Davos, Ort des Heils I - Thomas Sprecher
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Thomas Sprecher Davos, Ort des Heils I. Heilende Wirkung wurde dem Davoser Klima schon im 16. Jahrhundert zugeschrieben.1 1747 sodann berichtet der Davoser Landschaftsphysicus Meinrad Schwanz über medizinische Erfolge in St. Moritz und anderen Bündner Orten. Er glaubte den Grund dafür im Quellwasser und der Höhen- luft zu erkennen. Anfang des 19. Jahrhunderts gewinnt der Lobgesang erst recht an Kraft und Melodie. Das Davoser Klima wird als „ausserordentlich gesund" gepriesen. Ansteckende Krankheiten kämen nur äusserst selten vor. Dass es lungensüchtige Leute gebe, müsse man auf das häufige Trinken allzu kalter Milch zurückführen, das vernünftige Vieh sei fast gar keinen Krank- heiten unterworfen. Eine - im Flachland - weitverbreitete Krankheit dieser Zeit ist die Tuber- kulose. Man spricht noch getrennt von Skrophulose (Lymphknotentuberku- lose) und Schwindsucht (Lungentuberkulose) und kennt die Ursache bei beiden nicht. Die Therapie muss sich darauf beschränken, die Symptome zu bekämpfen, mit Bade- und Molkekuren, reichlicher Ernährung, Aufenthalt in anregendem Klima, eben zum Beispiel in Davos. Zwischen 1841 und 1865 verzeichnen die Davoser Landschaftsärzte Lucius Rüedi und Alexander Spengler sporadische Behandlungserfolge, vorwiegend bei Tuberkulose im Anfangsstadium. Spengler war ein Zugezogener. 1827 in Mannheim geboren, nahm er 1849 an der missglückten badischen Revolution teil und musste Fersengeld geben. Es verschlug ihn nach Zürich, wo er Medizin studierte. Auf den Rat von Bündner Studienfreunden bewarb er sich 1853 erfolgreich um die Stelle eines Landschaftsarztes von Davos. Dort nahm er wahr, dass die Lungenschwind- sucht fast nicht vorkam und dass sich ausgewanderte Davoser, die aus dem Die folgenden Ausführungen stützen sich vorwiegend auf: Ralf Schenk: Geschichte des heilklimatischen Kurortes Davos im Spiegel seiner Tagespublizistik, Bochum 1991; Felix Suter: Davos als Tuberkulose-Kurort, in: Ernst Halter (Hg.): Davos. Profil eines Phäno- mens, Zürich 1994, S. 29-38; Isabell Teuwsen: Tod und Krankheit in Davos, in: Tages Anzei- ger Magazin, Zürich, Nr. 14 (10. April 1982), S. 8-17.
324 Thomas Sprecher Davos, Ort des Heils 325 Tiefland lungenkrank zurückkehrten, in der Heimat rasch erholten. Das n. überzeugte ihn von der Heilkraft des Davoser Klimas für kranke Lungen. Er entschloss sich, vor Ort zu bleiben und entgegen aller kurrenten Lehrmei- nung für die Behandlung Lungenkranker im Hochgebirge einzutreten. Er Am 8. Februar 1865, einem sehr kalten Wintertag, begab sich in dem Ort, verordnete sogenannte Stabulationen, das heisst das Schlafen in einem Kuh- dem unsere Aufmerksamkeit gilt, etwas höchst Buchenswertes. Von Land- stall, dessen stark ammoniakhaltige Luft für Schwindsüchtige, Engbrüstige quart her kommend, neun Stunden anstrengender Fahrt hinter sich, langten und Neurastheniker als günstig galt. zwei junge Deutsche in Davos an und entstiegen erschöpft dem einspännigen Schon vor Spengler hatte der gleichfalls deutsche Arzt Hermann Brehmer Pferdeschlitten. Es handelte sich um den 32jährigen Buchhändler Hugo Rich- 1853 in seiner Doktorarbeit die Behauptung aufgestellt, die Tuberkulose sei ter und den acht Jahre jüngeren Arzt Friedrich Unger. Beide litten an der im Anfangsstadium immer heilbar: „Tuberculosis primis in stadiis semper Lunge. Richter hatte zwei Jahre lang in Görbersdorf vergeblich Heilung curabilis". Ein Jahr darauf eröffnete er im schlesischen Görbersdorf im Rie- gesucht, Unger sogar drei, ebenfalls ohne nachhaltigen Erfolg. sengebirge eine private Heilanstalt. Damit leitete er eine ganz neue therapeu- In ganz Davos gab es vier heizbare Zimmer, unter denen die Fremden wäh- tische Methode ein: die Heilstättenbehandlung. Brehmers Grundgedanke war len konnten, jene in der Pension Strela. Daneben verfügte noch das Rathaus die Ausnutzung von klimatisch bevorzugten Landschaften, sogenannten über zwei Zimmer, die durch einen grossen gemauerten Ofen vom Hausflur immunen Orten, wo die Tuberkulose unter der einheimischen Bevölkerung aus geheizt werden konnten. Indes pflegten mehrere Tage zu verstreichen, bis nahezu unbekannt war. Eine windgeschützte, höher gelegene, stadtferne und nur schon der Ofen selbst sich erwärmte. Die beiden Gäste entschieden sich waldreiche Gegend hielt er für die beste Voraussetzung, der geschwächten schnell für die Pension Strela. Sonderliche Freude lösten sie dort