Das Selbstbestimmungsrecht geistig behinderter Volljähriger mit besonderem Augenmerk auf die Eltern-Kind-Beziehung
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Das Selbstbestimmungsrecht geistig behinderter Volljähriger mit besonderem Augenmerk auf die Eltern-Kind- Beziehung Diplomarbeit eingereicht bei Univ. Prof. Dr. Michael Ganner von Andrea Helene Weiler zur Erlangung eines Mag. iur. an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Leopold – Franzens – Universität Innsbruck Kirchberg in Tirol, im Februar 2021
Eidesstattliche Erklärung Ich erkläre hiermit an Eides statt durch meine eigenhändige Unterschrift, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel verwendet habe. Alle Stellen, die wörtlich oder inhaltlich den angegebenen Quellen entnommen wurden, sind als solche kenntlich gemacht. Die vorliegende Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form noch nicht als Magister-/Master-/Diplomarbeit/Dissertation eingereicht.1 Datum Unterschrift 1 als Pflichtbestandteil einer Diplomarbeit heruntergeladen von der Website der Leopold-Franzens- Universität Innsbruck, Eidesstattliche Erklaerung wissenschaftliche Arbeiten, https://www.uibk.ac.at/studium/angebot/d-rechtswissenschaften/ (aufgerufen am 03.10.2020). 1
Inhaltsverzeichnis ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ............................................................................................................................ 4 I. VORWORT ............................................................................................................................................. 5 II. EINFÜHRUNG ........................................................................................................................................ 7 MENSCHEN MIT BEHINDERUNG ................................................................................................................................. 7 III. UN-BEHINDERTENRECHTSKONVENTION .............................................................................................. 10 1. STAATENBERICHTSVERFAHREN UND MONITORING DER UN-BRK ..................................................................... 15 2. STAATENPRÜFUNG ÖSTERREICHS ............................................................................................................... 16 IV. RECHTSLAGE IN ÖSTERREICH ............................................................................................................... 17 1. ABGRENZUNG SOZIALE FÜRSORGE UND UNTERHALT ...................................................................................... 17 2. VERSORGUNGSLEISTUNGEN ...................................................................................................................... 18 a. Pflegevorsorge ................................................................................................................................... 18 b. Sozialhilfe/Bedarfsorientierte Mindestsicherung............................................................................... 19 3. UNTERHALT ........................................................................................................................................... 22 a. Gesetzlicher Unterhaltsanspruch ....................................................................................................... 22 b. Begriff ................................................................................................................................................ 22 c. Unterhaltsleistung ............................................................................................................................. 23 4. ZWISCHENFAZIT ...................................................................................................................................... 24 5. 2. ERWACHSENENSCHUTZGESETZ DES ABGB ............................................................................................... 24 V. GRUNDSÄTZE DES ERWACHSENENSCHUTZSCHUTZGESETZES ............................................................... 26 1. FAMILIENAUTONOMIE ............................................................................................................................. 26 2. SELBSTBESTIMMUNG ............................................................................................................................... 28 3. FÜRSORGE............................................................................................................................................. 29 4. ENTSCHEIDUNGS- UND HANDLUNGSFÄHIGKEIT ............................................................................................. 29 a. Entscheidungsfähigkeit ...................................................................................................................... 29 b. Handlungsfähigkeit ............................................................................................................................ 31 5. GENEHMIGUNGSVORBEHALT ..................................................................................................................... 32 6. NACHRANG DER STELLVERTRETUNG............................................................................................................ 34 7. ERWACHSENENVERTRETER-VERFÜGUNG ..................................................................................................... 35 8. „CLEARING-VERFAHREN“ ......................................................................................................................... 35 9. VERTRETUNGSARTEN ............................................................................................................................... 36 a. Vorsorgevollmacht ............................................................................................................................. 37 b. Gewählte Erwachsenenvertretung .................................................................................................... 37 c. Gesetzliche Erwachsenenvertretung .................................................................................................. 39 d. Gerichtliche Erwachsenenvertretung ................................................................................................. 40 10. RECHTSSTELLUNG VON ANGEHÖRIGEN IM GERICHTLICHEN BESTELLUNGSVERFAHREN ........................................... 41 VI. RECHTE UND PFLICHTEN IM ZUSAMMENHANG MIT PERSONEN- UND FAMILIENRECHTLICHEN ANGELEGENHEITEN ...................................................................................................................................... 