Das nationalsozialistische Deutschland - Herrschaftsstruktur und Ideologie1
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1 Bernd-A. Rusinek Das nationalsozialistische Deutschland - 1 Herrschaftsstruktur und Ideologie I. Das mir gestellte Thema, „Das nationalsozialistische Deutschland - Herrschaftsstruktur und Ideo- logie“, ist von erschlagender Breite. Erschwerend kommt hinzu, dass wohl alle Kernbegriffe und zentralen Sachverhalte, über die ich zu Ihnen sprechen werde, kontrovers diskutiert worden sind. Dabei ist die Maßeinheit dieser Diskussionen der Regalmeter. Keine Phase der deutschen Geschich- te ist besser erforscht als die des Nationalsozialismus. Diese Forschung umfasst drei Bereiche: (1) Die nationalsozialistische Herrschaft selbst; (2) politische, ideen- und mentalitätsgeschichtliche Wegstationen hin zum Nationalsozialismus; (3) die Bewältigungs- oder Kontinuitätsgeschichte nach dem Nationalsozialismus. Ergebnisse aus allen drei Forschungsbereichen berühren in besonderem Maße die Identität der Deutschen. Kontroversen um die NS-Vergangenheit werden sozusagen auf den Marktplätzen ausge- tragen. Die politische Öffentlichkeit in Deutschland würde sich heute kaum bis zur Kampfbereitschaft über die Italienpolitik der mittelalterlichen deutschen Kaiser entzweien, wie es im 19. Jahrhundert ge- schah. Im Feld der historischen Themen besitzt allein der Nationalsozialismus noch ein solches Mobilisierungspotential. Aber das macht nur zur Hälfte den paradigmatischen Charakter der NS- Vergangenheit für die deutsche Nachkriegsgeschichte aus. Dieser paradigmatische Charakter wird erst in Gänze deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass in allen großpolitischen Kontroversen der alten Bundesrepublik bis 1989 der Nationalsozialismus und die Konsequenzen, die aus seiner Existenz zu ziehen seien, entweder direkt die Streitfragen ausmachten oder dass der Nationalsozia- lismus und seine Konsequenzen von den Kontroverspartnern instrumentalisiert wurden. Das gilt für die Sozialisierungsdebatten der frühen Nachkriegszeit, für die antimilitärische „Ohne-mich- Bewegung“ der 1950er Jahre, für die 1968er-Bewegung und die antiautoritäre Erziehung und sogar noch für die Kernkraftkontroverse der 1970er Jahre. Ich glaube, dass dieses Phänomen in anderen Staaten keine Parallele besitzt. 1 Vortrag auf der deutsch-japanischen Tagung „Pädagogik im Nationalsozialismus und Militarismus - Erziehungsver- hältnisse und Aufarbeitung der Vergangenheit“, Bln. u. Münster, 2. – 8. September 2002 (Bln., 2. September 2002).
2 Um falsche Instrumentalisierungen, didaktisch motivierte Reduktionen oder begriffsloses Operieren mit ‚Moral’ zu vermeiden, hatte der prominente Münchner NS-Forscher Martin Broszat 1986 für die „Historisierung des Nationalsozialismus“ plädiert, also dafür, dass die NS-Zeit Gegenstand der Geschichtswissenschaft zu sein habe wie andere Epochen auch, ohne damit etwa Verharmlosungs- absichten zu verfolgen. Aber dieses Plädoyer ging im Rauschen des 1986 ausgebrochenen internati- onalen „Historikerstreits“ unter, der von Ernst Noltes Thesen über die NS-Vergangenheit seinen Ausgang nahm. Was war der Nationalsozialismus? Hier eine Reihe von Antworten: - Diktatur des Finanzkapitals. - Barbarei technizistischer Modernität. - Aufstand gegen das 19. Jahrhundert. - „Pöbelherrschaft des Elementarischen“ - „Zerstörung der Vernunft“. - Teil des „Weltbürgerkrieges“ gegen den Bolschewismus. - Deutsche Variante eines europäischen Phänomens, die durch die Konstellation am Ende des Ersten Weltkrieges ihre spezifische Eigenart erhielt. - Katastrophaler Endpunkt eines politischen und geistigen deutschen Sonderweges. Bis auf die erste Antwort - Nationalsozialismus als Diktatur des Finanzkapitals, also die berühmte „Dimitroff-These“ und lange Zeit gültige kommunistische Deutung des Phänomens - räumen alle genannten Näherungsversuche der nationalsozialistischen Ideologie einen breiten Raum ein und sind darin einig, dass diese Ideologie eine enorme Zielgruppen-Streuweite besessen hat. Ich werde mich im Folgenden stärker auf die Ideologie des Nationalsozialismus konzentrieren, da sie vermut- lich für historisch orientierte Erziehungswissenschaftler von größerem Interesse ist als etwa die Leitsektorenanalyse ökonomischer Faktoren. Diese Zielgruppen-Streuweite der NS-Ideologie ist eine Tatsache. Sie bedeutet: Bis auf Juden, ent- schiedene Katholiken, Exponenten der linken Intelligenz und der staatstragenden Weimarer Partei- en, also bis auf diese vielleicht fünfzehn Prozent der deutschen Bevölkerung, gab es niemanden, an den sich die Propaganda des Nationalsozialismus nicht gerichtet hätte. Bei etwa 85 Prozent der deutschen Bevölkerung besaß die NS-Ideologie Erfolgsaussichten. Sie bündelte sehr unterschiedli- che Strömungen der Vergangenheit zu einer Art german dream im Gegensatz zum american dream und wandte sich - mit den genannten Ausnahmen - an alle Gruppen der Gesellschaft mit glanzvol- len Zukunftsversprechen. Von diesen Versprechen, so könnte man pointieren, hat die NS-Herrschaft eigentlich nur zwei oder zweieinhalb eingehalten: Erstens die sogenannte „Lösung der Judenfrage“, zweitens den Krieg, sodann unter Einschränkungen die Abschaffung der Arbeitslosigkeit, und zwar durch Umstellung der Wirtschaft auf den Krieg und seine Vorbereitung bei gleichzeitiger Abschaf-
