Das Wunder der Schweizer Volksschule - eduBS
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Jonas Projer schützt Alain Berset, Justin Trudeau duckt sich weg Nummer 5-3. Fcbrua.r 2022-90.Jahrgang Fr. 9.-(inkl. MwSt.)-Euro 6.90 Das Wunder der Schweizer Volksschule Und warum es heute gefahrdet ist. Alain Pichard Dänemark weist den Weg Corona und Migration: Die Skandinavier machen's besser. WolfgangKoydl Tod am Mont Crosin Windrad schnetzelt Steinadler. Wer stoppt den Energiewende-Wahnsinn? AlexBaur
Die Weltwoche, 3.2.2022 DieSchillermtlssenetwas lernen. Das WunderderSchweizerVolksschule Die Schweiz hat das teuerste Bildungssystem der Welt. Die Lehrer halten die Qualität hoch und trotzen einer ausufernden Bürokratie. Alain Pichard A n meiner einstigen Schule pflegte unser perimentiert, aus Fehlern lernt, und ein Lernort, den internationalen TIMSS-Studien (Trends in Schulkommissionspräsident die Eltern der stark mit den Behörden, Eltern und Schülern International Mathematics and Science Study) Jeweils bei seiner Begrüssungsrede zum verbunden bleibt.Da haben es Masterpläne zum lag die Schweiz bis vor kurzem im oberen Drit- neuen Schuljahr mit dem Satz zu entlassen: Leidwesen der Bildungszentralen naturgemäss tel. Das sind, im Grunde genommen, recht gute «Ihre Kinder kommen in eine gute Schule!» schwer. Dieser Bildungsföderalismus mag auch Indikatoren fü.r ein solides Bildungssystem. Einmal fragte ich ihn beim Hinausgehen, ein Grund dafür sein, dass unsere Schulen immer Folgt man der öffentlichen Debane und den woher er eigentlich wisse, dass wir eine gute noch in einem recht guten Zustand sind. Medien, prasseln allerdings dramatische Unter- Schule seien. Er schmunzelte, überlegte und Sie geniessen einen hohen Stellenwert in der gangsfantasien auf uns ein. Wer die Schweizer sagte schliesslich: «Aus dem Gespräch mit den Bevölkerung. Schweizweit besuchen nur sechs Schulen besucht, könnte meinen, dass siebe- Leuten!» ProzentderHeranwachsendeneinePrivatschule wusst übersehen werden sollen. Oft werden «Und was verstehst du unter einer guten Die Tendenz ist zwar steigend. Aber das ist kein negative Einzelfälle skandalisiert oder tolle Schule»>,fuhrich weiter. WieausderPistolege- hoher Marktanteil. Leistungen etwa bei Preisverleihungen gehypt. schossen antwortete dieser: «Na, wenn die Schü- Die alltägliche profane Arbeit der Lehrkräfte lie- ler hier etwas lernen.» Diese einfache Weisheit Absurde Länderrankings fert zu wenig Schlagzeilen. eines KMU-Mannes sollte man beherzigen, Der Schweiz gelingt es immer noch, den Gross- 2001 wurde der «Pisa-Schock»erfunden, der in wenn es um die Frage geht, wie es generell um teil unserer fremdsprachigen Schülerinnen und unseren Medien flugs zur Bildungskatastrophe unsere Volksschule bestellt ist. Schiller in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Und hochstilisiert wurde. Rundherum «hysterisier- Zu Beginn einer Analyse über die Schwei- dies obwohl sie im Verhliltnis mehr Migranten ten» Journalisten, Politiker und Funktionäre zer Schule gilt es allerdings festzuhalten: Die aufgenommen hat als beispielsweise die USA. den doch eher simplen Test als «das Armaged- Schweizer Volksschule gibt es nicht. Trotz aller Im Vergleichzum Pisa-Wunderknaben Finnland don der öffentlichen Bildung». Damit eines klar Zenrralisierungsbemühungen und Top-down- mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 19 Prozent ist: Ich gehöre nicht zu den Pisa-Gegnern. Pisa Reformen ist unser Schulsystem immer noch fö- bringt die Schweiz-je nach Berechnungsmodell lidert uns ausserordentlich interessante Ergeb- deral aufgebaut. Die Kantone haben die Schul- - einen rekordtiefen Prozentsatz von 2,5 bis s nisse zu einzelnen Teilbereichen