Deindustrialisierung: Schreckgespenst oder notwendiger Schritt im Struktur-wandel der deutschen Wirtschaft?

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Deindustrialisierung: Schreckgespenst
oder notwendiger Schritt im Struktur-
wandel der deutschen Wirtschaft?
Die Ereignisse der letzten Jahre haben die Debatte über eine Deindustrialisierung
Deutschlands auf die Tagesordnung gesetzt. Die Corona-Pandemie, Unsicherhei-
ten im Umgang mit China und der Krieg in der Ukraine belasten die deutsche
Wirtschaft stark. Unterbrochene Lieferketten, fehlende Rohstoffe und vor allem
die in ungeahnte Höhen gestiegenen Energiepreise verunsichern die Unterneh-
men. Aufgrund deutlich günstigerer Energiekosten und der Subventionspolitik in
den USA gibt es Befürchtungen, dass insbesondere energieintensive Unterneh-
men abwandern und der Industriestandort Deutschland an Wettbewerbsfähig-
keit verliert. Ist diese Sorge berechtigt, und wie kann die Politik gegensteuern?

Michael Hüther
Deindustrialisierung als Risiko ernst nehmen,
Potenziale für die Transformation mobilisieren

Die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf      Da rund 60 % des Gasverbrauchs allein auf die Indus-
die deutsche Energieversorgung haben die enorme          trie entfällt, wurden massive Auswirkungen der Ener-
Abhängigkeit in strategisch wichtigen Bereichen deut-    giekrise auf das Verarbeitende Gewerbe erwartet. Die
lich gemacht. Waren die Energiepreise bereits vor dem    Gemeinschaftsdiagnose für das Bundeswirtschafts-
Krieg auf hohem Niveau, so erreichten sie in Deutsch-    ministerium vom 27. September 2022 ermittelte in
land im Laufe des Jahres 2022 zuvor ungekannte Hö-       einem Risikoszenario, dass »die Gasmangellage … zu
hen. Das führte nicht nur zu kurzfristigen Belastungen   einem Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Leistung
der privaten Haushalte und Unternehmen, sondern          im Jahr 2023 von 7,9 % und im Jahr 2024 von 4,2 %
birgt angesichts deutlich günstigerer Energiekosten in   führen« dürfte (Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose
Nordamerika und in China die Gefahr, dass einerseits     2022). Deutsche Bank Research sah kurze Zeit später
ganze Industriebranchen mittelfristig ihre Wettbe-       (5. Oktober 2022) die Gefahr einer Deindustrialisierung
werbsfähigkeit am hiesigen Standort einbüßen und         für Deutschland (Deutsche Bank Research 2022). Eine
dass andererseits die Perspektiven der deutschen         erste Zwischenbilanz in der ökonomischen Debatte
Volkswirtschaft grundsätzlich negativ bewertet wer-      zum Jahresende 2022 kam dennoch überwiegend zu
den. Diese Sorgen waren angesichts des Risikos ei-       dem Ergebnis, dass eine Deindustrialisierung Deutsch-
nes abrupten Gasembargos im Frühjahr 2022 gut be-        lands eher unwahrscheinlich sei (Brandt et al. 2022).
gründet, zumal nicht auszuschließen war, dass der             Tatsächlich aber hat die Industrie – insgesamt
Gasmarkt kollabiert, also ein markträumender Preis       die deutsche Volkswirtschaft – eine große
sich angesichts kurzfristig dominanter technischer       Anpassungsfähigkeit gezeigt. Die
Restriktionen auf beiden Marktseiten nicht einstellt     Industriekunden konnten ihren
(Ockenfels und Wambach 2023).                            monatlichen Gasverbrauch im
                                                         Oktober und November 2022
VERFRÜHTE DEINDUSTRIALISIERUNGSSORGEN?                   um bis zu 27 % im Vergleich
                                                         zum Durchschnittsverbrauch der
Im Laufe des Jahres 2022 verringerten sich die russi-    vergangenen vier Jahren senken                   Prof. Dr. Michael
schen Brennstoffimporte; beim Gas beendete Russ-         (Bundesnetzagentur 2023). Diese                  Hüther
land am 31. August 2022 die Belieferung über Nord        Einsparungen resultierten aus Sub-             ist Direktor des Instituts der
Stream 1 vollständig. In der Folge erreichten die Gas-   stitutionen von Erdgas durch an-               deutschen Wirtschaft Köln.
preise auf den internationalen Märkten Höchststände.     dere Brennstoffe und effizientere

                                                                       ifo Schnelldienst    3 / 2023   76. Jahrgang   15. März 2023   3
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Abb. 1                                                                                                                  frage nach Dienstleistungen durch die Industrie zwi-
Produktionsindizes für energieintensive Industriezweige und das Verarbeitende                                           schen 8,8 und 11,5 % an der gesamtwirtschaftlichen
Gewerbe                                                                                                                 Wertschöpfung erreichen. Durch diese enge Verflech-
                            Verarbeitendes Gewerbe (gesamt)                   Energieintensive Industriezweige          tung von Industrie und Dienstleistung in Deutschland
      01/2019 = 100, bis 11/2022                                                                                        trägt der Dienstleistungssektor auch indirekt zu den
110
                                                                                                                        Exporten bei (54 % aller Dienstleistungsexporte), die
100                                                                                                                     damit höher ausfallen als die direkten Exporte von
                                                                                                                        Dienstleistungen (46 %) (Lang und Lichtblau 2021).
 90                                                                                                                          Darüber hinaus ist das deutsche Modell global
                                                                                                                        integriert sowie regional balanciert, es unterscheidet
 80                                                                                                                     sich damit vom französischen oder angelsächsischen
                                                                                                                        Modell mit wenigen stark industriell konzentrierten
 70                                                                                                                     Regionen. Während im Jahr 1995 die deutsche Au-
 Jan 2019      Jul 2019     Jan 2020       Jul 2020      Jan 2021     Jul 2021     Jan 2022    Jul 2022                 ßenhandelsquote bei fast 36 % lag, stieg diese fast
Quelle: Macrobond; Statistisches Bundesamt; letzte Aktualisierung: 16. Januar 2023.                    © ifo Institut   kontinuierlich bis zum Jahr 2021 auf über 71 % an
                                                                                                                        und übertrifft damit die Quoten von USA, Japan,
Abb. 2                                                                                                                  Frankreich und dem Vereinigten Königreich. Fast die
Industrie-Dienstleistungsverbundᵃ                                                                                       Hälfte der weltweiten Hidden Champions kommen aus
                                                            Verbundwertschöpfung         Verarbeitendes Gewerbe         Deutschland, wobei 80 % dieser Unternehmen zum
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      Wertschöpfung in vH des BIP, 2019                                                                                 Verarbeitenden Gewerbe zählen und durchschnittlich
                                                                                                                        seit 70 Jahren bestehen (Simon 2021).
30
                                                                                                                             Die Alleinstellungsmerkmale des deutschen Ge-
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                                                                                                                        schäftsmodells geraten durch die aktuellen Zuspit-
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                                                                                                                        zungen der ohnehin schon beachtlichen strukturellen
15
                                                                                                                        Veränderungen unter Druck. Dekarbonisierung und de-
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                                                                                                                        mografische Alterung führen angesichts preistreiben-
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                                                                                                                        der sowie wachstumsschwächender Effekte zusam-
 0
                                                                                                                        men mit der Energiekrise dazu, dass die Stagflation
         CHN       DEU         ITA         IND        JPN       BRA        ESP        FRA      USA        GBR
ᵃ Verbundwertschöpfung ist die Summe der Vorleistungen, die das Verarbeitende Gewerbe vom nationalen                    für dieses Jahrzehnt ein veritables Risiko darstellt.
Dienstleistungssektor bezieht, abzüglich der Summe der Vorleistungen, die der Sektor im Inland an den                   Die Deglobalisierung wird durch die Konflikte in der
Dienstleistungssektor verkauft. Dieser Überschuss ist als Wertschöpfung dem Verarbeitenden Gewerbe zuzurechnen.
Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft auf Basis von EU-FIGARO.                                    © ifo Institut    Global Power Competition verschärft, die Digitalisie-
                                                                                                                        rung hat ihre Hoffnungen für die Produktivitätsent-
                                     Produktion, aber auch aus Produktionseinstellungen.                                wicklung noch nicht eingelöst. All dies trifft auf einen
                                     Vor allem die energieintensiven Branchen – Herstel-                                historischen Höchststand der wirtschaftspolitischen
                                     lung von chemischen Erzeugnissen, Glas und Keramik,                                Unsicherheit: Deutschland weist seit Beginn des An-
                                     die Papierindustrie, Metallindustrie sowie die Koke-                               griffskriegs Russlands gegen die Ukraine den höchsten
                                     rei und Mineralölverarbeitung – sind davon betroffen                               Economic Policy Uncertainty Index auf im Vergleich zur
                                     (vgl. Abb. 1). Auch wenn die Gaspreise im Großhandel                               EU, den USA oder China.
                                     Anfang des Jahres 2023 wieder auf Vorkriegsniveau                                       Die hohen Energiepreise tragen zur Unsicherheit
                                     lagen, bleibt die Unsicherheit infolge der unkalkulier-                            über die Zukunft des Wirtschaftsstandortes bei. Das
                                     baren politischen Einflüsse hoch.                                                  Flüssiggas, auf das Deutschland in den kommenden
                                          Zusätzlich zur akuten Energiepreiskrise sind wei-                             Jahren als Alternative zum russischen Erdgas ange-
                                     tere disruptive Herausforderungen im Strukturwandel                                wiesen sein wird, war im Durchschnitt der Jahre 2017
                                     zu bewältigen: die Dekarbonisierung, die Digitalisie-                              bis 2021 etwa 30 % teurer als europäisches Pipeline-
                                     rung, der demografische Wandel und Tendenzen der                                   gas (Vergleich TTF und LNG Japan) (Worldbank 2023).
                                     Deglobalisierung inmitten eines bipolaren System-                                  Die gestiegene Nachfrage nach Flüssiggas könnte die
                                     konflikt mit neuen geopolitischen Herausforderun-                                  Preise zudem weiter antreiben, denn die weltweiten
                                     gen. Damit verbindet sich die Frage, wie diese multi-                              Exportterminals waren im Jahr 2021 zu 80 % ausge-
                                     plen Krisen die deutsche Volkswirtschaft verändern                                 lastet und viele Mengen bereits langfristig an Käufer
                                     werden, welche Gefahren für das industriebasierte                                  gebunden (IGU 2022). Verschiedene Szenarien zeigen,
                                     Geschäftsmodell bestehen. Droht die Deindustriali-                                 dass auch langfristig bis 2040 mit höheren Stromprei-
                                     sierung in diesem perfekten Sturm?                                                 sen im Vergleich zum Vorkriegsniveau zu rechnen ist
                                                                                                                        (Lang und Lichtblau 2021).
                                     WAS GEFÄHRDET DAS DEUTSCHE MODELL?                                                      Neben den Energiepreisen weist Deutschland
                                                                                                                        Standortschwächen vor allem im Bereich von Re-
                                     Die deutsche Volkswirtschaft zeichnet sich im in-                                  gulierungen, Steuerbelastung und Infrastruktur auf
                                     ternationalen Vergleich durch einen großen Indust-                                 und rutscht damit im ZEW-Ranking über Standortbe-
                                     rie-Dienstleistungsverbund aus (vgl. Abb. 2). So dürfte                            dingungen unter den Industriestaaten auf nur noch
                                     der Anteil der Verbundwertschöpfung aus der Nach-                                  den viertletzten Platz ab (ZEW 2022). Wie sensibel