3 fung der Arbeiterorganisationen und Beschneidung der Arbeiterrechte. Dennoch konnte sich das NS-Regime in den Jahren 1936 bis 1938, also von der Olympiade bis zum Münchner Abkommen, sowie von Frühjahr 1940 bis Herbst 1941, also auf dem Höhepunkt der „Blitzkriegs“-Erfolge, einer Zustimmung und positiven Resonanz in der deutschen Bevölkerung erfreuen wie schwerlich eine deutsche Regierung zuvor oder danach. Im ersten großen Literatur-Bestseller der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte, in Ernst von Salomons „Fragebogen“ von 1951, einer rund achthundertseiti- gen hintergründigen Beantwortung des alliierten Fragebogens zur Ermittlung nationalsozialistisch Belasteter, wurde ausgeführt, dass dem NS-Regime in den genannten Zeiträumen 1936 bis 1938 und 1940/41 von der Volksverankerung her ein demokratischer Charakter schwerlich abzusprechen sei. Das war gewiss, wie Theodor Eschenburg in einer Rezension schrieb, ein starkes Stück Dema- gogie, das sich der einstige Freikorps-Mann und Rathenau-Mörder v. Salomon geleistet hatte, aber es war eben auch nicht ohne weiteres zu widerlegen. Ist dieses enorme Maß an Zustimmung etwa auf den nationalsozialistischen Unterdrückungsapparat zurückzuführen, darauf, dass die Gestapo alles im Griff hatte? Nachdem in den letzten zehn Jahren die Gestapo-Forschung immer wieder auf die geradezu verblüffende Winzigkeit dieses sprichwört- lich gewordenen Unterdrückungsapparates hingewiesen und zudem vor der Überschätzung des „SD“, also des Inlandsgeheimdienstes der SS, gewarnt hat, ist davon nicht auszugehen. Die Zu- stimmung zur NS-Herrschaft ist vielmehr im ideologischen Feld zu suchen, im german dream- Charakter des Nationalsozialismus in seiner Phase scheinbaren Erfolgs. Über die geistigen Strömungen, die der Nationalsozialismus scheinbar auf sich vereinigen konnte, bemerkte der Jurist und Rechtsphilosoph Carl Schmitt einmal zum jungen Nicolaus Sombart, die NS-Ideologie sei der „Papierkorb des 19. Jahrhunderts“; anders als der Golem das Rabbi Löw in Prag trüge Hitler nicht einen Zettel mit einem Namen unter der Zunge, sondern eben diesen Papier- korb. Bereits 1933 wurde auch vom nationalsozialistischen „Symbol-Ragout“ gesprochen. Diese Hinweise auf den Gemengelagen-Charakter der NS-Ideologie sind zweifellos zutreffend, scheinen aber auf den ersten Blick heuristisch nicht eben hilfreich zu sein, da dem Ideen- und Ideo- logiehistoriker damit nahegelegt ist, das geistige Gesamtpanorama von 1807 bis 1914/18 zu durchwandern, und zwar sowohl die Paläste wie die Augiasställe. Bei näherer Betrachtung enthalten die „Papierkorb“- und „Symbol-Ragout“-Charakterisierungen jedoch zwei wichtige Pointen: (1) Erste Pointe: Es ist nicht ein einzelner geistesgeschichtlicher Faden, der die enorme Attrak- tionskraft der NS-Ideologie zu erklären vermag, sondern es ist die Kombination zu einem Gewebe, das gegenüber den einzelnen Komponenten eine neue Qualität und Durchschlags- kraft aufwies. Der deutsche Antisemitismus seit den 1870er Jahren, der sich vielleicht am ehesten als roter Faden anböte, scheidet als differentia specifica aus, weil es im Europa des 19. Jahrhunderts weit antisemitischere Gesellschaften gegeben hat als die deutsche, die aber
4 dennoch keine siegreiche faschistische Bewegung oder überhaupt gar keine hervorgebracht haben. (2) Zweite Pointe: Aufgrund des Gemengelagen-Charakters, der den Ideologie-Komponenten der sogenannten nationalsozialistischen „Weltanschauung“ ihre spezifische Stoßkraft sozu- sagen erst als Kombinationspräparat verlieh, scheint es nicht zulässig, einzelne, isolierte Komponenten auf ihr Geburtsregister hin zu untersuchen, um daraus eine monokausale Vor- läuferschaft und moralische Schuld abzuleiten. Wenn wir das etwa im Bereich des Rechts täten, da der Nationalsozialismus ja bekanntlich bemüht gewesen war, das Römische durch ein sogenanntes „Germanisches“ Recht zu ersetzen, stießen wir zwar auf Vorläufer wie etwa Savigny oder die Brüder Grimm, würden uns aber darin verheddern, dass die Parole vom „Germanischen Recht“ im Kontext der 1848er-Bewegung eine demokratische gewesen ist. Im Bereich der „Rassenvorstellungen“ wäre der Vorläufer Graf Arthur de Gobineau prob- lematisch, da seine Lehrsätze darauf hinausliefen, dass die europäischen Völker hoffnungs- los gemischt und namentlich die Deutschen wesentlich keine Germanen seien; im übrigen war Graf Gobineau in Teheran praktischer Philosemit. Es kann sein, dass diese hier skizzierten Überlegungen eine ideologiehistorische Untersuchung des Nationalsozialismus nicht einfacher machen; denn sie zeigen sowohl die geistesgeschichtliche Ver- ankerung des NS-Komplexes wie sie zugleich vor zackigen Ableitungen warnen. Aber die Überle- gungen sollen auch auf ein Drittes hinweisen, das für uns von entscheidender Bedeutung ist: Auf der Ideologie-Seite hat der Nationalsozialismus nichts Originelles geschaffen, sondern allein be- reits Vorhandenes montiert. Das gilt sogar für die Verklammerung der nationalen mit der sozialen Frage, wie sie schon der Begriff „Nationalsozialismus“ anzeigt. Die Idee, das Nationale und das Soziale zusammenzufügen, wenn anders die deutsche Gesellschaft nicht auseinanderfallen solle, hatte im 19. Jahrhundert so unterschiedliche Köpfe wie den Berliner Hofprediger Stoecker oder den Erlanger evangelischen Theologen Hofmann, den Wiener Rechtshistoriker Exner oder den Münch- ner katholischen Kirchenhistoriker Döllinger ebenso tief bewegt wie die sogenannten „Revisionis- ten“ innerhalb der deutschen Sozialdemokratie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In Kursive: Das ideologische Arsenal des Nationalsozialismus war aus Versatzstücken geschmiedet. Im Gegensatz zum Sozialismus, aber auch zu Vitalismus, Darwinismus und Lebensphilosophie war der Nationalsozialismus ideologisch parasitär. II. Dies ist der hermeneutisch-methodische Hintergrund, vor dem ich im Folgenden auf einige Ideolo- gie-Komponenten des Nationalsozialismus hinweisen möchte. Die NS-Ideologie ist - das vorab - wie ihr großer Gegenspieler, die Ideologie des Kommunismus, eine Geschichtslehre, und wie in allen politischen Groß-Ideologien des 19. und frühen 20. Jahrhun- derts - Nationalismus; liberalistischer Kapitalismus; Imperialismus; Darwinismus - steht der Kampf im Mittelpunkt. Von der Konzeption her haben wir es bei der NS-Ideologie mit einem rassis- tisch fundierten Geschichtsdenken zu tun, das den Kampf in den Mittelpunkt stellte. Rassistische