42 1. WUNSCHERMITTLUNGSPFLICHT ................................................................................................................. 43 2. BETREUUNG UND KONTAKT ZUM ERWACHSENENVERTRETER ........................................................................... 43 3. VERSCHWIEGENHEITSPFLICHT .................................................................................................................... 44 4. LEBENSSITUATIONSBERICHT UND RECHNUNGSLEGUNGSPFLICHT ....................................................................... 45 5. KONTAKTRECHT UND SCHRIFTVERKEHR MIT DRITTEN ..................................................................................... 46 6. EHE UND PARTNERSCHAFT ........................................................................................................................ 46 7. OBSORGEANGELEGENHEITEN .................................................................................................................... 47 8. ABSTAMMUNGSANGELEGENHEITEN ............................................................................................................ 47 9. ADOPTIONSANGELEGENHEITEN .................................................................................................................. 48 10. NAMENSÄNDERUNG ................................................................................................................................ 48 11. ERBRECHTLICHE ANGELEGENHEITEN ........................................................................................................... 49 12. WOHNORTÄNDERUNG ............................................................................................................................. 50 2
13. MEDIZINISCHE BEHANDLUNG .................................................................................................................... 50 14. HAFTUNG UND ENTSCHÄDIGUNG BZW AUFWANDERSATZ ............................................................................... 51 15. AUSKUNFTSPFLICHT................................................................................................................................. 52 VII. EINKOMMENS- UND VERMÖGENSVERWALTUNG ............................................................................ 53 1. RECHTSGESCHÄFTLICHE HANDLUNGEN ........................................................................................................ 56 2. RECHTSGESCHÄFTLICHES HANDELN VON BESCHRÄNKT BZW NICHT GESCHÄFTSFÄHIGEN VOLLJÄHRIGEN .................... 56 a. Fall 1: volle Geschäftsfähigkeit .......................................................................................................... 57 b. Fall 2: partielle Geschäftsfähigkeit, ausreichende Entscheidungs-fähigkeit ...................................... 57 c. Fall 3: partielle Geschäftsfähigkeit, unzureichende Entscheidungs-fähigkeit, kein gesetzlicher Vertreter ............................................................................................................................................ 57 d. Fall 4: partielle Geschäftsfähigkeit, ausreichende Entscheidungs-fähigkeit, bestellter gesetzlicher Vertreter ............................................................................................................................................ 58 e. Fall 5: partielle Geschäftsfähigkeit, unzureichende Entscheidungs-fähigkeit, bestellter gesetzlicher Vertreter ............................................................................................................................................ 58 f. Bloß zum Vorteil gemachte Versprechen ........................................................................................... 58 g. Geschäfte des täglichen Lebens ......................................................................................................... 59 3. RECHTSGESCHÄFTLICHES HANDELN VON MINDERJÄHRIGEN ............................................................................. 59 VIII. KONFLIKT(BE)REICHE ELTERN-KIND-BEZIEHUNG .............................................................................. 60 1. EMOTIONALE/SOZIALE ABHÄNGIGKEIT ........................................................................................................ 61 a. Persönliche Verbundenheit ................................................................................................................ 61 b. Teilhabe am gesellschaftlichen Leben................................................................................................ 62 2. FINANZIELLE ABHÄNGIGKEIT ..................................................................................................................... 64 a. „Ohne Arbeit kein Geld“..................................................................................................................... 64 b. Fehlende Sozialversicherung .............................................................................................................. 65 c. Kürzung des Pflegegelds .................................................................................................................... 66 d. Unterhaltseinforderung ..................................................................................................................... 66 IX. RESÜMEE............................................................................................................................................. 68 LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................................................................... 72 3
Abkürzungsverzeichnis ABGB Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch Abs Absatz aF alte Fassung Art Artikel AußStrG Außerstreitgesetz BMSGPK Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz BPGG Bundespflegegeldgesetz bspw beispielsweise BVG Bundesverfassungsgesetz B-VG Bundes-Verfassungsgesetz bzw beziehungsweise EheG Ehegesetz EinstVO Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz EMRK Europäische Menschenrechtskonvention EPG Eingetragene Partnerschaft-Gesetz ErbRÄG 2015 Erbrechts-Änderungsgesetz 2015 ErwSchG Erwachsenenschutzgesetz ErwSchVG Erwachsenenschutzvereinsgesetz EWR Europäischer Wirtschaftsraum gem gemäß HeimAufG Heimaufenthaltsgesetz iSd im Sinne des iVm in Verbindung mit KindRÄG 2001 Kindschaftsrechts-Änderungsgesetz 2001 KJHT Kinder- und Jugendhilfeträger Kfz Kraftfahrzeug NÄG Namensänderungsgesetz NÖ Niederösterreich nF neue Fassung ÖZVV Österreichisches Zentrales Vertretungsverzeichnis PersFrG Bundesverfassungsgesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit Rsp Rechtsprechung SH-GG Sozialhilfegrundsatzgesetz StGB Strafgesetzbuch UN-BRK UN-Behindertenrechtskonvention vgl vergleiche WHO World Health Organization zB zum Beispiel Z Ziffer ZPO Zivilprozessordnung 4