                           4         ifo Schnelldienst   3 / 2023   76. Jahrgang   15. März 2023
ZUR DISKUSSION GESTELLT

 Tab. 1

 Kenngrößen energieintensiver Industrien, 2021
                                                                                                                                               Anteil der Unterneh-
                                                        Anteil der Beschäf-                                    Anteil Unternehmen
                                                                                                                                               men in vH mit
                            Anzahl an                   tigten in vH der           Bruttowertschöp-            in vH mit kontinuier-
 Industrie                                                                                                                                     Produkt und
                            Beschäftigten               Industriebeschäf­          fung Mrd. EURa              lichen FuE-Aktivitä-
                                                                                                                                               Prozessinnovationen
                                                        tigung                                                 ten in ihrer Branchea
                                                                                                                                               in ihrer Branchea
 Herstellung von                   118 928                       2,17                       10,72
 Papier, Pappe und                                                                                                           8                             59
 Waren daraus
 Kokerei und                        17 718                       0,32                       31,95
 Mineralölverarbei-                                                                                                       33                               79
 tung
 Herstellung von                   332 799                       6,08                       42,69
 chemischen                                                                                                               59                               78
 Erzeugnissen
 Herstellung von                    49 789                       3,75                       16,22
 Glas, Glaswaren,
 Keramik, Verarbei-                                                                                                       17                               52
 tung von Steinen
 und Erden
 Metallerzeugung                   224 718                       4,11                       16,25                       17                              58
 und -bearbeitung                                                                                                  (29 in der                       (68 in der
                                                                                                                Metallerzeugung)                 Metallerzeugung)
 Summe oder                        743 952                      16,44                     117,83
 Durchschnitt der
                                                                                                                          28                               66
 energieintensiven
 Industrien
 Verarbeitendes                  5 471 169                      100,00                    567,22
                                                                                                                          19                               62
 Gewerbe gesamt
 a
     Daten von 2020.

 Quelle: Statistisches Bundesamt; Bundesagentur für Arbeit; Macrobond; Stifterverband für die Deutsche Wirtschaft; Macrobond; ZEW.

diese Verschlechterung wahrgenommen wird, zeigt                                     Deindustrialisierung zu erwarten ist. Die Gefahr eines
die Aufregung hierzulande (und in der EU) über den                                  massiven Wohlstandsabflusses ins Ausland infolge
US Inflation Reduction Act, der vor allem an die heimi-                             eines Verlustes industriebasierter Wertschöpfung
schen Standortdefizite erinnert (Hüther und Matthes                                 besteht, sofern der Staat für die Transformation zur
2023). Weitere strukturelle Schwächen des deutschen                                 Klimaneutralität seine regulatorischen und infrastruk-
Wirtschaftsstandortes liegen in der Rohstoffarmut                                   turellen Aufgaben nicht erfüllt, so dass die Erwartun-
und strategischen Abhängigkeiten im wirtschaftlichen                                gen der privaten Investoren zur Wettbewerbsfähigkeit
und politischen Sinne (Fremerey und Gerards Iglesias                                des Standorts nicht stabilisiert werden können. Die
2022).                                                                              schöpferische Zerstörung des Strukturwandels wird
                                                                                    zur Krise, weil die Wertschöpfungsverluste nachhaltig
KRISE DER SCHÖPFERISCHEN ZERSTÖRUNG                                                 größer sind als die Gewinne.
                                                                                         In der Diskussion über ein mögliches einseitiges
Die Frage ist nun, ob angesichts der trendmäßigen Be-                               Gasembargo im Frühjahr 2022 wurde behauptet, dass
lastungen des volkswirtschaftlichen Strukturwandels                                 eine solche Krise nicht drohe, weil aufgrund ausrei-
für sich genommen das Wachstumspotenzial in der                                     chender Substitutionsmöglichkeiten den Marktkräften
vor uns liegenden Dekade schwächer ausfallen wird                                   freien Lauf gelassen werden könne und ein Embargo
als zuletzt. Es spricht in der Tat viel dafür, dass vor                             gesamtwirtschaftlich so ohne Strukturfolgen verkraft-
allem die demografische Alterung dazu führt, dass das                               bar sei. Die Frage indes, was ein Verlust der energie­
Wachstum jahresdurchschnittlich eher bei einem ¾ %                                  intensiven Industriezweige für die deutsche Volks-
liegen wird als bei den vor der Pandemie erreichten                                 wirtschaft bedeuten würde und welche Konsequenz
1 ½ %. Das ist aber nur dann zwangsläufig der Fall,                                 eine schöpferische Zerstörung dafür hätte, wurde
wenn die Konsequenzen der Alterung und Schrump-                                     verdrängt. Hierbei werden mindestens drei Aspekte
fung des Erwerbspersonenpotenzials politisch und                                    verkannt (vgl. Tab. 1).
gesellschaftlich nicht ernst genommen werden. Teil-                                      Erstens sind die energieintensiven Industrien mit
weise ist das sicher der Fall.                                                      großer Wertschöpfung und einer relevanten Anzahl
     Eine andere Frage ist, ob angesichts der Verän-                                von Arbeitsplätzen verbunden. Es handelt sich um
derungen der globalen Wirtschaftsordnung im Zu-                                     hochproduktive Unternehmen, die über 16 % der In-
sammenspiel mit den Energiekosten und den darauf                                    dustrieerwerbstätigen beschäftigen und über 20 % der
gefundenen politischen Antworten die industrielle                                   industriellen Wertschöpfung erwirtschaften.
Basis der Volkswirtschaft wettbewerbsfähig bleibt,                                       Zweitens gehören insbesondere Chemieindustrie
sich robust entwickeln kann oder ob eine spürbare                                   und Metallerzeugung zu den forschungsintensivsten

                                                                                                         ifo Schnelldienst       3 / 2023   76. Jahrgang   15. März 2023   5
ZUR DISKUSSION GESTELLT