5 Fundierung bedeutete, dass Geschichte als Geschichte von Rassekämpfen aufgefasst wurde. Ein- deutig wurde die arisch-germanische Rasse dabei an der Spitze einer Hierarchie gesehen. In pyra- midalisierter Rang-Stufung folgten Romanen, Polen, weitere Slawen, Russen, schließlich Asiaten. Mochten einzelne dieser Untergruppen auch als Kulturträger anerkannt worden sein - den Ariern konnte keine das Wasser reichen. Am untersten Ende der Hierarchie aber stand, als diabolischer Gegenspieler zum Arier, als das Böse schlechthin: der Jude. Die Darstellung der Juden im Rahmen der NS-Ideologie hat eindeutig verschwörungstheoretische Züge. Das bedeutet aber auch, dass es sich bei dem frenetischen Judenhass der Nationalsozialisten nicht einfach um eine Art ‚Fremden- hass’ gehandelt hat. Erstens waren viele Juden in Deutschland keine Fremden; zweitens zielt Frem- denhass, wie etwa heute vielfach gegen ‚Ausländer’, dahin, dass sie eben das Land verlassen soll- ten. Völlig anders bei dem nationalsozialistischen Antisemitismus: Nach ihm mussten die Juden vernichtet werden, aus der Welt sein, damit die Welt erlöst werden könne. Diese mythisch oder quasi-religiös überhöhte Vernichtungskonzeption ist die differentia specifica der NS-Ideologie. Die Frage ist, wie ernst man die NS-Ideologie bei der historiographischen Erforschung des „Dritten Reiches“ nimmt. Wenn die Behauptung stimmt, dass die differentia specifica des Nationalsozialis- mus ein ideologisch motiviertes Mega-Verbrechen gewesen ist, nämlich der Völkermord an den Ju- den und weiteren für minderwertig erachteten Bevölkerungsgruppen, dann wird die ideologische Seite sehr hoch veranschlagt werden müssen. Dagegen führen NS-Interpretationen, welche vor al- lem die Funktion des Regimes im Auge haben - so etwa die von Dimitroff ausgehende Auffassung des Nationalsozialismus als einem Rettungsunternehmen des Kapitalismus - zu einer Unterbewer- tung des Genozids. Sie können ihn kaum oder gar nicht erklären. Nachdem ich auf die Bedeutung die grundlegende Bedeutung des Rassismus hingewiesen habe, soll es im Folgenden um die Herkünfte und ideologischen Karrieren der folgenden Kernbegriffe gehen: - „Führer“, - „Nation“, „Volk“, - „Volksgemeinschaft“ - sowie um die Trias „Krieg“ / „Kampf“ / „Rasse“. Diese Begriffe bilden das Grundgerüst der nationalsozialistischen Ideologie und prägen die Herr- schaftspraxis des Regimes bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein. Sie sind miteinander verklammert und greifen ineinander wie die Schindeln eines Daches. Über al- lem aber wölbt sich der Begriff „Jugend“, auf den am Schluss einzugehen sein wird. Niemand, der irgendwelche Quellentexte aus der NS-Zeit liest, wird diesen Begriffen entgehen. Zum Führer-Begriff und –Prinzip: Unabhängig davon, ob das „Dritte Reich“ tatsächlich ein „Führ- erstaat“ war, eine Kombination aus Normen- und Maßnahmestaat, oder ob Hitler nach der promi- nenten Formulierung Hans Mommsens bloß ein „schwacher Diktator“ gewesen ist - in der Selbst-
6 darstellung des Regimes dominierte der „Führer“, auf den alles zulief und der alles plante oder vor- bereitet hatte. Von dieser akzeptierten Regime-Darstellung zeugt noch die im „Dritten Reich“ ange- sichts von Problemen und Misshelligkeiten verbreitete Klage: „Wenn das der Führer wüsste ...!“ Diese vielfach erhobene Klage erinnert nicht von ungefähr an den Ausspruch aus den Jahren des Kaiserreiches: „Wenn das der Kaiser wüsste ...!“ Wir treffen hier also auf eine kontinuierende Sehnsucht nach dem allwissenden männlichen, nach militärischem Muster geformten Führer und auf eine ebenso konkurrierende, sich aller Abstraktion enthaltende Wahrnehmung von Herrschaft. Dieser abstraktionsfernen Wahrnehmung hat zweifellos ein Geschichtsbild vorgearbeitet, das ge- meinhin mit dem sogenannten „Historismus“ verbunden wird, aber viel häufiger in den Schulen und Schulbüchern verbreitet wurde: Der Vorstellung nämlich, dass „große Männer“ Geschichte machen, etwa Luther, Yorck, Bismarck oder 1888, dem Antrittsjahr Wilhelms II., „unser herrlicher junger Kaiser“. Zu bemerken ist zum Führerbegriff zweierlei, was oftmals kaum genügend berücksichtigt wird: (1) Der Begriff des positiven Führers, der Geschichte symbolisiert und sie macht, besitzt sein logisches Komplement im negativen Führer, der die Geschichte ebenfalls symbolisiert und sie zerstört. Die abstraktionsfeindliche Logik des Führergedankens ist offen für Verschwö- rungstheorien nach dem Muster der Vorstellung von den negativen, demolierenden Führern des sogenannten „Weltjudentums“. (2) Weiter ist der Begriff des Führers und die damit verbundene Vorstellung von Herrschaft selbstverständlich im Kern antidemokratisch, und sie will es auch sein. Der Führer befiehlt, die unter ihm Stehenden gehorchen, und was der Führer anordnet, geschieht nicht aufgrund von diskursiv abgewogenen, womöglich intersubjektiv vollzogenen Kommissions- oder Par- lamentskompromissen im Sinne des Habermas’schen Kommunikationsideals, sondern auf- grund von Befehl und von Entscheidung, diesem Kernbegriff im dezionistischen Denken ei- nes Heidegger, Ernst Jünger oder Carl Schmitt der 1920er Jahre. Mit Personen wie Hindenburg und - eingeschränkt - auch Ludendorff war solchem Führerbegriff bereits während des Ersten Weltkrieges vorgearbeitet worden. Während der Revolutionsereignisse 1918/19 erscholl nicht selten der Ruf „Ist denn kein Yorck da?!“, um damit auf die heroische Phase der Freiheitskriege gegen das napoleonische Frankreich anzuspielen. Für die parlamentarische Demokratie selbst war der Führerbegriff Gift, erstens, weil sich parlamen- tarische Formen und Partei-Kompromissfindung mit dem dezisionistischen Führer nicht vertragen, zweitens, weil es nicht gelang, dem allgemeinen Bewusstsein die (vielleicht kontradiktorische) Idee eines demokratischen Führers nahe zu bringen. Willy Hellpach hat es in seinem dreibändigen, Ihnen hiermit sehr empfohlenen Memoirenwerk mit Recht als tragisch und wohl auch einmalig be- zeichnet, dass die wenigen Personen, die in der Weimarer Zeit als demokratische Führer hätten in- frage kommen können, entweder viel zu früh starben wie Friedrich Ebert, Gustav Stresemann oder