übrigens Konstitution aufzuhelfen. Die Patienten hatten ihre Tage hinzubringen mit nicht aus. Auf Wintergäste war man nicht eingerichtet. Es kostete einige Spaziergängen, Terrainkuren zur Kräftigung der Muskulatur, Übungen zur Mühe, die nötigen Lebensmittel aus Chur heraufkommen zu lassen. Die Erreichung tieferen Atmens, Kaltwasserkuren und einem streng diätetisch Kranken wussten sich allerdings in diese Verhältnisse zu finden und blieben ausgerichteten Speiseplan. Sie wurden je nach ihrem Zustand individuell in ihren Ansprüchen bescheiden. betreut und überwacht. Obwohl Brehmer über die Ätiologie der Tuberku- Sie bildeten für länger das Tagesgespräch. Man hielt es für eher unwahr- lose keine Kenntnisse besass, erzielte er damit stupende Heilungsergebnisse. scheinlich, dass sie tatsächlich ihrer Gesundheit wegen gekommen seien. Am Als .immunen Ort' - geringe Tuberkulosehäufigkeit unter der einheimi- Ende handelte es sich um Flüchtlinge, die sich in der Abgelegenheit des schen Bevölkerung - musste man auch Davos betrachten. Zudem stimmte Hochgebirges flachländischen Ordnungshütern entziehen wollten? Nach die unabhängig von Brehmer entwickelte Kurmethode weitgehend mit jener einigen Tagen sprach ein Landjäger vor und begehrte ihre Pässe zu sehen. Sie in Görbersdorf überein. Aber Brehmer wurde kein Freund von Davos. Er waren vorhanden und überdies in bester Ordnung. Allmählich wurde man verurteilte das rauhe Höhenklima als zu riskant, so wie er auch über das zutraulicher. Man verlor den Argwohn und behielt die Neugier. mediterrane milde Klima seinen Stab brach. Von Davos behauptete er, dort Erregte schon Aufsehen, dass die beiden Männer überhaupt nach Davos kämen wegen der Nähe zu Gletschern Lungenblutungen in grosser Zahl vor. gekommen waren, so erst recht, als sie auch noch Anstalten trafen, ,Kur zu Das war ein bald widerlegtes Vorurteil, das den Höhenort aber gleichwohl in machen'. Mitten im Winter verbrachten sie ihre Tage im Freien und Fri- dauerhaft-lästige Verbindung mit dem Wort „Gletscherluft" brachte. schen. Sie legten drei Bretter über einen Heuschlitten und improvisierten darauf Liegekur. Der Erfolg übertraf alle Erwartungen. Beide Patienten wur- den binnen kurzem wieder arbeitsfähig. Diese erstaunlich schnelle Wiederherstellung sprach sich noch schneller herum und bewirkte den Zuzug weiterer Kurgäste. Den Winter 1866/67 verbrachten schon fünfzehn Patienten im Hochgebirge. In der Folge stieg die Gästezahl ständig an. Man kam kaum nach im Erstellen von Unterkünften. 1875 zählte man erstmals mehr Winter- als Sommergäste. Der 8. Februar 1865 ist für Davos ein Tag fast wie der 1. August 1291 für die Eidgenossenschaft, nur dass das Davoser Datum wesentlich verbürgter ist.
326 Thomas Sprecher Davos, Ort des Heils 327 Die Ankunft der ersten Wintergäste nimmt eine Schlüsselstellung ein im selbstheilende Kraft der Natur an. Seine Hauptaufgabe war es, den natürli- Selbstverständnis des Kurortes. Sie markiert nichts weniger als den Aufbruch chen Heilprozess zu unterstützen: Medicus cumt, natura sannt. aus den Senken der Schicksalslosigkeit gegen die Grosse hin. Friedrich Unger Dies galt grundsätzlich auch für die Görbersdorfer Therapie, die allerdings praktizierte nach seiner Genesung über zwanzig Jahre als Kurarzt und wurde durch Peter Dettweiler entscheidend ausgebaut wurde. Dettweiler war 1869 so zum Urbild des Davoser Arztes, der selbst einmal krank gewesen war. Assistent von Hermann Brehmer, später ärztlicher Leiter einer Heilanstalt in Hugo Richter heiratete eine Tochter seines einst so reservierten Gastwirts Falkenstein im Taunus. Er propagierte die Behandlung der Lungenschwind- und übernahm als erstes selbst die Leitung der Pension Strela. Er war aber sucht in geschlossenen Heilanstalten und führte das psychische Moment in Buchhändler, und so erwarb er 1867 eine Verlagsbuchhandlung in Basel. die Therapie ein. Dem Arzt wurde die Aufgabe zugewiesen, suggestiv auf den Dort erschienen die ersten Broschüren über den jungen Kurort. 