DAS WUNDER AN DER WEICHSEL - Polen ist Europas am schnellsten wachsende Volkswirtschaft

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A N A LYSE

                                             Polen ist die Volkswirtschaft Eu-
W I RT SCH A F T U N D FI N A N ZEN          ropas, die in den letzten dreißig
                                             Jahren am stärksten gewachsen
                                             ist. Kaufkraftbereinigt hat sich

DAS WUNDER AN                                das Prokopf-Einkommen seit
                                             1990 fast verdreifacht.

DER WEICHSEL                                 Der Erfolg Polens basiert auf ei-
                                             nem gelungenen Management
Polen ist Europas am schnellsten wachsende   der Transitionsphase, dem Auf-
Volkswirtschaft                              bau leistungsfähiger Institutio-
                                             nen, der erfolgreichen Integra­
                                             tion in internationale Wert-
                                             schöpfungsketten und der insti-
                                             tutionellen und finanziellen Un-
                                             terstützung durch die EU.

Marcin Piątkowski
Juli 2019                                    Die polnische Volkswirtschaft ist
                                             stärker diversifiziert als die ande-
                                             rer mitteleuropäischer Staaten
                                             und damit weniger empfindlich
                                             gegen sektorielle Schocks, etwa
                                             im Automobilbau.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Das Wunder an der Weichsel

W I RT SCH A F T U N D FI N A N ZEN

DAS WUNDER AN
DER WEICHSEL
Polen ist Europas am schnellsten wachsende
Volkswirtschaft
Europas Wachstumschampion: Polens wirtschaftlicher Erfolg und seine Zukunft

Europas Wachstumschampion:
Polens wirtschaftlicher Erfolg und
seine Zukunft

Polen war in den letzten 30 Jahren die erfolgreichste Volks-                                                    deutschen Durchschnittseinkommens erreichen, einen der
wirtschaft Europas. Seit 1989 stieg das Pro-Kopf-Einkommen                                                      höchsten relativen Werte in der Geschichte Polens. Wirt-
(BIP pro Kopf) um fast 150 %, mehr als in jeder anderen post-                                                   schaftlich erlebt Polen tatsächlich ein »Goldenes Zeitalter«.2
kommunistischen Wirtschaft und mehr als in jedem anderen
Land Europas. Das BIP Polens wuchs auch deutlich stärker als                                                    Auch im globalen Vergleich hat sich Polen exzellent geschla-
das Deutschlands, dessen Pro-Kopf-Einkommen im gleichen                                                         gen: In den letzten 25 Jahren war es die am schnellsten
Zeitraum um rund 40 % zunahm (Abbildung 1).                                                                     wachsende größere Volkswirtschaft der Welt (unter den Län-
                                                                                                                dern mit einem ähnlichen Einkommensniveau; Abbildung 3).
Kaufkraftbereinigt hat sich das Pro-Kopf-Einkommen Polens                                                       Das Land entwickelte sich schneller als Südkorea, Singapur
im gleichen Zeitraum fast verdreifacht, von 10.300 $ im Jahr                                                    und andere stark wachsende Schwellenländer.
1990 auf fast 30.000 $ im Jahr 2019 (2011 konstante Dollars).
Im selben Zeitraum hat sich das Pro-Kopf-Einkommen in Un-                                                       Im Gegensatz zu vielen anderen Schwellen- und Industrie-
garn – anfänglich die erfolgreichste Transitions-Ökonomie –                                                     ländern hat das Wachstum in Polen auch »alle Boote ange-
nicht einmal verdoppelt. Das kaufkraftbereinigte deutsche                                                       hoben«: Polen war das einzige postkommunistische Land in
Pro-Kopf-Einkommen stieg um weniger als die Hälfte.1                                                            der Region, in dem die Einkommen selbst der ärmsten Polen
                                                                                                                schneller wuchsen als in reichen Ländern (Abbildung 4). Im
Aufgrund des beispiellosen Wachstums Polens stieg das                                                           Jahr 2019 lag die Einkommensungleichheit Polens gemessen
Pro-Kopf-Einkommen im Verhältnis zu Deutschland von we-                                                         am Gini-Koeffizienten unter dem Durchschnitt der EU und
niger als einem Drittel im Jahr 1990 auf über 60 % im Jahr                                                      der OECD. Allerdings ist die Ungleichheit Polens gemessen
2018 an (Abbildung 2). Polen wurde 2015 reicher als Grie-                                                       am Anteil der reichsten 10 % der Gesellschaft am BIP höher
chenland; in diesem Jahr wird es das Einkommensniveau Por-                                                      als anderswo in Europa: Die Top-10 % der Polen erhalten et-
tugals übertreffen. Nach den Prognosen des IWF wird Polen                                                       wa 38 % des Nationaleinkommens gegenüber 35 % in
kaufkraftbereinigt in den nächsten 5 Jahren fast 70 % des                                                       Deutschland und nur 27 % in Schweden3.