I. Vorwort Jedes Jahr am 3. Dezember findet der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung statt. Jetzt stellt sich einem die Frage, warum bedarf es einen eigenen internationalen Gedenk- und Aktionstag für Menschen mit Behinderung und warum gibt es keinen expliziten Internationalen Tag für Menschen ohne Behinderung? Die Vereinten Nationen haben diesen speziellen auserkoren um auf das Schwierigkeiten und Problemen, welchen sich Menschen mit besonderen Bedürfnissen immer wieder zu stellen haben, aufmerksam zu machen.2 Hierzu gehören im Besonderen rechtliche Eingriffe, wie zB Freiheitsbeschränkungen, aber auch gesellschaftsbezogene Einschränkungen, wie zB dem Ausschluss aus der allgemeinen Schulbildung. Insbesondere geistig behinderte Volljährige werden immer wieder mit Eingriffen in ihr Selbstbestimmungsrecht konfrontiert. Selbstbestimmung ist sowohl personenzentriert als auch personenbegleitend und umfasst die Prinzipien der Freiheit, Autorität, Autonomie und Eigenverantwortung.3 Der Wunsch eines Menschen mit geistiger Behinderung auf ein selbstbestimmtes Leben bedeutet aber oftmals ein besonderes Spannungsfeld in der Eltern-Kind-Beziehung. Der erste Teil dieser Diplomarbeit soll einen kurzen Überblick über die internationalen und nationalen Rechtsquellen, welche für Menschen mit Behinderung besonders relevant sind, geben. Im Besonderen soll der Wandel von der Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung dargestellt werden. Diese Neuerung ist so besonders, da in Österreich bislang die Familienautonomie als einer der wichtigsten Grundsätze des ABGB galt und auch andere Rechtsmaterien, wie zB das Unterhaltsrecht, darauf aufbauen. Es stellt sich somit die Frage, ob das erst vor ein paar Jahren beschlossene Erwachsenen- schutzrecht mit den bisher anzuwendenden Rechtsquellen, wie dem Unterhaltsrecht harmoniert oder ob hierzu noch Handlungsbedarf besteht. Auch stellt sich die Frage, ob das von der UN-BRK vorgesehene Recht auf Selbstbestimmung mit dem Unterhaltsrecht kompatibel ist oder ob dies durch die finanzielle Abhängigkeit der behinderten Person von den unterhaltspflichtigen Eltern verhindert wird. Besonders konfliktreich sind natürlich auch Entscheidungseingriffe bzw Mitbestimmungsrechte von Eltern als Vertreter ihrer volljährigen Kinder mit geistiger Behinderung hinsichtlich deren Lebensführung. Problematisiert werden somit auch die Beeinträchtigung der Eltern-Kind-Beziehung und das mögliche Konfliktpotential der bestehenden Rechtslage. Dies kann jedoch nur ansatzweise erörtert werden, da es vor allem von den unterschiedlichen Beteiligten und deren individuellen Wünschen stark abhängt. Eine für alle passende Lösung kann wahrscheinlich aufgrund der Vielfältigkeit der betroffenen Menschen nie gefunden werden, jedoch können sicherlich gewisse gesetzliche Standards insoweit angepasst werden, als dass für alle beteiligten Personen ein lebenswertes Dasein ermöglicht wird. 2 Kleiner Kalender, Internationaler Tag der Menschen mit Behinderung 2021, http://www.kleiner- kalender.de/event/tag-der-menschen-mit-behinderung/0130c.html (aufgerufen am 17.02.2021). 3 Kennedy/Lewin, Was ist Selbstbestimmung und was nicht, http://bidok.uibk.ac.at/library/kennedy- selbstbestimmung.html (aufgerufen am 16.02.2021). 5
Beginnen darf ich den vorliegenden Rechtsaufsatz somit mit einer kurzen Einführung in das Behindertenrecht und der verwendeten Begriffe. Anschließend werden die wichtigsten internationalen und nationalen Rechtsquellen benannt und beschrieben. Da das Erwachsenenschutzgesetz eine der wichtigsten nationalen Rechtsquellen für Menschen mit geistiger Behinderung darstellt, erscheint es essenziell, die diesem Gesetz immanenten Grundsätze vorzustellen. Hierbei wird die Begrifflichkeit der Selbstbestimmung definiert, sowie thematisiert, ab wann ein Mensch mit Behinderung seine Entscheidungsfähigkeit verliert und welche Formen der Vertretung in diesem Fall in Frage kommen. In weiterer Folge werden dann noch die beiden großen Themenblöcke in Bezug auf die Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit personen- und familienrechtlichen Angelegenheiten und der Einkommens- und Vermögensverwaltung erörtert, da in diesen Bereichen bei Unstimmigkeiten zwischen den Eltern und ihrem behinderten Kind die meisten Probleme zu finden sind. Im Vorlauf zum Resümee wird abschließend nochmals konkret auf die emotionale, soziale und finanzielle Abhängigkeit zwischen Eltern und ihren volljährigen Kindern mit einer Behinderung eingegangen. An dieser Stelle ist noch hinzuweisen, dass Teile meiner unveröffentlichten Seminararbeit mit dem Titel „Mitspracherechte der Eltern von geistig behinderten Erwachsenen aufgrund ihrer Unterhaltsleistungen“ eingereicht im Wintersemester 2019/2020 bei Herrn Univ. Prof. Dr. Michael Ganner übernommen wurden und entsprechend überarbeitet bzw ausgebaut in diese Diplomarbeit eingeflossen sind. In der vorliegenden schriftlichen Arbeit werden auch „veraltete“ Begriffe, welche im Zusammenhang mit Menschen mit einer Behinderung vor allem noch in diversen Rechtsquellen gebräuchlich sind, verwendet. Dies soll jedoch keinesfalls als Ausdruck von Diskriminierung oder Verachtung der betroffenen Personen gewertete werden. Insofern geschlechtsspezifische Ausdrücke verwendet werden, beziehen sich diese auf alle anerkannten Geschlechter und sollen zu einer leichteren Lesbarkeit der Arbeit und einem besseren Textverständnis beitragen. An dieser Stelle darf ich mich auch noch kurz bei allen, die mich bei der Ausarbeitung dieser Diplomarbeit unterstützt haben, bedanken. Vielen Dank für eure Geduld, Zeit und vielen Anmerkungen! 6