1872 kehrte Patienten einzuwirken. Wert legte Dettweiler wie schon Brehmer auf die Richter nach Davos zurück, wo er 1880 eine eigene Buchdruckerei wagte. In ausdrückliche Orientierung am individuellen Kranken im Gegensatz zur ihr erschienen fortan die zuvor in Basel gedruckten Davoser Blätter. Ausrichtung an der äusseren Krankheit. Neu waren sodann die systemati- Noch in dem Basler Verlag Richters veröffentlichte Alexander Spengler schen Liegekuren auf geschützten Terrassen und in Pavillons. Wie schon 1869 unter dem Titel Die Landschaft Davos als Kurort gegen Lungenschwind- Brehmer stellte sich auch Dettweiler gegen Davos, indem er den Einfluss des sucht seine Erfahrungen und Beobachtungen. Es handelt sich um die erste Klimas verneinte, was wiederum in Davos Widerspruch herausfordern systematische und exakte Darstellung der höhenklimatischen Behandlung der musste. Tuberkulose unter Einbezug von Klimatologie und Physiologie. Spengler erkannte anhand der unerwarteten Genesung der beiden deutschen Patienten die grossen Zukunftsmöglichkeiten des Ortes, der Heilkräfte auch im Winter bewies. in. Er bemühte sich daher auch um die Erstellung eines modernen Kurhauses zur Unterbringung seiner immer zahlreicheren Patienten. 1867 begonnen, 1882 entdeckte Robert Koch den Tuberkulose-Bazillus, den Erreger der fata- kam dieser Bau aber bald ins Stocken. Es fehlte an Geld. Das war die Stunde len Seuche. Nun konzentrierte sich die Tuberkuloseforschung auf die Bakte- des Willem ]an Holsboer. Holsboer war am 28. Mai 1867 mit und wegen sei- riologie und auf eine kausale Therapie als Ersatz für die symptomatischen ner todkranken, bald das Zeitliche segnenden Frau in Davos angekommen. oder empirischen Behandlungsmethoden. 1890 machte Koch erste Andeu- Nun beteiligte er sich am Kurhaus und übernahm es 1868 gemeinsam mit tungen über ein spezifisch wirkendes Heilmittel: das Tuberkulin, ein lösli- Spengler als „Kuranstalt Spengler-Holsboer". Das Kurhaus brannte 1872 ab, ches Extrakt von Zerfallsstoffen und Stoffwechselprodukten der Tuberkel- wurde aber schon im Jahr darauf neu und grösser wieder eröffnet und in der bakterien. Es war bald in aller Munde. Auch in Davos, wo die Davoser Blätter Folge allseits ausgebaut. Wie Spengler assimilierte sich auch Holsboer schnell am 1. November 1890 unter dem Titel Adieu Davos folgendes Gedicht veröf- in Davos, was beide, nach Hugo Richters Muster, durch Heirat mit einer fentlichten2: Tochter des Ortes manifestierten. Spengler und Holsboer wurden zu medizi- nischen und ökonomischen Gründerfiguren und ersten Zelebritäten des Vernahmst du sie, vom „Koch" die Kunde So freudevoll, so inhaltsschwer? Kurortes. Es giebt bald auf dem Erdenrunde Man hat die Kurmethode Spenglers nach ihren Hauptfaktoren klimatolo- Nicht einen Lungenkranken mehr! gisch-balneologisch-diätetisch genannt. Sie bestand aus Freiluftbehandlung, Kaltwasserbehandlung mit Duschen und einer gesunden Ernährung. Freiluft- Es hat der Herr Bacillentödter, behandlung, das bedeutete zuerst: nach der Leistungsfähigkeit des Patienten Vor dem man längst ja hat Respekt, abgestufte Spaziergänge. Erst nach und nach kam es auch zu lockeren Liege- Den kleinen Lungensdrwerenöter Mit seinem scharfen Aug' entdeckt. kuren. Hinzu traten Hilfsmethoden wie das Spirometerblasen, mit dem die Lungenkapazität festgestellt wurde, das Fiebermessen, Lungenheilgymnastik, Inhalationen. Der Arzt nahm - man kann sagen: notgedrungen - eine starke Zitiert nach: Schenk (s. Anm. 1), S. 180.
328 Thomas Sprecher Davos, Ort des Heils 329 Dann hat er auf den bösen Kunden hatte Erfolge erzielt, aber nur bei den allerersten Anfängen des Leidens. Schwerere Die ganze Wissenschaft gehetzt, Fälle lassen sich dadurch nichtheilen... Und endlich nun ein Mittel funden, Das lautete so ganz anders als die erste frohe Botschaft. Mit den grossen Hoffnun- Das den Verderblichen zersetzt. gen, welche diese geweckt hatte, war es zu Ende. Einstweilen, ach, vielleicht noch Portier! mein Koffer! schnell doch - eile! auf lange, vielleicht für immer müssen wir uns begnügen mit dem, was das Davoser Ich packe ein, es geht nach Haus; Klima gegen die Schwindsucht vermag, so heisst es jetzt bei unsern Kurgästen. Wir Unnöthig, dass ich länger •weile, möchten heute mahnen, die Hoffnungen nicht gar zu tief hinabzustimmen... Mit dem Bacillus ist's ja aus... Einstweilen halten wir an der Hoffnung fest, es werde mit der Kochschen Entdek- kung nicht gehen, wie mit den vielen andern Mitteln, die in den letzten zehn Jah- Der Kurverein hält nur noch eine ren zuerst als unfehlbar angepriesen wurden, dann aber bald sich als werthlos er- - ach - seine letzte Sitzung ab; wiesen. Koch ist und bleibt ein Forscher ersten Ranges, der nicht in den Tag hinein Dann spült er mit Veltliner Weine Hülfe verspricht. Zu bedauern ist nur, dass von unberufener Seite, gewiss ganz ge- Den schweren Kummer still hinab. gen Kochs Willen, bei Hunderttausenden von Kranken Hoffnungen erregt worden Verlassen steht es und