7 - mit Einschränkungen - auch Max Weber oder von der fanatischen Rechten ermordet wurden wie Walther Rathenau. Parallel zu den Krisen der Weimarer Republik sehen wir die Führersehnsucht wachsen. Sie war so groß und allgegenwärtig, dass andere, dem gesamten Nazi-Komplex fernstehende Bewegungen ihre eigenen Führer ausriefen, um attraktiv zu bleiben. Dazu gehören etwa - wer kennt sie noch? - Ludwig Wolker oder Ernst Stammler. Die Frage, wie der künftige deutsche Führer aussehen müsse, war nicht nur ein häufiges Aufsatz- thema in den Schulen, sondern auch Gegenstand universitärer Preisaufgaben für Studierende, woran sich etwa Rudolf Hess an der Universität München beteiligte; schließlich befassten sich maßgeben- de Intellektuelle mit der Frage des künftigen Führers. Ich nenne als Beispiel Werner Sombart. Nicht jede positive Rede vom Führer, die in der Weimarer Zeit geäußert wurde, bedeutet Vorläuferschaft des „Dritten Reiches“, aber jede positive Rede vom Führer betrachtete die Weimarer Republik als Transitorium. Das betraf einmal den konkreten Weimarer Staat, und es betraf sodann die politi- schen Formgesetze der Demokratie überhaupt: Der Führer ist legitimiert durch seine Mission und seine Entscheidungen; er wird nicht abgewählt oder in den Stand des Oppositionsführers versetzt, sondern scheitert gemäß den Bildungsgesetzen der politischen Mythologie durch Treulosigkeit und Verrat der Geführten, durch den Dolch als der Waffe des Verräters und Verschwörers. Hinter der Frage nach dem „Führer“, der ja nicht allein Adolf Hitler heißen musste, verbarg sich, wie ich andeutete, auch ein Problem der Geschichte und der Geschichtsdidaktik: Von dem mir ver- mittelten Verständnis von Geschichte, von ihren Kräften und der Eigenart ihrer Umbrüche hängt mein Blick auf Gegenwart und Zukunft von Politik und Gesellschaft ab. Das ist nun, wie Sie ein- wenden könnten, keine preiswürdige, sondern eine hochgradig triviale Einsicht - aber sie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das Phänomen der Geschichtsbeschwörung im Nationalsozialismus, durch die der Begriff des Führers mit den weiteren von mir genannten Hauptbegriffen der NS- Ideologie verklammert wurde, namentlich den Begriffen „Nation“ und „Volk“. Dass nicht etwa Parteien oder Massen entscheiden und Geschichte machen, sondern Führer, ist die Basis allen Führerkultes. Wenn diese Annahme geteilt wird, ist damit die Auffassung logisch ver- bunden, dass „Nation“ und „Volk“ als die beiden weiteren Kernbegriffe der NS-Ideologie, eine pro- funde Änderung erfahren: Nation und Volk gebären zwar aus sich heraus und auf etwas rätselhafte Weise, auf dem Wege des „Kairos“, den Führer, aber Nation und Volk sind dem Führer Material. Sie sind der Stoff, aus dem der Führer Geschichte formt. Es ist daher nur konsequent, wenn Hitler 1945 inmitten des zertrümmerten Berlin äußerte, das deutsche Volk habe versagt und sei seiner nicht würdig gewesen - nicht etwa umgekehrt. Im 19. Jahrhundert ist formuliert worden, der Führer sei das männliche, Volk und Nation seien das weibliche Element im Prozess der Geschichte. Diese Auffassung vom Verhältnis des Führers zu
8 Volk und Nation wurde im Nationalsozialismus immer wieder durch nationale Betäubungsfeier- lichkeiten rituell beglaubigt, die im Kern Geschichtsbeschwörungen gewesen sind. Dieses Ge- schichtspathos unterstrich zum einen, dass der Nationalsozialismus Geschichte mache, und ver- knüpfte zum anderen den Nationalsozialismus mit den weiteren großen Gebilden der deutschen o- der auch der internationalen Geschichte. Bei diesen geschichtsbeschwörenden nationalen Betäu- bungsfeierlichkeiten - ich entlehne diesen Ausdruck von Thomas Mann -, wird das Volk jedes Mal als dienendes Material von Führern dargestellt - so bei den Feiern zur Hermannschlacht im Teuto- burger Wald, so bei den von der SS inszenierten Feiern am vermeintlichen Grab Heinrichs I. im Quedlinburger Dom, so schließlich bei zahllosen anderen Gelegenheiten bis hin zu Universitäts- gründungsjubiläen. Wenn das Volk selbst Held beschwörender Geschichtspathetik war, dann in sei- ner Eigenschaft als Resonanzboden und Geschichtsmaterial der Führer - Stedinger Bauern, Ostko- lonisation -, oder weil die historischen Aktionen des Volkes als Präludium der Führerexistenz be- griffen wurden - Bauernkriege, Kriegsausbruch 1914. Die Dimension des Geschichtlichen wurde der Weimarer Republik dagegen abgesprochen, weil diese Republik keine „Führer“ besessen habe. Diese Aberkennung kam darin zum Ausdruck, dass die Rechte die Republik mit einem geschichts- und mythenverneinenden, bloß technischen Etikett versah: System. Abermals in Kursive geredet: Die Ideologie von Führer, Volk und Nation wurde im „Dritten Reich“ durch eine permanente falsche Erinnerungskultur und Geschichtspolitik zelebriert. Das gilt insbesondere für die Begriffe „Volk“ und „Volksgemeinschaft“ und die Erinnerungskultur des Ersten Weltkrieges. Die Konstellation, die der Erste Weltkrieg hinterließ, die Deutung, die man diesem Geschehen verlieh, können als Wiege der nationalsozialistischen „Weltanschauung“ ange- sehen werden. In positiver Hinsicht durch die Beschwörung des angeblich einhelligen „Augustju- bels“ bei Kriegsbeginn, der den Willen des Volkes zum Kampf bewiesen hätte; durch die zahlrei- chen jungen Kriegsfreiwilligen, namentlich die Studenten - denken Sie an den Mythos von Lange- marck! -, die aus den Hörsälen an die Front geeilt seien; durch die zahllosen jungen Gefallenen ins- gesamt, schließlich durch den jungen Stoßtruppführer gegen Kriegsende als der Inkarnation eines neuen Heldentums, auf das sich der Nationalsozialismus immer wieder bezog. In negativer Hinsicht war der Erste Weltkrieg Wiege der nationalsozialistischen „Weltanschauung“, weil Deutschland ihn eben durch „Verrat“ verloren hatte, und zwar durch dreierlei Verrat: (1) Verrat der kämpfenden Truppe durch die linke Arbeiterbewegung, namentlich die USPD, die durch Streiks den Sieg der deutschen Soldaten vereitelten. (2) Verrat durch das sogenannte nationale oder auch internationale „Judentum“. Bereits 1916 hatte der General v. Wrisberg eine Untersuchung in Auftrag gegeben, um der Behauptung nachzugehen, dass die Juden sich vor dem Heeresdienst drücken würden.
