Grundgesetzes. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG, wonach der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern fördert und auf die Be- seitigung bestehender Nachteile hinwirkt, wurde 1994 eingefügt. Ungeachtet aller Strei- tigkeiten um das Verhältnis der beiden Sätze von Art. 3 Abs. 2 GG zueinander und das Verhältnis zu Art. 3 Abs. 3 GG25 begründet das Grundrecht auf Gleichberechtigung26 eine positive Verpflichtung im Sinne eines Fördergebots.27 Dieses bereits auf der Grundlage der ursprünglichen Fassung des Art. 3 Abs. 2 GG vom Bundesverfassungsgericht zumin- dest in Ansätzen anerkannte Fördergebot28 wird bestätigt und flankiert durch die 1994 eingefügte Regelung des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG, die ein Durchsetzungsgebot sowie ein Beseitigungsgebot beinhaltet. 29 Anerkannt ist zudem, dass aus Art. 3 Abs. 2 GG eine Schutzpflicht folgt.30 24 Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 69; Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: 15.2.2021, Art. 3 Rn. 91; Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 3 Rn. 16; Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), S. 298 (340); kritisch hierzu Britz, VVDStRL 64 (2005), S. 355 (386 ff.); allgemein zur Funktion des Sozialstaatsprinzips Chancengleichheit herzustellen Enders, VVDStRL 64 (2005), S. 7 (13 f.); Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Sozialstaat) Rn. 43 f. 25 Dazu Langenfeld, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: 2015, Art. 3 Abs. 3 Rn. 16 ff.; Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 356 f. 26 Boysen, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz, 7. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 164. 27 Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 3 Rn. 112; Kingreen, in: Bonner Kommentar zum Grund- gesetz, Stand: 2020, Art. 3 Rn. 448 ff. 28 Grundlegend BVerfGE 85, 191 (206 f.); zur Einordnung der Entscheidung Kingreen, in: Bonner Kommen- tar zum Grundgesetz, Stand: 2020, Art. 3 Rn. 451 ff. 29 Dazu Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 366 ff. 30 BVerfGE 89, 276 (285 ff.); 97, 332 (348); 109, 64 (89 ff.); Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 3 Rn. 113; Englisch, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 2. Aufl. 2016, Art. 3 Rn. 96; Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 115; dagegen Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), S. 298 (344 f.). 13
Auch wenn der genaue Schutzgehalt des Grundrechts auf Gleichberechtigung und insbe- sondere die Frage, inwieweit der Verfassungsauftrage des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG Ein- schränkungen kollidierender Rechtspositionen rechtfertigen kann,31 Gegenstand anhal- tender kontroverser Diskussionen sind, ist mit Blick auf die Kategorie des Geschlechts so- mit die Existenz positiver staatlicher Verpflichtungen anerkannt. Das wirft die Frage auf, inwiefern Art. 3 Abs. 2 GG eine verfassungsrechtliche Sonderregelung für die Kategorie des Geschlechts darstellt, die der Ableitung positiver Verpflichtungen für andere in Art. 3 Abs. 3 GG verankerte Kategorien entgegensteht. Im Schrifttum wird vielfach ein entspre- chender Umkehrschluss für alle möglichen positiven Verpflichtungsgehalte des Diskrimi- nierungsverbots gezogen: So wird betont, dass Art. 3 Abs. 3 GG jenseits des Geschlechts keine Schutzpflicht etabliere, 32 keine positiven Maßnahmen zulasse 33 und auch keine Pflicht zur Beseitigung von Benachteiligungen begründe.34 Demgegenüber gilt es, im Hinblick auf die aus Art. 3 Abs. 2 GG für die Auslegung des Art. 3 Abs. 3 GG zu ziehenden Schlüsse zu differenzieren: Aus der Entstehungsgeschichte der Ursprungsfassung des Art. 3 Abs. 2 GG lassen sich dabei kaum aussagekräftige Rück- schlüsse ableiten.35 Die Verankerung eines expliziten Gleichberechtigungsgebots ist – wie die kontroversen Debatten im Parlamentarischen Rat und der Verlauf der Diskussionen um die Verankerung eines Gleichberechtigungsgebots im Grundgesetz zeigen – vor dem Hintergrund des Widerstands gegen den Emanzipationsgedanken und der Vorstellung zu sehen, dass Unterschiede zwischen den Geschlechtern auch unterschiedliche Regelungen und Behandlungen rechtfertigen können, ohne dass es sich dabei um geschlechtsbezo- gene Diskriminierungen handeln solle.36 Wie Ute Sacksofsky zutreffend resümiert sollte die Verankerung