vergessen sind, welche so bald wieder bitterer Enttäuschung haben weichen müssen... Das einst so herrliche Davos. Dieser Winter 1890/91 war für Davos ein abenteuerliches u n d prägendes Auf seinen Dächern unterdessen Erlebnis. Er machte die Gefahr deutlich, dass die Höhenkur bei Tuberkulose Wächst statt des goldnen - graues Moos. und damit der Kurort überhaupt überflüssig würden. Anderseits gab der Das war Satire. Schon die nächste Woche folgte in den Davoser Blättern ein Misserfolg des Tuberkulins der Skepsis ein griffiges und denn auch oft ergrif- realistischer Bericht über den extremen Stimmungswechsel, in den die Tu- fenes Argument in die Hand bei der späteren Einführung neuer Behand- berkulinentdeckung Tausende von Ärzten u n d Kranken versetzte 3 : lungsmethoden. Man kann sich denken, welche Erregung die Kunde, dass ein sicheres Heilmittel gegen die Tuberkulose gefunden sei, bei unsern Kurgästen hervorrief. Ist es Wahr- heit oder nur ein Traum, so fragte man sich, dass man in wenigen Wochen schon die Schwindsucht durch ein Mittel so einfach wie die Kuhpockenimpfung wird hei- IV. len können? dass wir vielleicht schon vor Neujahr unsere Plaggeister, die Bacillen los sein werden und Davos entbehren können?... Bis Ende der 1880er Jahre wohnten die Davoser Kurgäste fast ausschliesslich Tausend schöne Hoffnungen erwachten, tausend Zukunftspläne wurden geschmie- in privaten Pensionen und Hotels, die neben den Tuberkulösen oft auch det. Und unter den Einheimischen hörten wir mehr als einmal sagen: Wenn es Gesunde beherbergten. Die Hotels standen nicht unter direkter ärztlicher wahr ist, dass man in Zukunft die Lungenkranken ohne Klima durch blosse Imp- Leitung. Die Kurgäste Hessen sich privat von einem Arzt behandeln und fung heilen kann, dann ist das ein solcher Segen für die Welt, dass wir nicht klagen Richtlinien für die Kur geben, die sie dann mehr oder weniger befolgten. In dürfen, wenn auch der Kurort Davos und wir mit ihm zu Grunde gehen sollten. Die Ärzte warnten vor übertriebenen Hoffnungen. In der kurzen Zeit, sagten sie, diesem Punkt stiess Dettweiler, der eine genaue ärztliche Kontrolle der Pati- wahrend welcher mit Kochs Präparat Versuche an Menschen gemacht worden sind, enten propagierte, auf offene Ohren in Davos. Auch hier mehrten sich die kann unmöglich schon ein sicheres Resultat erzielt worden sein. Die Nachricht ist Stimmen, welche die Ärzte aufforderten, bei Disziplinlosigkeiten ohne Rück- zum Mindesten verfrüht, und so einfach, wie die Laien sich's vorstellen, kann es sicht einzuschreiten. Es erwuchs ein immer schrillerer Streit zwischen dem auch im günstigsten Fall mit der Heilung nicht werden... ,offenen' Kurort und der geschlossenen Heilanstalt. Dazwischen standen Die genauem Nachrichten kamen nur zu bald. Man hat, so meldeten leider die Zei- Vermittler, die das eine durch das andere nicht ausgeschlossen sehen wollten. tungen, sehr übertrieben. Die Herstellung des Mittels und seine Anwendung ist Eine wirkliche Synthese zwischen geschlossener Heilanstalt und offenem äusserst schwierig; vorläufig ist nur Koch im Stande, dasselbe herzustellen. Man Kurort, zwischen Sanatoriumsbehandlung und Hochgebirge begann 1889 mit der Gründung eines Privatsanatoriums für Lungenkranke: dem nach seinem Leiter Karl Turban benannten Sanatorium Turban. Zitiert nach: ebd., S.180f.
330 Thomas Sprecher Davos, Ort des Heils 331 Auch Turban war ein deutscher Arzt. 1886 weilte er am Institut von Ro- den täglich gereinigt und sterilisiert. Der Tagwache schloss sich eine kalte bert Koch in Berlin, um sich mit dem damals neuen Fach Bakteriologie ver- Packung oder Dusche um sieben Uhr an. Sechsmal täglich wurde die Tempe- traut zu machen. Er erkrankte dabei an Tuberkulose, was mehrere Kurauf- ratur gemessen. Bei befriedigenden Fortschritten konnte die Ordnung ein enthalte an der Riviera nach sich zog, bis dem 33jährigen die ärztliche Lei- wenig gelockert werden. Zum Beispiel musste das Mittagessen nicht mehr im tung eines neu zu gründenden Davoser Sanatoriums angetragen wurde. Zur Zimmer, sondern durfte im gemeinsamen Speisesaal eingenommen werden, Vorbereitung begab er sich zehn Tage nach Falkenstein, wo er das Dettwei- in Anwesenheit des Chefarztes und seines Assistenten. Anderseits kamen lersche Kurprinzip kennenlernte. Auch in Davos sah er sich um. Im nachhin- disziplinarische Entlassungen regelmässig vor. Wer von Doktor Turban weg- ein schien es Turban, als hätte Davos nach dem geschlossenen Sanatorium geschickt