Deindustrialisierung: Schreckgespenst oder notwendiger Schritt im Struktur-wandel der deutschen Wirtschaft?
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ZUR DISKUSSION GESTELLT Deindustrialisierung: Schreckgespenst oder notwendiger Schritt im Struktur- wandel der deutschen Wirtschaft? Die Ereignisse der letzten Jahre haben die Debatte über eine Deindustrialisierung Deutschlands auf die Tagesordnung gesetzt. Die Corona-Pandemie, Unsicherhei- ten im Umgang mit China und der Krieg in der Ukraine belasten die deutsche Wirtschaft stark. Unterbrochene Lieferketten, fehlende Rohstoffe und vor allem die in ungeahnte Höhen gestiegenen Energiepreise verunsichern die Unterneh- men. Aufgrund deutlich günstigerer Energiekosten und der Subventionspolitik in den USA gibt es Befürchtungen, dass insbesondere energieintensive Unterneh- men abwandern und der Industriestandort Deutschland an Wettbewerbsfähig- keit verliert. Ist diese Sorge berechtigt, und wie kann die Politik gegensteuern? Michael Hüther Deindustrialisierung als Risiko ernst nehmen, Potenziale für die Transformation mobilisieren Die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf Da rund 60 % des Gasverbrauchs allein auf die Indus- die deutsche Energieversorgung haben die enorme trie entfällt, wurden massive Auswirkungen der Ener- Abhängigkeit in strategisch wichtigen Bereichen deut- giekrise auf das Verarbeitende Gewerbe erwartet. Die lich gemacht. Waren die Energiepreise bereits vor dem Gemeinschaftsdiagnose für das Bundeswirtschafts- Krieg auf hohem Niveau, so erreichten sie in Deutsch- ministerium vom 27. September 2022 ermittelte in land im Laufe des Jahres 2022 zuvor ungekannte Hö- einem Risikoszenario, dass »die Gasmangellage … zu hen. Das führte nicht nur zu kurzfristigen Belastungen einem Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Leistung der privaten Haushalte und Unternehmen, sondern im Jahr 2023 von 7,9 % und im Jahr 2024 von 4,2 % birgt angesichts deutlich günstigerer Energiekosten in führen« dürfte (Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose Nordamerika und in China die Gefahr, dass einerseits 2022). Deutsche Bank Research sah kurze Zeit später ganze Industriebranchen mittelfristig ihre Wettbe- (5. Oktober 2022) die Gefahr einer Deindustrialisierung werbsfähigkeit am hiesigen Standort einbüßen und für Deutschland (Deutsche Bank Research 2022). Eine dass andererseits die Perspektiven der deutschen erste Zwischenbilanz in der ökonomischen Debatte Volkswirtschaft grundsätzlich negativ bewertet wer- zum Jahresende 2022 kam dennoch überwiegend zu den. Diese Sorgen waren angesichts des Risikos ei- dem Ergebnis, dass eine Deindustrialisierung Deutsch- nes abrupten Gasembargos im Frühjahr 2022 gut be- lands eher unwahrscheinlich sei (Brandt et al. 2022). gründet, zumal nicht auszuschließen war, dass der Tatsächlich aber hat die Industrie – insgesamt Gasmarkt kollabiert, also ein markträumender Preis die deutsche Volkswirtschaft – eine große sich angesichts kurzfristig dominanter technischer Anpassungsfähigkeit gezeigt. Die Restriktionen auf beiden Marktseiten nicht einstellt Industriekunden konnten ihren (Ockenfels und Wambach 2023). monatlichen Gasverbrauch im Oktober und November 2022 VERFRÜHTE DEINDUSTRIALISIERUNGSSORGEN? um bis zu 27 % im Vergleich zum Durchschnittsverbrauch der Im Laufe des Jahres 2022 verringerten sich die russi- vergangenen vier Jahren senken Prof. Dr. Michael schen Brennstoffimporte; beim Gas beendete Russ- (Bundesnetzagentur 2023). Diese Hüther land am 31. August 2022 die Belieferung über Nord Einsparungen resultierten aus Sub- ist Direktor des Instituts der Stream 1 vollständig. In der Folge erreichten die Gas- stitutionen von Erdgas durch an- deutschen Wirtschaft Köln. preise auf den internationalen Märkten Höchststände. dere Brennstoffe und effizientere ifo Schnelldienst 3 / 2023 76. Jahrgang 15. März 2023 3
ZUR DISKUSSION GESTELLT Abb. 1 frage nach Dienstleistungen durch die Industrie zwi- Produktionsindizes für energieintensive Industriezweige und das Verarbeitende schen 8,8 und 11,5 % an der gesamtwirtschaftlichen Gewerbe Wertschöpfung erreichen. Durch diese enge Verflech- Verarbeitendes Gewerbe (gesamt) Energieintensive Industriezweige tung von Industrie und Dienstleistung in Deutschland 01/2019 = 100, bis 11/2022 trägt der Dienstleistungssektor auch indirekt zu den 110 Exporten bei (54 % aller Dienstleistungsexporte), die 100 damit höher ausfallen als die direkten Exporte von Dienstleistungen (46 %) (Lang und Lichtblau 2021). 90 Darüber hinaus ist das deutsche Modell global integriert sowie regional balanciert, es unterscheidet 80 sich damit vom französischen oder angelsächsischen Modell mit wenigen stark industriell konzentrierten 70 Regionen. Während im Jahr 1995 die deutsche Au- Jan 2019 Jul 2019 Jan 2020 Jul 2020 Jan 2021 Jul 2021 Jan 2022 Jul 2022 ßenhandelsquote bei fast 36 % lag, stieg diese fast Quelle: Macrobond; Statistisches Bundesamt; letzte Aktualisierung: 16. Januar 2023. © ifo Institut kontinuierlich bis zum Jahr 2021 auf über 71 % an und übertrifft damit die Quoten von USA, Japan, Abb. 2 Frankreich und dem Vereinigten Königreich. Fast die Industrie-Dienstleistungsverbundᵃ Hälfte der weltweiten Hidden Champions kommen aus Verbundwertschöpfung Verarbeitendes Gewerbe Deutschland, wobei 80 % dieser Unternehmen zum 35 Wertschöpfung in vH des BIP, 2019 Verarbeitenden Gewerbe zählen und durchschnittlich seit 70 Jahren bestehen (Simon 2021). 30 Die Alleinstellungsmerkmale des deutschen Ge- 25 schäftsmodells geraten durch die aktuellen Zuspit- 20 zungen der ohnehin schon beachtlichen strukturellen 15 Veränderungen unter Druck. Dekarbonisierung und de- 10 mografische Alterung führen angesichts preistreiben- 5 der sowie wachstumsschwächender Effekte zusam- 0 men mit der Energiekrise dazu, dass die Stagflation CHN DEU ITA IND JPN BRA ESP FRA USA GBR ᵃ Verbundwertschöpfung ist die Summe der Vorleistungen, die das Verarbeitende Gewerbe vom nationalen für dieses Jahrzehnt ein veritables Risiko darstellt. Dienstleistungssektor bezieht, abzüglich der Summe der Vorleistungen, die der Sektor im Inland an den Die Deglobalisierung wird durch die Konflikte in der Dienstleistungssektor verkauft. Dieser Überschuss ist als Wertschöpfung dem Verarbeitenden Gewerbe zuzurechnen. Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft auf Basis von EU-FIGARO. © ifo Institut Global Power Competition verschärft, die Digitalisie- rung hat ihre Hoffnungen für die Produktivitätsent- Produktion, aber auch aus Produktionseinstellungen. wicklung noch nicht eingelöst. All dies trifft auf einen Vor allem die energieintensiven Branchen – Herstel- historischen Höchststand der wirtschaftspolitischen lung von chemischen Erzeugnissen, Glas und Keramik, Unsicherheit: Deutschland weist seit Beginn des An- die Papierindustrie, Metallindustrie sowie die Koke- griffskriegs Russlands gegen die Ukraine den höchsten rei und Mineralölverarbeitung – sind davon betroffen Economic Policy Uncertainty Index auf im Vergleich zur (vgl. Abb. 1). Auch wenn die Gaspreise im Großhandel EU, den USA oder China. Anfang des Jahres 2023 wieder auf Vorkriegsniveau Die hohen Energiepreise tragen zur Unsicherheit lagen, bleibt die Unsicherheit infolge der unkalkulier- über die Zukunft des Wirtschaftsstandortes bei. Das baren politischen Einflüsse hoch. Flüssiggas, auf das Deutschland in den kommenden Zusätzlich zur akuten Energiepreiskrise sind wei- Jahren als Alternative zum russischen Erdgas ange- tere disruptive Herausforderungen im Strukturwandel wiesen sein wird, war im Durchschnitt der Jahre 2017 zu bewältigen: die Dekarbonisierung, die Digitalisie- bis 2021 etwa 30 % teurer als europäisches Pipeline- rung, der demografische Wandel und Tendenzen der gas (Vergleich TTF und LNG Japan) (Worldbank 2023). Deglobalisierung inmitten eines bipolaren System- Die gestiegene Nachfrage nach Flüssiggas könnte die konflikt mit neuen geopolitischen Herausforderun- Preise zudem weiter antreiben, denn die weltweiten gen. Damit verbindet sich die Frage, wie diese multi- Exportterminals waren im Jahr 2021 zu 80 % ausge- plen Krisen die deutsche Volkswirtschaft verändern lastet und viele Mengen bereits langfristig an Käufer werden, welche Gefahren für das industriebasierte gebunden (IGU 2022). Verschiedene Szenarien zeigen, Geschäftsmodell bestehen. Droht die Deindustriali- dass auch langfristig bis 2040 mit höheren Stromprei- sierung in diesem perfekten Sturm? sen im Vergleich zum Vorkriegsniveau zu rechnen ist (Lang und Lichtblau 2021). WAS GEFÄHRDET DAS DEUTSCHE MODELL? Neben den Energiepreisen weist Deutschland Standortschwächen vor allem im Bereich von Re- Die deutsche Volkswirtschaft zeichnet sich im in- gulierungen, Steuerbelastung und Infrastruktur auf ternationalen Vergleich durch einen großen Indust- und rutscht damit im ZEW-Ranking über Standortbe- rie-Dienstleistungsverbund aus (vgl. Abb. 2). So dürfte dingungen unter den Industriestaaten auf nur noch der Anteil der Verbundwertschöpfung aus der Nach- den viertletzten Platz ab (ZEW 2022). Wie sensibel 4 ifo Schnelldienst 3 / 2023 76. Jahrgang 15. März 2023
ZUR DISKUSSION GESTELLT Tab. 1 Kenngrößen energieintensiver Industrien, 2021 Anteil der Unterneh- Anteil der Beschäf- Anteil Unternehmen men in vH mit Anzahl an tigten in vH der Bruttowertschöp- in vH mit kontinuier- Industrie Produkt und Beschäftigten Industriebeschäf fung Mrd. EURa lichen FuE-Aktivitä- Prozessinnovationen tigung ten in ihrer Branchea in ihrer Branchea Herstellung von 118 928 2,17 10,72 Papier, Pappe und 8 59 Waren daraus Kokerei und 17 718 0,32 31,95 Mineralölverarbei- 33 79 tung Herstellung von 332 799 6,08 42,69 chemischen 59 78 Erzeugnissen Herstellung von 49 789 3,75 16,22 Glas, Glaswaren, Keramik, Verarbei- 17 52 tung von Steinen und Erden Metallerzeugung 224 718 4,11 16,25 17 58 und -bearbeitung (29 in der (68 in der Metallerzeugung) Metallerzeugung) Summe oder 743 952 16,44 117,83 Durchschnitt der 28 66 energieintensiven Industrien Verarbeitendes 5 471 169 100,00 567,22 19 62 Gewerbe gesamt a Daten von 2020. Quelle: Statistisches Bundesamt; Bundesagentur für Arbeit; Macrobond; Stifterverband für die Deutsche Wirtschaft; Macrobond; ZEW. diese Verschlechterung wahrgenommen wird, zeigt Deindustrialisierung zu erwarten ist. Die Gefahr eines die Aufregung hierzulande (und in der EU) über den massiven Wohlstandsabflusses ins Ausland infolge US Inflation Reduction Act, der vor allem an die heimi- eines Verlustes industriebasierter Wertschöpfung schen Standortdefizite erinnert (Hüther und Matthes besteht, sofern der Staat für die Transformation zur 2023). Weitere strukturelle Schwächen des deutschen Klimaneutralität seine regulatorischen und infrastruk- Wirtschaftsstandortes liegen in der Rohstoffarmut turellen Aufgaben nicht erfüllt, so dass die Erwartun- und strategischen Abhängigkeiten im wirtschaftlichen gen der privaten Investoren zur Wettbewerbsfähigkeit und politischen Sinne (Fremerey und Gerards Iglesias des Standorts nicht stabilisiert werden können. Die 2022). schöpferische Zerstörung des Strukturwandels wird zur Krise, weil die Wertschöpfungsverluste nachhaltig KRISE DER SCHÖPFERISCHEN ZERSTÖRUNG größer sind als die Gewinne. In der Diskussion über ein mögliches einseitiges Die Frage ist nun, ob angesichts der trendmäßigen Be- Gasembargo im Frühjahr 2022 wurde behauptet, dass lastungen des volkswirtschaftlichen Strukturwandels eine solche Krise nicht drohe, weil aufgrund ausrei- für sich genommen das Wachstumspotenzial in der chender Substitutionsmöglichkeiten den Marktkräften vor uns liegenden Dekade schwächer ausfallen wird freien Lauf gelassen werden könne und ein Embargo als zuletzt. Es spricht in der Tat viel dafür, dass vor gesamtwirtschaftlich so ohne Strukturfolgen verkraft- allem die demografische Alterung dazu führt, dass das bar sei. Die Frage indes, was ein Verlust der energie Wachstum jahresdurchschnittlich eher bei einem ¾ % intensiven Industriezweige für die deutsche Volks- liegen wird als bei den vor der Pandemie erreichten wirtschaft bedeuten würde und welche Konsequenz 1 ½ %. Das ist aber nur dann zwangsläufig der Fall, eine schöpferische Zerstörung dafür hätte, wurde wenn die Konsequenzen der Alterung und Schrump- verdrängt. Hierbei werden mindestens drei Aspekte fung des Erwerbspersonenpotenzials politisch und verkannt (vgl. Tab. 1). gesellschaftlich nicht ernst genommen werden. Teil- Erstens sind die energieintensiven Industrien mit weise ist das sicher der Fall. großer Wertschöpfung und einer relevanten Anzahl Eine andere Frage ist, ob angesichts der Verän- von Arbeitsplätzen verbunden. Es handelt sich um derungen der globalen Wirtschaftsordnung im Zu- hochproduktive Unternehmen, die über 16 % der In- sammenspiel mit den Energiekosten und den darauf dustrieerwerbstätigen beschäftigen und über 20 % der gefundenen politischen Antworten die industrielle industriellen Wertschöpfung erwirtschaften. Basis der Volkswirtschaft wettbewerbsfähig bleibt, Zweitens gehören insbesondere Chemieindustrie sich robust entwickeln kann oder ob eine spürbare und Metallerzeugung zu den forschungsintensivsten ifo Schnelldienst 3 / 2023 76. Jahrgang 15. März 2023 5