9 (3) Verrat schließlich durch die Revolutionsführer, die sogenannten „Novemberverbrecher“, sowie durch die hauptsächlich sozialdemokratischen „Erfüllungspolitiker“, die den Versail- ler Vertrag unterzeichnet hätten. Dieser dreifache Verrat fusionierte gleichsam in dem Mythos vom „Dolchstoß“ als Gründungsszene der verhassten Weimarer Republik. Der negative Mythos vom Dolchstoß und der positive Mythos von der heldisch sterbenden Kriegsjugend bei „Langemarck“ ergänzten sich: Die Linke und die Ju- den, so die Kernaussage dieser Komplementärmythologie, seien die Verräter an der heldisch kämp- fenden deutschen Jugend gewesen. Diese mythische Erzählung wurde fortan von der gesamten Rechten immer wieder beschworen und damit eine - mit dem Ehepaar Assmann zu reden - eine ei- gene, anstachelnde „Mythomotorik“ in Gang gesetzt. Das aber ist nur der eine Teil eines gesellschaftlichen Entwurfs, der aus dem Ersten Weltkrieg abge- leitet und durch den „Juden“ als Gegenspieler zugleich rassistisch grundiert wurde. Der andere Teil des aus dem Ersten Weltkrieg abgeleiteten Entwurfs war positiver, utopischer Natur: Die im Kampf an den Fronten, namentlich an der Westfront entstandene Frontgemeinschaft, in der alle Klassen- und Schichten-Differenzen eingeschmolzen worden sein sollen, bildete das Muster der späteren na- tionalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ als der Herzmitte der nationalsozialistischen Gesell- schaftsauffassung. Es verwundert nicht, dass Kurt Tucholsky insbesondere dadurch den ganzen Hass der Rechten auf sich zog, dass er in einer Reihe von Artikeln in der „Weltbühne“ durch Hinweise auf Saufgelage von Offizieren und gleichzeitig halbverhungerte Soldaten den Frontgemeinschaftsmythos destruier- te. Dieser Mythos wurde in zahllosen Kriegsmemoiren und etwa in den zu Hunderttausenden an den Schulen verteilten „Kriegsbriefen gefallener Studenten“ oder in Jugend-Bestsellern wie Flex’ „Wanderer zwischen den beiden Welten“ gleichsam in die Köpfe gehämmert. Der damit idealisierte „primitive Militärkommunismus“, wie man in den spätern 1920er Jahren schrieb, war das Gegen- bild zum ebenfalls die Klassen und Schichten einschmelzenden Gesellschaftsentwurf der Linken. Der Frontgemeinschaftsmythos war kein specificum der Nationalsozialisten, aber der Nationalsozia- lismus hatte ihm mit der Glorifizierung seines Führers Adolf Hitler als dem einfachen Soldaten und Gefreiten des Ersten Weltkrieges eine besonders massenwirksame Form verliehen. Diese Massen- wirksamkeit gipfelte im März 1933 auf, als der Gefreite Hitler und der Generalfeldmarschall v. Hindenburg sich am „Tag von Potsdam“ über dem Grab Friedrichs des Großen die Hände reichten. Die Geburt der nationalsozialistischen Utopie vollzog sich im Zuge der mythischen Erzählung Ers- ter Weltkrieg; die Realisierung dieser Utopie musste ein weiterer Krieg sein; Teil dieser Realisie- rung wäre - Hitler kündigte es am 30. Januar 1939 in der Berliner Kroll-Oper an - die „Vernich- tung des Judentums als Rasse in Europa“.
10 Ich denke, ich habe mit diesen Ausführungen zeigen können, wie die Kernbegriff der nationalsozia- listischen Ideologie - Führer, Nation, Volk, Volksgemeinschaft, Krieg und Rasse - zu einer Einheit gefügt worden sind, zu deren Einhämmerung der Nationalsozialismus eine Art immerwährender Geschichtsbeschwörung zelebrierte; diese Beschwörung bezog sich auf die gesamte deutsche Ge- schichte und ihre sogenannten ‚heroischen Phasen’, aber die master narrative dieser Ideologie war der Erste Weltkrieg und davon ausgehend die völkische Vergangenheitspolitik, die mit diesem Kriege betrieben wurde. Die Mythologisierung des Ersten Weltkrieges, so fasse ich die Beobachtungen zusammen, durchzog weite Kreise der deutschen Gesellschaft bis in die Sozialdemokratie und den Katholizismus hinein; dasselbe gilt für die Führersehnsucht und den Wunschtraum von der „Volksgemeinschaft“ als Ge- genbegriff zum Parteienstaat von Weimar, zum Klassenstaat des Kapitalismus und seiner liberalen Konzeption sowie als Konkurrenz-Utopie zum Kommunismus. Diese Mythen, Sehnsüchte und Utopien wiesen sämtlich aus der Republik hinaus; der Nationalsozialismus konnte sie in geschickter und massenwirksamer Weise auf sich vereinen. Es gelang einfach nicht, einen Gegen-Mythos zu schaffen, der in die Republik hinein gewiesen hätte. Die NS-Ideologie stellt sich als Amalgam aus Ideologien des späten Wilhelminismus, Formen kon- servativer sowie rechter Kulturkritik seit den später 1870er Jahren, dem „Erlebnis“ des Ersten Weltkrieges und seiner Folgen und dem Hass auf die Weimarer Republik dar. Auf zwei Aspekte möchte ich noch hinweisen: Auf den Grundhass des Nationalsozialismus auf das 19. Jahrhundert, dessen „Papierkorb“ die NS-Ideologie zugleich gewesen ist - Sie erinnern sich des Wortes von Carl Schmitt - und auf den Jugend-Charakter der NS-Ideologie und ihrer Bewegung. Ich erlaube mir eine persönliche Bemerkung: Im Urlaub habe ich noch einmal Thomas Manns „Doktor Faustus“-Roman sowie dessen sämtliche politische Reden und Schriften der Exilzeit gele- sen, wie sie in dem 800-Seiten-Band „An die gesittete Welt“ enthalten sind. Thomas Mann war es, der im Bezug auf die NS-Ideologie das von mir zitierte Wort „Symbol-Ragout“ ausgesprochen hat. Es war nun interessant zu lesen, wie er das Verhältnis einzelner Gedanken des 19. Jahrhunderts zu deren Ausnutzung in der NS-Ideologie bestimmt hat. Im „Faustus“ bezeichnet Thomas Mann die NS-Ideologie als den „ordinär-schwelgerischen Kult ei- nes Hintertreppenmythus, die sträfliche Verwechslung des Heruntergekommenen mit dem, was es einmal war, den schmierenhaften Missbrauch und elenden Ausverkauf des Alt- und Echten, des Treulich-Traulichen, des Ur-Deutschen, woraus Laffen und Lügner uns einen sinnberaubenden Giftfusel bereitet“. Damit ist klar, dass die NS-Ideologie im Bezug auf ihre Vorläuferschaften im 19. Jahrhundert als eine riesige Verfälschung erscheint.