II. Einführung Voraussichtlich in diesem Jahr4 wird der Bundesstaat Österreich abermals bezüglich seiner Verpflichtung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und den dazu im Inland getroffenen Maßnahmen vom zuständigen UN-Ausschuss überprüft. Dieser völkerrechtlich bindende Vertrag wurde von Österreich bereits im Jahr 2007 unterschrieben. Entgegen der ursprünglichen Annahme des österreichischen Gesetzgebers wurde bei der letzten Prüfung durch den UN-Ausschuss im Jahr 2013 gesetzlicher Verbesserungsbedarf der inländischen Rechtslage für Menschen mit Behinderung verortet. Daraufhin wurden einige Neuerungen, mit dem Ziel die Autonomie und Inklusion von körperlich, geistig und psychisch beeinträchtigten Menschen zu fördern und den Bestimmungen der UN-BRK anzupassen, normiert.5 So kam es zu einer grundlegenden Änderung des Sachwalterrechtes, welches zwar in seinen Grundzügen übernommen, begrifflich jedoch neu gefasst wurde und die neue Bezeichnung „Erwachsenenschutzrecht“ bekam. Die heute geltende Fassung des 2. Erwachsenenschutzgesetzes ist schließlich am 1.7.2018 in Kraft getreten.6 Da sich so tiefgreifende Gesetzesänderungen meist auf die bestehende Rechtsprechung und Rechtsanwendung auswirken, müssen alle Betroffenen auf die neuen Gegebenheiten reagieren. In diesem Fall betrifft dies insbesondere die Menschen mit Behinderung, deren Angehörige, die bisher bestellten Vertreter und die Erwachsenenschutzvereine. So kann es nicht nur zu formellen und materiellen Anpassungen kommen, wie zB die Änderung von Begriffen oder Rechtsfolgen, sondern besteht auch die Möglichkeit, dass bestehendes Gesetzesrecht mit der neu gefassten Rechtsmaterie kollidieren. Menschen mit Behinderung Primär richtet sich das neue Erwachsenenschutzgesetz und die UN-BRK an Menschen mit Behinderung, da der Großteil der Regelungen direkten oder indirekten Einfluss auf deren Leben hat. Konflikte von behinderten Personen und deren Vertreter bzw unterhaltspflichtigen Eltern sollen durch Erlassung konkreter Normen vermieden werden. Menschen mit einer rein körperlichen Beeinträchtigung benötigen im Normalfall keinen gesetzlichen Vertreter, da sie voll entscheidungsfähig sind. Aus diesem Grund richtet sich das 2. ErwSchG vor allem an geistig oder psychisch beeinträchtigte Menschen, die das 18. Lebensjahr bereits vollendet haben. 4 Im Jahr 2021; laut derzeitigen Informationen auf der Website des Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, https://www.sozialministerium.at/Themen/Soziales/Menschen-mit-Behinderungen/UN- Behindertenrechtskonvention.html (aufgerufen am 12.11.2020). 5 Siehe Scharl, https://www.bizeps.or.at/10-jahre-die-un-konvention-ueber-die-rechte-von- menschen-mit-behinderungen-in-oesterreich/ (aufgerufen am 30.10.2019). 6 Vgl Barth/Ganner, Handbuch des Erwachsenenschutzrechts3 (2019), 11. 7
Bei einer geistigen oder psychischen Beeinträchtigung ist die Entscheidungsfähigkeit des Volljährigen entweder nur vermindert oder gar nicht gegeben. Unter dem Begriff der Entscheidungsfähigkeit versteht man, dass die betreffende Person die Bedeutung und Folgen ihres Handelns versteht und ihren Willen und ihr Verhalten danach richtet.7 Zuallererst ist somit eine Abgrenzung von psychisch kranken oder vergleichbar beeinträchtigten, sowie körperlich beeinträchtigten Menschen vorzunehmen. Im Normalfall können Menschen mit Behinderung nicht nur einer Behinderungsart zugeordnet werden, sondern spielen meistens viele verschiedene Aspekte und Beeinträchtigungen eine Rolle. Deshalb ist es auch sehr schwierig eine allgemein gültige Definition der verschiedenen Behinderungstypen zu finden. Typischerweise würde man die Gehörlosigkeit eines Menschen als körperliche Behinderung aufgrund eines körperlichen Gebrechens oder einer Erkrankung8 einstufen. Wenn dieser gehörlose Mensch nun aber auch noch Legasthenie9 hat, muss die Zuordnung bereits wieder überdacht werden. Sich diesem Problem bewusst, hat die WHO versucht der Medizin eine Begriffserklärung für die „geistige Behinderung“ zur Verfügung zu stellen, welche wie folgt lautet: „Geistige Behinderung bedeutet eine signifikant verringerte Fähigkeit, neue oder komplexe Informationen zu verstehen und neue Fähigkeiten zu erlernen und anzuwenden (beeinträchtigte Intelligenz). Dadurch verringert sich die Fähigkeit, ein unabhängiges Leben zu führen (beeinträchtigte soziale Kompetenz). Dieser Prozess beginnt vor dem Erwachsenenalter und hat dauerhafte Auswirkungen auf die Entwicklung. Behinderung ist nicht nur von der individuellen Gesundheit oder den Beeinträchtigungen eines Kindes abhängig, sondern hängt auch entscheidend davon ab, in welchem Maße die vorhandenen Rahmenbedingungen seine vollständige Beteiligung am gesellschaftlichen Leben begünstigen. 7 Vgl Kathrein, Das neue Erwachsenenschutzrecht - eine Einführung, in Deixler-Hübner/Schauer (Hrsg), Erwachsenenschutzrecht (2018), 8. 8 Beispiele des Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, Hörbehinderung:Gehörlosigkeit | Gesundheitsportal https://www.gesundheit.gv.at/krankheiten/behinderung/taubheit (aufgerufen am 07.02.2021); Lärmschwerhörigkeit, Altersschwerhörigkeit, angeborene Hörschädigung, Sauerstoffmangel um den Zeitpunkt der Geburt, Meningitis, Hörsturz, Otosklerose oder eine Verletzung. 9 Definition des IFLW – Institut für integrative Lerntherapie und Weiterbildung, Falk-Frühbrodt, Was ist Legasthenie?, https://www.iflw.de/blog/lrs-legasthenie-leserechtschreibschwaeche/was-ist- legasthenie/ (aufgerufen am 07.02.2021). „Legasthenie bzw. Lese- und Rechtschreibstörung bezeichnet eine umschriebene Störung im Erlernen der Schriftsprache, die nicht durch eine allgemeine Beeinträchtigung der geistigen Entwicklungs-, Milieu- oder Unterrichtsbedingungen erklärt werden kann. Vielmehr ist die Legasthenie das Ergebnis von Teilleistungsschwächen der Wahrnehmung, Motorik und/oder der sensorischen Integration, bei denen es sich um anlagebedingte und/oder durch äußere schädigende Einwirkungen entstandene Entwicklungsstörungen von Teilfunktionen des zentralen Nervensystems handelt.“ 8
Im Kontext der WHO-Initiative „Bessere Gesundheit, besseres Leben“ schließt der Begriff „geistige Behinderung“ auch Kinder mit autistischen Störungen ein, die geistige Beeinträchtigungen aufweisen. Er schließt aber auch Kinder ein, die aufgrund vermeintlicher Behinderungen oder einer Ablehnung durch ihre Familie in Institutionen eingewiesen wurden und deshalb Entwicklungsstörungen und psychologische Probleme 10 aufweisen.