ZUR DISKUSSION GESTELLT Industrien. Branchenübergreifend handelt es sich zum vieren. Eine Krise der schöpferischen Zerstörung lässt Großteil um Unternehmen, die im Durchschnitt mehr sich vermeiden, und der Industrie-Dienstleistungsver- Innovationen als andere Unternehmen des Verarbei- bund kann den Umbau zur Klimaneutralität gestalten. tenden Gewerbes hervorbringen. Es sind gerade die etablierten forschungsstarken Branchen mit beson- REFERENZEN ders innovativem und disruptivem Potenzial ausge- Brandt, A., H. Krämer, V. Grimm, C. von Rüden, C. M. Schmidt, T. stattet, wie es für die Transformation unerlässlich ist. Schmidt, M. Gornig, C. Kemfert, O. Falck, C. Pfaffl und E. Heymann (2022), »Droht der deutschen Wirtschaft eine Deindustrialisierung?«, Eine Studie über die US-Volkswirtschaft zeigt, dass In- Wirtschaftsdienst 102(12), 917–944. novationen vor allem von etablierten und forschungs- Bundesnetzagentur (2023), »Aktuelle Lage der Gasversorgung in starken Unternehmen ausgehen und gerade auf die- Deutschland«, verfügbar unter: Bundesnetzagentur – Aktuelle Lage Gas- versorgung, aufgerufen am 29. Januar 2023. sen Branchen die volkswirtschaftliche Dynamik und Deutsche Bank Research (2022), »Energiekrise trifft Industrie bis ins die transformative Entwicklung in den USA beruhen Mark«, Deutschland-Monitor 5. Oktober, verfügbar unter: Energiekrise (Hsieh und Klenow 2018). trifft Industrie bis ins Mark – Deutsche Bank Research (dbresearch.de), aufgerufen am 23. Januar 2023. Drittens betrifft die grüne Transformation sämtli- Fremerey, M. und S. Gerards Iglesias (2022), Abhängigkeit – Was bedeutet che Wirtschafts- und Lebensbereiche und wird früher sie und wo besteht sie?, IW-Report 56, Institut der deutschen Wirtschaft, oder später auf der ganzen Welt stattfinden müssen. Köln. Anders als es bei der schöpferischen Zerstörung zu Hsie, Ch.-T. und P. J. Klenow (2018), »The Reallocation Myth«, Working Papers 18-19, Center for Economic Studies, U.S. Census Bureau, verfüg- erwarten ist, sind keine neuen Sektoren oder Wirt- bar unter: https://ideas.repec.org/p/cen/wpaper/18-19.html, aufgerufen schaftsbereiche in Sicht, die alte etablierte Branchen am 23. Januar 2023. in Deutschland ablösen würden. Es ist weder ein deut- Hüther, M. (2022), »Entlastungspaket: Stabilisierung der Erwartungen«, Wirtschaftsdienst 102(10), 757–760. scher Big Bang wie in Großbritannien der 1980er Jahre Hüther, M. und J. Matthes (2023), »Is the U.S. Inflation Reduction Act realistisch, noch hat Deutschland ein Silicon Valley, Hurting the German Economy? An Objection to Exaggerated Claims«, aus dem Innovationen für Zukunftsbranchen wie dem verfügbar unter: Is the U.S. Inflation Reduction Act Hurting the German Economy? – Atlantik-Brücke e.V. (atlantik-bruecke.org), aufgerufen am Tech- und Informationsbereich hervorgehen könnten. 29. Januar 2023. Das Rückgrat der deutschen Volkswirtschaft bilden IGU – International Gas Union (2022), World LNG Report, verfügbar unter: pfadabhängig und dienstleistungsergänzt weiterhin https://www.igu.org/resources/world-lng-report-2022/, aufgerufen am 23. Januar 2023. der Maschinenbau, die Metall- und Elektroindustrie, Lang, T. und K. Lichtblau (2021), Bedeutung unternehmensnaher Dienst- die Chemieindustrie sowie der Automobilbau. Aus Re- leistungen für den Industriestandort Deutschland/Europa, IW Consult, gionen mit diesen Branchen gehen auch die meisten Studie für das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Institut der deutschen Wirtschaft, Köln. Innovationen und Patente hervor (Plünnecke 2022). Ockenfels, A. und A. Wambach (2023), »Was tun, wenn der (Gas-)Markt Wird der Standort Deutschland durch anhaltend kollabiert?«, Wirtschaftsdienst 103(1), 29–32. hohe Energiepreise und hohe Steuerlast international Plünnecke, A. (2022), »Transatlantischer Innovationsindex: Innovations- an Wettbewerbsfähigkeit einbüßen, dann werden in- landschaft im Vergleich«, Wirtschaftsdienst 102(12), 914. dustrielle Investitionen weniger attraktiv, die für die Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2022), Energiekrise: Inflation, Re- zession, Wohlstandsverlust, Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2022, verfüg- Durchführung der Transformation nötig wären. Politik bar unter: Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2022: Energiekrise: Inflation, und Gesellschaft haben diese Aufgabe ins Zentrum ih- Rezession, Wohlstandsverlust – Gemeinschaftsdiagnose, aufgerufen am 23. Januar 2023. res Engagements gerückt. Die gesetzlichen, regulatori- Simon, H. (2021), Hidden Champions: Die neuen Spielregeln im chinesi- schen und investiven Weichenstellungen sind maßgeb- schen Jahrhundert, Campus, Frankfurt am Main. lich für den volkswirtschaftlichen Umsetzungserfolg. World Bank (2023), »Pink Sheet Data, Monthly Prices«, verfügbar unter: Denn um Marktkräfte in eine neue Richtung zu lenken, https://www.worldbank.org/en/research/commodity-markets, aufgerufen bedarf es der Investitionssicherheit für Private durch am 23. Januar 2023. verlässliche und stabile Erwartungsprägung (Konstanz ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (2022), »Deutschland ist der große Verlierer im Standortwettbewerb«, verfügbar der Wirtschaftspolitik). Dann werden Unternehmen unter: https://www.zew.de/das-zew/aktuelles/deutschland-ist-der-gros- das nötige Kapital mit Anlaufhilfe des Staates akti- se-verlierer-im-standortwettbewerb, aufgerufen am 23. Januar 2023. 6 ifo Schnelldienst 3 / 2023 76. Jahrgang 15. März 2023
ZUR DISKUSSION GESTELLT Sylwia Bialek, Claudia Schaffranka und Monika Schnitzer Kein Grund zur Panik Die Energiekrise ist kein Game Changer, aber sie beschleunigt den ohnehin anstehenden Strukturwandel in der Industrie Das Verarbeitende Gewerbe ist ein wichtiger Energie- Wandels darstellen, als eine abrupte Deindustriali- verbraucher. Vor allem bei Erdgas und Strom machte sierung auslösen. Ein Verlust einzelner industrieller 2021 das Verarbeitende Gewerbe 32 % bzw. 43 % des Aktivitäten und der damit verbundene Verlust von gesamten Verbrauchs aus. Angesichts der extremen Arbeitsplätzen in diesen Bereichen ist nicht notwen- Energiepreissteigerungen – sowohl in absoluten Wer- digerweise mit Wohlfahrtseinbußen verbunden, auch ten als auch im Vergleich zu anderen Wirtschaftsregi- wenn dies kurzfristig hohe Anpassungskosten ver- onen (vgl. Abb. 1) – ist daher eine Debatte entflammt, ursacht. In Anbetracht der Fachkräfteengpässe und ob Deutschland eine Deindustrialisierung bevorsteht des demografischen Wandels wird es in Zukunft nicht und wenn ja, welche Folgen diese haben würde. Mit mehr um die Frage gehen, ob Arbeitsplätze wegfallen, einem Anteil von über 20 % am Bruttoinlandsprodukt sondern ob es gelingt, die freigesetzten Beschäftigten und von 17 % an der Beschäftigung prägt das Verar- dort einzusetzen, wo dringend Arbeitskräfte benötigt beitende Gewerbe maßgeblich den wirtschaftlichen werden. Es gilt deshalb, den Wandel durch die Politik Wohlstand Deutschlands. Die Arbeitsplätze in der In- zu begleiten, um die richtigen Anreize für die Akteure dustrie sind darüber hinaus überdurchschnittlich gut zu setzen und den Übergang möglichst reibungslos bezahlt – die Arbeitskosten lagen im Verarbeitenden zu gestalten. Gewerbe rund 20 % höher als bei den marktbestimm- ten