Transformation als Chance - Pharma 2030

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Transformation als Chance - Pharma 2030
Transformation
als Chance
Pharma 2030
Inhalt
2	  Wertschöpfung im Wandel

6	  Innovationen sind der Wohlstand von morgen

11	 Erfolgsfaktor Digitalisierung

16   Eine neue Gründerzeit

19	 Attraktive Arbeitswelten

23   I nvestition in die Zukunft

28   Sustainable Pharmacy
     

33   Standort Europa

38   Aus Krisen lernen

41   Impressum
Pharma 2030
Europa steht vor einer historisch beispiellosen Transformation.
Klimawandel, Digitalisierung und demografischer Wandel entziehen
dem tradierten Wirtschaftsmodell des Kontinents seine Grund­lagen –
mit weitreichenden Folgen für die historisch gewachsenen Wert-
schöpfungsstrukturen. Um als zukunftsfähiger und nachhaltiger
Wirtschaftsstandort wettbewerbsfähig zu bleiben, haben sich
Deutschland und Europa ambitionierte Ziele für den Umbau ihrer
industriellen Basis gesetzt. Dieses wohl ambitionierteste industrie-
politische Vorhaben seit 100 Jahren ist eine große Chance – für die
pharmazeutische Industrie und den Standort Deutschland.
Wertschöpfung
im Wandel
Die Pharmaindustrie zählt zu den Zukunftsbranchen der globalen Ökono-
mie. Sie trägt durch ihre Innovationskraft nicht nur zu Wachstum und damit
zu gesellschaftlichem Wohlstand bei, sondern steht auch in Verantwortung
für die Qualität der Gesundheitsversorgung. Die Unternehmen der pharma-
zeutischen Industrie können diesen Aufgaben auch in Zukunft nur dann
gerecht werden, wenn die Politik das große Potenzial der Industrie für den
technologischen und gesellschaftlichen Wandel erkennt und für Rahmen­
bedingungen einer neuen, nachhaltigen Wertschöpfung sorgt.

                Die Ampel-Koalition ist mit dem Versprechen                                 Gleichzeitig muss der Kontinent die Konsequen-
                eines Aufbruchs für Deutschland und Europa ange­                            zen einer wachsenden demografischen Unwucht
                treten. Im kommenden Jahrzehnt soll die deutsche                            bewältigen. Das Niveau des wirtschaftlichen
                Wirtschaft auf die Grundlage einer nachhaltigen,                            Wachstums und damit der soziale Wohlstand
                digitalen und wissensintensiven Wertschöpfung                               lässt sich künftig nur halten, wenn der steigende
                gestellt werden. Den Unternehmen kommt dabei                                Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung durch
                nicht nur die Rolle als Anwender nachhaltiger und                           Zuwanderung und eine höhere Produktivität der
                moderner Technologien zu – sie sollen zu global                             Erwerbstätigen ausgeglichen wird.2
                führenden Innovationstreibern werden und Markt-
                anteile in den jeweiligen Zukunftstechnologien
                erobern.1

                1	Vgl. Industriepolitische Strategie der Europäischen Kommission, ↗ online verfügbar. Mehr Fortschritt wagen, Koalitionsvertrag zwischen SPD,
                    Grünen und FDP, ↗ online verfügbar.
                2   Vgl. Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2021), Pandemie verzögert Aufschwung – Demografie bremst Wachstum, ↗ online verfügbar.
3