unserer Schu- hoheit, und die einzelnen Schulen sind in den Prozent hervor. le Pisa hatte aber nie den Anspruch, nationale jeweiligen Gemeinden eingebettet. Von vielen An den Berufsweltmeisterschaften halten Schulsysteme als Ganzes zu bewerten. Absurde als Flickenteppich verspottet, ist diese Konst- sich unsere Lehrlinge - obwohl nicht mehr Länderrankings ohne tiefgehende Analysen er- ruktion die eigentliche Stärke unseres Bildungs- ganz so souverän wie in früheren Zeiten - folgten durch die Medien und Bildungspolitiker, wesens.Sie ist ein Laboratorium, in dem man ex- immer noch in den Spitzenrängen, und in die zu einem beispiellosen Schul-Bashing an- 14 Weltwoche Nr. 5.22 Bild:
setzten. Es war die Stunde einer neuen Alli- Systems erkunden helfe. Das Zauberwort Konzepte und versuchen das umzusetzen, was anz von Politik, Verwaltung und Wissenschaft, «Bildungsmonitoring» machte die Runde. der Kommissionspräsident einst meinte: Die die sich zu den eigentlichen Playern unseres WieesmitderErnsthaftigkeitdicserVorhaben Schiller müssen etwas lernen. Bildungssystems entwickelten. bestellt ist, zeigt der Umgang mit dem Illettris- DiePolitiksorgtedafür,dassdieBildungsaus- mus, also der Schreib-und Leseunfähigkeit. Eine Wiedereinführung der Kleinklassen? gaben massiv erhöht wurden, von 16Milliarden der wirklich fundierten Erkenn misse von Pisa Und sie beginnen sich zu wehren. Zaghaft zwar, Franken (1990) auf rund 38 Milliarden Franken zeigte uns, dass das teuerste Schulsystem der aber immer energischer. Sie treten kaum noch in (2018). Dieses Geld floss nicht nur in die Praxis Welt, unseres, es fertigbringt, dass ein Fünftel die Lehrerverbände ein, welchediese unheilvolle und die neugegründeten Fachhochschulen. der Schiller nicht einmal die niedrigsten Stan- Bildungspolitik stets unkritisch unterstützt Wie auch in anderen Gefilden unseres Staats- dards beim Lesen erreichen, also praktisch als haben,sie erkämpften sich in einigen Kantonen lllettristen aus der Schulpflicht entlassen wer- die Lehrmittelfreiheit, und ausgerechnet in Basel Nachund nachgeriet den. Ein ernstgemeintes Bildungsmonitoring lancierte nun der behördenfreundlichste Lehrer- dieSchulein denWürgegriff - so milsste man annehmen - wilrde diese dra- verband der Schweiz eine Volksinitiative filr die matische Entwicklung zu beheben versuchen. Wiedereinführung der Kleinklassen. dieserTechnokraten. Stattdessen führte man Frilhfranzösisch und Letztlich sind es die verantwortliche Lehre- Frühenglisch ein. rin beziehungsweise der verantwortliche Leh- systems wurde ein massiver Ausbau des Ober- Dies zeigt uns, dass sich dieAllianz von Politik, rer, die mit ihrer Person unterrichten und dabei baus vorangetrieben. Evaluatoren, Lehrplan- Verwaltung und W1SSenschaftvon den Erforder- überzeugen milssen. Das ist vielen Lehrkräften entwickler, Berater, Bildungsforscher besetzten nissen der Schulen längst entkoppelt hat. Neben bewusst. «In einer demokratischen Gesell- die Schaltstellen der Bildungszentralen. Siebe- der Steuerung geht es schliesslich um Auftrags- schaft muss die öffentliche Schule überzeugen, gannen zielstrebig unser Schulsystem umzu- sicherheit und Jobs. In den Lehrerzimmern des und zwar mit ihren Leistungen und so mit ihrer bauen. Lehrkräfte wandenen in Scharen in die Landes zirkuliert der alte Sponti-Spruch: «Die Qualität. Sie muss sich entwickeln, damit auch neuen Berufsfelder, wirkten an Weiterbildungs- probieren mal was. Wenn es nicht klappt, ver- für die künftigen Generationen eine verlässliche instituten, wurden Dozenten an der Pädagogi- suchen sie was Neues. Vielleicht klappt es dann Bildungsversorgung gegeben ist. Dafür stehen schen Hochschule oder arbeiteten in den nun ja auch