    Industrien. Branchenübergreifend handelt es sich zum          vieren. Eine Krise der schöpferischen Zerstörung lässt
    Großteil um Unternehmen, die im Durchschnitt mehr             sich vermeiden, und der Industrie-Dienstleistungsver-
    Innovationen als andere Unternehmen des Verarbei-             bund kann den Umbau zur Klimaneutralität gestalten.
    tenden Gewerbes hervorbringen. Es sind gerade die
    etablierten forschungsstarken Branchen mit beson-             REFERENZEN
    ders innovativem und disruptivem Potenzial ausge-             Brandt, A., H. Krämer, V. Grimm, C. von Rüden, C. M. Schmidt, T.
    stattet, wie es für die Transformation unerlässlich ist.      Schmidt, M. Gornig, C. Kemfert, O. Falck, C. Pfaffl und E. Heymann
                                                                  (2022), »Droht der deutschen Wirtschaft eine Deindustrialisierung?«,
    Eine Studie über die US-Volkswirtschaft zeigt, dass In-       Wirtschaftsdienst 102(12), 917–944.
    novationen vor allem von etablierten und forschungs-          Bundesnetzagentur (2023), »Aktuelle Lage der Gasversorgung in
    starken Unternehmen ausgehen und gerade auf die-              Deutschland«, verfügbar unter: Bundesnetzagentur – Aktuelle Lage Gas-
                                                                  versorgung, aufgerufen am 29. Januar 2023.
    sen Branchen die volkswirtschaftliche Dynamik und
                                                                  Deutsche Bank Research (2022), »Energiekrise trifft Industrie bis ins
    die transformative Entwicklung in den USA beruhen             Mark«, Deutschland-Monitor 5. Oktober, verfügbar unter: Energiekrise
    (Hsieh und Klenow 2018).                                      trifft Industrie bis ins Mark – Deutsche Bank Research (dbresearch.de),
                                                                  aufgerufen am 23. Januar 2023.
         Drittens betrifft die grüne Transformation sämtli-
                                                                  Fremerey, M. und S. Gerards Iglesias (2022), Abhängigkeit – Was bedeutet
    che Wirtschafts- und Lebensbereiche und wird früher           sie und wo besteht sie?, IW-Report 56, Institut der deutschen Wirtschaft,
    oder später auf der ganzen Welt stattfinden müssen.           Köln.

    Anders als es bei der schöpferischen Zerstörung zu            Hsie, Ch.-T. und P. J. Klenow (2018), »The Reallocation Myth«, Working
                                                                  Papers 18-19, Center for Economic Studies, U.S. Census Bureau, verfüg-
    erwarten ist, sind keine neuen Sektoren oder Wirt-            bar unter: https://ideas.repec.org/p/cen/wpaper/18-19.html, aufgerufen
    schaftsbereiche in Sicht, die alte etablierte Branchen        am 23. Januar 2023.

    in Deutschland ablösen würden. Es ist weder ein deut-         Hüther, M. (2022), »Entlastungspaket: Stabilisierung der Erwartungen«,
                                                                  Wirtschaftsdienst 102(10), 757–760.
    scher Big Bang wie in Großbritannien der 1980er Jahre
                                                                  Hüther, M. und J. Matthes (2023), »Is the U.S. Inflation Reduction Act
    realistisch, noch hat Deutschland ein Silicon Valley,         Hurting the German Economy? An Objection to Exaggerated Claims«,
    aus dem Innovationen für Zukunftsbranchen wie dem             verfügbar unter: Is the U.S. Inflation Reduction Act Hurting the German
                                                                  Economy? – Atlantik-Brücke e.V. (atlantik-bruecke.org), aufgerufen am
    Tech- und Informationsbereich hervorgehen könnten.            29. Januar 2023.
    Das Rückgrat der deutschen Volkswirtschaft bilden             IGU – International Gas Union (2022), World LNG Report, verfügbar unter:
    pfadabhängig und dienstleistungsergänzt weiterhin             https://www.igu.org/resources/world-lng-report-2022/, aufgerufen am
                                                                  23. Januar 2023.
    der Maschinenbau, die Metall- und Elektroindustrie,
                                                                  Lang, T. und K. Lichtblau (2021), Bedeutung unternehmensnaher Dienst-
    die Chemieindustrie sowie der Automobilbau. Aus Re-           leistungen für den Industriestandort Deutschland/Europa, IW Consult,
    gionen mit diesen Branchen gehen auch die meisten             Studie für das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Institut
                                                                  der deutschen Wirtschaft, Köln.
    Innovationen und Patente hervor (Plünnecke 2022).
                                                                  Ockenfels, A. und A. Wambach (2023), »Was tun, wenn der (Gas-)Markt
         Wird der Standort Deutschland durch anhaltend            kollabiert?«, Wirtschaftsdienst 103(1), 29–32.
    hohe Energiepreise und hohe Steuerlast international          Plünnecke, A. (2022), »Transatlantischer Innovationsindex: Innovations-
    an Wettbewerbsfähigkeit einbüßen, dann werden in-             landschaft im Vergleich«, Wirtschaftsdienst 102(12), 914.
    dustrielle Investitionen weniger attraktiv, die für die       Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2022), Energiekrise: Inflation, Re-
                                                                  zession, Wohlstandsverlust, Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2022, verfüg-
    Durchführung der Transformation nötig wären. Politik          bar unter: Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2022: Energiekrise: Inflation,
    und Gesellschaft haben diese Aufgabe ins Zentrum ih-          Rezession, Wohlstandsverlust – Gemeinschaftsdiagnose, aufgerufen am
                                                                  23. Januar 2023.
    res Engagements gerückt. Die gesetzlichen, regulatori-
                                                                  Simon, H. (2021), Hidden Champions: Die neuen Spielregeln im chinesi-
    schen und investiven Weichenstellungen sind maßgeb-
                                                                  schen Jahrhundert, Campus, Frankfurt am Main.
    lich für den volkswirtschaftlichen Umsetzungserfolg.
                                                                  World Bank (2023), »Pink Sheet Data, Monthly Prices«, verfügbar unter:
    Denn um Marktkräfte in eine neue Richtung zu lenken,          https://www.worldbank.org/en/research/commodity-markets, aufgerufen
    bedarf es der Investitionssicherheit für Private durch        am 23. Januar 2023.

    verlässliche und stabile Erwartungsprägung (Konstanz          ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (2022),
                                                                  »Deutschland ist der große Verlierer im Standortwettbewerb«, verfügbar
    der Wirtschaftspolitik). Dann werden Unternehmen              unter: https://www.zew.de/das-zew/aktuelles/deutschland-ist-der-gros-
    das nötige Kapital mit Anlaufhilfe des Staates akti-          se-verlierer-im-standortwettbewerb, aufgerufen am 23. Januar 2023.

6   ifo Schnelldienst   3 / 2023   76. Jahrgang   15. März 2023
ZUR DISKUSSION GESTELLT

Sylwia Bialek, Claudia Schaffranka und Monika Schnitzer
Kein Grund zur Panik

Die Energiekrise ist kein Game Changer, aber sie beschleunigt den
ohnehin anstehenden Strukturwandel in der Industrie

Das Verarbeitende Gewerbe ist ein wichtiger Energie-                    Wandels darstellen, als eine abrupte Deindustriali-
verbraucher. Vor allem bei Erdgas und Strom machte                      sierung auslösen. Ein Verlust einzelner industrieller
2021 das Verarbeitende Gewerbe 32 % bzw. 43 % des                       Aktivitäten und der damit verbundene Verlust von
gesamten Verbrauchs aus. Angesichts der extremen                        Arbeitsplätzen in diesen Bereichen ist nicht notwen-
Energiepreissteigerungen – sowohl in absoluten Wer-                     digerweise mit Wohlfahrtseinbußen verbunden, auch
ten als auch im Vergleich zu anderen Wirtschaftsregi-                   wenn dies kurzfristig hohe Anpassungskosten ver-
onen (vgl. Abb. 1) – ist daher eine Debatte entflammt,                  ursacht. In Anbetracht der Fachkräfteengpässe und
ob Deutschland eine Deindustrialisierung bevorsteht                     des demografischen Wandels wird es in Zukunft nicht
und wenn ja, welche Folgen diese haben würde. Mit                       mehr um die Frage gehen, ob Arbeitsplätze wegfallen,
einem Anteil von über 20 % am Bruttoinlandsprodukt                      sondern ob es gelingt, die freigesetzten Beschäftigten
und von 17 % an der Beschäftigung prägt das Verar-                      dort einzusetzen, wo dringend Arbeitskräfte benötigt
beitende Gewerbe maßgeblich den wirtschaftlichen                        werden. Es gilt deshalb, den Wandel durch die Politik
Wohlstand Deutschlands. Die Arbeitsplätze in der In-                    zu begleiten, um die richtigen Anreize für die Akteure
dustrie sind darüber hinaus überdurchschnittlich gut                    zu setzen und den Übergang möglichst reibungslos
bezahlt – die Arbeitskosten lagen im Verarbeitenden                     zu gestalten.
Gewerbe rund 20 % höher als bei den marktbestimm-
ten Dienstleistungen1 – und das Arbeitsproduktivitäts-                  BETROFFENHEIT DES VERARBEITENDEN
wachstum ist höher als in anderen Sektoren (Schmidt                     GEWERBES
et al. 2021).
     In der Diskussion sind vor allem pessimistische                    Im letzten Jahr sind die Großhandelspreise für Ener-
Stimmen zu hören: So warnt etwa der Verband der                         gie extrem angestiegen, was sich auch auf die End­
deutschen Chemie eindringlich vor den Folgen ho-                        energiepreise ausgewirkt hat (SVR 2022). Während die
her Energiepreise.2 Tatsächlich werden die Effekte                      Preise im Großhandel derzeit wieder fallen, werden
der Energiekrise auf die Industrie viel kleiner und                     sie voraussichtlich nicht zum Vorkrisenniveau senken.
differenzierter ausfallen als häufig dargestellt. Zwar                       Um abzuschätzen, wie stark einzelne Wirtschafts-
werden einzelne Wirtschaftszweige und die Fertigung                     zweige von der Energiepreisentwicklung betroffen
einzelner Produkte infolge der veränderten Energie-                     sind, müssen mehrere Faktoren berücksichtigt wer-
preise abwandern. Der Prozess wird aber eher eine                       den. Tendenziell ist der relative Anstieg der Energie-
Fortsetzung des schon andauernden strukturellen                         kosten am höchsten bei energieintensiven Unterneh-
                                                                        men. Wie stark jedoch die tatsächlichen Kosten an-
1
   Nicht-Marktbestimmte Dienstleistungen umfassen die vom Staat         steigen, ist unterschiedlich und hängt von bisherigen
oder von Organisationen ohne Gewinnerzielungsabsicht erbrachten
Dienstleistungen.
                                                                        Verträgen und Versorgern ab (Bialek et al. 2023). Auch
2
   Präsident des VCI Markus Steilemann im Interview, verfügbar un-      die Zusammensetzung der verwendeten Energieträ-
ter: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/energiekrise-lage-in-che-
miebranche-laut-vci-praesident-dramatisch-18420125.html?premi-
                                                                        ger ist dabei relevant, da sich die relativen Preise der
um.                                                                     Energieträger in den letzten Monaten verändert ha-