11 Der häufigste Begriff, den Thomas Mann in seinen zahlreichen Exil-Beiträgen für die NS-Ideologie verwendet, ist denn auch jener der „Verhunzung“. Ich habe diesen Begriff an die fünfzig Mal ge- zählt. „Verhunzung“ bedeutet, im Gegensatz etwa zu Lukács in „Die Zerstörung der Vernunft“, dass das Spezifische der NS-Ideologie nicht von Vorläufern geschaffen wurde, sondern in der de- magogischen Art der Rezeption zu suchen sei. Mit diesem Begriff der Verhunzung erscheint die nationalsozialistische Hypothek des Denkens im 19. Jahrhundert als sehr klein, wogegen sie bei Autoren wie Lukács als so groß erscheint, dass die Bildung des 19. Jahrhunderts geradezu von dieser Hypothek aufgefressen wird. Für Thomas Manns Auffassung spricht immerhin der Grundhass der Generation nach dem Ersten Weltkrieg auf das 19. Jahrhundert und dessen Bildung. Ihr galt, so schrieb er, die gesamte Bildung des 19. Jahrhunderts als „abgeschmackter Plunder aus Großvaters Tagen, worüber lebensgerechte Jugend die Achseln zuckt“. Und so lesen wir bei Thomas Mann - von „Rosenbergs verhunzter Groschenwissenschaftlichkeit“, - von „Germanisten, Nordschwärmern und sinnig-völkischen Philologen der Urtümlichkeit, die es fertig bringen, ihren frommen Gelehrten-Traum vom Ewig-Deutschen mit der nied- rigsten Travestie und Verhunzung des Deutschtums zu verwechseln“, - von „Popular-Mystik der verhunzten Lebensphilosophie“, - von der „Verhunzung des Blutes, - vom „ganzen zeitverhunzten Wiederkehr-Schwindel“ der ewigen Geschichtsbeschwörungen, - davon, „dass der faschistische Sozialismus eine moralische Verhunzung des wirklichen“ sei; - Hitler sei „wagnerisch, auf der Stufe der Verhunzung“, heißt es, - und endlich, als letztes Zitat: „Und wirklich, unserer Zeit gelang es, so vieles zu verhunzen: Das Nationale, den Sozialismus - den Mythos, die Lebensphilosophie, das Irrationale, den Glauben, die Jugend, die Revolution und was nicht noch alles.“ Die Jugend! Es ist in der Tat von völlig unterschiedlichen Zeitbeobachtern immer wieder festgehal- ten worden, dass es die Jugend gewesen sei, die der Nationalsozialismus umgarnte und die den Na- tionalsozialismus eigentlich zur Massenbewegung gemacht hatte. Unzweifelhaft, so lesen wir, sei die Empfänglichkeit des Faschismus nicht nur bei der deutschen Jugend, sondern bei der Jugend der Welt überhaupt deutlich zu erkennen gewesen; diese Jugend liebe das allem persönlichen Lebens- ernst enthobene Aufgehen im Massenhaften um seiner selbst willen und kümmere sich um Marsch- ziele nicht viel; der Nationalsozialismus besteche die Jugend mit seiner Prahlerei, „dass er ‚Ge- schichte’ mache“. Im Eigen-Pathos wie in der Rezeption war die NS-Ideologie wesentlich Jugend-Ideologie. Als Grundgefühl der Jugend in der Weimarer Zeit wird immer wieder ein Kult des Militärischen be- schrieben. Alles marschierte. Insbesondere die Studenten waren in der Weimarer Zeit die grimmigs- te Partei des um Tod, Opfer und Krieg arrangierten militärfixierten Jugendkultes. Diese militärfi-
12 xierte Mentalität war so stark, dass ein Redner auf dem Leipziger SPD-Parteitag 1931 fassungslos konstatierte, Zitat: „Nie wieder Krieg! Das macht auf die Jugend nur einen geringen Eindruck!“ Die Jugendorganisationen der Sozialdemokratie aber auch der Katholiken, mithin der republikstüt- zenden Kräfte, kapitulierten schließlich um 1930 vor dem Kriegskult und der Kriegssehnsucht der Jugend, indem sie sich selbst militarisierten, weil ihnen anders die Mitglieder fortgelaufen wären. Es war jedoch nicht der preußische Kasernenhof, den man anhimmelte, nicht der Leutnant von Zitzewitz, sondern der Typus des heldenhaften Stoßtruppführers, den niemand besser verkörperte, als der Stoßtruppführer Ernst Jünger, der ab etwa 1928 der von der Jugend am meisten bewunderte Held gewesen ist: Ein Führer also, und man könnte sagen, ohne in eine Debatte über Jünger eintre- ten zu wollen, dass der bewunderte Stoßtruppführer des Ersten Weltkrieges im SS-Führer des Zwei- ten wiederkehrte. Ein unstillbare militärische Sehnsucht der Jugendgeneration also als Rezeptions- grundlage für die NS-Ideologie ist zu konstatieren. Diese militärische Sehnsucht wurde von ausländischen Beobachtern verblüfft festgehalten. So be- richtete 1930 ein Beobachter deutscher Jugendgruppen, und zwar Jugendgruppen ganz unterschied- licher politischer Couleur, Zitat: „Marschierende, einheitlich gekleidete Jungentrupps in geschlossenen, disziplinierten Reihen. Sie halten Gleichschritt, die Fahne an ihrer Spitze (...) Das Stehen und Marschieren in Reih und Glied ist allen Ausdruck ihres stärksten Lebensgefühls, bedeutet ein elementares Erlebnis, wirkt auf alle wie ein Rausch.“ III. Marschierende Jungentrupps, Gleichschritt, Fahne, Rausch ... Fragen wir nicht mehr nach der Ideologie des Nationalsozialismus, sondern nach seiner Herr- schaftswirklichkeit ab 1933, so können wir feststellen, dass sich eine marschierende, in Lagern be- findende durchmilitarisierte Gesellschaft herausbildete, in der das „Führerprinzip“ vorherrschen sollte. In der Hitlerjugend, in Arbeitsdienst-, Juristen- und Dozentenlagern finden wir das gleiche Bild, und in seiner Freiburger Rektoratsrede im Mai 1933 sah Martin Heidegger die kommende Façon der universitären Wissenschaft als eine Fusion von Arbeitsdienst, Wissensdienst und Wehr- dienst. Diese militarisierte Lagerstruktur der deutschen Gesellschaft ab 1933 galt positiv wie negativ; denn nicht nur die Anhängerschaft oder die positive Selektion, die das NS-Regime traf, befand sich in- nerhalb solcher Strukturen, sondern auch die negative Selektion, die in die Vielzahl der alsbald ein- gerichteten Konzentrationslager gezwungen wurde. Gegen Ende des „Dritten Reiches“ zeichnete sich mit dem „Gemeinschaftsfremdengesetz“ eine Gesellschaft ab, in der alle definierten Grade von Abweichung in Lager verbracht und eliminiert werden sollten.