nicht.» gute Schulen ein» (Professor Jilrgen Oclkers). immer zahlreicheren Arbeitsgruppen und Lehr- Schliesslich gilt es, festzuhalten, dass unser mittelkommissionen und Funktionärsstellen Bildungssystem ein Mittelstandsprojekt ist. Die der Verbände. Schmiss der alte Gilgen als Zür- Nöte der Illettristen, weitestgehend Migranten- Alain Pichard ist Lehrer cher Bildungsdirektor seinen Laden noch mit ein kinder und Kinder der unterprivilegierten und Gcmeindepolitiker(GLP) in Biet. paar Dutzend Mitarbeitern, so arbeiten heute Schichten, interessiert diese Mittelschicht nur in der Zürcher Bildungsverwaltung an die 1800 in Sonntagspredigten. Das Frühenglisch wurde Angestellte. denn auch in Zürich in einer Volksabstimmung bestätigt. In links-griln regierten Städten wer- Frühfranzösisch und Frühenglisch den zurzeit staatlich finanzierte Privatschulen Die EDK (Schweizerische Konferenz der kan- tonalen Erziehungsdirektoren) schlug 2004 - zweisprachige Schulen - in Mittelstands- quartieren eingeführt, was die Restschul- Pensionierung mit einem Weissbuch vor, das Schulsystem auf problematik in den Aussenquartieren erhöht. die Pisa-Test-Formate umzustellen. Von da an Was haben uns all die Reformen der Allianz AHV entwickelte sich vieles zwangsläufig: Wer eine gebracht ausser einer ideologischen Phrasen- Wie hoch ist mein Anspruch? Vergleichbarkeit will, braucht Standards. Wer drescherei und einer «verschwurbelten» Pensionskasse Standards hat, muss diese ilberprüfen und be- Kompetenzrhetorik?Trotz gewaltiger Bildungs- Rente, Kapital oder beides? nötigtTests, und wer diese Tests will, braucht zu investitionen sinken die Leistungen unserer erwerbende Kompetenzen. Nach und nach ge- Schiller in den Pisa-Studien, die Fremdsprachen- Hypothek riet die Schule in den Würgegriff dieser Techno- didaktik mit dem Lehrmittel «Passepartout» Soll ich amortisieren? kraten. Allein in meinem Kanton Bern gab es in hat das Französisch an unseren Schulen mehr Steuern dieser Zeit zwanzig Schulrdormen, von denen oder weniger «gekillt». Der Drang ans Gymna- Wie kann ich sparen? die Hälfte in ein regelrechtesDesaster mündeten. sium nimmt zu, die Berufsbildung, eine starke Die Folge waren der Lehrplan 21, Kompetenz- Säule unseres Bildungssystems, kommt unter Nachlass raster, neue Beurteilungsformen, Bewertung Druck. Untaugliche, weil holistisch geprägte Wie sichereich meine iiberfachlicher Kompetenzen, siebenseitige Integrationskonzepte bringen viele Schulklassen Familieab? Beobachtungsfragebögen im Kindergarten, an ihre Belastungsgrenze. Ein eklatanter, in die- flächendeckende Tests in der Nordwestschweiz, ser Form noch nie dagewesener Lehrermangel Umbau des Hauswirtschaftsunterrichts, eine untergräbt die Unterrichtsqualität. An meiner abenteuerliche Fremdsprachendidaktik, «Class, früheren Schule arbeiten dlerzeitzwei Lehrkräfte, room Walkthrough»-Kontrollen der Schul- die kein Wort Deutsch sprechen. leitungen, neue Inklusionskonzepte und vie- Verfalle ich jetzt selber dem von mir am An- les mehr. Auch pädagogische Vorgaben wie fang dieses Textes gegeilsselten Alarmismus? Konstruktivismus, entdeckendes oder selbst- Dass all die negativen Auswirkungen bisher bestimmtes Lernen begannen die Methoden- nicht voll durchgeschlagen haben, ist den meis- freiheit der Lehrkräfte einzuschränken. ten der rund 90000 an der Volksschulearbeiten- Die Pisa-Tests wurden uns als Schritt in eine den Lehrkräfte zu verdanken. Sie halten wacker datenbasierte Forschung verkauft, welchegezielt stand, unterlaufen die praxisfernen Lehrplan- die Schwächen und Stärken unseres Bildungs- vorgaben und unausgegorenen pädagogischen Weltwoche Nr. 5.22 Die Weltwoche, 3.2.2022
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