der Gleichberechtigung im Grundgesetz demgegenüber „eine tiefgrei- fende Veränderung der Gesellschaft und umfassende Verbesserung der Lage der Frauen zur Folge haben“.37 Damit bezieht sich die Regelung des Art. 3 Abs. 2 GG spezifisch auf das Verhältnis der Geschlechter. Auch wenn sich die in den Diskriminierungsverboten der Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG normierten Kategorien generell auf historisch tradierte Un- gleichbehandlungen und Ausgrenzungen zurückführen lassen, darf dies nicht den Blick 31 Überblick bei Langenfeld, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: 2015, Art. 3 Abs. 2 Rn. 56 ff. 32 So Britz, VVDStRL 64 (2005), S. 355 (364, Fn. 30); Uerpmann-Wittzack, ZaöRV 68 (2008), S. 359 (365 f.). 33 Majer/Pautsch, ZAR 2020, S. 414 (416 f.). 34 Langenfeld, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: 2015, Art. 3 Abs. 3 Rn. 91; Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), S. 298 (346); Majer/Pautsch, ZAR 2020, S. 414 (417). 35 Zur insgesamt „verworrenen“ Entstehungsgeschichte Langenfeld, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: 2015, Art. 3 Abs. 2 Rn. 1 ff.; ausführlich Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996, S. 323 ff., die der Entstehungsgeschichte größere Bedeutung beimisst, sie im Hinblick auf konkrete Aussagen zum Inhalt des Gleichberechtigungsgrundsatzes aber ebenfalls als „wenig ergiebig“ bezeichnet (S. 331). 36 Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 339. 37 Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996, S. 332. 14
dafür versperren, dass die Kategorien mit sehr unterschiedlichen Arten von Diskriminie- rung verbunden sind.38 Art. 3 Abs. 2 GG verhält sich dabei konkret zu Fragen der Gleich- berechtigung der Geschlechter vor dem Hintergrund der tradierten Ungleichbehandlun- gen in dieser Hinsicht, mit Blick auf überkommene Rollenverteilungen und gesellschaftli- che Vorstellungen und Realitäten im Übrigen. Weitgehende Rückschlüsse und vor allem Umkehrschlüsse auf Fragen der Diskriminierungsverbote im Übrigen, insbesondere im Hinblick auf rassistische Diskriminierung, lassen sich daher kaum ziehen. Differenziert zu betrachten sind auch die aus Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG zu ziehenden Rück- schlüsse für die Frage positiver Verpflichtungen im Rahmen von Art. 3 Abs. 3 GG. Hier wird vielfach darauf hingewiesen, dass nur Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG ausdrücklich positive Fördermaßnahmen erlaube39 und nur Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG auf den Ausgleich faktischer Nachteile gerichtet sei.40 Demgegenüber ist zunächst zu betonen, dass Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG explizit eine Pflicht zur Durchsetzung der Gleichberechtigung sowie zur Beseitigung bestehender Nachteile begründet. Der Aussagegehalt dieser Regelung zu der Frage, in- wiefern Fördermaßnahmen im Hinblick auf andere Diskriminierungskategorien zulässig sind, erscheint schon aus diesem Grund äußerst begrenzt. Allenfalls für die Frage, ob eine entsprechende Förderpflicht auch für die weiteren Kategorien nach Art. 3 Abs. 3 GG be- steht, ließe sich insofern ein plausibles Argument bilden. Und selbst insofern erscheint ein Umkehrschluss alles andere als zwingend: Denn schon vor der Verfassungsänderung, also auch ohne explizite Verankerung des Fördergebots in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG, hat das Bundesverfassungsgericht Art. 3 Abs. 2 GG eine über das Verbot von Diskriminierungen hinausgehende Bedeutung zugemessen und ein Gleichberechtigungsgebot 41 angenom- men. Darauf wird auch in der Begründung des Entwurfs zur Änderung des Grundgesetzes hingewiesen, worin zugleich die Vorstellung zum Ausdruck gelangt, dass sich das Ver- ständnis von Normen, die auf Gleichheit und Nichtdiskriminierung ausgerichtet sind, wandeln kann.42 Auch das Bundesverfassungsgericht sieht in dem eingefügten Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG insofern nur eine „Klarstellung“.43 Insgesamt lassen sich daher aus der Ver- fassungsänderung von 1994 kaum durchschlagende Einwände gegen positive Verpflich- tungen im Zusammenhang mit den Diskriminierungsverboten des Art. 3 Abs. 3 GG ablei- ten: Die Verfassungsänderung zielte nicht auf eine Minderung der Schutzgehalte des 38 Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 242. 39 So etwa Majer/Pautsch, ZAR 2020, S. 414 (416). 40 So etwa Michael/Morlok, Grundrechte, 7. Aufl. 2020, Rn. 823. 41 BVerfGE 85, 191 (206 f.). 42 BT-Drs. 12/6633, S. 5. 43 BVerfGE 92, 91 (109); 109, 64 (89); ebenso Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 3 Rn. 112; Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 366 („klarstellende Er- weiterung“); Boysen, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz, 7. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 164. 15