13 Die militärische Gesellschaftsutopie schien verwirklicht und weitgehend akzeptiert. Dass sich diese Akzeptanz auch auf die rassische Pyramidalisierung der Gesellschaft im Nationalsozialismus bezog, wird daran deutlich, dass sich für die immer schärfer drangsalierten und ausgegrenzten Juden - sta- tistisch betrachtet - kaum eine Hand rührte. Diese Akzeptanz eines rassistisch strukturierten Gesell- schaftsentwurfes bezog sich nicht allein auf die Juden, sondern im Kriege auch auf die Millionen- zahl der „Fremd- “ und Zwangsarbeiter, die ja ebenso in der Öffentlichkeit der deutschen Gesell- schaft eingesetzt wurden wie zahlreiche Konzentrationslagerhäftlinge ab 1942 in den Städten des Reiches, wo sie, in Sträflingskleidung und nicht selten ausgemergelt, etwa in todbringenden „Bom- benräumkommandos“ tätig sein mussten. Was der Nationalsozialismus im Innern der Gesellschaft vorhatte, habe ich mit dem Hinweis auf das projektierte, aber auf Grund der Befreiung nicht mehr realisierte „Gemeinschaftsfremdenge- setz“ angedeutet. Was hatte das „Dritte Reich“ im Äußeren vor, wäre es 1945 nicht unter Anstren- gung fast der ganzen Welt vernichtet worden? Zu Hitlers Großkonzeption nach einem totalen Sieg des Nationalsozialismus gehörte nach geläufi- ger Ansicht, Frankreich auslöschen, und dem rassisch höherwertigen Germanentum „Lebensraum“ im Osten zu schaffen. Aber darauf beschränkten sich die Zukunftsvorstellungen nicht. Als weitere Aspekte der Großkonzeption zeichneten sich der Erwerb eines afrikanischen Kolonialreiches in Er- gänzung des europäischen Raumes ab und sodann der Endkampf gegen die USA. Inspiriert durch das Ereignis von Pearl Harbour am 7. Dezember 1941 wollte Hitler diesen Endkampf selbst führen, statt ihn erst für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zu planen. Was sollte aber nach einem ge- meinsamen deutsch-japanischen Sieg über die USA folgen? Nach Auffassung von Andreas Hillgru- ber die Aufteilung der Welt in vier Reiche: (1) Ein deutsch oder „germanisch“ beherrschtes Europa einschließlich der unterworfenen und versklavten Sowjetunion; (2) ein verkleinertes, geschwächtes Britisches Imperium; (3) US-Amerika, wobei unklar blieb, ob Südamerika als Teil dieser Hemisphäre gedacht war; (4) schließlich der Ferne Osten unter Führung Japans. Die vom „Dritten Reich“ angestrebte, aber auf beiden Seiten nicht konsequent durchgeführte Zu- sammenarbeit zwischen Deutschland und Japan verweist nicht allein auf Weltherrschaftspläne, über die hier nicht weiter spekuliert werden soll, sondern auch auf einen wichtigen Aspekt des Themas „Herrschaftsstruktur und Ideologie des Nationalsozialismus“, nämlich auf das Auseinanderklaffen von Herrschaft und Ideologie oder die ideologische Geschmeidigkeit der NS-Ideologie, die sich am Beispiel des Verhältnisses zwischen dem „Dritten Reich“ und Japan gut zeigen lässt. Am Anfang stand ja der ideologische Mythos von der „gelben Gefahr“, der auch auf Japan bezogen war. Hitlers Verhältnis zu den Japanern war zunächst zwiespältig. In „Mein Kampf“ sprach er den
14 Japanern den Charakter einer wirklich schöpferischen Rasse ab, machte sich über Sprache und Sit- ten lustig, billigte den Japanern aber gleichwohl den Rang von „Kulturträgern“ zu; denn sie seien, ich zitiere, „beeinflusst von der griechisch-arischen Zivilisation“ und daher „unerbittliche Gegner des Weltjudentums“. Sehr wahrscheinlich war Hitler von der japanischen Eroberung der Mandschu- rei 1931 bis 1933 besonders beeindruckt gewesen, da er hierin eine Art Präzedenzfall für die künfti- gen Annexionen Deutschlands sah. Hierdurch wurde Hitlers Einstellung zu Japan wesentlich geän- dert. Auf der anderen Seite faszinierte der nationalsozialistische Kampf gegen Bolschewismus die japanischen Militaristen, und sie führten bereits 1933 Sympathiekundgebungen für das „Dritte Reich“ durch. Die japanischen Militaristen waren durch die Rassepolitik des „Dritten Reiches“ zu- nächst irritiert, wurden aber durch Nürnberger Gesetze vom September 1935 beruhigt, da sich die Diskriminierungen offenbar allein auf die Juden bezogen. Einen ersten Höhepunkt der deutsch-japanischen Zusammenarbeit sehen wir im Jahr 1936, das als ein entscheidendes Kriegsvorbereitungsjahr der Deutschen angesehen werden kann: Beginn des Vierjahresplans zur deutschen Kriegsvorbereitung; Intervention in Spanien; „Achse Rom Berlin“; und schließlich die Vorstellung eines weltpolitischen Dreiecks Berlin – Rom – Tokio, die zum Anti- Komintern-Pakt vom Oktober 1936 führte. Nach „Pearl Harbour“ waren Deutschland und Japan of- fiziell Verbündete im Krieg gegen die USA. Wir sehen, wenn wir auf die Ideologie-Seite des Nationalsozialismus zurückschwenken, die Auf- weichung rassistischer Positionen im Blick auf Japan, um gemeinsam mit ihnen Weltherrschafts- pläne zu verwirklichen. Anstalten zu einer deutsch-japanischen Annäherung hatte es bereits 1933 gegeben, und zwar aufgrund der revisionistischen Außenpolitik und der Affinitäten zwischen dem Nationalsozialismus und dem