    Abbildung 1:                                                                                                    Abbildung 2:
    BIP-Wachstum pro Kopf, 1990–2018, 1989=100                                                                      Pro-Kopf-BIP Polens, Spaniens, Portugals und Griechenlands, bezo-
                                                                                                                    gen auf Deutschland=100 %, 1990–2024
    260
                                                                                                    247.4
                                                                                                                    90%
    240
                                                                                            223.5                   80%                                                                                76.6%
    220                                                                                                                                                                                                67.6%
                                                                                    207.3                           70%

    200
                                                                            186.3                                   60%                                                                        60.8%
                                                                    181.3
    180                                                                                                             50%
                                                      164.3 168.9
                                              162.6
    160                               152.3                                                                         40%
                              142.9                                                                                         31.6%
    140         135.8 139.1                                                                                         30%

                                                                                                                    20%
    120 116.4
                                                                                                                          1990
                                                                                                                          1991
                                                                                                                          1992
                                                                                                                          1993
                                                                                                                          1994
                                                                                                                          1995
                                                                                                                          1996
                                                                                                                          1997
                                                                                                                          1998
                                                                                                                          1999
                                                                                                                          2000
                                                                                                                          2001
                                                                                                                          2002
                                                                                                                          2003
                                                                                                                          2004
                                                                                                                          2005
                                                                                                                          2006
                                                                                                                          2007
                                                                                                                          2008
                                                                                                                          2009
                                                                                                                          2010
                                                                                                                          2011
                                                                                                                          2012
                                                                                                                          2013
                                                                                                                          2014
                                                                                                                          2015
                                                                                                                          2016
                                                                                                                          2017
                                                                                                                          2018
                                                                                                                          2019
                                                                                                                          2020
                                                                                                                          2021
                                                                                                                          2022
                                                                                                                          2023
                                                                                                                          2024

    100                                                                                                                                     Greece         Poland          Portugal         Spain
            atia ance any aria gary enia ania Rep. atvia ania onia Rep. land
        Cro     Fr     rm Bulg Hun Slov   m        L ithu    Est vak   Po                                           Hinweis: Prognosen für 2019–2024
                    Ge                  Ro zech       L
                                            C                   Slo                                                 Quelle: Berechnungen des Autors, basierend auf der Datenbank World Economic Outlook des
    Quelle: Berechnung des Autors, basierend auf der Conference Board Total Economy Database.                       IWF, April 2019

                                                                                                                2      Marcin Piątkowski, Poland’s New Golden Age: Shifting from
1      Basierend auf Daten aus der WDI-Datenbank der Weltbank https://                                                 ­Europe’s Periphery to Its Center, World Bank Policy Research
       data.worldbank.org/indicator/ny.gdp.pcap.pp.kd sowie eigenen Pro-                                                ­Paper 6639, 2013, http://documents.worldbank.org/curated/
       gnosen für 2018 und 2019.                                                                                         en/285611468107064618/pdf/WPS6639.pdf

                                                                                                            1
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Das Wunder an der Weichsel

    Abbildung 3:                                                                                     Abbildung 4:
    Die 10 wichtigsten großen Volkswirtschaften mit mittlerem/hohem                                  Anteil an der Gesamtbevölkerung (in Dezilen), deren Einkommen seit
    Einkommen in der Wachstumsrate des BIP pro Kopf, 1993–2018.                                      1989 schneller gestiegen ist als der Durchschnitt der G-7, 1989–2016.
    4.5                                                                                               100
                                                                                 4.2     4.2
                                                               4.0      4.0                            90
     4                                        3.8     3.9
                            3.5      3.6                                                               80
    3.5             3.3
           3.2                                                                                         70
     3                                                                                                 60
    2.5                                                                                                50
                                                                                                       40
     2
                                                                                                       30
    1.5                                                                                                20
     1                                                                                                 10
                                                                                                        0
    0.5

                                                                                                                  te ne
                                                                                                                            o

                                                                                                                 Hu bia

                                                                                                         N. nd y
                                                                                                                ac r z.