Gerade das Gesundheitswesen steht angesichts                                   Die Demografie führt in den kommenden Jahren
dieser demografischen Entwicklung vor einer gro-                               zu einer deutlich sinkenden Zahl Erwerbstätiger
ßen Aufgabe. Es gilt, die Versorgungsleistungen für                            und einem weiteren Anstieg des durchschnitt­
eine alternde Bevölkerung erheblich auszubauen                                 lichen Alters der Belegschaften. Der Umbau der
und Verteilungskonflikte mithilfe einer weitsich­                              deutschen Wirtschaft muss daher darauf abzielen,
tigen Politik zu entschärfen. Den komplexen Her-                               die Produktivität deutlich zu erhöhen 4, also
ausforderungen lässt sich grundsätzlich mit einer                              vorhandene Belegschaften im Rahmen von Weiter-
wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik begeg-                                bildung zu qualifizieren, innovative Produktions-
nen. Denn nur so öffnen sich größere Verteilungs-                              verfahren einzusetzen sowie junge Arbeitneh­
spielräume, die auch helfen, die Leistungen der                                mer:innen zu gewinnen und auszubilden. Die
Sozialversicherungssysteme abzusichern.                                        Koalition aus SPD, Grünen und FDP setzt dabei
                                                                               auf qualifizierte Zuwanderung und die breite
                                                                               Unterstützung von Wissenschaft und Forschung,
Industriepolitische                                                            insbesondere bei Schlüsseltechnologien wie der
Ausgangsbedingungen                                                            Biotechnologie. Weniger Augenmerk wird indes
                                                                               auf die Bedeutung des medizinisch-technischen
Die Transformation ist gerade für Deutschland                                  Fortschritts gelegt, der den Menschen ein poten­
mit tiefgreifenden strukturellen Umbrüchen ver-                                ziell längeres und produktiveres Erwerbsleben
bunden. Die deutsche Wirtschaft ist von Energie-                               ermöglichen kann und damit auch einen eigenen
und Rohstoffvorkommen abhängig, über die das                                   Finanzierungsbeitrag leistet5. Unabhängig davon
Land selbst nicht verfügt. Die Dekarbonisierung                                wird die Demografie einen strukturellen Wandel in
sowie veränderte geopolitische Rahmenbeding­                                   Deutschland anschieben, der vor allem den Wirt-
ungen führen dazu, dass bislang profitable, auf                                schaftszweigen mit hoher Produktivität Chancen
fossilen Energien beruhende Geschäftsmodelle                                   eröffnet und die Potenziale für große Produktivi-
nicht länger zukunftsfähig sind, dadurch nicht                                 täts- und Innovationssprünge ausschöpft.
unerhebliche Teile des Kapitalstocks vorzeitig
abgeschrieben und durch umfangreiche Investiti-                                Die Digitalisierung spielt dabei eine Schlüssel­
onen ersetzt werden müssen 3. Gleichzeitig werden                              rolle 6. In den vergangenen Jahren haben immer
über die steigenden Preise für die Emission klima-                             größere Rechnerkapazitäten, Methoden der künst-
schädlicher Gase vor allem energieintensive Tech-                              lichen Intelligenz und die Nutzung von großen
nologien sukzessive aus dem Markt gedrängt,                                    Datenmengen sowohl zu Produktivitäts- als
was Wachstumspotenziale für emissionsarm und                                   auch Innovationssprüngen geführt. Die in vielen
klimaschonend produzierende Wirtschaftszweige                                  Bereichen des Lebens generierten Daten sind eine
eröffnet. Gefragt sind alternative Technologien                                Ressource, die andere Volkswirtschaften bereits
und Wirtschaftszweige, mit denen der Kern der                                  intensiver und besser zu nutzen wissen. Dass
deutschen Industrie erhalten und zukunftsfähig                                 datenbasierte und digitale Geschäftsmodelle
umgebaut werden kann. Industriepolitisch ver-                                  derzeit vorzugsweise außerhalb Deutschlands
folgt die Bundesregierung das Ziel, notwendige                                 entwickelt werden, wirkt sich auf das Gründungs-
Investitionsgüter in Deutschland zu produzieren                                geschehen hierzulande nachteilig aus. Während
und das Land als einen international führenden                                 politische Entscheidungsträger:innen die Poten­
Standort für die Herstellung „grüner“ Maschinen-                               ziale der Digitalisierung, insbesondere in Bezug
und Anlagentechnik zu etablieren.                                              auf die Nutzung von Gesundheitsdaten, mittler-