autoritären Militärregime in Tokio. Nach Auffassung von Charles Bloch erblickte Hitler in den Japanern gleichsam „Arier ehrenhalber“. Mit Ausnahme des Vernichtungs-Antisemitismus hat es in der nationalsozialistischen Gesellschaft während des 1943 ausgerufenen „Totalen Krieges“ weitere ideologische Aufweichungen gegeben, die als „Modernisierungen“ aufgefasst werden können, wenn wir „Modernisierung“ nicht im nor- mativen Sinne gebrauchen. Lassen Sie mich, um das zu belegen, auf eines meiner Spezialgebiete zu sprechen kommen, die moderne Wissenschaftsgeschichte, insbesondere die Physik. Zu Beginn des „Dritten Reiches“ sehen wir starke Anstrengungen, um gegen den sogenannten „jüdischen Relati- vismus“ eines Einstein eine „Arische Physik“ durchzusetzen, deren Exponenten die durchaus ange- sehenen Physiker Lennardt und Starck gewesen sind. Unter den Notwendigkeiten des vom NS- Regime gewollten und angestrebten Krieges aber hatten derartige Tendenzen keine Chance mehr und überwinterten in Bastionen wie dem „Ahnerbe“ der SS. Nicht mehr die Rune war Kennzeichen des Nationalsozialismus im „Totalen Krieg“, sondern moderne „Big Science“ mit in die Nach- kriegszeit vorausweisenden Großforschungstendenzen und der Ausgabe von mehrstelligen Millio-
15 nen-Beträgen auch für einstmals als „jüdisch“ denunzierte Forschungen der Physik. Der Entfesselte Krieg ging hier - immer mit der Ausnahme des Genozids an den Juden - mit partieller Abkehr von ideologischen Standards der Jahre bis 1939/40 einher. Hier ist eine unfreiwillige oder clandestine Modernisierung zu konstatieren, wobei darunter, noch- mals sei es betont, keine normative, sondern eine effektsteigernd-dynamisierende Modernisierung zu verstehen ist. Diese Modernisierung sowie die Improvisationskompetenzen, die der „Totale Krieg“ der deutschen Gesellschaft abforderte, ermöglichten sozusagen auch den Nachkriegskonzern ‚Deutscher Wiederaufbau’. Darin ist eine Pointe der kritischen Betrachtung der westdeutschen Nachkriegszeit ab 1945 zu sehen, und ich kann mir vorstellen, dass sich diese Pointe auch bei der Betrachtung der japanischen Nachkriegszeit einstellt. IV. Ich hatte meinen Vortrag mit einigen Überlegungen darüber begonnen, dass die NS-Vergangenheit und die Stellung zu ihr zur Identität der bis 1989 zweigeteilten deutschen Nachkriegsgesellschaft gehörte. Wir müssen hierbei zwischen innerwissenschaftlichen Aufarbeitungen und solchen unter- scheiden, die sich - aus der Wissenschaft oder aus der Politik heraus - in der Öffentlichkeit ab- spielten. Carl Dietrich Erdmann schrieb 1955, wir wüssten heute noch nicht, ob Hitler ein Machiavelli oder ein Robespierre gewesen sei. Darüber könnte noch heute gestritten werden, wenn Sie an die intenti- onalistische oder die Struktur-Interpretation des Nationalsozialismus denken. Was Öffentlichkeit und öffentliche Diskussion des Phänomens Nationalsozialismus in den deut- schen Teilstaaten betrifft, so können wir beobachten, dass sich die beiden deutschen Teilstaaten in ihren Gründungsmythen zunehmend auf den Nationalsozialismus bezogen, und zwar beide Male auf den Widerstand, über den zu sprechen heute nicht meine Aufgabe gewesen ist. Mitte der 1950er Jahre wurde in einer bis heute nicht exakt aufgearbeiteten Kontroverse in der Bundesrepublik darüber gestritten, ob der Nationalsozialismus überhaupt Thema im Schulunterricht sein, ja, ob überhaupt Zeitgeschichte unterrichtet werden sollte. Aber die Linke in der Bundesrepublik und die Systemkonkurrenz zur DDR zog die Bundesrepublik in die NS-Debatte hinein. Diese Konkurrenz zeigte sich zunächst am Auf und Ab der jeweiligen Widerstands- und Verfolgtenhierarchien. Etwa wurden im Zuge des Kalten Krieges die Kommunis- ten in der westdeutschen Widerstandshierarchie hinabgestuft und der „20. Juli“ im Kontext der Bundeswehrgründung gleichsam nobilitiert. Im Bereich des für die Pädagogik so entscheidenden Jugendwiderstands kam es zwischen Ost- und Westdeutschland zu einer Mythenkonkurrenz, bei der in der Bundesrepublik die Studenten der „Weißen Rose“ an die Spitze traten, nicht zuletzt als Blut- zeugen der europäischen Einigung, und in der DDR die kommunistischen Jungarbeiter der „Baum-
16 Gruppe“, und zwar als Blutzeugen der deutsch-sowjetischen Freundschaft, wobei in der DDR aus nationalpädagogischen Gründen lange Zeit unter den Tisch gekehrt wurde, dass es sich bei der Baum-Gruppe um junge Juden gehandelt hatte. (Es besteht vielleicht im Rahmen unserer Tagungs- exkursionen die Gelegenheit, den revidierten Gedenkstein der Baum-Gruppe gegenüber dem ehe- maligen „Palast der Republik“ anzuschauen.) Eine historische Betrachtung der Wahrnehmung des Nationalsozialismus nach 1945 ist ohne die Konkurrenz zwischen der Bundesrepublik und der DDR nicht möglich. Zusätzlich muss in der Bun- desrepublik die Aufladung des Themas durch den Generationenkonflikt einbezogen werden. Ich denke, dass ich mit dieser für unsere Tagung nicht unwichtigen Feststellung enden kann.
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