                                                                                                                   Cr ia

                                                                                                                    Ru a
                                                                                                                   Es ia
                                                                                                                             a
                                                                                                                Ro via
                                                                                                                Lit ania

                                                                                                                 Bu ia
                                                                                                                 Sl ria

                                                                                                                  ak a

                                                                                                                   Be p.

                                                                                                                   Po s
                                                                                                                          nd
                                                                                                                         ru
                                                                                                                           r

                                                                                                                          ti

                                                                                                                          ni

                                                                                                               ov ni
                                                                                                                        gr

                                                                                                                       on

                                                                                                                        ss

                                                                                                                       an
                                                                                                            ia nga

                                                                                                                       Re
                                                                                                              on ai

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                                                                                                                       la
                                                                                                                        t
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                                                                                                                      to

                                                                                                             Sl ve

                                                                                                                      la
                                                                                                                     ne

                                                                                                                     La

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                                                                                                                    Se
     0

                                                                                                           M Ukr

                                                                                                                    m
                                                                                                                   hu
                                                                                                                   ed

                                                                                                                    o
          Singa- Malaysia Roma- Belarus Taiwan Trinidad Ire-           South Slovak Poland

                                                                                                               a
           pore            nia                & Tobago land            Korea Republic

                                                                                                         sn
                                                                                                      Bo
    Quelle: Berechnung des Autors, basierend auf der Conference Board Total Economy Database.         Quelle: Berechnungen des Autors, basierend auf Daten der EBWE (2016)

ERFOLGSFAKTOREN FÜR POLEN                                                                           die sich in den Wahlen für Parteien entschied, die Demokra-
                                                                                                    tie und offene Märkte unterstützen. Und schließlich wäre das
Wie ist es Polen, einem Land, das historisch wirtschaftlich im-                                     Wirtschaftswunder Polens ohne die Europäische Union nicht
mer hinterherhinkte, plötzlich gelungen, Europas Wachs-                                             möglich gewesen. Diese unterstützte zunächst den Aufbau
tumschampion zu werden? Aus Sicht des Autors gibt es eine                                           wichtiger politischer und wirtschaftlicher Institutionen, die
Reihe von wirtschaftspolitischen Gründen, die erklären, war-                                        dem Land seit Jahrhunderten gefehlt hatten, und half dann,
um Polen nach 1989 zum ersten Mal überhaupt wirtschaft-                                             den Ausbau der Infrastruktur des Landes zu finanzieren.
lich reüssierte.4 Gleich zu Beginn des Übergangs hat man
tiefgreifende Wirtschaftsreformen durchgeführt. Hierzu ge-
hörten eine rasche Liberalisierung des internationalen Han-                                         ZUKÜNFTIGE WACHSTUMSAUSSICHTEN
dels, die Beseitigung von Marktmonopolen, die Befreiung
von Preisen und die Auferlegung harter Haushaltszwänge für                                          Die polnische Wirtschaft ist wie die deutsche Fußballnatio-
staatliche Unternehmen. Die erfolgreiche Restrukturierung                                           nalmannschaft (außer der letzten Weltmeisterschaft!): Sie
der Auslandsverschuldung Anfang der 90er Jahre, die die                                             gewinnt immer weiter. Angesichts der hohen Qualität des
Auslandsverschuldung Polens im Gegenzug für Wirtschafts-                                            Humankapitals, der steigenden Produktivität bei gleichzeitig
reformen um die Hälfte reduzierte, wirkte unterstützend.                                            niedrigen Arbeitskosten, der Verbesserung der Infrastruktur,
Später wurde das Wachstum Polens durch schnellen Institu-                                           der makroökonomischen Stabilität, des Unternehmergeistes,
tionenaufbau, einen Boom bei Quantität und Qualität der Bil-                                        der offenen Grenzen und der anhaltenden – wenn auch sin-
dung und eine gut durchgeführte Privatisierung unterstützt,                                         kenden – Zuflüsse von EU-Mitteln dürfte die polnische Wirt-
die keine Oligarchen hervorbrachte.                                                                 schaft so bald nicht aufhören zu wachsen.