Dienstleistungen1 – und das Arbeitsproduktivitäts- BETROFFENHEIT DES VERARBEITENDEN wachstum ist höher als in anderen Sektoren (Schmidt GEWERBES et al. 2021). In der Diskussion sind vor allem pessimistische Im letzten Jahr sind die Großhandelspreise für Ener- Stimmen zu hören: So warnt etwa der Verband der gie extrem angestiegen, was sich auch auf die End deutschen Chemie eindringlich vor den Folgen ho- energiepreise ausgewirkt hat (SVR 2022). Während die her Energiepreise.2 Tatsächlich werden die Effekte Preise im Großhandel derzeit wieder fallen, werden der Energiekrise auf die Industrie viel kleiner und sie voraussichtlich nicht zum Vorkrisenniveau senken. differenzierter ausfallen als häufig dargestellt. Zwar Um abzuschätzen, wie stark einzelne Wirtschafts- werden einzelne Wirtschaftszweige und die Fertigung zweige von der Energiepreisentwicklung betroffen einzelner Produkte infolge der veränderten Energie- sind, müssen mehrere Faktoren berücksichtigt wer- preise abwandern. Der Prozess wird aber eher eine den. Tendenziell ist der relative Anstieg der Energie- Fortsetzung des schon andauernden strukturellen kosten am höchsten bei energieintensiven Unterneh- men. Wie stark jedoch die tatsächlichen Kosten an- 1 Nicht-Marktbestimmte Dienstleistungen umfassen die vom Staat steigen, ist unterschiedlich und hängt von bisherigen oder von Organisationen ohne Gewinnerzielungsabsicht erbrachten Dienstleistungen. Verträgen und Versorgern ab (Bialek et al. 2023). Auch 2 Präsident des VCI Markus Steilemann im Interview, verfügbar un- die Zusammensetzung der verwendeten Energieträ- ter: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/energiekrise-lage-in-che- miebranche-laut-vci-praesident-dramatisch-18420125.html?premi- ger ist dabei relevant, da sich die relativen Preise der um. Energieträger in den letzten Monaten verändert ha- Sylwia Bialek, Ph.D., Claudia Schaffranka Prof. Dr. Monika Schnitzer ist Teamleiterin für Mikroökono- ist Referentin für Finanzmärkte ist Inhaberin des Lehrstuhls für mik im Stab des Sachverstän- sowie Umwelt- und Energiepo- Komparative Wirtschaftsfor- digenrates zur Begutachtung litik im Stab des Sachverstän- schung an der Ludwig-Maximi- der gesamtwirtschaftlichen digenrates zur Begutachtung lians-Universität München und Entwicklung. der gesamtwirtschaftlichen Vorsitzende des Sachverstän- Entwicklung. digenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. ifo Schnelldienst 3 / 2023 76. Jahrgang 15. März 2023 7
ZUR DISKUSSION GESTELLT Abb. 1 zugeben. Während sich Unternehmen in ganz Europa Preisentwicklung mit gestiegenen Energiepreisen konfrontiert sehen, Erdgaspreiseᵃ waren die Preisanstiege in Regionen wie Nordame- US-Dollar je MWh Europa (TTF) USA (Henry Hub) rika oder Australien deutlich moderater (vgl. Abb. 1). Nordostasien (JKM) UK (NBP) 300 Betriebe mit niedrigen Bruttomargen haben wiede- Australien (GSH) rum einen geringeren finanziellen Spielraum, um die 200 Krisensituation zu überbrücken, und sind besonders von Liquiditätsengpässen bedroht. 100 In allen Dimensionen dürften insbesondere Un- ternehmen aus der Metallerzeugung und -bearbeitung 0 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 stark betroffen sein (vgl. Tab. 1). Hier wird sehr viel Strompreiseᵃ,ᵇ Energie in der Produktion benötigt. Besonders hoch DE (EEX Phelix) UK (EPEX) JP (JPEX) ist die Medianenergieintensität bei den Gießereien, US-Dollar je MWh USA (PJM) AU (STTM) 600 mit einem Wert von 1,7 kWh pro Euro. Zudem sind die Bruttomargen niedrig und der Wettbewerbsdruck aus 400 anderen Weltregionen hoch (SVR 2022, Ziffer 328 ff.). Überkapazitäten in der Stahl- und Aluminiumindustrie 200 begrenzen zusätzlich die Möglichkeiten der Kosten- weitergabe (OECD 2021). Auch die Bearbeitung von 0 Glas und Glaswaren, Keramik, Steinen und Erden wird 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 betroffen sein sowie die Textilindustrie, die jedoch in Kohlenpreiseᵃ Deutschland nur einen kleinen Teil der Wertschöp- Europa (API2) Europa (API4) US-Dollar je Tonne Indonesien (IGO) Australien (Newcastle) fung ausmacht. Zuletzt dürfte die Grundstoffchemie 500 stark betroffen sein. Müller und Mertens (2022) zeigen, 400 dass Produkte dieses Wirtschaftszweiges die höchste 300 Erdgasintensität aufweisen. Bereits geringe Gaskos- 200 tenanstiege bei diesen Produkten könnten dazu füh- 100 ren, dass eine Produktion dieser Produkte allein nicht 0 mehr rentabel wäre, sondern möglicherweise nur noch 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 als Kuppelproduktion, bei der gleichzeitig andere Pro- ᵃ Stand: 6. Februar 2023. ᵇ Grundlast. dukte hergestellt werden (Müller und Mertens 2022). Quelle: AEMO; CME Group; Intercontinental Exchange (ICE); JPEX; Ofgem; Refinitiv Datastream; Berechnungen der Autorinnen. © ifo Institut BISHERIGER UND ZU ERWARTENDER ben. Insbesondere die Preise für Erdgas sind in den STRUKTURWANDEL DES VERARBEITENDEN vergangenen Monaten stark angestiegen, und die GEWERBES Gefahr einer Mangellage für den kommenden Winter ist noch nicht gebannt. Inwieweit die Kostenanstiege Im Verarbeitenden Gewerbe, ohne Kokerei und Mine- verkraftbar sind, hängt außerdem von der Wettbe- ralölverarbeitung, hat in Deutschland die Energiein- werbssituation und der generellen Marktsituation tensität seit den 1990er Jahren stetig abgenommen des Unternehmens ab. Die Wirtschaftszweige, die der (vgl. Abb. 2). Dies kann auf zwei Entwicklungen zu- Konkurrenz von nicht-europäischen Wettbewerbern rückgeführt werden: die Veränderung der Zusammen- ausgesetzt sind, werden sich besonders schwertun, setzung der Wirtschaftszweige und die Verbesserung die gestiegenen Energiekosten an die Kunden weiter- der Herstellungsprozesse. Unter der Annahme, dass sich die Energieintensität in jedem Wirtschaftszweig Abb. 2 nicht verändert hat, zeigt die obere hellblaue Linie, Zerlegung der Energieintensität im Verarbeitenden Gewerbe in Deutschland wie sich die Energieintensität entwickelt hätte, wenn Tatsächliche Entwicklung sich nur die Zusammensetzung der Wirtschaftszweige kWh je Euro Berechnete Entwicklung: 3,5 verändert hätte. Sichtbar ist eine leichte Verschiebung Energieintensität der Wirtschaftszweige wie im Jahr 1995 BWS-Anteil der Wirtschaftszweige wie im Jahr 1995 hin zu weniger energieintensiven Wirtschaftszweigen. Gleichzeitig zeigt die graue Linie, wie stark die Energie- 3,0 intensität abgenommen hätte, wenn die Zusammen- setzung der Wirtschaftszweige konstant (wie im Jahr 2,5 1995) geblieben wäre. Es ist zu erwarten, dass sich die Senkung der 2,0 Energieintensität aufgrund der Energiekrise fortset- zen wird. Dabei werden voraussichtlich beide Anpas- 1,5 sungskanäle eine Rolle spielen. 1995 2000 2005 2010 2015 2020 Höhere Energiepreise und der damit verbundene Quelle: Statistisches Bundesamt; Berechnungen des SVR (2022). © ifo Institut Strukturwandel müssen nicht zwangsläufig zu einer 8 ifo Schnelldienst 3 / 2023 76. Jahrgang 15. März 2023