                Sylwia Bialek, Ph.D.,                                    Claudia Schaffranka                                             Prof. Dr. Monika Schnitzer
              ist Teamleiterin für Mikroökono-                          ist Referentin für Finanzmärkte                                ist Inhaberin des Lehrstuhls für
              mik im Stab des Sachverstän-                              sowie Umwelt- und Energiepo-                                   Komparative Wirtschaftsfor-
              digenrates zur Begutachtung                               litik im Stab des Sachverstän-                                 schung an der Ludwig-Maximi-
              der gesamtwirtschaftlichen                                digenrates zur Begutachtung                                    lians-Universität München und
              Entwicklung.                                              der gesamtwirtschaftlichen                                     Vorsitzende des Sachverstän-
                                                                        Entwicklung.                                                   digenrates zur Begutachtung
                                                                                                                                       der gesamtwirtschaftlichen
                                                                                                                                       Entwicklung.

                                                                                       ifo Schnelldienst    3 / 2023   76. Jahrgang   15. März 2023   7
ZUR DISKUSSION GESTELLT

Abb. 1                                                                                                               zugeben. Während sich Unternehmen in ganz Europa
Preisentwicklung                                                                                                     mit gestiegenen Energiepreisen konfrontiert sehen,
Erdgaspreiseᵃ                                                                                                        waren die Preisanstiege in Regionen wie Nordame-
         US-Dollar je MWh
                                                                  Europa (TTF)                 USA (Henry Hub)       rika oder Australien deutlich moderater (vgl. Abb. 1).
                                                                  Nordostasien (JKM)           UK (NBP)
300                                                                                                                  Betriebe mit niedrigen Bruttomargen haben wiede-
                                                                  Australien (GSH)
                                                                                                                     rum einen geringeren finanziellen Spielraum, um die
200                                                                                                                  Krisensituation zu überbrücken, und sind besonders
                                                                                                                     von Liquiditätsengpässen bedroht.
100
                                                                                                                          In allen Dimensionen dürften insbesondere Un-
                                                                                                                     ternehmen aus der Metallerzeugung und -bearbeitung
  0
          2015       2016       2017        2018       2019        2020        2021       2022      2023
                                                                                                                     stark betroffen sein (vgl. Tab. 1). Hier wird sehr viel
Strompreiseᵃ,ᵇ
                                                                                                                     Energie in der Produktion benötigt. Besonders hoch
                                                                DE (EEX Phelix)       UK (EPEX)      JP (JPEX)       ist die Medianenergieintensität bei den Gießereien,
       US-Dollar je MWh                                         USA (PJM)             AU (STTM)
600                                                                                                                  mit einem Wert von 1,7 kWh pro Euro. Zudem sind die
                                                                                                                     Bruttomargen niedrig und der Wettbewerbsdruck aus
400                                                                                                                  anderen Weltregionen hoch (SVR 2022, Ziffer 328 ff.).
                                                                                                                     Überkapazitäten in der Stahl- und Aluminiumindustrie
200                                                                                                                  begrenzen zusätzlich die Möglichkeiten der Kosten-
                                                                                                                     weitergabe (OECD 2021). Auch die Bearbeitung von
  0                                                                                                                  Glas und Glaswaren, Keramik, Steinen und Erden wird
       2015          2016       2017        2018       2019         2020       2021       2022      2023             betroffen sein sowie die Textilindustrie, die jedoch in
Kohlenpreiseᵃ
                                                                                                                     Deutschland nur einen kleinen Teil der Wertschöp-
                                                                Europa (API2)           Europa (API4)
         US-Dollar je Tonne                                     Indonesien (IGO)        Australien (Newcastle)       fung ausmacht. Zuletzt dürfte die Grundstoffchemie
500
                                                                                                                     stark betroffen sein. Müller und Mertens (2022) zeigen,
400                                                                                                                  dass Produkte dieses Wirtschaftszweiges die höchste
300                                                                                                                  Erdgasintensität aufweisen. Bereits geringe Gaskos-
200                                                                                                                  tenanstiege bei diesen Produkten könnten dazu füh-
100                                                                                                                  ren, dass eine Produktion dieser Produkte allein nicht
  0
                                                                                                                     mehr rentabel wäre, sondern möglicherweise nur noch
          2015       2016       2017        2018       2019        2020        2021       2022      2023             als Kuppelproduktion, bei der gleichzeitig andere Pro-
ᵃ Stand: 6. Februar 2023. ᵇ Grundlast.                                                                               dukte hergestellt werden (Müller und Mertens 2022).
Quelle: AEMO; CME Group; Intercontinental Exchange (ICE); JPEX; Ofgem; Refinitiv Datastream;
Berechnungen der Autorinnen.                                                                        © ifo Institut
                                                                                                                     BISHERIGER UND ZU ERWARTENDER
                                 ben. Insbesondere die Preise für Erdgas sind in den                                 STRUKTURWANDEL DES VERARBEITENDEN
                                 vergangenen Monaten stark angestiegen, und die                                      GEWERBES
                                 Gefahr einer Mangellage für den kommenden Winter
                                 ist noch nicht gebannt. Inwieweit die Kostenanstiege                                Im Verarbeitenden Gewerbe, ohne Kokerei und Mine-
                                 verkraftbar sind, hängt außerdem von der Wettbe-                                    ralölverarbeitung, hat in Deutschland die Energiein-
                                 werbssituation und der generellen Marktsituation                                    tensität seit den 1990er Jahren stetig abgenommen
                                 des Unternehmens ab. Die Wirtschaftszweige, die der                                 (vgl. Abb. 2). Dies kann auf zwei Entwicklungen zu-
                                 Konkurrenz von nicht-europäischen Wettbewerbern                                     rückgeführt werden: die Veränderung der Zusammen-
                                 ausgesetzt sind, werden sich besonders schwertun,                                   setzung der Wirtschaftszweige und die Verbesserung
                                 die gestiegenen Energiekosten an die Kunden weiter-                                 der Herstellungsprozesse. Unter der Annahme, dass
                                                                                                                     sich die Energieintensität in jedem Wirtschaftszweig
Abb. 2                                                                                                               nicht verändert hat, zeigt die obere hellblaue Linie,
Zerlegung der Energieintensität im Verarbeitenden Gewerbe in Deutschland                                             wie sich die Energieintensität entwickelt hätte, wenn
                                                Tatsächliche Entwicklung                                             sich nur die Zusammensetzung der Wirtschaftszweige
      kWh je Euro                               Berechnete Entwicklung:
3,5                                                                                                                  verändert hätte. Sichtbar ist eine leichte Verschiebung
                                                Energieintensität der Wirtschaftszweige wie im Jahr 1995
                                                BWS-Anteil der Wirtschaftszweige wie im Jahr 1995                    hin zu weniger energieintensiven Wirtschaftszweigen.
                                                                                                                     Gleichzeitig zeigt die graue Linie, wie stark die Energie-
3,0
                                                                                                                     intensität abgenommen hätte, wenn die Zusammen-
                                                                                                                     setzung der Wirtschaftszweige konstant (wie im Jahr
2,5
                                                                                                                     1995) geblieben wäre.
                                                                                                                          Es ist zu erwarten, dass sich die Senkung der
2,0                                                                                                                  Energieintensität aufgrund der Energiekrise fortset-
                                                                                                                     zen wird. Dabei werden voraussichtlich beide Anpas-
1,5                                                                                                                  sungskanäle eine Rolle spielen.
      1995               2000                2005                 2010                2015              2020              Höhere Energiepreise und der damit verbundene
Quelle: Statistisches Bundesamt; Berechnungen des SVR (2022).                                       © ifo Institut   Strukturwandel müssen nicht zwangsläufig zu einer