“ Auch die psychische Krankheit ist ein Rechtsbegriff, der aus der Medizin kommt. Dieser sollte aber, wie der Begriff der geistigen Behinderung nicht unreflektiert übernommen werden. Unter psychischer Krankheit versteht man, die Beeinträchtigung der Fähigkeit zu autonomer Willensbildung. Bespiele hierfür sind die verschiedenen Erscheinungsformen der Demenz, Schizophrenie und körperlich begründete Psychosen. In neueren Gesetzestexten und der Literatur wird nun vermehrt von Menschen mit psychischen Krankheiten und vergleichbaren Beeinträchtigungen anstelle von Behinderten gesprochen. Unter der vergleichbaren Beeinträchtigung versteht man alle Formen der geistigen Behinderungen, also im medizinischen Sinne typischerweise unterdurchschnittliche Intelligenz und Leistungsfähigkeit des Gehirns bei gleichzeitig gestörter oder eingeschränkter Anpassungsfähigkeit im sozialen Umgang. Auch Koma und Bewusstlosigkeit zählen zu den vergleichbaren Beeinträchtigungen.11 Unter das Tatbestandsmerkmal vergleichbare Beeinträchtigung nicht subsumierbar, sind jedenfalls körperlich beeinträchtigte Menschen. Auch Personen, welche nur aufgrund eines Ausnahmezustandes kurzfristig geistig beeinträchtigt sind, wie zB Alkoholisierte, zählen nicht dazu. Konkret bedeutet dies, dass nur langfristige und geistige Behinderungen zu den vergleichbaren Beeinträchtigungen zählen. Eine medizinische Diagnose unter welche Art von Behinderung der einzelne Mensch mit besonderen Bedürfnissen zu subsumieren ist, ist besonders relevant für unser Sozialsystem, denn nur wenn festgestellt wird, dass die betroffene Person mit gewissen Einschränkungen zu leben hat und Unterstützung benötigt, werden ihr hierfür finanzielle Zuschüsse bereitgestellt. Eine medizinische Diagnose hat jedoch nicht nur finanzielle Auswirkungen, sondern beeinflusst immer auch den gesamten Lebenslauf des beeinträchtigten Menschen. Ursache für dieses Sozialsystem und die entsprechenden gesetzlichen Regelungen ist der Leistungsdruck unseres Gesellschaftssystems, weshalb leistungsfähige Personen keine zusätzlichen finanzielle Mittel durch den Staat erhalten sollen.12 10 WHO-Regionalbüro für Europa, http://www.euro.who.int/de/health-topics/noncommunicable- diseases/mental-health/news/news/2010/15/childrens-right-to-family-life/definition-intellectual- disability (aufgerufen am: 22.12.2019). 11 Schauer, Erwachsenenvertreter, in Deixler-Hübner/Schauer (Hrsg), HB Erwachsenenschutzrecht (2018), 82f; Barth/Ganner, Handbuch des Erwachsenenschutzrechts, 32ff. 12 Powell/Pfahl, Disability and Inequality in Educational Opportunities in Life Course Perspective, in Becker (Hrsg), Research Handbook on Sociology of Education (2019). 9
Das neue Erwachsenenschutzrecht kennt den Begriff der geistigen Behinderung, welcher schwer fassbar und negativ belastet ist, nicht mehr. Die betroffenen Personen werden nunmehr als „volljährige Personen, die aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung in ihrer Entscheidungsfähigkeit eingeschränkt sind“ definiert.13 Auch im ABGB werden Menschen anstatt „Pflegebefohlene“ nun „schutzberechtigte Personen“ genannt. Aufgrund der vielen anzuwendenden Gesetzestexte konnten diese als negativ empfundenen Wörter jedoch nicht zur Gänze eliminiert werden, weshalb sie auch jetzt noch je nach Sachgebiet und Fragestellung zur Anwendung kommen. Auch hilft die Verwendung der „alten“ Begriffe in der Schrift teilweise, um Wortwiederholungen zu vermeiden. All diese bereits zuvor beschriebenen Anpassungen und Änderungen der österreichischen Rechtslage, wären vermutlich jedoch nicht bereits zu diesem Zeitpunkt erfolgt, gäbe es nicht die UN-Behindertenrechtskonvention. III. UN-Behindertenrechtskonvention Obwohl es Behinderung und behinderte Menschen bereits seit Menschengedenken gibt, proklamierten die Vereinten Nationen 1981 erstmals das Jahr der Behinderten. Behinderung wurde bis zu diesem Zeitpunkt lediglich als medizinisches oder sozialpolitisches Thema verstanden. Dieses Umdenken führte auch dazu das ab dem Ende der 1980er-Jahre internationale Behindertenorganisationen begannen sich als Menschenrechtsorganisationen zu bezeichnen. Ausschlaggebend waren diese Entwicklungen besonders für den deutschen Sprachraum, da dies zur Bildung von nationalen Behindertenbewegungen führte. Einen wesentlichen Beitrag hierzu leistete auch die emanzipatorische Behindertenbewegung der 1960er-Jahre, welche sich in vielen Ländern gegen die Bevormundung und Benachteiligung von Menschen mit Behinderung einsetzten. Durch diese Bewegungen war auch ein Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik – weg von der Fürsorge, hin zur Teilhabe – möglich.14 Ab diesem Zeitpunkt wurde auch besonderes Augenmerk auf die Unterbringung behinderter Menschen und damit einhergehender Menschenrechtsverletzungen gelegt wurde. Die UN-Behindertenkonvention entstand im Jahre 2006 und geht auf die Initiative von vielen Behinderten- und Nichtregierungsorganisationen zurück. Sie gilt als Meilenstein im Hinblick auf die Manifestierung und Durchsetzbarkeit der Menschenrechte für (geschätzt) 650 Millionen behinderte Menschen weltweit. Als erster Völkerrechts- vertrag, der eine verbindliche Menschenrechtsquelle für behinderte Menschen geschafften hat, ist dessen Hauptzweck vor allem die Rechte und Rechtsstellung von Menschen mit Behinderung zu stärken.15 Menschenrechte gelten als angeborene Rechte und stehen somit jedem Menschen vom Zeitpunkt seiner Geburt zu. Abgeschlossen werden sie zur Beseitigung von 13 So auch Barth/Ganner, Handbuch des Erwachsenenschutzrechts, 21. 14 Köbsell/Pfahl, Was sind eigentlich Disability Studies, Forschung und Lehre, 554. 15 Cattacin/Domenig/Schäfer, Selbstbestimmt mitgestalten! Behinderung im Fokus individueller und gesellschaftlicher Emanzipation (2019), 59; iVm Degener, Menschenrechte und Behinderung, in Dederich/Jantzen (Hrsg), Behinderung und Anerkennung. (2009), 162. 10
strukturellem oder systematischem Unrecht. In der UN-Behindertenkonvention wird somit folgerichtig kein neues Sonderrecht für Menschen mit Behinderung geschaffen, sondern die allgemeinen bestehenden Menschenrechte bekräftigt und für diese Personengruppe konkretisiert. Menschenrechte werden weltweit jedoch leider trotz allem weiterhin verletzt und nicht umgesetzt, weshalb in der Realität eine breite Kluft zwischen Anspruch und Durchsetzbarkeit besteht. Es stellt sich nun die Frage, warum überhaupt für Menschen mit Behinderung eine eigene Konvention verfasst wurde, wenn für diese sowieso die bereits bestehenden Menschenrechtkonventionen gelten. Als entscheidend wurde erachtet, dass ein sehr hoher Anteil der Behinderten in Institutionen untergebracht ist und somit deren Leben oft stark fremdbestimmt wird. Bereits in den 1970er-Jahren wurde dies von der Independent-Living-Bewegung untersucht und anschließend kritisiert, dass Sondereinrichtungen für Menschen mit Behinderung sehr oft in deren Selbstbestimmungsrecht eingreifen und deren Menschenrechte verletzen.16 Die UN-BRK selbst beschreibt ihren Zweck in Art 1 Abs 1 UN-BRK, wie folgt: Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern.17 Der dem österreichischen Recht unbekannte Begriff der Menschenwürde hat dabei eine sehr zentrale Rolle inne, unter welchen sich auch die Aspekte Selbstbestimmung und Autonomie als Teil davon einordnen lassen. Auch eine Definition des Personenkreises, für welchen diese Konvention gelten soll, bleibt der Vertragstext