ZUR DISKUSSION GESTELLT Deindustrialisierung führen. Japan, ein rohstoff- und der Energiekrise fortsetzen. Im Gegensatz zur Coro- energiearmes Land, hatte in der Vergangenheit sehr na-Pandemie darf es in der aktuellen Krise nicht darum hohe Endenergiepreise im Vergleich mit anderen In- gehen, den Status quo zu erhalten, sondern sich auf dustrienationen (Sato und Dechezleprêtre 2015). Trotz die neuen Realitäten einzustellen und den Wandel zu der Ölkrise der 1970er Jahre sowie der Nuklearkata unterstützen. Deutschland wird nicht über die niedrigen strophe in Fukushima hat das Verarbeitende Gewerbe Energiekosten (die in Deutschland sowieso nie wirklich in Japan weiterhin einen Anteil von 20 % an der Brut- niedrig waren), sondern über andere Standortfaktoren towertschöpfung, ähnlich wie in Deutschland. Nach international konkurrieren müssen. Diese Logik zeigt der ersten Ölpreiskrise hat sich die Struktur von Ja- sich schon heute bei den Lohnkosten, die im Vergleich pans Verarbeitendem Gewerbe verschoben, weg von zu anderen Industrieländern sehr hoch sind. So lagen energieintensiven Sektoren wie Petrochemikalien, im Jahr 2018 die Arbeitskosten je geleisteter Stunde um Schiffbau oder Aluminium, hin zu Automobil und knapp einem Drittel höher als im Durchschnitt anderer Elektronik (Yamakoshi 1986). Industrieländer, unter anderem höher als in Frankreich, Die schon seit Jahrzehnten andauernde Verände- den USA oder dem Vereinigten Königreich (Schröder rung der wirtschaftlichen Struktur wird sich also mit 2019). Dennoch ist der Anteil der Bruttowertschöpfung Tab. 1 Indikatoren für die potenzielle Betroffenheit im Verarbeitenden Gewerbe in Deutschlanda Ausgesetztheit zu Nicht-EU-Wettbe- Anteil Erdgas- werberng Umsatz Mrd Euro Energieintensitätd kosten an Energie- Bruttomarge e,f Wirtschaftsbereich im Auslän- Heimi- (Anzahl kostene Verarbeitenden Gewerbeb dische scher Unternehmen)c Märkteh Markti kWh / Euro BWS % H. v. Nahrungs- u. 168,13 (5 070) 0,43 20,0 14,8 33,9 20,9 Futtermitteln Getränkeherstellung 22,64 (472) 0,87 30,3 23,4 27,1 13,2 Herstellung von Textilien 12,14 (670) 0,51 26,7 13,4 47,5 48,8 Herstellung von 7,49 (226) 0,16 25,0 20,4 37,9 51,5 Bekleidung H. v. Leder, -waren 3,89 (119) 0,18 28,6 16,1 37,7 36,3 u. Schuhen H. v. Holz-, Flecht-, 21,45 (1 022) 0,39 2,1 11,0 35,5 23,5 Korbwaren j H. v. Papier, Pappe u. 43,57 (771) 0,48 22,5 15,6 23,3 15,5 Waren dar. H. v. chemischen 166,21 (1 288) 0,39 20,0 30,3 41,2 28,4 Erzeugnissen H. v. pharmazeut. 62,53 (287) 0,31 18,8 28,3 32,4 26,5 Erzeugnissen H. v. Gummi-, 90,04 (2 976) 0,52 7,1 17,9 36,4 31,9 Kunststoffwaren H. v. Glas, -waren u. 47,69 (1 576) 0,45 31,7 17,3 42,4 37,2 Keramikk Metallerzeugung, 108,00 (922) 1,19 20,9 7,5 43,9 31,5 -bearbeitung H. v. Metallerzeugnissen 124,32 (7 388) 0,28 17,4 13,8 38,9 37,7 l Herst. v. DV-Geräten 89,14 (1 738) 0,09 9,1 19,5 50,5 40,9 Herst. v. elektr. 121,21 (1 974) 0,12 11,1 21,1 55,1 47,2 Ausrüstungen Maschinenbau 289,03 (5 542) 0,15 10,0 17,0 40,1 42,9 H. v. Kraftwagen u. -teilen 509,37 (1 054) 0,28 14,3 29,6 41,5 22,7 Sonstiger Fahrzeugbau 49,81 (296) 0,18 21,4 9,0 44,5 49,6 Herstellung von Möbeln 19,49 (949) 0,23 4,5 10,9 33,2 32,5 a Das Farbschema richtet sich nach den Terzilen der Verteilung in den einzelnen Spalten, wobei rot/gelb/grün einer starken/mittleren/geringen Betroffenheit entspricht. Angaben, mit Ausnahme der Ausgesetztheit zu nicht-EU-Wettbewerbern, beziehen sich auf das arithmetische Mittel der einzelnen Wirtschaftsbereiche. b Gemäß der Klassifikation der Wirtschaftszweige, Ausgabe 2008 (WZ 2008). c Stand 2018. d Medianwerte der Jahre 2016 bis 2018. e Durchschnittswerte der Jahre 2016 bis 2018. f Quotient aus approximiertem EBITDA und Umsatz. g Stand 2021. h Durchschnitt über alle Staaten: Anteil der Importe aus nicht-EU27-Staaten an den Gesamtimporten, gewichtet mit den jeweiligen Importen aus Deutschland. i Anteil von Importen aus nicht-EU27-Staaten an den gesamten Importen Deutschlands. j Sowie Korkwaren (ohne Möbel). k Sowie Verarbeitung von Steinen und Erden. l Herstellung von Datenverarbeitungsgeräten, elektronischen und optischen Erzeugnissen. Quelle: Eurostat; FDZ der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder; AFiD-Panel Industrieunternehmen 2001–2018 sowie AFiD-Modul Energieverwendung 2005– 2018; Statistisches Bundesamt; UN Comtrade; Berechnungen des SVR (2022). ifo Schnelldienst 3 / 2023 76. Jahrgang 15. März 2023 9
ZUR DISKUSSION GESTELLT Abb. 3 179 000 Personen in der Stahlindustrie beschäftigt, Bruttowertschöpfung und Erwerbstätige im Verarbeitenden Gewerbe in Deutschland heute sind es nur noch 87 000 (WV Stahl 2021). Die Bruttowertschöpfung zunehmende Automatisierung hat bisher dazu geführt, Anteil an der Gesamtwirtschaft in % Erwerbstätige (Inlandskonzept) dass viele Arbeitsplätze im Verarbeitenden Gewerbe 28 weggefallen sind (Dauth et al. 2021). Somit nimmt der 26 Anteil der Beschäftigung in der klassischen Fertigung 24 ab, während Dienstleistungsberufe rund um die Pro- duktion zunehmen (Falck und Pfaffl 2022). 22 Wie oben schon angedeutet, stellt der Wegfall 20 von Arbeitsplätzen angesichts der Fachkräfteengpässe und des demografischen Wandels nicht generell ein 18 Problem dar, solange sichergestellt werden kann, 16 dass freigesetzte Arbeitskräfte durch Umschulungen 1991 1996 2001 2006 2011 2016 2021 und Weiterqualifizierungen in neue Beschäftigun- Quelle: Statistisches Bundesamt. © ifo Institut gen vermittelt werden können. Die Sorge vor einer hohen Arbeitslosigkeit infolge einer Abwanderung des Verarbeitenden Gewerbes mit über 20 % sehr hoch von Teilen der Industrie ist daher aus unserer Sicht im Vergleich zu anderen entwickelten Nationen. unberechtigt. Dass Deutschland die industrielle Produktion im Eine weitere Sorge besteht allerdings darin, dass Land halten konnte, lag unter anderem an der Um- mit einer Abwanderung der Industrie vor allem gut strukturierung der Industrie. Arbeitsintensive Fertigung bezahlte und hoch qualifizierte Arbeitsplätze verlo- wurde im Zuge der Globalisierung von OECD-Ländern rengehen. Dies könnte der Fall sein, wenn der Wegfall insbesondere nach Asien verlagert (Wood 2017). Deut- von Teilen der Industrie mit einem Verlust an Pro- sche Unternehmen haben einen komparativen Vorteil in duktivität und Innovationskraft einhergehen würde. Wirtschaftsbereichen mit hoher Wertschöpfung aufge- Analysen der OECD zeigen, dass der Zuwachs an Ar- baut, wie der Herstellung von Kraftwagen und Maschi- beitsproduktivität in den produktivsten Firmen im nenbau (SVR 2022, Ziffer 478 ff.). Jetzt begründet sich Dienstleistungsbereich ähnlich groß oder sogar etwas der komparative Vorteil des deutschen Verarbeitenden stärker als für die produktivsten