Was erklärt diese erfolgreiche Wirtschaftspolitik nach 1989?                                        Eine relative Diversität der Wirtschaft wird das Wachstum zu-
Auch hierfür gibt es eine Reihe von erklärenden Faktoren.                                           sätzlich stützen und dazu beitragen, externe Schocks abzufe-
Erstens wurde der polnische Erfolg, etwas paradoxerweise,                                           dern. Die Exportstruktur Polens ist die am stärksten diversifi-
durch ein positives Erbe des Kommunismus getrieben. Dieser                                          zierte in der Region. Keine einzige Branche macht mehr als
planierte früh die alten, auf einer rein extraktiven Wirtschaft                                     15 % der Gesamtausfuhren aus (Transportdienstleistungen,
basierenden Sozialstrukturen, die Polen jahrhundertelang                                            die größte Außenhandelsbranche, macht 14 % der Gesamt-
wirtschaftlich rückständig gehalten hatten, und hinterließ                                          ausfuhren aus, siehe Abbildung 5). In der Slowakischen Re-
am Ende eine egalitäre, integrative und sozial mobile Gesell-                                       publik dagegen macht die Automobilindustrie mehr als 30 %
schaft. Zweitens war sich die polnische Gesellschaft in ihrem                                       der Exporte aus (und viel mehr, wenn man auch die Zuliefer-
Willen, »nach Europa zurückzukehren« und dabei westliche                                            betriebe berücksichtigt). Jeder Schock für die deutsche Auto-
Werte und Institutionen zu übernehmen, weitestgehend ei-                                            mobilindustrie – wie ein abrupt steigender Bedarf an Elektro-
nig. Drittens wurde das Land von einer professionellen, ver-                                        autos, produziert von Tesla, den Chinesen und anderen, oder
westlichten und (meist) ethisch engagierten Elite regiert, die                                      ein Einbruch der Nachfrage nach Dieselautos – würde für die
Polens Erfolge wirklich wollte. Viertens wurde der Erfolg                                           meisten Länder der Region extrem negative Folgen haben.
durch die Entstehung einer neuen Mittelschicht gefördert,                                           Polen wäre jedoch weniger betroffen als andere.

                                                                                                    Die Exportstruktur zeigt auch den kontinuierlichen technolo-
3      How Unequal Is Europe? Evidence from Distributional National Ac-                             gischen und industriellen Aufholprozess Polens: 1997 gehör-
       counts, 1980–2017 Thomas Blanchet Lucas Chancel Amory Gethin,                                ten natürliche Ressourcen (Kohle, Eisen und Kupfer) und
       April 2019, WID WORKING PAPER N° 2019/06, https://wid.world/
       document/bcg2019-full-paper/                                                                 Branchen mit geringer Wertschöpfung (wie die Textilindus­
4        Marcin Piatkowski, Europe‹s Growth Champion – Insights from the                            trie mit einem Anteil von fast 30 % an den Gesamtexporten)
         Economic Rise of Poland, Oxford University Press, 2018

                                                                                                2
Europas Wachstumschampion: Polens wirtschaftlicher Erfolg und seine Zukunft

    Abbildung 5:                                                                                                     Abbildung 6:
    Struktur der polnischen Exporte im Jahr 2017 nach wichtigen Produk-                                              Anteil der Weltimporte, 2012Q4=100
    ten und Branchen
                                                                                                                     135

    Machines                              Metals                  Plastics                Animal
                                                                                          Products
                                                                                                                     130
                                                                  and...
                                                                                                                     125

                                           9.8%                                                                      120

                                           Chemical Products
                                                                  6.8% 4.5%                                          115
                                                                  Paper       Textiles Mineral
                                                                                               Products
                                                                  Goods                                              110
                                           7.2%
        24%                               Foodstuffs              3.2%2.9%2.7%
                                                                                                                     105
                                                                                                                     100
    Transportation                         7.1%
                                                                  Vegetable
                                                                  Products
                                                                               Stone
                                                                                and...
                                                                                               Instruments
                                                                                                                                               Czech Republic                      Hungary
                                                                                                                       95
                                                                  2.3%                                                                         Poland                              Slovak Republic
                                          Miscellaneous                        2.0% 1.9%                               90
                                                                  Wood

        14%                                                       Products     Precious   Footwear and

                                           7.0%                                                                        85
                                                                               Metals     Headwear