nicht schuldig, wobei sich jedoch die besondere Schwierigkeit der Begriffsbestimmung von Behinderung für die Vertragsersteller dartat. So ist die folgende Definition des Art 1 Abs 2 UN-BRK nicht vollständig, sondern stellt lediglich eine demonstrative Aufzählung des möglichen Personenkreises dar18: Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, psychische, intellektuelle oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe, gleichberechtigt mit anderen, an der Gesellschaft hindern können.19 16 Cattacin/Domenig/Schäfer, Selbstbestimmt mitgestalten! Behinderung im Fokus individueller und gesellschaftlicher Emanzipation, 61-62; iVm Christian/Udo, Der lange Weg zur Selbstbestimmung. Ein historischer Abriss., in Degener/Diehl (Hrsg), Handbuch der Behindertenrechtskonvention. Teilhabe als Menschenrecht – Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe. (2015), 32f. 17 BMSGPK, UN-Behindertenrechtskonvention Deutsche Übersetzung der Konvention und des Fakultativprotokolls (2016), 6. 18 Cattacin/Domenig/Schäfer, Selbstbestimmt mitgestalten! Behinderung im Fokus individueller und gesellschaftlicher Emanzipation, 63; iVm Degener in Dederich/Jantzen, 164. 19 BMSGPK, UN-Behindertenrechtskonvention, 6. 11
Als ebenfalls geläufige und bereits zuvor zitierte Definition wird oftmals auch jene der WHO herangezogen. Abgekoppelt von dieser medizinischen Definition haben die Sozialwissenschaft im Zuge ihrer Disability Studies den Begriff gesellschaftsbezogener geprägt: Behinderung ist kein Ergebnis medizinischer Pathologie, sondern das Produkt sozialer Organisationen.20 Hierbei wird Behinderung somit nicht als etwas medizinisch klassifizier-, und behandelbares, sondern als etwas von der Gesellschaft produziertes und somit nur durch die Veränderung des sozialen Umfelds „heilbares“ gesehen. Da auch diese Begriffsbestimmung seine Tücken hat und somit oft kritisiert wird, kann von einer einzig wahren Definition auch hierbei nicht die Rede sein. Dennoch sind die Disability Studies und ihre Erkenntnisse nicht zu unterschätzen. Als multidisziplinäres Lehr- und Forschungsgebiet untersucht es auf Grundlage einer Sicht von Behinderung soziale Konstruktionen und Prozesse, aufgrund welcher Menschen mit Beeinträchtigungen gesellschaftlich ausgeschlossen und somit „behindert“ werden. Neu ist auch, dass nicht über Menschen mit Behinderung geforscht wird, sondern mit ihnen gemeinsam Forschungsarbeit betrieben wird.21 Besonders thematisiert wird auch die Entstehung und Zuschreibung, was in der Vergangenheit und Gegenwart unter dem Begriff Behinderung zu verstehen war bzw ist. Neben der Erforschung der Begriffe Behinderung und Normalität ist in diesem Fachbereich, auch das Erfassen der tatsächlichen Lebenssituation und Erfahrungen von behinderten Menschen besonders wichtig. Im Speziellen soll aufgezeigt werden, dass Behinderung kein Schicksal oder eine Folge einer chronischen Krankheit oder Beeinträchtigung darstellt, sondern durch bauliche, institutionelle, kulturelle und ideologische Barrieren entsteht. Im Rahmen der Disability Studies spricht man hierbei von einer Einschränkung der Teilhabe an einem gesellschaftlichen Leben. Im Zusammenhang mit dem Menschen mit Behinderung spricht Schönwiese von Barrieren. Menschen werden somit behindert aufgrund physischer Barrieren, wie zB tatsächlichen bestehenden baulichen Umständen, oder psychischer Barrieren, dies sind gedankliche Hürden, welche die Gesellschaft nur durch das Überdenken gesellschaftlicher Normen bspw gewisser baulicher Konzepte oder dem Raummanagement, überwinden könnten.22 Von den Disability Studies wurde auch das Konzept des Abelismus entwickelt. Abelismus leitet sich vom englischen Wort „able“ (ins Deutsche übersetzt mit: „fähig“) ab und bezeichnet die Bewertung von Menschen anhand ihrer Fähigkeiten. Hierbei wird neben der strukturellen Benachteiligung von Menschen mit Behinderung auch eine generelle behindertenfeindliche Einstellung verstanden. Konkret stellt es 20 Cattacin/Domenig/Schäfer, Selbstbestimmt mitgestalten! Behinderung im Fokus individueller und gesellschaftlicher Emanzipation, 63; Waldschmidt, Disability Studies, in Grevin (Hrsg), Kompendium der Heilpädagogik (2007), 164. 21 Köbsell/Pfahl, Forschung und Lehre , 554. 22 Schönwiese, Behinderung und Identität: Inszenierungen des Alltags, in Mürner/Sierck (Hrsg), Behinderte Indentät (2011), 143; Köbsell/Pfahl, Forschung und Lehre, 554. 12
Überzeugungen, Prozesse oder Praktiken dar, welche einen speziellen körperlichen Standard, eine bestimmte Selbstwahrnehmung konstruieren, anhand welcher jeder Mensch bewertet wird. Der Bewertungsmaßstab orientiert sich an einem nicht existenten perfekten, arten-typischen und vollständigen Menschen. Behinderung wird in diesem Zusammenhang als ein verminderter Zustand des Menschseins gewertet.23 Als Fortentwicklung dieser sozialwissenschaftlichen Erklärung kann das von der UN-BRK favorisierte menschenrechtliche Modell gesehen werden. Es wird also eine Definition des Worts „Behinderung“ oder „behinderte Menschen“ als nicht unbedingt notwendig erachtet, da die Nichterfüllung dieses Tatbestandsmerkmals bzw seiner Begriffsbestimmung nicht Grund dafür sein soll, dass jemanden aufgrund dessen das Menschenrecht versagt bleibt. Kurz gesagt, es werden jedenfalls möglichst viele Menschen in den Personenkreis miteinbezogen. Eine genaue Umschreibung des Begriffes könnte dazu führen, dass wiederum Menschen aufgrund dieser Definition ausgeschlossen werden könnten, was jedenfalls nicht gewollt ist.24 Neben der Zweckbestimmung des Art 1 UN-BRK und den Begriffsbestimmungen des Art 2 UN-BRK stellt der Art 3 UN-BRK allgemeine wichtige Grundsätze auf, anhand derer jede Handlung „mit, gegen oder für“ behinderte Menschen zu messen ist. Die Allgemeinen Grundsätze des Art 3 UN-BRK stellen sich folgendermaßen dar: Die Grundsätze dieses Übereinkommens sind: a) die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Selbstbestimmung; b) die Nichtdiskriminierung; c) die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Inklusion in die Gesellschaft; d) die Achtung der Unterschiedlichkeit und die Akzeptanz von Menschen mit Behinderungen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit; e) die Chancengleichheit; f) die Barrierefreiheit; g) die Gleichberechtigung von Mann und Frau; h) die Achtung vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderungen und die Achtung ihres Rechts auf Wahrung ihrer Identität.25 23 Wolbring, The politics of Ableism, https://www.researchgate.net/publication/5219934_The_Politics_of_Ableis m (aufgerufen am 10.08.2019); Campbell, Inciting Legal Fictions: „Disability’s“ Date with Ontology and Ableist Body of Law, Griffith Law Review Jg. 10, Nr 1, 44, Köbsell/Pfahl, Forschung und Lehre, 555. 24 Cattacin/Domenig/Schäfer, Selbstbestimmt mitgestalten! Behinderung im Fokus individueller und gesellschaftlicher Emanzipation, 64; iVm Degener, Die UN-Behindertenrechtskonvention – ein neues Verständnis von Behinderung, in Degener/Diehl (Hrsg), Handbuch der Behindertenrechtskonvention. Teilhabe als Menschenrecht – Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe (2015), 64. 25 BMSGPK, UN-Behindertenrechtskonvention, 8. 13