Unternehmen im Ver- Gewerbes vor allem durch hoch qualifizierte Arbeits- arbeitenden Gewerbe war (Andrews et al. 2015). Im kräfte, gute regulatorische Rahmenbedingungen, hohe Durchschnitt ist jedoch die Produktivität höher in der Forschungsaktivität und effiziente Produktionstechno- Industrie. Es wird daher darauf ankommen, wohin die logien (IfW 2020; EFI 2022). Die höheren Energiepreise frei gewordenen Fachkräfte wechseln. werden dies verstärken müssen. Zuletzt werden auch Bedenken geäußert, dass Die Auswirkungen der Energiepreisveränderun- mit der Abwanderung einzelner Unternehmen oder gen auf die Wettbewerbsfähigkeit wurden in der em- Produkte ganze Branchen gehen könnten. Neue em- pirischen Literatur mehrmals untersucht (SVR 2022, pirische und theoretische Arbeiten argumentieren, Kasten 19). Der geschätzte Zusammenhang zwischen dass das Ausscheiden von einzelnen Unternehmen Energiepreisen und Rentabilität ist zwar negativ, aber oder Industrien infolge von Schocks wegen ihrer meistens gering oder insignifikant. Zusätzlich zeigen Verkettung in Produktionsnetzwerken Kaskadenef- die bisherigen empirischen Untersuchungen zur Verla- fekte auslösen kann (Baqaee 2018; Carvalho et al. gerung von Wirtschaftstätigkeit infolge hoher Energie- 2021). Daher kann es sinnvoll sein, Unternehmen preise, dass Energiepreise nicht zu den Haupttreibern durch staatliche Maßnahmen wie die Gaspreisbremse von Standortentscheidungen gehören, auch wenn die zeitlich begrenzt zu unterstützen, um die unmittel- Effekte für einzelne Industriezweige, insbesondere baren Effekte des Schocks einzudämmen und Anpas- für die energieintensiven, von größerer Bedeutung sungen zu ermöglichen. Es ist aber zu beachten, dass sein dürften. Zwar betrifft der aktuelle Anstieg der es mittel- bis langfristig Optionen gibt, Inputs über Energiepreise die verschiedenen Weltregionen sehr Importe zu substituieren. Eine langfristige Sub- asymmetrisch, wodurch die Verlagerungen von In- ventionierung von Energiepreisen ist deshalb nicht dustrien stärker als bisher beobachtet ausfallen kön- angezeigt. nen. Dennoch ist von einer breiten Verlagerung nicht auszugehen. WIRTSCHAFTSPOLITISCHE IMPLIKATIONEN WIE PROBLEMATISCH IST DIE AUS DER Wir erwarten, dass es zu Veränderungen in der In- ENERGIEKRISE RESULTIERENDE dustrie kommen wird. Es wird Gewinner und Verlierer BESCHLEUNIGUNG DES STRUKTURWANDELS? innerhalb der Wirtschaftszweige geben. Energieeffi- ziente Unternehmen werden zu den Gewinnern ge- Der Anteil der Wertschöpfung und der Erwerbstäti- hören, andere Unternehmen werden aus dem Markt gen im Verarbeitenden Gewerbe nimmt seit 1991 in scheiden. In Zukunft wird Deutschland zum Teil an- Deutschland ab (vgl. Abb. 3). Im Jahr 1990 waren noch dere Produkte herstellen mit einer niedrigeren Ener- 10 ifo Schnelldienst 3 / 2023 76. Jahrgang 15. März 2023
ZUR DISKUSSION GESTELLT gieintensität. In der Folge könnte ein Teil der Indus- Dauth, W., S. Findeisen und J. Suedekum (2021), »Adjusting to Globalization in Germany«, Journal of Labor Economics 39(1), 263–302. trieproduktion, insbesondere im energieintensiven EFI – Expertenkommission Forschung und Innovation (2022), Gutachten Bereich, abwandern. Für die meisten Unternehmen zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit und Industrien sollte und kann der Wandel nicht ver- Deutschlands 2022, EFI, Berlin. hindert werden. Falck, O. und C. Pfaffl (2022), »Die Deindustrialisierung Deutschlands: berechtigte Sorge oder German Angst?», Wirtschaftsdienst 102(12), Es ist auf Dauer nicht leistbar, Energiepreise zu 936–940. subventionieren. Dort, wo es aus strategischen Grün- IfW – Kiel lnstitut für Weltwirtschaft (2020), Analyse der industrierele- den geboten ist, kann die Politik in den Restrukturie- vanten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland im interna- tionalen Vergleich, Endbericht an das Bundesministerium für Wirtschaft rungsprozess eingreifen. Hier müssen aber schlüssige und Energie, Referat I C 4, Projekt Nr. 24/19, Institut für Weltwirtschaft, Argumente vorgebracht werden. Für alle anderen Be- Kiel. reiche gilt es, die Umstellung zu begleiten. Die Politik Müller, S. und M. Mertens (2022), Wirtschaftliche Folgen des Gaspreisan- stiegs für die deutsche Industrie, Expertise für den Sachverständigenrat sollte sich stärker darauf fokussieren, die Rahmen- zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 04/2022, SVR, bedingungen zu verbessern, die notwendigen Inves- Wiesbaden. titionen für eine ausreichende Versorgung von preis- OECD (2021), »Statement by Mr Ulf Zumkley, Chairman of the OECD werter und CO2-armer Energie zu sichern und durch Steel Committee«, 22.–24. September, verfügbar unter: https://www.oecd.org/industry/ind/90-oecd-steel-chair-statement.htm. eine Förderung von Forschung und Entwicklung die Sato, M. und A. Dechezleprêtre (2015), »Asymmetric Industrial Energy Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen mit Prices and International Trade«, Energy Economics 52, S130–S141. hohem Wertschöpfungspotenzial zu unterstützen. Die Schmidt, C., L. P. Feld, D. I. Christofzik und S. Elstner (2021), »The Politik kann auch einiges tun, um die Industrie bei der German Productivity Paradox: A Homegrown Affair«, verfügbar unter: https://cepr.org/voxeu/columns/german-productivity-paradox-home- Umstellung auf neue Realitäten zu unterstützen. Da- grown-affair, aufgerufen am 25. Januar 2023. bei werden vor allem Weiterbildung und Umschulun- Schröder, C. (2019), Industrielle Arbeitskosten im internationalen Ver- gen, Fachkräftesicherung, Abbau der bürokratischen gleich, IW-Trends 2, IW, Köln, 21. Juni. Prozesse sowie ein staatlicher Digitalisierungsschub SVR – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftli- chen Entwicklung(2022), Energiekrise solidarisch bewältigen, neue Reali- hilfreich sein. täten gestalten, Jahresgutachten 2022/2023, SVR, Wiesbaden. Wood, A. (2017), »Variation in Structural Change Around the World, REFERENZEN 1985–2015: Patterns, Causes and Implications«, WIDER Working Paper Series 034b, United Nations University World Institute for Development Andrews, D., P. Gal und C. Criscuolo (2015), »Frontier Firms, Techno- Economics Research, Helsinki. logy Diffusion and Public Policy: Micro Evidence from OECD Countries«, OECD Productivity Working Papers 2, OECD Publishing, Paris. WV Stahl (2021), »Wesentliche Daten und Fakten rund um Stahl und die Stahlindustrie auf einen Blick«, Wirtschaftsvereinigung Stahl, verfüg- Baqaee, D. (2018), »Cascading Failures in Production Networks«, Econo- bar unter: https://www.stahl-online.de/startseite/stahl-in-deutschland/ metrica 86(5), 1819–1838. zahlen-und-fakten/. Bialek, S., C. Schaffranka und M. Schnitzer (2023), »The Energy Crisis Yamakoshi, A. (1986), A Study on Japan’s Reaction to the 1973 Oil Crisis, and the German Manufacturing