                            8    ifo Schnelldienst   3 / 2023   76. Jahrgang   15. März 2023
ZUR DISKUSSION GESTELLT

Deindustrialisierung führen. Japan, ein rohstoff- und                                  der Energiekrise fortsetzen. Im Gegensatz zur Coro-
energiearmes Land, hatte in der Vergangenheit sehr                                     na-Pandemie darf es in der aktuellen Krise nicht darum
hohe Endenergiepreise im Vergleich mit anderen In-                                     gehen, den Status quo zu erhalten, sondern sich auf
dustrienationen (Sato und Dechezleprêtre 2015). Trotz                                  die neuen Realitäten einzustellen und den Wandel zu
der Ölkrise der 1970er Jahre sowie der Nuklearkata­                                    unterstützen. Deutschland wird nicht über die niedrigen
strophe in Fukushima hat das Verarbeitende Gewerbe                                     Energiekosten (die in Deutschland sowieso nie wirklich
in Japan weiterhin einen Anteil von 20 % an der Brut-                                  niedrig waren), sondern über andere Standortfaktoren
towertschöpfung, ähnlich wie in Deutschland. Nach                                      international konkurrieren müssen. Diese Logik zeigt
der ersten Ölpreiskrise hat sich die Struktur von Ja-                                  sich schon heute bei den Lohnkosten, die im Vergleich
pans Verarbeitendem Gewerbe verschoben, weg von                                        zu anderen Industrieländern sehr hoch sind. So lagen
energieintensiven Sektoren wie Petrochemikalien,                                       im Jahr 2018 die Arbeitskosten je geleisteter Stunde um
Schiffbau oder Aluminium, hin zu Automobil und                                         knapp einem Drittel höher als im Durchschnitt anderer
Elektronik (Yamakoshi 1986).                                                           Industrieländer, unter anderem höher als in Frankreich,
     Die schon seit Jahrzehnten andauernde Verände-                                    den USA oder dem Vereinigten Königreich (Schröder
rung der wirtschaftlichen Struktur wird sich also mit                                  2019). Dennoch ist der Anteil der Bruttowertschöpfung

 Tab. 1

 Indikatoren für die potenzielle Betroffenheit im Verarbeitenden Gewerbe in Deutschlanda
                                                                                                                                                  Ausgesetztheit zu
                                                                                                                                                  Nicht-EU-Wettbe-
                                                                                              Anteil Erdgas-                                          werberng
                                       Umsatz Mrd Euro            Energieintensitätd        kosten an Energie-          Bruttomarge e,f
   Wirtschaftsbereich im                                                                                                                         Auslän-       Heimi-
                                           (Anzahl                                               kostene
 Verarbeitenden Gewerbeb                                                                                                                         dische        scher
                                        Unternehmen)c
                                                                                                                                                 Märkteh       Markti

                                                                   kWh / Euro BWS                                                 %

 H. v. Nahrungs- u.
                                     168,13         (5 070)                0,43                    20,0                      14,8                 33,9           20,9
 Futtermitteln
 Getränkeherstellung                   22,64         (472)                 0,87                    30,3                      23,4                  27,1         13,2
 Herstellung von Textilien             12,14         (670)                 0,51                    26,7                      13,4                  47,5         48,8
 Herstellung von
                                         7,49        (226)                 0,16                    25,0                      20,4                  37,9          51,5
 Bekleidung
 H. v. Leder, -waren
                                        3,89         (119)                 0,18                    28,6                      16,1                  37,7         36,3
 u. Schuhen
 H. v. Holz-, Flecht-,
                                       21,45        (1 022)                0,39                      2,1                     11,0                 35,5          23,5
 Korbwaren j

 H. v. Papier, Pappe u.
                                       43,57         (771)                 0,48                    22,5                      15,6                 23,3          15,5
 Waren dar.
 H. v. chemischen
                                     166,21         (1 288)                0,39                    20,0                      30,3                  41,2         28,4
 Erzeugnissen
 H. v. pharmazeut.
                                       62,53         (287)                 0,31                    18,8                      28,3                 32,4           26,5
 Erzeugnissen
 H. v. Gummi-,
                                       90,04        (2 976)                0,52                      7,1                      17,9                36,4           31,9
 Kunststoffwaren
 H. v. Glas, -waren u.
                                       47,69         (1 576)               0,45                    31,7                       17,3                42,4           37,2
 Keramikk
 Metallerzeugung,
                                     108,00          (922)                 1,19                    20,9                          7,5              43,9           31,5
 -bearbeitung
 H. v. Metallerzeugnissen             124,32        (7 388)                0,28                     17,4                     13,8                 38,9           37,7
                         l
 Herst. v. DV-Geräten                  89,14        (1 738)                0,09                      9,1                     19,5                 50,5          40,9
 Herst. v. elektr.
                                     121,21          (1 974)               0,12                    11,1                      21,1                 55,1           47,2
 Ausrüstungen
 Maschinenbau                        289,03         (5 542)                0,15                    10,0                       17,0                40,1           42,9
 H. v. Kraftwagen u. -teilen         509,37         (1 054)                0,28                    14,3                      29,6                 41,5          22,7
 Sonstiger Fahrzeugbau                 49,81         (296)                 0,18                    21,4                          9,0              44,5           49,6
 Herstellung von Möbeln                19,49         (949)                 0,23                      4,5                     10,9                 33,2          32,5
 a
   Das Farbschema richtet sich nach den Terzilen der Verteilung in den einzelnen Spalten, wobei rot/gelb/grün einer starken/mittleren/geringen Betroffenheit entspricht.
 Angaben, mit Ausnahme der Ausgesetztheit zu nicht-EU-Wettbewerbern, beziehen sich auf das arithmetische Mittel der einzelnen Wirtschaftsbereiche. b Gemäß der
 Klassifikation der Wirtschaftszweige, Ausgabe 2008 (WZ 2008). c Stand 2018. d Medianwerte der Jahre 2016 bis 2018. e Durchschnittswerte der Jahre 2016 bis 2018.
 f
   Quotient aus approximiertem EBITDA und Umsatz. g Stand 2021. h Durchschnitt über alle Staaten: Anteil der Importe aus nicht-EU27-Staaten an den Gesamtimporten,
 gewichtet mit den jeweiligen Importen aus Deutschland. i Anteil von Importen aus nicht-EU27-Staaten an den gesamten Importen Deutschlands. j Sowie Korkwaren
 (ohne Möbel). k Sowie Verarbeitung von Steinen und Erden. l Herstellung von Datenverarbeitungsgeräten, elektronischen und optischen Erzeugnissen.

 Quelle: Eurostat; FDZ der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder; AFiD-Panel Industrieunternehmen 2001–2018 sowie AFiD-Modul Energieverwendung 2005–
 2018; Statistisches Bundesamt; UN Comtrade; Berechnungen des SVR (2022).

                                                                                                             ifo Schnelldienst    3 / 2023   76. Jahrgang   15. März 2023   9
ZUR DISKUSSION GESTELLT