Art. 3 Abs. 3 GG ab, sondern wollte diese vielmehr nur für die Kategorie des Geschlechts besonders zum Ausdruck bringen.44 c) Benachteiligungsverbot im Hinblick auf Menschen mit Behinderung (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) Nichts anderes gilt im Hinblick auf das Verbot der Benachteiligung von Menschen mit Be- hinderung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Anders als Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG im Übrigen enthält die Norm nur ein Benachteiligungsverbot, kein Bevorzugungsverbot.45 Damit sind Bevorzugungen unmittelbar erlaubt.46 Der Zulässigkeit positiver Maßnahmen zugunsten von Menschen mit Behinderung steht das Diskriminierungsverbot daher nicht entgegen. Und nachdem das Bundesverfassungsgericht die Frage lange offen gelassen hatte, ent- nimmt es Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG mittlerweile explizit einen Förderauftrag.47 Mit Blick auf die Zulässigkeit von positiven Maßnahmen im Hinblick auf die anderen von Art. 3 Abs. 3 GG geschützten Kategorien gilt dabei ebenfalls, dass sich aus der expliziten Anerkennung des Grundgesetzes, dass solche Maßnahmen zugunsten von Menschen mit Behinderung zulässig sind, kein Rückschluss auf die Unzulässigkeit in anderen Fällen ziehen lässt. Im Gegenteil: Indem das Bundesverfassungsgericht nun eine staatliche Pflicht zur Förderung anerkennt, obwohl Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG sich zu dieser Frage – anders als Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG – nicht explizit verhält, lässt sich vielmehr argumentieren, dass entsprechende Gebote aus Diskriminierungsverboten auch dann folgen können, wenn sie nicht ausdrück- lich im Wortlaut verankert sind. Zu weitgehende Schlüsse auf Kategorien jenseits der Be- hinderung lassen sich hieraus freilich nicht ziehen aufgrund der besonderen Bedeutung, die Fördermaßnahmen – insbesondere in Form von angemessenen Vorkehrungen48 – für die Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe für Menschen mit Behinderung haben. 44 Siehe Classen, EuR 2008, S. 627 (642). 45 Zum mit der Norm verbundenen Paradigmenwechsel von einem sozialstaatlich-rehabilitativen Umgang mit Menschen mit Behinderung zu einem menschenrechtlichen, am Diskriminierungsverbot orientierten Ansatz Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 534. 46 BVerfGE 96, 288 (302 f.); Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 3 Rn. 166; Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 138. 47 BVerfGE 151, 1 (24 f.). 48 Boysen, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz, 7. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 201; Baer/Markard, in: v. Man- goldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 543; siehe dazu auch Art. 5 Abs. 3 der UN-Behin- dertenrechtskonvention; Art. 5 der Rahmenrichtlinie (Richtlinie 2000/78/EG). 16
2. Schutzpflichten im Rahmen von Art. 3 Abs. 3 GG Die Frage, ob sich aus den Diskriminierungsverboten des Art. 3 Abs. 3 GG Schutzpflichten ableiten lassen, wird im verfassungsrechtlichen Schrifttum zum Teil bejaht,49 zum Teil verneint.50 Das Bundesverfassungsgericht hat sich, soweit ersichtlich, noch nicht explizit zu dieser Frage verhalten.51 Speziell aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG hat es indes eine Schutz- pflicht im Hinblick auf Benachteiligungen wegen einer Behinderung abgeleitet.52 Zudem lassen sich der Rechtsprechung im Übrigen Indizien für die Existenz einer Schutzpflicht im Rahmen von Art. 3 Abs. 3 GG entnehmen: So betont das Gericht, dass der Gesetzgeber bei Ungleichbehandlungen von Personengruppen einer besonders „engen Bindung“ und verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegt und dass diese Bindung um so enger ist „(...) je mehr sich die personenbezogenen Merkmale den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten annähern und je größer deshalb die Gefahr ist, daß eine an sie anknüpfende Ungleichbehandlung zur Diskriminierung einer Minderheit führt.