3	Vgl.   Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2022), Von der Pandemie zur Energiekrise – Wirtschaft und Politik im Dauerstress, ↗ online verfügbar.
4	Vgl.Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2019), Produktivität: Wachstumsbedingungen verbessern,
   Nationaler Produktivitätsbericht 2019, ↗ online verfügbar.
5	Karmann,  A., Rösel, F., & Schneider, M. (2016). Produktivitätsmotor Gesundheitswirtschaft: Finanziert sich der medizinisch-technische Fortschritt
   selbst?, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 17(1), S. 54–67.
6	Vgl.Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2020), Produktivitätswachstum durch Innovation:
   Digitalisierung vorantreiben, Nationaler Produktivitätsbericht 2020, ↗ online verfügbar.
weile erkannt haben, werden ihre Chancen bei                            schnell genug agiert und das Feld dann anderen
weitem noch nicht ausgeschöpft 7. Doch Wirt-                            Ländern überlässt. Auch dafür bedarf es einer
schaftsräume, die sich dieser Nutzung verschlie-                        gezielten wirtschaftspolitischen Antwort. Ein
ßen, werden im globalen Standortwettbewerb                              „Important Project of Common European Interest“
an Boden verlieren.                                                     (IPCEI) wäre ein Instrument, das die internatio­
                                                                        nale Wettbewerbsfähigkeit Europas im Bereich
Zu den Lehren aus der Pandemie und dem Krieg                            wichtiger Technologien sichern helfen könnte.
in der Ukraine gehört die Einsicht, dass Wirtschaft
und Gesellschaft in Krisen nur mit größerer Resi­
lienz bestehen können. Das heißt zum einen, die                         Die pharmazeutische Industrie
kritische Infrastruktur auf Krisen vorzubereiten,                       als Partner im Wandel
zum anderen bedeutet es auch, Schlüsseltechno-
logien am Standort zu halten, um – wie im Fall der                      Diese industriepolitischen Ziele und die spezifi-
schnellen Entwicklung von Corona-Impfstoffen –                          schen Qualitäten der pharmazeutischen Industrie
rasch auf veränderte Situationen reagieren zu                           ergänzen sich auf gleich mehreren Ebenen. Die
können. Nicht zuletzt muss auch die internatio­                         Branche bietet sich schon aufgrund ihrer Innova­
nale Arbeitsteilung dahingehend geprüft werden,                         tionskraft als wichtiger Partner in der Transforma-
ob die vorhandenen Produktions- und Liefer­                             tion an und leistet als Schlüsselindustrie einen
strukturen auch im Falle einer globalen Krise                           großen Beitrag für den Wohlstand hierzulande.
zuverlässig funktionieren.                                              Gleichzeitig sorgen die entwickelten Therapien
                                                                        dafür, dass Menschen gesünder und älter werden
All diese Herausforderungen erfordern eine                              und damit länger und produktiver am Erwerbsle-
gezielte industriepolitische Flankierung. Viele der                     ben teilnehmen können.
genannten Aufgaben können Märkte allein nicht
lösen. So sind beispielsweise Unternehmen nicht                         Die Forschungserfolge sorgen bereits heute für
ohne Weiteres in der Lage, eine allgemeine und                          ein kräftiges gesamtwirtschaftliches Wachstum:
gesellschaftlich akzeptierte Infrastruktur für die                      Die Herstellung der auf der neuen mRNA-Techno-
zentrale Speicherung und Nutzung personen­                              logie basierenden Impfstoffe sorgte im Jahr 2021
bezogener Daten bereitzustellen. Wenn es um                             für mindestens 0,5 Prozent zusätzlicher Wirt-
den Aufbau strategischer Produktionskapazitäten                         schaftsleistung. Die Anwendung dieser Technolo-
und die Entwicklung innovativer Produkte geht,                          gie in anderen Bereichen oder der breite Ausbau
spielen für Unternehmen die gesellschaftlichen                          biotechnologischer Verfahren versprechen in den
Vorteile einer schnellen Reaktionsfähigkeit im                          kommenden Jahren ähnliche Innovationssprünge
Krisenfall eine eher untergeordnete Rolle. Auch                         von vergleichbarer gesamtwirtschaftlicher Bedeu-
geopolitische Verwerfungen können auf Unter­                            tung. Damit ist die pharmazeutische Industrie
nehmensebene nicht in ausreichendem Umfang                              nicht nur innovativer Motor der Gesundheitswirt-
eingepreist werden.                                                     schaft, sondern auch für andere Wirtschaftsberei-
                                                                        che wie dem Maschinen- und Anlagenbau ein
Doch für eine prosperierende Zukunft des Stand-                         relevanter Akteur. Mit dem Wachstum der Branche
orts bedarf es auch einer gezielten Förderung von                       entstehen weit überdurchschnittlich bezahlte
Forschung und Entwicklung, von Innovationen                             Jobs – selbst in Krisenzeiten, wie die vergangenen
und Gründungen, um den Anschluss an andere                              zwei Jahren gezeigt haben. Volkswirtschaftlich
Regionen nicht zu verlieren. Technologieoffenheit                       spiegelt sich diese Entwicklung in steigenden
und Wettbewerb sind Prinzipien, die in anderen                          Durchschnittseinkommen sowie einer Entspan-
Wirtschaftsräumen nicht vollumfänglich geteilt                          nung demografisch bedingter Verteilungskonflikte
werden. Dabei kann eine Volkswirtschaft schon                           wider. Mittlerweile sind mehr als 160.000 Men-
dadurch ins Hintertreffen geraten, dass sie bei                         schen direkt in der Entwicklung und Herstellung
der Verbreitung technologischer Standards nicht                         von Pharmazeutika beschäftigt.