worden war, den wagte kein anderes Haus mehr aufzunehmen. geradezu geschrieen: Die Streitfrage .geschlossene Anstalt oder Kurort' wurde obsolet. Beide konvergierten nach den ersten Turbulenzen zum Prinzip des .disziplinierten Dass damals in Davos die Einführung strengerer Prinzipien eine dringende Not- Kurorts'. Turbans Erfolge machte das nach seinen Plänen erstellte Sanato- wendigkeit "war, davon konnte ich mich bei Besuchen überzeugen, die ich in dem rium weitherum bekannt. Es wurde richtungsweisend für alle weiteren Neu- Jahre vor Eröffnung der Anstalt zu meiner Orientierung an dem Kurorte machte: Fiebernde und Blutspuckende wurden auf Bergspaziergänge geschickt; bei den re- gründungen. Aber auch viele der schon bestehenden Kuranstalten passten gelmässigen Bierkonzerten im Kurhause sangen die Kehlkopfkranken die Kom- sich den baulichen Besonderheiten des Sanatoriums Turban an. Die schma- merslieder nach Kräften mit; bei Festlichkeiten in den Hotels tanzten schwer- len, windausgesetzten Balkone verschwanden und wurden durch eine breit kranke Herren und Damen in betrunkenem Zustande die damals üblichen beweg- ausgebaute Front unterteilter Veranden ersetzt. Auf ihnen war Raum für ein ten Tänze - und Ärzte schauten zu.4 Balkonbett oder einen Liegestuhl. Die Therapie bestand neben den bewährten diätetisch-balneologischen Die Heilstättenbehandlung gab hier Gegensteuer. Sie bezweckte, mit Dett- Prinzipien und dem Turbanschen autoritär-hierarchischen Prinzip der Be- weilers Worten, handlungskontrolle aus der systematischen Nutzung des Klimas. Um dessen durch persönliche Hygiene und Diät, durch stete Belehrung, Überwachung, durch Heilkraft rankten sich unterdessen die wildesten Gerüchte. Hoffnung, Ent- das Beispiel und festgeregelte Tagesordnung, nicht am wenigsten durch die Persön- täuschung, Wunderglauben, Ablehnung - alles war, in sich verflochten, lichkeit des Arztes eine an die jeweilige Leistungsfähigkeit angepasste Lebensweise gleichzeitig da. Der eine Patient verdrängte, dass er sterblich war, der andere herbeizuführen beziehungsweise zu erzwingen. Wo sanfte Gewöhnung nicht hilft, verfocht mit Inbrunst die These, es seien in Davos schon oft zerstörte Lun- muss der Zwang, der rückhaltlose Tadel, ja der Ausschluss von weiterer Behand- genflügel wieder nachgewachsen. Es dauerte, bis sich die Anschauungen einer lung eintreten.5 ruhigen Rationalität unterwarfen. Aus wissenschaftlicher Sicht kann gesagt Der Kranke war zur Einsicht zu bringen, dass er mit der gewissenhaften werden, dass die Heilwirkung des Hochgebirgsklimas auf der günstigen Durchführung der Kur Arbeit, dass er Dienst leiste, eine Pflicht erfülle. Sein Kombination verschiedener Klimaelemente beruht: Sauerstoffmangel, inten- Krankheitsverlauf wie auch die Einhaltung der Behandlungsvorschriften sive Wärme- und Ultraviolettstrahlung, niedrige Lufttemperatur. Diese Reiz- waren streng zu kontrollieren, was eine stete Präsenz des Arztes bedingte. faktoren führen zu einer Aktivitätsanregung aller Organe und Stärkung der Der alte Tuberkulosepatient Turban wurde so zum .Tuberkulosetyrannen' Abwehrkräfte. Dazu kommen Schonfaktoren wie die Trockenheit und Rein- von Davos. Dieser charismatische Arzt übte Wirkungen auf den ganzen Kur- heit der Luft, der Windschutz, die geringe Abkühlungsgrösse. ort aus. Überall avancierten nun Disziplin und Sauberkeit zum obersten Anfänglich hat man bei der Freiluftbehandlung, wie erwähnt, Wert vor al- Gebot. Die Hausordnungen blähten sich auf. Die Patienten wurden zur per- lem auf Bewegung und Spaziergänge gelegt. Dettweiler führte dann die Frei- sönlichen Hygiene, insbesondere beim Husten und Spucken, erzogen. Der luft-Liegekur in der Tuberkulosetherapie ein. In Davos war Turban ihr Weg- Auswurf gehörte in den mobilen Spucknapf, im Jargon .Blauer Heinrich' bereiter, wobei sein Konzept an Strenge wesentlich zulegte. Mehrere Male genannt, der den Kranken überallhin begleitete. Leib- und Bettwäsche wur- täglich und noch in der Nacht hatten die Kranken sich auf den Liegebalkon oder in die allgemeinen Liegehallen zu legen. Der Typus des in Pelzsack und Wolldecken eingemummten Liegestuhlmenschen in seiner ärztlich verordne- 4 Karl Turban: Lebenskampf. Die Selbstbiographie eines Arztes, in: Acta Davosiana, Jg. 3, ten Passivität wurde ein beliebtes Sujet der Karikaturisten. Der Liegebalkon Nr. 10 (1935), S. 1-53, S.U. 5 geriet zum Hauptaufenthaltsort und die Liegekur zum zentralen Erlebnis des Zitiert nach: Schenk (s. Anm. 1), S. 149.