                                                                  2.0%                    Animal Hides
                                                                               0.67%
                                                                                                                             Mar-13 Dec-13           Sep-14      Jun-15     Mar-16 Dec-16       Sep-17 Jun-18

    Quelle: https://atlas.media.mit.edu/en/profile/country/pol/                                                      Quelle: IWF, Artikel IV für die Tschechische Republik, Juni 2019

zu den dominierenden Exportindustrien;5 heute existieren sie                                                     nisse, eine starke Aufsicht über den Finanzsektor und die Ur-
kaum noch. Dank der kontinuierlichen Modernisierung, die                                                         banisierung. Sie konzentriert sich auch auf die Notwendig-
weitgehend innerhalb von globalen, oft von deutschen Fir-                                                        keit, sicherzustellen, dass das Wachstum integrativ ist und
men dominierten Wertschöpfungsketten stattfindet, ist der                                                        das Wohlbefinden fördert. Aber es bleibt in der Nähe der
Anteil Polens auch an den weltweiten Importen in den letz-                                                       grundlegenden wirtschaftlichen Grundlagen, die auch der
ten fünf Jahren überdurchschnittlich gestiegen (Abbildung 6).                                                    »Washington Consensus« teilt: die Notwendigkeit, den
                                                                                                                 Wechselkurs wettbewerbsfähig zu halten, Bildung zu fördern
All diese Stärken werden auch mittel- und langfristig weiteres                                                   und die Märkte für den Wettbewerb offenzuhalten.6
Wachstum ermöglichen. Der IWF prognostiziert für die
nächsten fünf Jahre ein durchschnittliches BIP-Wachstum                                                          Wie können die Institutionen gestärkt werden, die für den Er-
von rund 3 %. Allerdings erscheint wahrscheinlich, dass Po-                                                      folg Polens bei der Überwindung der Armut und der Erzie-
len diese Prognosen wie in der Vergangenheit eher übertref-                                                      lung eines hohen Einkommens während des Lebens einer
fen wird: 2019 wird es eher mit einem Tempo von 5 % als mit                                                      einzigen Generation entscheidend waren? Der Schlüssel wird
den vom IMF erwarteten 3,8 % wachsen. Wenn sich diese                                                            darin bestehen, offene und wettbewerbsorientierte Märkte
Trends fortsetzen – und es gibt keinen wesentlichen Grund,                                                       zu erhalten, die Rechtsstaatlichkeit zu stärken – im Gegensatz
warum dies nicht passieren sollte – könnte Polen bis 2030                                                        zu dem, was die derzeitige Regierung in den letzten Jahren
fast so wohlhabend werden wie Spanien.                                                                           getan hat –, westliche Werte, soziale Normen und Kultur zu
                                                                                                                 fördern und eine stärkere Integration der EU zu unterstützen.

EIN NEUES WACHSTUMSMODELL                                                                                        Die zweite wichtige Säule ist die Erhöhung der Inlandserspar-
                                                                                                                 nisse, da Polen bislang nicht genug spart, um hohe Investiti-
Allerdings wird die Konvergenzgeschwindigkeit Polens im                                                          onen zu unterstützen. Die Spar- und Investitionsquote des
Laufe des nächsten Jahrzehnts langsam abnehmen. Das                                                              Landes schwankte in den letzten zwei Jahrzehnten unter
Wachstumspotenzial des Landes wird zunehmend durch ei-                                                           20 % des BIP. Sie lag damit weit unter dem Durchschnitt der
nen alterungsbedingten Arbeitskräftemangel, ein ungenü-                                                          weltweit leistungsfähigsten Volkswirtschaften, die Investiti-
gendes Innovationsniveau und geringe inländische Ersparnis-                                                      onsquoten von über 30 % des BIP pro Jahr aufrechterhielten.
se gebremst werden. Die Politik muss entsprechend ange-                                                          Der Rückgang der Zuflüsse von EU-Mitteln nach 2020 – die
passt werden, idealerweise im Einklang mit einem neuen                                                           bisher Investitionen in Höhe von rund 2–2,5 % des BIP pro
Wachstumsmodell – eine Art »Warsaw Consensus« – das                                                              Jahr finanziert haben – wird das Wachstum zusätzlich belas-
dazu beitragen soll, Wachstumshemmnisse zu reduzieren                                                            ten. Wenn Polen jedes Jahr rund 25 % des BIP sparen und in-
und Entwicklungspotenziale zu maximieren.                                                                        vestieren würde, könnte es das Pro-Kopf-Wachstum bis 2030
                                                                                                                 bei rund 3,5 % halten, deutlich über der Wachstumsrate von
Ein solcher »Warsaw Consensus« wäre eine reformierte Ver-                                                        2,8 % in den Berechnungen auf Basis der bestehenden Inves-
sion des (un)rühmlichen »Washington Consensus«, den Viele                                                        titionsquote.
für das, was seit 1989 in der Weltwirtschaft und in Mittel-
und Osteuropa geschah, in die eine oder die andere Richtung                                                      Ein wichtiger Weg zur Erhöhung der Sparquote würde über
verantwortlich machen. Der »Warsaw Consensus« betont                                                             eine europäische Steuerpolitik führen, die das öffentliche
die kritische Rolle der Institutionen – das fehlende Schlüssel-                                                  Haushaltsdefizit reduziert. Der Schlüssel ist eine Harmonisie-
element des »Washington Konsenses« – hohe Inlandserspar-                                                         rung der Steuerpolitik der EU und die Einführung eines