Abb. 3                                                                                                                  179 000 Personen in der Stahlindustrie beschäftigt,
Bruttowertschöpfung und Erwerbstätige im Verarbeitenden Gewerbe in Deutschland                                          heute sind es nur noch 87 000 (WV Stahl 2021). Die
                                                                                 Bruttowertschöpfung
                                                                                                                        zunehmende Automatisierung hat bisher dazu geführt,
         Anteil an der Gesamtwirtschaft in %
                                                                                 Erwerbstätige (Inlandskonzept)
                                                                                                                        dass viele Arbeitsplätze im Verarbeitenden Gewerbe
 28
                                                                                                                        weggefallen sind (Dauth et al. 2021). Somit nimmt der
 26                                                                                                                     Anteil der Beschäftigung in der klassischen Fertigung
 24
                                                                                                                        ab, während Dienstleistungsberufe rund um die Pro-
                                                                                                                        duktion zunehmen (Falck und Pfaffl 2022).
 22                                                                                                                          Wie oben schon angedeutet, stellt der Wegfall
 20
                                                                                                                        von Arbeitsplätzen angesichts der Fachkräfteengpässe
                                                                                                                        und des demografischen Wandels nicht generell ein
 18                                                                                                                     Problem dar, solange sichergestellt werden kann,
 16                                                                                                                     dass freigesetzte Arbeitskräfte durch Umschulungen
      1991           1996             2001             2006            2011             2016            2021            und Weiterqualifizierungen in neue Beschäftigun­-
Quelle: Statistisches Bundesamt.                                                                       © ifo Institut   gen vermittelt werden können. Die Sorge vor einer
                                                                                                                        hohen Arbeitslosigkeit infolge einer Abwanderung
                                   des Verarbeitenden Gewerbes mit über 20 % sehr hoch                                  von Teilen der Industrie ist daher aus unserer Sicht
                                   im Vergleich zu anderen entwickelten Nationen.                                       unberechtigt.
                                        Dass Deutschland die industrielle Produktion im                                      Eine weitere Sorge besteht allerdings darin, dass
                                   Land halten konnte, lag unter anderem an der Um-                                     mit einer Abwanderung der Industrie vor allem gut
                                   strukturierung der Industrie. Arbeitsintensive Fertigung                             bezahlte und hoch qualifizierte Arbeitsplätze verlo-
                                   wurde im Zuge der Globalisierung von OECD-Ländern                                    rengehen. Dies könnte der Fall sein, wenn der Wegfall
                                   insbesondere nach Asien verlagert (Wood 2017). Deut-                                 von Teilen der Industrie mit einem Verlust an Pro-
                                   sche Unternehmen haben einen komparativen Vorteil in                                 duktivität und Innovationskraft einhergehen würde.
                                   Wirtschaftsbereichen mit hoher Wertschöpfung aufge-                                  Analysen der OECD zeigen, dass der Zuwachs an Ar-
                                   baut, wie der Herstellung von Kraftwagen und Maschi-                                 beitsproduktivität in den produktivsten Firmen im
                                   nenbau (SVR 2022, Ziffer 478 ff.). Jetzt begründet sich                              Dienstleistungsbereich ähnlich groß oder sogar etwas
                                   der komparative Vorteil des deutschen Verarbeitenden                                 stärker als für die produktivsten Unternehmen im Ver-
                                   Gewerbes vor allem durch hoch qualifizierte Arbeits-                                 arbeitenden Gewerbe war (Andrews et al. 2015). Im
                                   kräfte, gute regulatorische Rahmenbedingungen, hohe                                  Durchschnitt ist jedoch die Produktivität höher in der
                                   Forschungsaktivität und effiziente Produktionstechno-                                Industrie. Es wird daher darauf ankommen, wohin die
                                   logien (IfW 2020; EFI 2022). Die höheren Energiepreise                               frei gewordenen Fachkräfte wechseln.
                                   werden dies verstärken müssen.                                                            Zuletzt werden auch Bedenken geäußert, dass
                                        Die Auswirkungen der Energiepreisveränderun-                                    mit der Abwanderung einzelner Unternehmen oder
                                   gen auf die Wettbewerbsfähigkeit wurden in der em-                                   Produkte ganze Branchen gehen könnten. Neue em-
                                   pirischen Literatur mehrmals untersucht (SVR 2022,                                   pirische und theoretische Arbeiten argumentieren,
                                   Kasten 19). Der geschätzte Zusammenhang zwischen                                     dass das Ausscheiden von einzelnen Unternehmen
                                   Energiepreisen und Rentabilität ist zwar negativ, aber                               oder Industrien infolge von Schocks wegen ihrer
                                   meistens gering oder insignifikant. Zusätzlich zeigen                                Verkettung in Produktionsnetzwerken Kaskadenef-
                                   die bisherigen empirischen Untersuchungen zur Verla-                                 fekte auslösen kann (Baqaee 2018; Carvalho et al.
                                   gerung von Wirtschaftstätigkeit infolge hoher Energie-                               2021). Daher kann es sinnvoll sein, Unternehmen
                                   preise, dass Energiepreise nicht zu den Haupttreibern                                durch staatliche Maßnahmen wie die Gaspreisbremse
                                   von Standortentscheidungen gehören, auch wenn die                                    zeitlich begrenzt zu unterstützen, um die unmittel-
                                   Effekte für einzelne Industriezweige, insbesondere                                   baren Effekte des Schocks einzudämmen und Anpas-
                                   für die energieintensiven, von größerer Bedeutung                                    sungen zu ermöglichen. Es ist aber zu beachten, dass
                                   sein dürften. Zwar betrifft der aktuelle Anstieg der                                 es mittel- bis langfristig Optionen gibt, Inputs über
                                   Energiepreise die verschiedenen Weltregionen sehr                                    Importe zu substituieren. Eine langfristige Sub-
                                   asymmetrisch, wodurch die Verlagerungen von In-                                      ventionierung von Energiepreisen ist deshalb nicht
                                   dustrien stärker als bisher beobachtet ausfallen kön-                                angezeigt.
                                   nen. Dennoch ist von einer breiten Verlagerung nicht
                                   auszugehen.                                                                          WIRTSCHAFTSPOLITISCHE IMPLIKATIONEN

                                   WIE PROBLEMATISCH IST DIE AUS DER                                                    Wir erwarten, dass es zu Veränderungen in der In-
                                   ENERGIEKRISE RESULTIERENDE                                                           dustrie kommen wird. Es wird Gewinner und Verlierer
                                   BESCHLEUNIGUNG DES STRUKTURWANDELS?                                                  innerhalb der Wirtschaftszweige geben. Energieeffi-
                                                                                                                        ziente Unternehmen werden zu den Gewinnern ge-
                                   Der Anteil der Wertschöpfung und der Erwerbstäti-                                    hören, andere Unternehmen werden aus dem Markt
                                   gen im Verarbeitenden Gewerbe nimmt seit 1991 in                                     scheiden. In Zukunft wird Deutschland zum Teil an-
                                   Deutschland ab (vgl. Abb. 3). Im Jahr 1990 waren noch                                dere Produkte herstellen mit einer niedrigeren Ener-

                         10        ifo Schnelldienst   3 / 2023   76. Jahrgang    15. März 2023
ZUR DISKUSSION GESTELLT

gieintensität. In der Folge könnte ein Teil der Indus-                      Dauth, W., S. Findeisen und J. Suedekum (2021), »Adjusting to
                                                                            Globalization in Germany«, Journal of Labor Economics 39(1), 263–302.
trieproduktion, insbesondere im energieintensiven
                                                                            EFI – Expertenkommission Forschung und Innovation (2022), Gutachten
Bereich, abwandern. Für die meisten Unternehmen                             zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit
und Industrien sollte und kann der Wandel nicht ver-                        Deutschlands 2022, EFI, Berlin.
hindert werden.                                                             Falck, O. und C. Pfaffl (2022), »Die Deindustrialisierung Deutschlands:
                                                                            berechtigte Sorge oder German Angst?», Wirtschaftsdienst 102(12),
     Es ist auf Dauer nicht leistbar, Energiepreise zu                      936–940.
subventionieren. Dort, wo es aus strategischen Grün-                        IfW – Kiel lnstitut für Weltwirtschaft (2020), Analyse der industrierele-
den geboten ist, kann die Politik in den Restrukturie-                      vanten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland im interna-
                                                                            tionalen Vergleich, Endbericht an das Bundesministerium für Wirtschaft
rungsprozess eingreifen. Hier müssen aber schlüssige                        und Energie, Referat I C 4, Projekt Nr. 24/19, Institut für Weltwirtschaft,
Argumente vorgebracht werden. Für alle anderen Be-                          Kiel.
reiche gilt es, die Umstellung zu begleiten. Die Politik                    Müller, S. und M. Mertens (2022), Wirtschaftliche Folgen des Gaspreisan-
                                                                            stiegs für die deutsche Industrie, Expertise für den Sachverständigenrat
sollte sich stärker darauf fokussieren, die Rahmen-
                                                                            zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 04/2022, SVR,
bedingungen zu verbessern, die notwendigen Inves-                           Wiesbaden.
titionen für eine ausreichende Versorgung von preis-                        OECD (2021), »Statement by Mr Ulf Zumkley, Chairman of the OECD
werter und CO2-armer Energie zu sichern und durch                           Steel Committee«, 22.–24. September, verfügbar unter:
                                                                            https://www.oecd.org/industry/ind/90-oecd-steel-chair-statement.htm.
eine Förderung von Forschung und Entwicklung die
                                                                            Sato, M. und A. Dechezleprêtre (2015), »Asymmetric Industrial Energy
Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen mit                         Prices and International Trade«, Energy Economics 52, S130–S141.
hohem Wertschöpfungspotenzial zu unterstützen. Die                          Schmidt, C., L. P. Feld, D. I. Christofzik und S. Elstner (2021), »The
Politik kann auch einiges tun, um die Industrie bei der                     German Productivity Paradox: A Homegrown Affair«, verfügbar unter:
                                                                            https://cepr.org/voxeu/columns/german-productivity-paradox-home-
Umstellung auf neue Realitäten zu unterstützen. Da-                         grown-affair, aufgerufen am 25. Januar 2023.
bei werden vor allem Weiterbildung und Umschulun-                           Schröder, C. (2019), Industrielle Arbeitskosten im internationalen Ver-
gen, Fachkräftesicherung, Abbau der bürokratischen                          gleich, IW-Trends 2, IW, Köln, 21. Juni.