Sector: Structural Change but no Broad Dissertation, University of British Columbia, Vancouver. Deindustrialisation to Be Expected«, Vox.eu, 17. Januar, verfügbar un- ter: https://cepr.org/voxeu/columns/energy-crisis-and-german-manufac- turing-sector-structural-change-no-broad. Carvalho, V. M., M. Nirei, Y. U. Saito und A. Tahbaz-Salehi (2021), »Sup- ply Chain Disruptions: Evidence from the Great East Japan Earth- quake«, Quarterly Journal of Economics 136(2), 1255–1321. Steffen Müller Strukturwandel zulassen Nach den beschlossenen Ausstiegen Deutschlands kohle und Strom) nach Kriegs- aus der Kernenergie und der Kohleverstromung galten beginn und dem Gaslieferstopp Gaskraftwerke als Brücke hin zu einer CO2-neutralen durch Russland waren ein Volkswirtschaft. Billiges Pipelinegas aus Russland half Schock für die deutsche In- der energieintensiven Industrie in Deutschland aber dustrie. Zeitweise hatten sich auch, bei den Energiekosten die preisliche Wettbe- die Erzeugerpreise für Gas bei Prof. Dr. Steffen Müller werbsfähigkeit mit internationalen Wettbewerbern Abgabe an die Industrie versechs- leitet die Abteilung »Struktur- nicht komplett zu verlieren. So waren in den Jah- facht (Statistisches Bundesamt wandel und Produktivität« am ren vor dem russischen Überfall auf die Ukraine die 2022), und das Schreckgespenst Leibniz-Institut für Wirtschafts- Gaspreise für industrielle Abnehmer in Deutschland einer Gasmangellage mit einer ent- forschung Halle (IWH) und ist Professor für Wirtschaftswissen- auf dem Niveau, das die amerikanische oder asiati- sprechenden Rationierung durch schaft an der Otto-von-Gueri- sche Konkurrenz zahlen musste. Die dramatischen die Bundesnetzagentur stand im cke-Universität Magdeburg. Preisanstiege für Erdgas (aber auch für Kraftwerks- Raum. ifo Schnelldienst 3 / 2023 76. Jahrgang 15. März 2023 11
ZUR DISKUSSION GESTELLT Auch wenn sich die Lage mittlerweile wieder et- die Jahre 2015 bis 2017 und fassen die Produkte auf was beruhigt hat, stellt sich die Frage, ob die gasinten- Ebene von 1 600 Produktgruppen zusammen (6-Stel- sive Produktion in Deutschland eine Zukunft hat. Die ler).1 Die Studie zeigt deskriptiv, wo vor dem Ukrai- Anpassungsreaktionen im Sinne eines Fuel Switches, ne-Krieg Gas verbraucht wurde und wie viel Umsatz also des Ausweichens auf andere Energieträger, sind und Wertschöpfung damit erwirtschaftet wurde. Ein jedenfalls begrenzt. Zwar zeigen aggregierte Daten ganz wesentliches erstes Ergebnis ist, dass der Gasver- für das erste Halbjahr 2022, dass es gelungen ist, den brauch über die einzelnen Industrieprodukte hinweg Energiebedarf Deutschlands von Gas (–15 %) und Kern- extrem unterschiedlich verteilt ist. Die 300 Indust- energie (–50 %) wegzulenken und stattdessen mehr rieprodukte, mit dem höchsten absoluten Verbrauch auf andere fossile sowie erneuerbare Energieträger an Gas stehen für knapp 90 % des gesamten Gasver- auszuweichen (SVR 2022, Abb. 80). Es ist jedoch sehr brauchs der Industrie. Die Top-50-Produkte stehen wahrscheinlich, dass dies vor allem durch Verschie- bereits für fast die Hälfte. Es ist also bei weitem nicht bungen zwischen Produzenten und Verlagerung der so, dass hohe Gaspreise oder eine Gasmangellage die gasintensiven Produktion ins Ausland gelang und nicht gesamte Industrie treffen würden. Ein weiteres Kern etwa, weil Unternehmen ihre bisherige Produktion im ergebnis ist, dass Produkte mit sehr hoher Gasintensi- großen Stil auf andere Energieträger umgestellt hät- tät systematisch wenig Wertschöpfung erzielen. Steigt ten. Für diese These des intensiven Strukturwandels die Gasintensität um 10 %, sinken Umsatz und Wert- im Sinne einer Verlagerung von Marktanteilen zwi- schöpfung um 8 %. schen Industrieunternehmen sprechen sowohl meine Die meisten der gasintensiven Produkte sind Vor- nachfolgend um Daten zur Bruttowertschöpfung er- leistungsprodukte, die von nachgelagerten Wertschöp- weiterte Argumentation in der für den Sachverständi- fungsstufen als Input benötigt werden. Ein potenziell genrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen wichtiges Problem bei einem Produktionsstopp einzel- Entwicklung (SVR) erstellten Kurzexpertise (Müller und ner Vorprodukte sind also zerrissene Wertschöpfungs- Mertens 2022) als auch Ergebnisse in Mertens et al. ketten und nachgelagerte Produktionsausfälle. Eine (2022) sowie aktuelle Zahlen in Holtemöller (2022), hohe Importsubstituierbarkeit gasintensiver Produkte auf die nun eingegangen werden soll. beschränkt zum einen die Möglichkeit inländischer Produzenten zur Weitergabe der gestiegenen Gas- AUSMASS DES STRUKTURWANDELS preise an ihre Kunden und kann zum anderen dazu BEHERRSCHBAR beitragen, dass Wertschöpfungsketten in Deutschland nicht reißen. Falls ohne größere Preissteigerungen Mertens et al. (2022) zeigen mit Hilfe von amtlichen möglich, kaufen nachgelagerte Wertschöpfungsstufen Firmendaten für die Jahre 2003 bis 2016, dass Unter- die gasintensiven Vorleistungsgüter günstig im Aus- nehmen ihren Energiemix nicht in nennenswertem land, und in der Folge ist der durch die Energiekrise Umfang ändern, wenn sich relative Preise von Energie- ausgelöste Produktionsausfall in Deutschland im We- trägern ändern. Wer mit Gas arbeitet, wird dies auch sentlichen auf die gasintensiven (Vorleistungs-)Güter dann tun, wenn sich Gas relativ zu anderen Energieträ- selbst beschränkt. In der Kurzexpertise berechnen gern verteuert. Allerdings zeigen Mertens et al. (2022), wir, dass ein hypothetischer vollständiger Produkti- dass dann Arbeitsproduktivität, Umsatz und Löhne im onsstopp der Produkte, die sowohl überdurchschnitt- Vergleich zu Unternehmen sinken, deren Energieträger lich gasintensiv sind als auch überdurchschnittlich sich nicht verteuert hat. In meinem Beitrag für den leicht durch Importe substituiert werden können, im SVR schlussfolgere ich, dass vor allem Produkte mit Vergleich zum Vorkrisenverbrauch etwa ein Viertel hoher Gasintensität und hoher Importsubstituierbar- des Gesamtgasverbrauchs der Industrie einspart. Der keit künftig weniger in Deutschland hergestellt und Verlust an Bruttowertschöpfung liegt in diesem Sze- mehr importiert werden. Holtemöller (2022) zeigt auf nario bei lediglich 2 % der Bruttowertschöpfung der Branchenebene, dass die gasintensiven Wirtschafts- deutschen Industrie. Der Untergang der deutschen zweige, zum Beispiel die chemische Industrie, ihre Industrie ist das nicht! Umsätze 2022 gegenüber dem Vorjahr überwiegend ausweiten konnten, zugleich aber die Produktion in WO DRÜCKT DER SCHUH AM MEISTEN? Deutschland erheblich reduziert haben. Eine mögliche Ursache dieser Divergenz, die mit der Analyse in Kurz Wenn auch der Veränderungsdruck auf die gesamte expertise gut vereinbar ist, ist, dass die Unternehmen deutsche Industrie im Rahmen bleibt, so sind doch ei- manche gasintensiven Vorprodukte aus dem Ausland nige Produkte und insbesondere die Chemieindustrie beziehen, statt sie selber zu produzieren und dass stark betroffen. Teuer wird die Anpassung vor allem sie höhere Kosten auf die Preise überwälzen können. bei gasintensiven Produkten, die schwer durch Im- Strukturwandel findet statt, und eine wichtige porte ersetzt werden können. Aufgrund ihrer gerin- Frage ist, wie stark die Verteuerung von Gas zu ei- gen Importsubstituierbarkeit ist für diese Produkte ner Reduktion der (industriellen) Wertschöpfung in bei Gasknappheit mit einer Verteuerung und höheren Deutschland führt. Müller und Mertens (2022) benut- 1 Für Details zur Methodik siehe Müller und Mertens (2022) und Mül- zen fein untergliederte Daten auf Produktebene für ler (2023). 12 ifo Schnelldienst 3 / 2023 76. Jahrgang 15. März 2023