                                                                                                                 6      Siehe hierzu im Detail Marcin Piatkowski, Europe‹s Growth Cham-
5      Von: https://atlas.media.mit.edu/en/visualize/tree_map/hs92/export/                                              pion – Insights from the Economic Rise of Poland, Oxford University
       pol/all/show/1997/show/                                                                                          Press, 2018

                                                                                                             3
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Das Wunder an der Weichsel

EU-weiten Mindeststeuersatz auf Unternehmensgewinne                  SCHLUSSFOLGERUNGEN
von mindestens 15 % sowie die Einführung paneuropäischer
Steuern für multinationale Unternehmen, die am meisten               Polen hat sich in den letzten 25 Jahren extrem gut geschla-
vom EU-Binnenmarkt profitieren, aber am wenigsten dazu               gen. Aber der weitere Erfolg in der Zukunft ist noch lange
beitragen, ihn zu erhalten.                                          nicht garantiert. Dies umso mehr, als der einfache Weg der
                                                                     Konvergenz – durch niedrige Lohnkosten – zu Ende geht.
Polen wird sich stärker für Einwanderung öffnen müssen, um           Jetzt beginnt der schwierige Teil, in dem Polen zunehmend
die schnelle Alterung der Bevölkerung zu bekämpfen. Es               auf Augenhöhe mit den Besten der Welt wie Deutschland
wird erwartet, dass die Bevölkerung Polens von derzeit               konkurrieren muss.
38 Millionen auf 32,8 Millionen im Jahr 2060 schrumpft. Vie-
les wurde bereits erreicht: In den letzten Jahren sind fast          Um weiter zu wachsen, sollte sich Polen von einem neuen
zwei Millionen ukrainische Arbeitnehmer_innen nach Polen             Wachstumsmodell leiten lassen, das auf den politischen Vor-
gekommen. Ziel sollte es nun sein, sie in Polen zu halten, in-       gaben eines neuen »Warsaw Consensus« basiert. Unter die-
dem man die Aufenthaltsgenehmigungen vereinfacht und                 sen Politiken werden vier Politikbereiche von besonderer Be-
einen klaren Weg zur Staatsbürgerschaft gestaltet. Aber              deutung sein: weitere Stärkung der Institutionen, Öffnung
auch zwei Millionen Ukrainer_innen werden nicht ausrei-              für Einwanderung, Förderung von Innovationen und Auf-
chen, da die Ukraine selbst ebenfalls altert und die ukraini-        rechterhaltung der wirtschaftlichen und sozialen Integration
schen Migrant_innen durchaus nach Westen weiterziehen                der Gesellschaft.
könnten. Polen muss sich auch für die Einwanderung aus an-
deren Ländern öffnen.                                                Polen (und der Rest Mittel- und Osteuropas) hat eine in seiner
                                                                     Geschichte einzigartige Gelegenheit, den Westen Europas
Schließlich muss Polen mehr tun um die Innovation zu för-            einzuholen. Nie waren die Voraussetzungen besser: Noch nie
dern. Es muss von der Kopie zum Original, von Kartoffelchips         hatte das Land besser ausgebildete Arbeitskräfte, eine stär-
zu Mikrochips übergehen. Der Aufstieg neuer Technologien             kere Industrie, eine integrativere Gesellschaft und offenere
wird eine Innovationsagenda noch wichtiger als bisher ma-            Grenzen. Noch nie war sie so tief mit dem Westen verwoben.
chen. Die Investitionen in ein qualitativ hochwertiges Bil-          Es gibt keine bekannten Faktoren, die Polen und Mittelost­
dungssystem, insbesondere auf Universitätsebene, sollten             europa daran hindern sollten, so reich wie Westeuropa zu
gesteigert werden. Polnische Universitäten bieten zwar eine          werden – wenn auch nicht so reich wie Deutschland, zumin-
solide Ausbildung, hinken aber hinter den europäischen und           dest nicht so bald.
globalen Spitzenreitern zurück. Schließlich wird es von ent-
scheidender Bedeutung sein, das Wachstum inklusiv zu hal-
ten und eine hohe soziale Mobilität aufrechtzuerhalten. Es
geht darum sicherzustellen, dass alle jungen Polen, unabhän-
gig von ihrem Elternhaus, die Chance haben, ihr Potenzial
voll auszuschöpfen und die zukünftigen Kopernikus, Marie
Sklodowska-Curies und Fryderyk Chopins zu werden.