7	Vgl.
      Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) (2022), Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit
   Deutschlands, ↗ online verfügbar.
5

Die pharmazeutische Industrie emittiert weitaus     Die Digitalisierung bietet in kaum einem anderen
weniger klimaschädliche Gase als das verarbeiten-   Bereich größere Wachstumschancen als im Gesund-
de Gewerbe insgesamt. Ihr Ausstoß beläuft sich      heitssektor: In keiner anderen Branche werden
auf etwa 28 Prozent der durchschnittlichen Indus-   mehr Daten und Informationen erzeugt. Wie der
trieemissionen in Deutschland. Zur Veranschauli-    internationale Vergleich zeigt, eröffnet sich mit
chung: Während die pharmazeutische Industrie        der Nutzung dieser Daten ein großes wirtschaftli-
73 Gramm C0₂ je Euro Wertschöpfung emittiert,       ches Potenzial mit enormen Innovationschancen.
stößt das verarbeitende Gewerbe im Durchschnitt     Nicht zuletzt helfen digitale Anwendungen bei
255 Gramm pro Euro Wertschöpfung aus.               der Entwicklung neuer Wirkstoffe und Verfahren,
                                                    die nicht länger im Labor, sondern mithilfe künst-
Die pharmazeutische Industrie ist bereits jetzt     licher Intelligenz überwiegend am Rechner designt
die mit Abstand wissensintensivste Branche: Sie     werden können.
wendet knapp ein Fünftel ihres Umsatzes direkt
für Forschung und Entwicklung auf. Dies ent-        Und schließlich zeigt das Beispiel der Impfstoff-
spricht etwa einem Zehntel aller privaten For-      entwicklung, dass sich auch die mit öffentlichen
schungsausgaben. Grundlage dafür ist ein um­        Mitteln angestoßene Forschung und Entwicklung
fassender Schutz geistigen Eigentums. Dessen        langfristig auszahlen: Vom Erfolg eines Unter­
Bedeutung zeigt sich in der Zahl angemeldeter       nehmens wie BioNTech profitieren am Ende auch
Patente. Europaweit werden die meisten Patente      die öffentlichen Haushalte. Allein die Stadt Mainz,
im Bereich der Pharmazie und Biotechnologie         Standort von BioNTech, erzielte im Jahr 2021
angemeldet.                                         anstelle eines Millionendefizits einen Haushalts-
                                                    überschuss von mehr als einer Milliarde Euro.
Die pharmazeutische Industrie generiert Wissen –    Das gibt der Stadt nicht nur die Mittel für umfang-
und Wissen braucht fähigen Nachwuchs. Die           reiche Investitionen in die öffentliche Infrastruk-
Branche bietet exzellent ausgebildeten Arbeit­      tur; damit werden auch die Spielräume für eine
nehmer:innen hervorragende Beschäftigungs­          Stärkungen des Wirtschaftsstandorts größer,
perspektiven. Qualifikationsniveau und Produk­      beispielsweise durch eine Absenkung der Gewerbe-
tivität sind weit überdurchschnittlich, ebenso      steuer und eine dadurch höhere Investitions­
die branchenüblichen Löhne und Gehälter. Mit        neigung von Unternehmen.
einem Frauen-Anteil von 49 Prozent liegt die
pharmazeutische Industrie vor allen anderen
Wirtschaftsbereichen.
Innovationen
sind der Wohlstand
von morgen
Innovationen sind von jeher die Wachstumstreiber entwickelter Volkswirt-
schaften. Sie tragen als wissensbasierte Grundlage maßgeblich zur Wert-
schöpfung bei und damit auch zur Lösung demo­grafischer Probleme. Der
pharmazeutischen Industrie als forschungsintensiv­ster Branche Deutsch-
lands fällt mit Blick auf die zu steigernde Pro­duktivität eine bedeutende
Rolle zu. Sie sorgt auch dafür, dass die Beschäftigten länger und gesünder
am Arbeitsleben teilnehmen können.