Prozesse sowie ein staatlicher Digitalisierungsschub                        SVR – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftli-
                                                                            chen Entwicklung(2022), Energiekrise solidarisch bewältigen, neue Reali-
hilfreich sein.                                                             täten gestalten, Jahresgutachten 2022/2023, SVR, Wiesbaden.
                                                                            Wood, A. (2017), »Variation in Structural Change Around the World,
REFERENZEN                                                                 1985–2015: Patterns, Causes and Implications«, WIDER Working Paper
                                                                            Series 034b, United Nations University World Institute for Development
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                                                                            Stahlindustrie auf einen Blick«, Wirtschaftsvereinigung Stahl, verfüg-
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ply Chain Disruptions: Evidence from the Great East Japan Earth-
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Steffen Müller
Strukturwandel zulassen

Nach den beschlossenen Ausstiegen Deutschlands                              kohle und Strom) nach Kriegs-
aus der Kernenergie und der Kohleverstromung galten                         beginn und dem Gaslieferstopp
Gaskraftwerke als Brücke hin zu einer CO2-neutralen                         durch Russland waren ein
Volkswirtschaft. Billiges Pipelinegas aus Russland half                     Schock für die deutsche In-
der energieintensiven Industrie in Deutschland aber                         dustrie. Zeitweise hatten sich
auch, bei den Energiekosten die preisliche Wettbe-                          die Erzeugerpreise für Gas bei                                       Prof. Dr. Steffen Müller
werbsfähigkeit mit internationalen Wettbewerbern                            Abgabe an die Industrie versechs-
                                                                                                                                               leitet die Abteilung »Struktur-
nicht komplett zu verlieren. So waren in den Jah-                           facht (Statistisches Bundesamt                                     wandel und Produktivität« am
ren vor dem russischen Überfall auf die Ukraine die                         2022), und das Schreckgespenst                                     Leibniz-Institut für Wirtschafts-
Gaspreise für industrielle Abnehmer in Deutschland                          einer Gasmangellage mit einer ent-                                 forschung Halle (IWH) und ist
                                                                                                                                               Professor für Wirtschaftswissen-
auf dem Niveau, das die amerikanische oder asiati-                          sprechenden Rationierung durch                                     schaft an der Otto-von-Gueri-
sche Konkurrenz zahlen musste. Die dramatischen                             die Bundesnetzagentur stand im                                     cke-Universität Magdeburg.
Preisanstiege für Erdgas (aber auch für Kraftwerks-                         Raum.

                                                                                               ifo Schnelldienst    3 / 2023   76. Jahrgang   15. März 2023   11
ZUR DISKUSSION GESTELLT

          Auch wenn sich die Lage mittlerweile wieder et-          die Jahre 2015 bis 2017 und fassen die Produkte auf
     was beruhigt hat, stellt sich die Frage, ob die gasinten-     Ebene von 1 600 Produktgruppen zusammen (6-Stel-
     sive Produktion in Deutschland eine Zukunft hat. Die          ler).1 Die Studie zeigt deskriptiv, wo vor dem Ukrai-
     Anpassungsreaktionen im Sinne eines Fuel Switches,            ne-Krieg Gas verbraucht wurde und wie viel Umsatz
     also des Ausweichens auf andere Energieträger, sind           und Wertschöpfung damit erwirtschaftet wurde. Ein
     jedenfalls begrenzt. Zwar zeigen aggregierte Daten            ganz wesentliches erstes Ergebnis ist, dass der Gasver-
     für das erste Halbjahr 2022, dass es gelungen ist, den        brauch über die einzelnen Industrieprodukte hinweg
     Energiebedarf Deutschlands von Gas (–15 %) und Kern-          extrem unterschiedlich verteilt ist. Die 300 Indust-
     energie (–50 %) wegzulenken und stattdessen mehr              rieprodukte, mit dem höchsten absoluten Verbrauch
     auf andere fossile sowie erneuerbare Energieträger            an Gas stehen für knapp 90 % des gesamten Gasver-
     auszuweichen (SVR 2022, Abb. 80). Es ist jedoch sehr          brauchs der Industrie. Die Top-50-Produkte stehen
     wahrscheinlich, dass dies vor allem durch Verschie-           bereits für fast die Hälfte. Es ist also bei weitem nicht
     bungen zwischen Produzenten und Verlagerung der               so, dass hohe Gaspreise oder eine Gasmangellage die
     gasintensiven Produktion ins Ausland gelang und nicht         gesamte Industrie treffen würden. Ein weiteres Kern­
     etwa, weil Unternehmen ihre bisherige Produktion im           ergebnis ist, dass Produkte mit sehr hoher Gasintensi-
     großen Stil auf andere Energieträger umgestellt hät-          tät systematisch wenig Wertschöpfung erzielen. Steigt
     ten. Für diese These des intensiven Strukturwandels           die Gasintensität um 10 %, sinken Umsatz und Wert-
     im Sinne einer Verlagerung von Marktanteilen zwi-             schöpfung um 8 %.
     schen Industrieunternehmen sprechen sowohl meine                   Die meisten der gasintensiven Produkte sind Vor-
     nachfolgend um Daten zur Bruttowertschöpfung er-              leistungsprodukte, die von nachgelagerten Wertschöp-
     weiterte Argumentation in der für den Sachverständi-          fungsstufen als Input benötigt werden. Ein potenziell
     genrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen            wichtiges Problem bei einem Produktionsstopp einzel-
     Entwicklung (SVR) erstellten Kurzexpertise (Müller und        ner Vorprodukte sind also zerrissene Wertschöpfungs-
     Mertens 2022) als auch Ergebnisse in Mertens et al.           ketten und nachgelagerte Produktionsausfälle. Eine
     (2022) sowie aktuelle Zahlen in Holtemöller (2022),           hohe Importsubstituierbarkeit gasintensiver Produkte
     auf die nun eingegangen werden soll.                          beschränkt zum einen die Möglichkeit inländischer
                                                                   Produzenten zur Weitergabe der gestiegenen Gas-
     AUSMASS DES STRUKTURWANDELS                                   preise an ihre Kunden und kann zum anderen dazu
     BEHERRSCHBAR                                                  beitragen, dass Wertschöpfungsketten in Deutschland
                                                                   nicht reißen. Falls ohne größere Preissteigerungen
     Mertens et al. (2022) zeigen mit Hilfe von amtlichen          möglich, kaufen nachgelagerte Wertschöpfungsstufen
     Firmendaten für die Jahre 2003 bis 2016, dass Unter-          die gasintensiven Vorleistungsgüter günstig im Aus-
     nehmen ihren Energiemix nicht in nennenswertem                land, und in der Folge ist der durch die Energiekrise
     Umfang ändern, wenn sich relative Preise von Energie-         ausgelöste Produktionsausfall in Deutschland im We-
     trägern ändern. Wer mit Gas arbeitet, wird dies auch          sentlichen auf die gasintensiven (Vorleistungs-)Güter
     dann tun, wenn sich Gas relativ zu anderen Energieträ-        selbst beschränkt. In der Kurzexpertise berechnen
     gern verteuert. Allerdings zeigen Mertens et al. (2022),      wir, dass ein hypothetischer vollständiger Produkti-
     dass dann Arbeitsproduktivität, Umsatz und Löhne im           onsstopp der Produkte, die sowohl überdurchschnitt-
     Vergleich zu Unternehmen sinken, deren Energieträger          lich gasintensiv sind als auch überdurchschnittlich
     sich nicht verteuert hat. In meinem Beitrag für den           leicht durch Importe substituiert werden können, im
     SVR schlussfolgere ich, dass vor allem Produkte mit           Vergleich zum Vorkrisenverbrauch etwa ein Viertel
     hoher Gasintensität und hoher Importsubstituierbar-           des Gesamtgasverbrauchs der Industrie einspart. Der
     keit künftig weniger in Deutschland hergestellt und           Verlust an Bruttowertschöpfung liegt in diesem Sze-
     mehr importiert werden. Holtemöller (2022) zeigt auf          nario bei lediglich 2 % der Bruttowertschöpfung der
     Branchenebene, dass die gasintensiven Wirtschafts-            deutschen Industrie. Der Untergang der deutschen
     zweige, zum Beispiel die chemische Industrie, ihre            Industrie ist das nicht!
     Umsätze 2022 gegenüber dem Vorjahr überwiegend
     ausweiten konnten, zugleich aber die Produktion in            WO DRÜCKT DER SCHUH AM MEISTEN?
     Deutschland erheblich reduziert haben. Eine mögliche
     Ursache dieser Divergenz, die mit der Analyse in Kurz­        Wenn auch der Veränderungsdruck auf die gesamte
     expertise gut vereinbar ist, ist, dass die Unternehmen        deutsche Industrie im Rahmen bleibt, so sind doch ei-
     manche gasintensiven Vorprodukte aus dem Ausland              nige Produkte und insbesondere die Chemieindustrie
     beziehen, statt sie selber zu produzieren und dass            stark betroffen. Teuer wird die Anpassung vor allem
     sie höhere Kosten auf die Preise überwälzen können.           bei gasintensiven Produkten, die schwer durch Im-
          Strukturwandel findet statt, und eine wichtige           porte ersetzt werden können. Aufgrund ihrer gerin-
     Frage ist, wie stark die Verteuerung von Gas zu ei-           gen Importsubstituierbarkeit ist für diese Produkte
     ner Reduktion der (industriellen) Wertschöpfung in            bei Gasknappheit mit einer Verteuerung und höheren
     Deutschland führt. Müller und Mertens (2022) benut-           1
                                                                      Für Details zur Methodik siehe Müller und Mertens (2022) und Mül-
     zen fein untergliederte Daten auf Produktebene für            ler (2023).