                                                                 4
ÜBER DEN AUTOR                                                           IMPRESSUM

Prof. Marcin Piątkowski, Senior Economist der Weltbank                   Friedrich-Ebert-Stiftung | Vertretung in Polen
mit Sitz in China, Associate Professor an der Kozminski                  ul. Podwale 11 | 00-252 Warschau | Polen
Universität in Warschau. Autor des Buches »Europe’s
­
Growth Champion. Erkenntnisse aus dem wirtschaftlichen                   Verantwortlich:
Aufstieg Polens«, Oxford University Press. Er twittert bei               Dr. Ernst Hillebrand | Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-
@mmpiatkowski.                                                           Stiftung in Warschau
                                                                         www.fes-polska.org

                                                                         Bestellungen/Kontakt:
                                                                         biuro@feswar.org.pl

                                                                         Eine gewerbliche Nutzung der von der Friedrich-Ebert-­
                                                                         Stiftung (FES) herausgegebenen Medien ist ohne schriftliche
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Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht
notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.                                                              ISBN
                                                                                                                 ISBN978-83-64062-36-0
                                                                                                                     978-3-96250-374-1
DAS WUNDER AN DER WEICHSEL
               Polen ist Europas am schnellsten wachsende Volkswirtschaft

Polen ist die Volkswirtschaft Europas,    Der Erfolg Polens basiert auf einem ge-     Die polnische Volkswirtschaft ist stärker
die in den letzten dreißig Jahren am      lungenen Management der Transitions­        diversifiziert als die anderer mitteleuro-
stärksten gewachsen ist. Kaufkraftbe-     phase, dem Aufbau leistungsfähiger          päischer Staaten und damit weniger
reinigt hat sich das Prokopf-Einkommen    Institutionen, der erfolgreichen Integra-   empfindlich gegen sektorielle Schocks,
seit 1990 fast verdreifacht. Diese auch   tion in internationale Wertschöpfungs-      etwa im Automobilbau. Die Wachs-
im globalen Vergleich exzellente Wirt-    ketten und der institutionellen und fi-     tumsprognosen für die kommenden
schaft- und Einkommensentwicklung ist     nanziellen Unterstützung durch die EU.      Jahren sind ausgesprochen positiv; das
allen Bevölkerungsgruppen zugutege-                                                   Land wird auch weiterhin deutlich über
kommen. Der Gini-Index sozialer Un-                                                   dem EU-Durchschnitt wachsen.
gleichheit liegt unter dem EU-Durch-                                                  Das Land steht vor der Aufgabe, sein
schnitt. Das Land erreicht heute kauf-                                                Wachstumsmodell zukunftsfähig zu
kraftbereinigt 60 % des deutschen                                                     machen. Dazu bedarf es einer weiteren
Pro-Kopfeinkommens.                                                                   Stärkung der Institutionen, der Förde-
                                                                                      rung von technologischer Innovation,
                                                                                      der Aufrechterhaltung eines sozial inte­
                                                                                      grativen Wirtschaftsmodells und einer
                                                                                      weiteren Öffnung für Einwanderung.
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