333 332 Thomas Sprecher Davos, Ort des Heils Kuraufenthaltes, so dass Tuberkulosekur und Liegestuhl beinahe synonym wurden. Ihr irrational-psychologisches Moment machte die Liegekur gleich- zeitig zum Mysterium. Statistisch bewirkte der ganze Strauss an Vorschriften, Regeln und diszi- bTgann ^ r Kurgast die künftige Grosse des Kurortes zu ahnen und frohlockend plinierenden Massnahmen, der ganze Aufwand an kontrollierender Energie rief es einer dem andern zu: „Davos wird Weltstadt! nur sehr langsame Fortschritte. Um 1900 sind zehn Jahre nach ein- oder Um weltstadtfroh zu werden, bedurfte es damals noch wenig. Mit der Fertig- mehrmaliger Sanatoriumskur über 70 Prozent der ehemaligen Offentuberku- lösen, d. h. Kranke mit ansteckender Lungentuberkulose, gestorben. Dreissig Jahre später sind es immer noch gegen 50 Prozent. Was die isolierende Heil- stättenbehandlung hingegen erreichte, war der kontinuierliche Rückgang der Zahl der Angesteckten. Sie verhinderte die weitere Ausbreitung der Krank- heit und schützte die Familienangehörigen der Patienten vor diesen. bracht hat, weisen ihn als einen Nobelkurort aus. In den F r e m d e n d wimmelt es von Rittergutsbesitzern, Geheimen Staatssekretaren, Grafen, Baronen, Fürsten und nicht minder echten Prinzen. üTvo wurde so sehr zum Zentrum der Schwindsuchtsbekampfung, zum V. T u t Z l c ^ k u r o r t schlechthin, dass es fast ein Monopo darauf beanspru- chen zu dürfen glaubte. Darüber mokieren S1ch die folgenden Verse aus dem Bereits wenige Jahre nach der Ankunft der ersten Wintergäste begriff sich Jahre 1891: Davos als Kurort. 1871 wurde der Kurverein gegründet, der ein Jahr darauf Wenn du die Phthisis hast, mein Sohn, eine Kurtaxe erhob. Seit 1870 ist private Werbung durch Hotelprospekte zu Tuberkeln in der Lunge schon, verzeichnen. Die erste Kollektivreklame folgte dann allerdings erst Mitte der Dazu Kavernen, klein und gross, 1880er Jahre. Zu Reklamezwecken benutzten die Wirte anfänglich auch die Dann reise schleunigst nach Davos; Fremdenlisten, indem sie lustig die Namen von Gästen aufführten, welche Nur dort ist Heilung dir gewiss, seit Wochen abgereist oder gar überhaupt aus dem Irdischen abberufen wor- Wo anders nirgend. Merk dir dies!7 den waren. Seit dieser Zeit schon begannen sich die superlativischen Bezeichnungen für Aufstieg und Ausbau des Kurortes gingen rasch voran. Davos erlebte eine Davos zu häufen: Einziges Wintersanatorium ™ f ™ ^ ^ £ ^ Welle von Sanatoriumsgründungen. Dadurch veränderte sich sein Bild in biree- Weltkurort; Weltsportplatz; Sanatorium der Welt Villenstadt im kurzer Zeit. Einen Eindruck von dem frisch prosperierenden Kurort vermit- Hoch J S ^ Mekka der Tuberkulösen; Geistiges Zentrum im Hochgebirge; telt der folgende Bericht von 1883, der auf das Jahr 1870 zurückblickt: Berg des Heues; Sonnenterrasse Europas; Fremdenstadt über den Wolken; Perle schweizerischer Hochgebirgskurorte. Wo jetzt Angleterre, Boul und Belvedere liegen, dehnten sich damals grüne Wiesen aus und keine Seele dachte noch daran, dass dort jemals ein Hotel sich erheben würde... Der Schweizerhof war im Bau begriffen und für Hotel Rhätia hatten soeben die Erdarbeiten begonnen. Die Trümmer einiger Holzhütten, die vorher an dieser Stelle gestanden hatten, lagen noch auf dem Platze herum. Fast in jedem Bauern- hause war irgendeine dunkle Kammer für Kurgäste eingerichtet und im Laufe der Sommersaison wurde fast täglich eine bisher übersehene Räumlichkeit entdeckt, Unterhalt eines Omnibusses zwischen Davos Dorf und Platz Abtuhr des die sich zu Kurzwecken trefflich verwenden Hess, wenn man ein Bett, einen Tisch H r h f s k e h n c h t s in einheitlichen Containern, amtliche Fremdenkontrolle, und einen Stuhl hineinstellte und ein paar Nägel in die Wände schlug. Bereits waren mehrere Kaufläden vorhanden. Einer derselben, in dem man Stöcke, 6 Davoser Blätter (7.4.1883); zitiert nach: ebd., S.245f. Thermometer, Feldflaschen, Milchgläser, Handschuhe und andere Luxusartikel 7 Zitiert nach: Davoser Revue, Jg. 66, Nr. 4 (1991), S. 43.