12   ifo Schnelldienst   3 / 2023   76. Jahrgang   15. März 2023
ZUR DISKUSSION GESTELLT

Kosten der Produktion für nachgelagerte Industrien zu                  Abb. 1
rechnen. Sollten Importe oder ein Umstieg auf alterna-                 Bruttowertschöpfungᵃ der Produkte nach Wirtschaftsbereichen
tive Vorleistungsgüter gar nicht wirtschaftlich sinnvoll                                       Nicht in 300er Liste                                 In 300er Liste, nicht gasintensiv
möglich sein, drohen deutliche Preiserhöhungen oder                                            Gasintensiv, leicht importierbar                     Gasintensiv, schwer importierbar
Produktionsausfälle in nachgelagerten Industrien.                                              Gasintensiv, Importsubstitution unbekannt

     Um diese Frage näher zu beleuchten, zeigt Abbil-                            Nahrung und Tabak (10 –12)
dung 1 die Bruttowertschöpfung der deutschen In-                               Textil und Bekleidung (13 –15)
                                                                                                     Holz (16)
dustrie auf Ebene der Wirtschaftsbereiche und zer-
                                                                                                   Papier (17)
legt diese in die Wertschöpfungsanteile der Produkte,                                               Druck (18)
die (1) nicht zu den 300 Produkten mit dem höchsten                                Kokerei und Mineralöl (19)
Gasverbrauch gehören, in der Liste aber (2) nicht ga-                                             Chemie (20)
                                                                                                  Pharma (21)
sintensiv (unter dem Median bezüglich kWh Gas pro                                 Gummi und Kunststoff (22)
Euro Umsatz) sind, (3) gasintensiv und leicht impor-                                    Glas und Keramik (23)
tierbar (über dem Median der Importsubstituierbar-                                       Metallerzeugung (24)
                                                                                       Metallerzeugnisse (25)
keit) sind und (4) gasintensiv und schwer importier-
                                                                       Elektronische und optische Geräte (26)
bar sind. Es werden auch die Wertschöpfungsanteile                                Elektrische Ausrüstung (27)
für gasintensive Produkte ausgewiesen, für die die                                         Maschinenbau (28)
Importsubstituierbarkeit auf Produktebene nicht be-                                       Kraftfahrzeuge (29)
                                                                                   Sonstige Fahrzeugbau (30)
rechnet werden konnte.
                                                                                                Möbel (31–32)
     Die Abbildung zeigt deutlich, dass der weit über-                                         Reparatur (33)
wiegende Teil der industriellen Wertschöpfung in
                                                                                                                    –20       0     20      40      60     80    100 120 140
Deutschland nicht mit hohem Gasverbrauch einher-                                                                                          Mrd. Euro (Mittelwert der Jahre 2015–2017)
geht und der Wertschöpfungsanteil der Produkte mit                     ᵃ Nominale Bruttowertschöpfung der Wirtschaftsbereiche, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung in Mrd. Euro als
                                                                       Mittelwert der Jahre 2015–2017; Liste der 300 Produkte mit dem höchsten Gasverbrauch der Industrie.
hoher Gasintensität an allen 300 Produkten außeror-                    Industriecodes in Klammern entsprechen der NACE Rev.2 Klassifikation.
dentlich gering ist.2 Die Gruppe der gasintensiven und                 Quelle: Berechnungen von Müller und Mertens (2022) auf Basis der
                                                                       Amtlichen Firmendaten für Deutschland.                                                               © ifo Institut
leicht importierbaren Produkte ist fast ausschließ-
lich auf die Chemieindustrie konzentriert.3 Geringe                    Wir leben in einer Zeit des Arbeitskräftemangels und
Importsubstituierbarkeit gasintensiver Produkte ist                    nicht mehr in einer Zeit der Massenarbeitslosigkeit.
vor allem für die Papierindustrie (17), die Chemi-                     Das bedeutet vor allem zwei Dinge. Erstens, entsteht
eindustrie (20) und die Glas- und Keramikindustrie                     nicht mehr automatisch Arbeitslosigkeit, wenn Indus-
(23) zu verzeichnen.                                                   trien schrumpfen, und zweitens ist der Wechsel von
                                                                       Arbeitskräften in zukunftsfähige Branchen dringender
STRUKTURWANDEL ZULASSEN                                                denn je erforderlich. Natürlich ist ein Wechsel in an-
                                                                       dere Branchen nicht für jeden Arbeitnehmer leicht zu
Gaspreise werden nicht wieder auf das extrem nied-                     bewerkstelligen (Yi et al. 2017), insbesondere ältere
rige Niveau der Zeit vor dem Ukraine-Krieg sinken. Ein                 Beschäftigte tun sich schwer. Eine aktuelle Studie für
dadurch entstandener Wettbewerbsnachteil, vor allem                    Deutschland (Fackler et al. 2021) zeigt, dass Lohnver-
gegenüber der amerikanischen Konkurrenz, wird von                      luste nach einem Arbeitsplatzverlust zwar im Mittel
Dauer sein. Auch wenn Interessenvertreter betroffe-                    sehr gering sind, sie aber insbesondere bei Jobverlust
ner Branchen das anders sehen könnten, sind dauer-                     aus größeren Industriebetrieben substanziell sein kön-
hafte Subventionen für die gasintensive Produktion in                  nen. Diese Kosten sind in erster Linie private Kosten
Deutschland nur in eng begrenzten Ausnahmenfällen                      der betroffenen Beschäftigten, ihre Produktivität und
vertretbar, und zwar unter anderem dort, wo bei Aus-                   somit ihr volkswirtschaftlicher Beitrag sinken nicht
fall von Importen kritische Versorgungsengpässe der                    (Fackler et al. 2021). Vergrößert man den Bilanzrah-
Bevölkerung drohen. Durch eine Diversifizierung der                    men und schaut statt auf Bruttolöhne auf das Netto-
Zulieferwege kann dieses Risiko in vielen Fällen weiter                haushaltseinkommen, zeigt sich, dass der deutsche
reduziert werden.                                                      Sozialstaat dafür sorgt, dass die Einkommensverluste
      Es bleibt die Frage nach den sozialen Kosten des                 durch Arbeitsplatzverlust außerordentlich gering sind
Strukturwandels. Auch hier ist die Lage bei Weitem                     (Fackler und Weigt 2020).
nicht so prekär wie bisweilen öffentlich dargestellt.                       Schließlich ist fraglich, ob und in welchem Tempo
                                                                       betroffene Branchen bei Drosselung der Produktion
2
   Negative Werte für die Kokerei (10) bedeuten, dass die Wertschöp-
fung auf Produktebene größer als die vom Statistischen Bundesamt
                                                                       überhaupt Beschäftigung abbauen. Im November
erfasste Wertschöpfung auf Branchenebene ist. Hauptgrund dafür         2022 (aktuellere Daten liegen nicht vor) wurden im
dürfte sein, dass der Zuordnung der Wertschöpfung auf Branchen
durch die amtliche Statistik zunächst eine Zuordnung der Unterneh-
                                                                       deutschen Verarbeitenden Gewerbe 720 Millionen Ar-
men auf Branchen vorgeschaltet ist. Ein negativer Wert kann da-        beitsstunden geleistet.4 Das waren 2 % mehr als im
durch entstehen, dass Kokereiprodukte in größerem Umfang in Un-
ternehmen hergestellt werden, die nicht der Kokereibranche
                                                                       November 2021, aber etwa 0,5 % weniger als im No-
zugeordnet werden, weil ihre Haupttätigkeit nicht in der Kokerei       vember 2019, also direkt vor Ausbruch der Pandemie.
liegt.
3                                                                      4
   Die Berechnung der Importsubstituierbarkeit ist für Stahlproduk-      Statistisches Bundesamt, Monatsbericht im Verarbeitenden Ge-
te (Wirtschaftsbereich 24) in vielen Fällen nicht möglich.             werbe.

                                                                                           ifo Schnelldienst    3 / 2023   76. Jahrgang    15. März 2023    13
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