Bei der Auslegung dieser Grundsätze sollte auch nicht außer Acht gelassen werden, dass Menschen mit einer Behinderung ein selbstbestimmtes Leben mit dem notwendigen Maß an Assistenz ermöglicht werden soll. Die Begriffe der Nichtdiskriminierung und Achtung der Unterschiedlichkeiten machen ebenfalls nochmals darauf aufmerksam, dass die betroffenen Personen unterschiedliche Bedürfnisse und Einschränkungen haben und somit nicht alle in eine Kategorie gesteckt werden können. Folglich findet Diskriminierung auch dann statt, wenn alle Menschen mit Behinderung gleichbehandelt werden und keine Unterscheidungen gemacht werden. Schwieriger zu begreifen, ist bereits der Begriff Teilhabe. Dieser Begriff hat eine lange Tradition in der Sonderpädagogik und rückt seit der Verabschiedung der ICF26 immer mehr ins Bewusstsein der Wissenschaftler. In dieser wird der Begriff der Teilhabe als gesundheitswissenschaftlicher Behinderungsbegriff gebildet und definiert, weshalb Teilhabe und Behinderungen in einem engen Kontext stehen. Laut ICF stellt Behinderung eine Einschränkung der Teilhabe dar. Teilhabe wiederum steht in einem engen Zusammenhang mit der jeweiligen Umwelt und Person. Dennoch wird keiner der Begriffe in der ICF genauer spezifiziert, weshalb auch dieses Verzeichnis nur beschränkt zum Verständnis beiträgt. Michael Schuntermann sieht Teilhabe als Konzept des Vorhandenseins von Zugangsmöglichkeiten und lenkt somit den kritischen Diskurs auch immer auf die Menschenrechte. Eine Begriffserweiterung der ICF um die Ermöglichung eines selbstbestimmten und gleichberechtigten Lebens wird von ihm gefordert, wobei für diese Aspekte der Wille zur Teilhabe entscheidend ist.27 Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist auch der Aspekt der Anerkennung. Axel Honneth, welcher besonders im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen philosophischen Anerkennungsdiskurs bekannt ist, beschreibt das hochkomplexe Zusammenspiel der Gesellschaft, indem er zwischen der emotionalen, solidarischen und rechtlichen Ebene unterscheidet. Auf der emotionalen Ebene findet man als zentrale Elemente, die personalen Eigenschaften der Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit des Individuums. Ob eine individuelle Leistung für die Gesellschaft von Bedeutung ist, wird hingegen auf der solidarischen Ebene gemessen. Im Zusammenhang mit den rechtlichen Beziehungen sind insbesondere die liberalen Freiheitsrechte, politischen Teilhaberechte und sozialen Wohlfahrtsrechte entscheidend. Diese drei Ebenen stehen in einem Wechselspiel zueinander. So muss man die Autonomie, welche man für sich selbst in Anspruch nimmt, auch dem Gegenüber gewähren.28 Ein ebenfalls wichtiger Teilaspekt zur Förderung eines selbstbestimmten Lebens ist die Barrierefreiheit. Darunter versteht man nicht nur, dass zB ein Bankomat für einen Rollstuhlfahrer erreichbar ist, sondern auch die Übersetzung der UN-BRK in Leichte 26 ICF = Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit 27 Vgl Cattacin/Domenig/Schäfer, Selbstbestimmt mitgestalten! Behinderung im Fokus individueller und gesellschaftlicher Emanzipation, 65–66; und Schuntermann, Einführung in die ICF. Grundkurs, Übungen, offene Fragen (2007), 181ff. 28 Cattacin/Domenig/Schäfer, Selbstbestimmt mitgestalten!, 66; Honneth, Anerkennung und moralische Verpflichtung, Zeitschrift für philosophische Forschung (1997), 51 (1), 25-41. 14
Sprache29. Diese Übersetzung ist für Menschen mit Lernschwierigkeiten besonders wichtig und unterstützt diese dabei ihre Rechte besser kennen zu lernen. Die Leichte Sprache zeichnet sich spezielle dadurch aus, dass die Sätze kurz sind, auf Fach- oder Fremdwörter verzichtet wird und die Schrift, sowie gegebenenfalls Bilder größer sind als üblich.30 1. Staatenberichtsverfahren und Monitoring der UN-BRK Die UN-BRK richtet sich als völkerrechtlicher Vertrag in erster Linie an die Nationalstaaten. Diese verpflichten sich im Vertrag die Menschenrechte zu Achten und für deren Umsetzung und Einhaltung Sorge zu tragen. Dies geschieht nicht nur durch die Beachtung der Menschenrechte bei der nationalen Gesetzgebung, sondern auch durch Ahndung drohender Rechtsverletzungen Dritter. Des Weiteren sind die National- staaten verpflichtet die notwendigen strukturellen Maßnahmen für die Rechtswahr- nehmung und Durchsetzung zu schaffen.31 Hierzu wurden in den Vertragsstaaten sogenannten Focal Points, also staatliche Anlaufstellen eingerichtet, zu deren besonderer Aufgabe die Überwachung, Einhaltung und Umsetzung der UN-BRK gehört. In Österreich wurde hierzu entsprechend dem §°33 UN-BRK der sogenannte Monitoringausschuss installiert.32 Auf internationaler Ebene wurde ebenfalls ein Überwachungsausschuss, der sogenannte UN-Ausschuss, ins Leben gerufen. Dessen Mitglieder sind Expertinnen und Experten für Menschenrechte und Behindertenpolitik. Sie verfügen oftmals selbst über eigene Behinderungserfahrungen und tagen jährlich in Genf. Als wichtigstes Instrument des UN-Behindertenausschusses gilt der Staatenbericht, welcher erstmals zwei Jahre nach Ratifizierung und anschließend alle vier Jahre einzureichen ist. Es gibt auch noch weitere Verfahren und Rechtsmittel, welche an dieser Stelle jedoch nicht näher ausgeführt werden.33 Der UN-Behindertenausschuss ist weltweit tätig und hat so gegen die unterschiedlichsten Probleme und Diskriminierungen zu kämpfen. Während im Globalen Norden vor allem das Schulwesen hinterfragt wird und Sonderschulen abgeschafft werden sollen, werden vermehrt Hinweise auf eine Nichtbeschulung behinderter Kinder in Ländern des Globalen Südens an den Ausschuss herangetragen. In weiten Teilen Afrikas sind Menschen mit kognitiven Beeinträchtig- 29 Dieser Begriff wurde erstmals Ende der 1990er-Jahre von Menschen mit Lernschwierigkeiten selbst geprägt. 30 Cattacin/Domenig/Schäfer, Selbstbestimmt mitgestalten!, 67–68. 31 Bielefeldt, Inklusion als Menschenrechtsprinzip: Perspektiven der UN-Behindertenkonvention, in Moser/Horster (Hrsg), Ethik der Behindertenpädagogik. Menschenrechte, Menschenwürde, Behinderung. Eine Grundlegung. (2012), 163; Cattacin/Domenig/Schäfer, Selbstbestimmt mitgestalten!, 74f. 32 Aichele, Die unabhängige Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland: Hintergrund, Ausrichtung, Wirkungszusammenhang, Zeitschrift für Inklusion 4/2 SE-Artikel. 33 Cattacin/Domenig/Schäfer, Selbstbestimmt mitgestalten!, 74–75. 15