ZUR DISKUSSION GESTELLT Kosten der Produktion für nachgelagerte Industrien zu Abb. 1 rechnen. Sollten Importe oder ein Umstieg auf alterna- Bruttowertschöpfungᵃ der Produkte nach Wirtschaftsbereichen tive Vorleistungsgüter gar nicht wirtschaftlich sinnvoll Nicht in 300er Liste In 300er Liste, nicht gasintensiv möglich sein, drohen deutliche Preiserhöhungen oder Gasintensiv, leicht importierbar Gasintensiv, schwer importierbar Produktionsausfälle in nachgelagerten Industrien. Gasintensiv, Importsubstitution unbekannt Um diese Frage näher zu beleuchten, zeigt Abbil- Nahrung und Tabak (10 –12) dung 1 die Bruttowertschöpfung der deutschen In- Textil und Bekleidung (13 –15) Holz (16) dustrie auf Ebene der Wirtschaftsbereiche und zer- Papier (17) legt diese in die Wertschöpfungsanteile der Produkte, Druck (18) die (1) nicht zu den 300 Produkten mit dem höchsten Kokerei und Mineralöl (19) Gasverbrauch gehören, in der Liste aber (2) nicht ga- Chemie (20) Pharma (21) sintensiv (unter dem Median bezüglich kWh Gas pro Gummi und Kunststoff (22) Euro Umsatz) sind, (3) gasintensiv und leicht impor- Glas und Keramik (23) tierbar (über dem Median der Importsubstituierbar- Metallerzeugung (24) Metallerzeugnisse (25) keit) sind und (4) gasintensiv und schwer importier- Elektronische und optische Geräte (26) bar sind. Es werden auch die Wertschöpfungsanteile Elektrische Ausrüstung (27) für gasintensive Produkte ausgewiesen, für die die Maschinenbau (28) Importsubstituierbarkeit auf Produktebene nicht be- Kraftfahrzeuge (29) Sonstige Fahrzeugbau (30) rechnet werden konnte. Möbel (31–32) Die Abbildung zeigt deutlich, dass der weit über- Reparatur (33) wiegende Teil der industriellen Wertschöpfung in –20 0 20 40 60 80 100 120 140 Deutschland nicht mit hohem Gasverbrauch einher- Mrd. Euro (Mittelwert der Jahre 2015–2017) geht und der Wertschöpfungsanteil der Produkte mit ᵃ Nominale Bruttowertschöpfung der Wirtschaftsbereiche, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung in Mrd. Euro als Mittelwert der Jahre 2015–2017; Liste der 300 Produkte mit dem höchsten Gasverbrauch der Industrie. hoher Gasintensität an allen 300 Produkten außeror- Industriecodes in Klammern entsprechen der NACE Rev.2 Klassifikation. dentlich gering ist.2 Die Gruppe der gasintensiven und Quelle: Berechnungen von Müller und Mertens (2022) auf Basis der Amtlichen Firmendaten für Deutschland. © ifo Institut leicht importierbaren Produkte ist fast ausschließ- lich auf die Chemieindustrie konzentriert.3 Geringe Wir leben in einer Zeit des Arbeitskräftemangels und Importsubstituierbarkeit gasintensiver Produkte ist nicht mehr in einer Zeit der Massenarbeitslosigkeit. vor allem für die Papierindustrie (17), die Chemi- Das bedeutet vor allem zwei Dinge. Erstens, entsteht eindustrie (20) und die Glas- und Keramikindustrie nicht mehr automatisch Arbeitslosigkeit, wenn Indus- (23) zu verzeichnen. trien schrumpfen, und zweitens ist der Wechsel von Arbeitskräften in zukunftsfähige Branchen dringender STRUKTURWANDEL ZULASSEN denn je erforderlich. Natürlich ist ein Wechsel in an- dere Branchen nicht für jeden Arbeitnehmer leicht zu Gaspreise werden nicht wieder auf das extrem nied- bewerkstelligen (Yi et al. 2017), insbesondere ältere rige Niveau der Zeit vor dem Ukraine-Krieg sinken. Ein Beschäftigte tun sich schwer. Eine aktuelle Studie für dadurch entstandener Wettbewerbsnachteil, vor allem Deutschland (Fackler et al. 2021) zeigt, dass Lohnver- gegenüber der amerikanischen Konkurrenz, wird von luste nach einem Arbeitsplatzverlust zwar im Mittel Dauer sein. Auch wenn Interessenvertreter betroffe- sehr gering sind, sie aber insbesondere bei Jobverlust ner Branchen das anders sehen könnten, sind dauer- aus größeren Industriebetrieben substanziell sein kön- hafte Subventionen für die gasintensive Produktion in nen. Diese Kosten sind in erster Linie private Kosten Deutschland nur in eng begrenzten Ausnahmenfällen der betroffenen Beschäftigten, ihre Produktivität und vertretbar, und zwar unter anderem dort, wo bei Aus- somit ihr volkswirtschaftlicher Beitrag sinken nicht fall von Importen kritische Versorgungsengpässe der (Fackler et al. 2021). Vergrößert man den Bilanzrah- Bevölkerung drohen. Durch eine Diversifizierung der men und schaut statt auf Bruttolöhne auf das Netto- Zulieferwege kann dieses Risiko in vielen Fällen weiter haushaltseinkommen, zeigt sich, dass der deutsche reduziert werden. Sozialstaat dafür sorgt, dass die Einkommensverluste Es bleibt die Frage nach den sozialen Kosten des durch Arbeitsplatzverlust außerordentlich gering sind Strukturwandels. Auch hier ist die Lage bei Weitem (Fackler und Weigt 2020). nicht so prekär wie bisweilen öffentlich dargestellt. Schließlich ist fraglich, ob und in welchem Tempo betroffene Branchen bei Drosselung der Produktion 2 Negative Werte für die Kokerei (10) bedeuten, dass die Wertschöp- fung auf Produktebene größer als die vom Statistischen Bundesamt überhaupt Beschäftigung abbauen. Im November erfasste Wertschöpfung auf Branchenebene ist. Hauptgrund dafür 2022 (aktuellere Daten liegen nicht vor) wurden im dürfte sein, dass der Zuordnung der Wertschöpfung auf Branchen durch die amtliche Statistik zunächst eine Zuordnung der Unterneh- deutschen Verarbeitenden Gewerbe 720 Millionen Ar- men auf Branchen vorgeschaltet ist. Ein negativer Wert kann da- beitsstunden geleistet.4 Das waren 2 % mehr als im durch entstehen, dass Kokereiprodukte in größerem Umfang in Un- ternehmen hergestellt werden, die nicht der Kokereibranche November 2021, aber etwa 0,5 % weniger als im No- zugeordnet werden, weil ihre Haupttätigkeit nicht in der Kokerei vember 2019, also direkt vor Ausbruch der Pandemie. liegt. 3 4 Die Berechnung der Importsubstituierbarkeit ist für Stahlproduk- Statistisches Bundesamt, Monatsbericht im Verarbeitenden Ge- te (Wirtschaftsbereich 24) in vielen Fällen nicht möglich. werbe. ifo Schnelldienst 3 / 2023 76. Jahrgang 15. März 2023 13
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