“53 In der Entscheidung zur „dritten Option“ hat das Gericht dann ausgeführt: „Zweck des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ist es, Angehörige strukturell diskriminierungsgefährdeter Gruppen vor Benachteiligung zu schützen.“54 Die Betonung der besonderen Vulnerabilität bestimmter Gruppen und ihrer Angehörigen und der Gedanke des Minderheitenschutzes legen nahe, dass sich die Schutzwirkung des 49 Siehe Sachs, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010, § 182 Rn. 144; Sachs, in: Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, 2011, S. 1702 (1766); Frowein, in: Festschrift fü r Hans F. Zacher, 1998, S. 157 ff.; Rüfner, in: Bonner Kommentar, Stand: 1996, Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 586 ff. und Rn. 611; Rädler, Verfahrensmodelle zum Schutz vor Rassendiskriminierung, 1999, S. 23 ff.; Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Grundgesetz, 14. Aufl. 2017, Art. 3 Rn. 14; Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 425; Peters/König, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Konkordanzkommentar, 2. Aufl. 2013, Kap. 21 Rn. 91; Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 3 Rn. 150; Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 237; Boysen, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz, 7. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 137 (bei systemisch wirkenden Diskriminierun- gen) sowie Rn. 146 ff.; zurückhaltend Englisch, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 2. Aufl. 2016, Art. 3 Rn. 121 f.; das entsprechende „Potenzial“ von Art. 3 Abs. 3 GG betonend Uerpmann-Wittzack, ZaöRV 68 (2008), S. 359 (362 ff.). 50 Siehe Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 139; Langenfeld, in: Maunz/Dü- rig, Grundgesetz, Stand: 2015, Art. 3 Abs. 3 Rn. 83 ff.; Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: 15.2.2021, Art. 3 Rn. 210; Britz, VVDStRL 64 (2005),S. 355 (361 ff.); Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), S. 298 (339 ff.). 51 Anders Peters/König, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Konkordanzkommentar, 2. Aufl. 2013, Kap. 21 Rn. 91, die davon ausgehen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus Art. 3 Abs. 2 und Art. 3 Abs. 3 GG Schutzpflichten fließen; siehe auch Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu/Hof- mann/Henneke (Hrsg.), Grundgesetz, 14. Aufl. 2017, Art. 3 Rn. 14; Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), Grundge- setz, 8. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 255. 52 BVerfG, Beschl. v. 25.3.2015, 1 BvR 2803/11, Rn. 4 f. 53 BVerfGE 88, 87 (96). 54 BVerfGE 147, 1 (28). 17
Art. 3 Abs. 3 GG nicht darin erschöpft, diskriminierende staatliche Praktiken zu untersa- gen, sondern dass das Diskriminierungsverbot auch auf den Schutz der erfassten Perso- nengruppen vor diskriminierenden Handlungen Dritter abzielt. In einer Kammerentscheidung vom 2. November 2020, der eine arbeitsrechtliche Ausei- nandersetzung um die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses aufgrund der rassistischen Äußerung eines Arbeitnehmers gegenüber einem Kollegen zugrunde lag, hat das Bundes- verfassungsgericht zudem ausgeführt, dass die einfachgesetzlichen Vorschriften der §§ 3 Abs. 3, 12 Abs. 3 AGG und § 75 Abs. 1 BetrVG, die eine Pflicht des Arbeitgebers begründen, sein Personal vor rassistischen Anfeindungen zu schützen, „das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ausgestalten.“55 Mit dieser Aussage bleibt die Kammer knapp hinter der expliziten Anerkennung einer Schutzpflicht zurück. Sie betont zwar, dass die einfachgesetzlichen Regelungen zum Schutz vor Diskriminierun- gen im Privatrechtsverhältnis einen verfassungsrechtlichen Hintergrund aufweisen, ver- hält sich aber nicht zu der Frage, inwiefern diese Vorschriften der Erfüllung einer verfas- sungsrechtlichen Pflicht zur Schutzgewährung dienen – was freilich auch nicht durch den zu entscheidenden Fall veranlasst war. Gleichwohl kommt in der Entscheidung deutlich zum Ausdruck, dass das Bundesverfassungsgericht rassistischen Diskriminierungen auch dann, wenn sie im Privatrechtsverhältnis erfolgen, eine verfassungsrechtliche Relevanz zuspricht. Zudem betont die Kammer, dass rassistische Beleidigungen eine Menschen- würdeverletzung darstellen