ungen überhaupt ihr Leben lang auf ihre Familien angewiesen, da es keine entsprechenden ambulanten Dienste gibt.34 Jedes Land und jede Zeit hat somit sicher seine eigenen Aufgaben und Probleme, welche noch zu erfüllen sind, bevor behinderte Personen im gesellschaftlichen Gefüge wirkliche Teilhabe und Inklusion erfahren können. Behinderung führt durch dessen Komplexität und Heterogenität immer zu einer Strapazierung der sozialen Systeme. Eine besondere Schwierigkeit stellt oftmals auch dar, dass die Kommunikation auf verschiedenen Ebenen stattzufinden hat. Geistig behinderte Personen mit stark eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten stellen hierbei sicherlich die am problemträchtigste Gruppe dar, da Kommunikation in der Form von Sprache und Schrift oftmals kaum und nur sehr schwer möglich ist. Diese Kommunikationserschwernisse können teilweise durch soziale Systeme und Methoden verbessert werden, haben jedoch immer die Tendenz eine Exklusion von in den gängigen Kommunikationsformen, wie zB Schrift oder Sprache, beschränkten Person zu bewirken. Auch die UN-BRK bewirkt an sich keine Inklusion von geistig behinderten Menschen, kann jedoch durch dessen Bestehen und der damit einhergehender Diskussionen das Thema Menschen mit Behinderung in den Vordergrund stellen und ermöglich so einen öffentlichen und fachlichen Diskurs, sowie eine Sensibilisierung der Gesellschaft für dieses Problemfeld.35 2. Staatenprüfung Österreichs Das Prüfungskomitee der UNO („Committee on the Rights of Persons with Disabilities”) hat am 2. und 3.9.2013 die österreichische Rechtsordnung auf die Einhaltung der UN-BRK geprüft. Das Resumee der Staatenprüfung fiel ernüchternd aus, denn das österreichische Sachwalterrecht wurde als veraltet („oldfashioned“) und diskriminierend bewertet. Kritisiert wurde insbesondere, dass mit der Bestellung eines Sachwalters die betroffene Person jedenfalls ihre Geschäftsfähigkeit verlor und dem Vertreter oftmals ein zu umfangreicher Wirkungsbereich eingeräumt wurde. Daraufhin hat das Bundesministerium für Justiz noch im selben Jahr gehandelt und ein Reformprojekt gestartet, zu welchem nicht nur Wissenschaftler, Fachkräfte, Politiker und die bisherigen gesetzlichen Vertreter zu einer Stellungnahme aufgefordert wurden, sondern auch Selbstvertreter, also Menschen, die bislang selbst unter Sachwalterschaft standen, zur Mitwirkung eingeladen wurden. Im Zuge dieses Reformprojekts wurde ein neuer Gesetzestext ausgearbeitet, welcher dann im Sommer 2016 als Begutachtungsentwurf der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Nach Einlangen zahlreicher Stellungnahmen zum Entwurf wurde dieser dann 34 Lachwitz, Auswirkungen der UN-Behindertenrechtskonvention und der UN-Agenda 2030 auf die Lebensbedingungen von Menschen mit einer geistigen Behinderung in den Ländern des Globalen Südens (2017), 5; und Cattacin/Domenig/Schäfer, Selbstbestimmt mitgestalten!, 78. 35 Cattacin/Domenig/Schäfer, Selbstbestimmt mitgestalten!, 79; Fuchs, Behinderung und soziale Systeme. Anmerkungen zu einem schier unlösbaren Problem (2002). 16
gleichzeitig mit den Novellen zum HeimAufG als neues Erwachsenenschutzgesetz beschlossen.36 IV. Rechtslage in Österreich Neben der UN-BRK sind für Menschen mit einer geistigen Behinderung grundsätzlich mehrere nationale Rechtsquellen, also insbesondere das gesatzte Recht relevant. Vor allem Kodifikationen, in welchen Schutzrechte von körperlich, geistig oder psychisch beeinträchtigten Personen normiert sind, spielen hierbei eine wichtige Rolle. Der Großteil der Bestimmungen findet sich im ABGB, nämlich im Ersten Theil. („Von dem Personen-Rechte.“). Im 6. Hauptstück des Ersten Teils („Von der Vorsorgevollmacht und der Erwachsenenvertretung“) finden sich dann die wichtigsten Bestimmungen hinsichtlich der Vertretung behinderter Menschen.37 Die verfahrensrechtlichen Bestimmungen des Erwachsenenschutzgesetzes findet man im 9. Abschnitt des AußStrG (§§ 116 a ff AußStrG).38 Grundsätzlich muss ein Mensch mit Behinderung, bzw dessen Vertreter, immer viele verschiedene Rechtsquellen beachten, da es nicht ein „Behinderten-Gesetz“ gibt. Aufgrund der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung werden manche gesetzlichen Bestimmungen in Bereichen, welche für Menschen mit Behinderung besonders relevant sind, wie zB die Erwerbstätigkeit und das Pflegegeld, alleine vom Bundesgesetzgeber erlassen und vollzogen, während für andere Aspekte, wie zB Pflegeplätze und -betreuung sowie die Sozialhilfe, hinsichtlich der Gesetzgebung und Vollziehung das jeweilige Bundesland zuständig ist. Da das Behindertenrecht viele Lebensbereiche umfasst, ist es nicht möglich ein Gesetz zu erlassen, weshalb es auch zu den Querschnittsmaterien zählt.39 Es lohnt sich dennoch einen kurzen Blick auf die vorhandenen insbesondere für geistig behinderte Menschen relevanten Rechtsgrundlagen zu werfen. Da behinderte Menschen meistens einen erhöhten Bedarf an finanziellen Mitteln haben, stehen ihnen, bzw ihren Vertretern, mehrere Möglichkeiten offen, um diesen Bedarf zu decken. Hierbei wird zwischen der sozialrechtlich geprägten sozialen Fürsorge (auch Versorgungsleistungen genannt) und dem privatrechtlich geregelten Unterhalt unterschieden. 1. Abgrenzung soziale Fürsorge und Unterhalt Je nachdem wer die finanziellen Mittel zur Verfügung stellt, spricht man entweder von Unterhalts-, und Versorgungsleistungen. So entsteht der Anspruch auf Unterhalt 36 Hagen/Niedermoser/Rott, Das neue Erwachsenenschutzrecht aus Sicht der Vereine, in Deixler-Hübner/Schauer (Hrsg), HB Erwachsenenschutzrecht (2018), 469ff; Barth/Ganner, Handbuch des Erwachsenenschutzrechts, 9. 37 Schauer in Deixler-Hübner/Schauer, 78–79; Barth/Ganner, 1. Regelungsorte und Struktur, in Barth/Ganner (Hrsg), Handbuch des Erwachsenenschutzrechts, 12. 38 Deixler-Hübner, Bestellungsverfahren nach dem 2. Erwachsenenschutz-Gesetz, in Deixler- Hübner/Schauer (Hrsg), HB Erwachsenenschutzrecht (2010), 137. 39 Vgl Zarfl, Nationaler Aktionsplan Behinderung 2012-2020 (2012), 16; Zapletal, Die Eine ist immer arm, der Andere nur vorübergehend, Juridicum 2/2019 (2019), 1. 17
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