334 Thomas Sprecher Davos, Ort des Heils 335 Verbesserung der Wasserversorgung und der Kanalisation, Rauchbeseitigung, Industrie ins Hochgebirge zu verpflanzen. Übers Fragen kam man freilich Strassenbau, Anlage von Spazierwegen, Ruhebänken, Errichten von Trot- nicht hinaus. toirs, Inkraftsetzung des Desinfektionsgesetzes, das die amtliche Desinfektion In die gleiche Richtung zielten Bestrebungen, für alle, auch die besser ge- aller Fremdenzimmer sowie ein Verbot des Ausspuckens im Freien vorsah. stellten Kranken, eine manuelle Betätigung einzuführen. Die Motivation war Durch diese Anstrengungen wurde Davos auf dem Gebiet der Kurorthygiene hier therapeutischer Art. Die Patienten verfügten über viel Zeit, mit der sie führend. meist nichts Rechtes anzufangen wussten. Das Zeittotschlagen wurde zur Aufgabe. Man löste sie mit Spazierengehen, Billardspielen, Zeitungslesen, Tabakrauchen, Essen, Messen und Dösen. Am Abend, da keine Müdigkeit sich einstellen wollte, verlangte man nach Amüsement. Es kam zu Kostümfe- VI. sten und andern einschlägigen Veranstaltungen mehr, die dem Kurerfolg nicht selten Abtrag taten. 1920 veröffentlichte Alexander Prüssian in der Die Tuberkulose galt im 19. Jahrhundert als Schicksalskrankheit, als typische Münchener Medizinischen Wochenschrift den Aufsatz Aerztliche Reiseeindrücke Krankheit der Romantik. Sie verfeinerte und adelte den Tuberkulösen, er aus Arosa und Davos.% Darin wies er auf die moralische Gefährdung der wurde in all seiner Morbidität sensibel und genial. Es bliebe zu untersuchen, Kranken hin: „Die Gelegenheit zu lauten, oberflächlichen und kostspieligen ob die Tuberkulose, ihrer eminenten kulturgeschichtlichen Bedeutung unbe- Vergnügungen" finde „insbesondere bei den jugendlichen Lungenkranken schadet, tatsächlich besonders viele Künstler erkranken Hess oder ob sich einen nur zu dankbaren Widerhall". Der Autor riet dem Arzt, „der einen einfach, wie zu vermuten ist, aus statistischen Gründen unter den sehr vielen jugendlichen und nicht sehr charakterfesten Patienten nach Arosa oder Da- Kranken auch viele Künstler befanden. vos" schicke, zuvor dessen Angehörige „mit allem Nachdruck auf die dort Gleichzeitig galt die Tuberkulose auch als Proletarierkrankheit. Am Ende bestehenden Gefahren hinzuweisen". des 19. Jahrhunderts schwanden im Deutschen Reich Jahr für Jahr 160.000 Es ist zweifellos, dass keine andere chronische Krankheit dem äusserlichen wie in- Menschen an Tuberkulose dahin, in der Schweiz bei einer Gesamtbevölke- nerlichen Menschen ihren Stempel in dem Masse aufdrückt, wie es bei der Lungen- rung von 3,4 Millionen gegen 9.000 Menschen, was 15 Prozent aller Todes- tuberkulose der Fall ist [...]. Man ist immer wieder erstaunt zu sehen, wie ein [...] fälle ausmachte. Die Erkenntnis, dass die Tuberkulose eine Volksseuche war vielseitig gebildeter und geistig regsamer Mensch, mit dem man sich am Morgen - sogar die grösste -, führte ab 1894 zur Errichtung von Volkssanatorien. In über literarische und philosophische Fragen eingehend unterhalten hat, am Nach- Davos entstand mit der Basler Höhenklinik eine der ersten Volksheilstätten mittag und am Abend stundenlang in raucherfüllten, lärmenden Lokalen dem in der Schweiz. stumpfsinnigen Geschiebe des Tango oder des Foxtrott zusieht und sich selbst daran beteiligt. Und das monatelang, Tag für Tag. Das war in dem schon immer als teuer geltenden Kurort ein Segen für viele Kranke. Um 1900 kostete der Aufenthalt in einem nicht eben luxuriösen Prüssians Absicht lag in der Warnung vor Davos und Arosa und dem dort zu Privatsanatorium etwa Fr. 500.- im Monat. Der Tagespreis in einer Volks- beobachtenden „besinnungslosen Genusstaumel". Davos sei „schon von dem heilstätte lag zwischen Fr. 1,50 und Fr. 5.-. Da man mit einer durchschnittli- Augenblick an, als es [...] sich zu einem grossen Sportplatz auszugestalten chen Kurdauer von zwei Jahren rechnen musste, um einen anhaltenden Er- anfing, auf eine für ärztliche Begriffe schiefe Bahn" gelangt. Solche Kritik rief folg zu erreichen, war dies aber für viele Arme auf die Dauer immer noch wieder einmal nach strengerer Handhabung der Kur - in die gleiche Richtung nicht zu bezahlen. Man sammelte für sie daher in unzähligen Basaren, Wohl- hatte ja schon Turban gezielt -, ohne aber dass radikale Änderungen eingetre- tätigkeitskonzerten, Theaterabenden und Lotterien. Nur wenigen gelang es, ten wären. Dies geschah erst mit der Chemotherapie. selbst vor Ort das nötige Geld zu verdienen, in ihrem bisherigen Beruf oder als Aushilfe in einem der Geschäfte, und dabei ihre Kur fortzusetzen. Die unbemittelten Patienten der ersten Volksheilstätten mussten sich mit einem Aufenthalt von ungefähr drei Monaten begnügen und konnten meist nur auf eine vorübergehende Besserung hoffen. Schon 1897 fragte man sich deshalb, Münchener Medizinische Wochenschrift, Jg. 67, Nr. 32 (6.8.1920), S. 939, vgl. S. 1458. Ähn- ob es nicht möglich sei, im Interesse solcher Kranken eine verdienstbringende lich schon Otto Amrein: Die Tuberkulose in ihrer Wirkung auf Psyche und Charakter, in: Korrespondenzblatt für Schweizer Ärzte, Jg. 49 (1919), S. 1300-1309.