können.56 Damit hebt das Bundesverfassungsgericht den en- gen Bezug zwischen Art. 3 Abs. 3 GG und Art. 1 Abs. 1 GG hervor, der in seinem Satz 2 ausdrücklich eine staatliche Schutzpflicht begründet. Im Ergebnis spricht viel für die Annahme einer staatlichen Schutzpflicht aus Art. 3 Abs. 3 GG. Die Einwände, die im verfassungsrechtlichen Schrifttum gegen die Annahme einer Schutzpflicht aus Art. 3 Abs. 3 GG angeführt werden, vermögen nicht zu überzeugen. Da- bei bezieht sich die Kritik zumeist ohnehin nicht auf das Konzept einer diskriminierungs- bezogenen Schutzpflicht, sondern auf einzelne spezifische Aspekte: • Soweit etwa Werner Heun ausführt, dass sich „unstrittig keine schutzpflichtähnlichen Ansprüche auf Herstellung (faktischer) Gleichheit ableiten lassen“,57 adressiert diese Kritik nicht die Frage von Schutzpflichten gegenüber Diskriminierungen, sondern die Frage positiver Gleichstellungsmaßnahmen. Soweit Heun die Begründung einer sub- jektiven Schutzpflicht als „zumindest zweifelhaft“ bezeichnet, bleibt die Kritik offen. 55 BVerfG, Beschl. v. 2.11.2020, 1 BvR 2727/19, Rn. 19. 56 BVerfG, Beschl. v. 2.11.2020, 1 BvR 2727/19, Rn. 18. 57 Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 139. 18
• Grundlegende Kritik an der Annahme einer diskriminierungsbezogenen Schutzpflicht, wie sie etwa Matthias Jestaedt58 oder Christine Langenfeld59 üben, bezieht sich vielfach ausschließlich auf die Auswirkungen, die eine Schutzpflicht aus Art. 3 Abs. 3 GG im Privatrechtsverkehr haben könnte.60 Insofern wird etwa die schutzpflichtentypische Gefährdungslage bezweifelt und unter Betonung der Privatautonomie ein Kontrahie- rungszwang als problematisch angesehen.61 Ungeachtet der Frage, ob in einer solchen grundlegenden Kritik nicht die Privatautonomie überbetont wird, gerade im Hinblick auf Massengeschäfte, und das Ausmaß und die Bedeutung struktureller Benachteili- gungen vernachlässigt werden, kann diese Kritik jedenfalls nicht die Konzeption von Schutzpflichten generell in Frage stellen.62 Sie betrifft vielmehr die Frage der Reich- weite und Grenzen. • Soweit Gabriele Britz die Unterschiedlichkeit der in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Kate- gorien betont, 63 spricht auch dies nicht gegen die Annahme von Schutzpflichten. 64 Denn einerseits gibt es durchaus erhebliche Gemeinsamkeiten zwischen den dort nor- mierten Merkmalen – die historische Tradierung von Benachteiligungen und ihr weit- gehend unverfügbarer, jedenfalls identitätsprägender Charakter 65 –, andererseits folgt aus der Anerkennung einer Schutzpflicht nicht zwingend, dass diese für alle in Art. 3 Abs. 3 GG aufgeführten Merkmale denselben Inhalt und dieselbe Bedeutung ha- ben muss. Die grundrechtliche Dogmatik ist flexibel genug, um Besonderheiten der einzelnen Merkmale ebenso zu berücksichtigen wie situativ unterschiedliche Ausprä- gungen der Schutzpflicht. Demgegenüber spricht im Ergebnis viel dafür, dass Art. 3 Abs. 3 GG eine staatliche Pflicht zum Schutz vor Diskriminierungen begründet: Insofern ist zunächst kein Grund dafür er- sichtlich, Diskriminierungsverbote anders zu behandeln als Freiheitsrechte, bezüglich de- rer das Bundesverfassungsgericht und ihm folgend die vorherrschende Auffassung im 58 Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), S. 298 (339 ff.). 59 Langenfeld, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: 2015, Art. 3 Abs. 3 Rn. 83 ff. 60 So auch der Fokus bei Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: 15.2.2021, Art. 3 Rn. 210. 61 Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), S. 298 (340 ff.). 62 Womit nicht gesagt werden soll, dass sie überhaupt darauf abzielt: Der Beitrag von Jestaedt etwa befasst sich ausschließlich mit dem Spannungsverhältnis von Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, und die Kommentierung von Langenfeld adressiert ebenfalls ausschließlich diesen Punkt, wenngleich unter der weitergehenden Überschrift der Schutzpflicht. 63 So aber Britz, VVDStRL 64 (2005), S. 355 (364). 64 So auch Uerpmann-Wittzack, ZaöRV 68 (2008), S. 359 (365). 65 Siehe Boysen, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz, 7. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 173; Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 126; Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 418. 19
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