336 Thomas Sprecher Davos, Ort des Heils 337 vn. Was tun? Man erinnerte sich dankbar anderer Erkrankungen, bei denen das Hochgebirgsklima Heilkraft bewährte. Schon vor der Jahrhundertwende waren hier auch zahlreiche nichttuberkulöse Erkrankungen behandelt wor- 1943 wurde das Streptomycin entdeckt, das bei einer relativ geringen Toxizi- den. Eine Zusammenstellung des ärztlichen Leiters des Sanatoriums Schatzalp tät eine maximal wachstumshemmende Wirkung gegenüber mehreren Bakte- von 1917 nennt 25 sichere Indikationen, darunter Prophylaxe der Tuberku- rien einschliesslich des Tuberkelbazillus zeigte. Anfang 1947 kamen die ersten lose, chronische Brustfellentzündungen, chronische Bronchitiden, chronische geringen Mengen von Streptomycin in der Schweiz in den Handel. Es wurde Nebenhöhleneiterungen, Syphilis, Malaria, Neurasthenie, Fettsucht und ausschliesslich in den USA hergestellt und war sehr teuer. Ein Gramm ko- Rachitis. Am zukunftsreichsten für das Fortbestehen des Kurortes Davos stete zuerst über Fr. 100.-, was bei einer Behandlungsdauer von drei bis vier erwiesen sich Lungen- und Bronchialkrankheiten, Allergien, Hautkrankhei- Monaten nur von den wenigsten bezahlbar war. Der Preis sank dann bis 1949 ten, Rehabilitation von Kranken mit rheumatologischen, orthopädischen auf etwa Fr. 3.-/Gramm. und chirurgischen Leiden. Davos nahm das Streptomycin verhalten auf. Es gab zwar schon 1946 den Auch wenn nur sieben frühere Heilstätten überlebt haben, so hat sich Da- ersten Fall einer ohne irgendwelche Residuen abgeheilten tuberkulösen vos mit diesen Heilanzeigen als Heilort doch behaupten können. Insgesamt Hirnhautentzündung. Man hielt aber dafür, dass das Streptomycin nur ein aber sah sich der Heilort abgelöst durch den Sportort. In den fünfziger Jah- Faktor innerhalb des gesamten Behandlungsplanes sei, neben welchem die ren wurde zudem der Kongresstourismus gefördert und entwickelt. Es gab altbewährten Methoden nicht beiseite gelassen werden dürften. Ruhe und medizinische und klimatologische Tagungen, es gab und gibt politische, wirt- Sanatoriumskuren könnten nicht einfach durch Pillenschlucken ersetzt wer- schaftliche und sogar literarische9 Kongresse. Davos ist zu einem Mehrzweck- den. Sie blieben vielmehr die Grundbedingung der Heilung, auch die chirur- Fremdenort geworden, einer Ferien-, Sport-, Kur- und Kongressstadt, die gischen Methoden behielten ihre volle Gültigkeit. Sodann sei ein momenta- aber nicht vergessen lassen kann, wie sehr sie von einer Krankheit geprägt ner Erfolg noch lange kein Dauererfolg. Möglicherweise werde das Strep- worden ist. tomycin bald durch ein anderes Mittel ersetzt werden. Kurzum: die Tuber- Oberhalb des Hotels Schatzalp befindet sich in einem Transformatoren- kulosebehandlung könne auch in Zukunft nur eine Anstaltsbehandlung sein. häuschen ein kleines medizinhistorisches Museum, die Sammlung Blauer Das alles waren rhetorische Rückzugsgefechte. In Wirklichkeit wurde mit Heinrich. Ausgestellt ist auch eine Fahrkarte der Schweizerischen Bundes- der Einführung der Chemotherapie ein neues Kapitel aufgeblättert, vollzog bahnen. Sie erzählt in beredter Lakonie die ganze Geschichte von der Hoff- sich eine rasche und für Davos entscheidende Wandlung, und der Eifer, mit nung und Enttäuschung so vieler Patienten, vom elenden Wartenmüssen und dem die Sanatoriumsärzte auf den Klimafaktor in der Tuberkulosebehand- vom elenden Tod. Die Karte widerspiegelt die tödliche und auch wieder lung hinwiesen, erwies sich letztlich als vergebens. Wohl wurde das Strep- erlösende Zeitlosigkeit des Sanatoriumsdaseins. Sie ist nicht auf ein festes tomycin im Laufe der Jahre tatsächlich durch wirksamere Medikamente Datum ausgestellt: „Basel-Davos retour. Gültig bis zur Heilung." verdrängt. Nachdem seit der Jahrhundertwende alle Neuerungen in der The- rapie der Tuberkulose anfänglich als Existenzbedrohung für den Kurort Da- vos angesehen worden waren, musste man jetzt aber erkennen, dass das Hö- henklima und die Heilstättenbehandlung für die Tuberkulosebehandlung zweitrangig, ja fast bedeutungslos geworden waren. 1925 hatte es acht Volks- heilstätten mit 1.000 Betten gegeben, dazu 14 Privatsanatorien mit 710 Bet- ten, 4.000 Fremdenbetten in 25 Hotels und 216 Pensionen. Sie alle sahen zu Beginn der 1950er Jahre einer Ungewissen Zukunft entgegen. Zwar blieb der Ruf des Kurorts für lange intakt, denn noch Jahre, nachdem der letzte 9 Helmut Koopmann war nebst Prof. Dr. Christian Virchow die treibende Kraft der ersten Schwindsüchtige ausgehustet hatte, lief den Tiefländern ein Schauer über den Davoser „Zauberberg"-Woche im August 1994. Die Veranstaltung fand solche Resonanz, Rücken, wenn jemand preisgab, dass er aus Davos komme. Aber davon Hess dass sie 1996 unter dem Titel „Auf dem Wege zum Zauberberg" fortgesetzt wurde. Auch sich nicht leben. Was Jammer war, wurde allmählich Erkenntnis. 1998 wirkt Prof. Koopmann im Wissenschaftlichen Komitee zu diesen „Davoser Literatur- tagen" massgeblich mit.
»In Spuren gehen...« Festschrift für Helmut Koopmtznn Herausgegeben von Andrea Bartl, Jürgen Eder, Harry Fröhlich, Klaus Dieter Post und Ursula Regener Sonderdruck Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998
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