                 Schon seit längerem verfolgt Deutschland das                                 der Quantität auch die Qualität der Innovations­
                 Ziel, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung                             aktivitäten in den Fokus. Die Expert:innenkom­
                 (FuE) auf 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts                              mission Forschung und Innovation (EFI) betont
                 zu steigern. Dahinter steht die Erkenntnis, dass                             in ihrem jüngsten Gutachten die Bedeutung von
                 nur eine innovative Wirtschaft im internationalen                            Schlüsseltechnologien und technologischer
                 Wettbewerb bestehen kann und sich die demo­                                  Souve­ränität 8 als neuem Element der Forschungs-
                 grafische Entwicklung allein durch eine höhere                               und Innova­tionspolitik. Der Stifterverband ver-
                 Wissensintensität kompensieren lässt. Mittler­                               weist jedoch darauf, dass der Anteil der FuE-Aus-
                 weile werden deutschlandweit mehr als drei Pro-                              gaben in den Bereichen der Spitzentechnologie
                 zent des Bruttoinlandsprodukts pro Jahr für FuE                              insgesamt unter dem internationalen Durchschnitt
                 auf­gewendet. Der Anteil der pharmazeutischen                                liegt. Zur Spitzentechnologie (>9 Prozent der
                 Industrie, bezogen auf ihre Produktionsleistung,                             FuE-Aufwendungen am Umsatz) zählen allein die
                 ist dabei überproportional groß. Rund zehn Pro-                              pharmazeutische Industrie und die Herstellung
                 zent aller industriellen FuE-Aufwendungen gehen                              elektro­nischer Datenverarbeitungsgeräte.9
                 auf die Pharmabranche zurück. Dabei rückt neben

                 8	Vgl.Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) (2022), Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit
                     Deutschlands, ↗ online verfügbar.
                 9   Vgl. Stifterverband (2021), Forschung und Entwicklung in der Wirtschaft, ↗ online verfügbar.
7

         Interne FuE-Aufwendungen je Beschäftigtem
                                               in 1.000 Euro (2020)

                   Pharma                                                                                      38,62

                       KFZ

                       EDV

        Luft- und Raumfahrt

     Mineralölverarbeitung

    Sonstiger Fahrzeugbau

        Industrie insgesamt                                           17,45

                   Chemie

Elektronische Ausrüstungen

             Maschinenbau

                    Gummi

                       Glas

         Metallerzeugnisse

            Papierindustrie

           Metallerzeugung

            Nahrungsmittel

                     Textil

                              0     5          10           15           20              25     30      35     40        50

                                         Quelle: Stifterverband Wissenschaftsstatistik

  Patentschriften im Bereich der CAR-T-Zelltherapie
                                                          Anzahl

1.000
                                                                                                                       847
  800

  600

  400

  200

    0
        2005    2006     2007     2008    2009       2010        2011       2012         2013   2014   2015   2016     2017

                                               Quelle: Europäisches Patentamt
Dabei stiegen die FuE-Aufwendungen der pharma-                               Individualisierte Medizin
zeutischen Industrie in den letzten Jahren deut-
lich. „Man spürt ein langsames Erwachen“, schrieb                            Einer der wichtigsten Trends der modernen Medi-
der deutsche Medizin-Nobelpreisträger Harald                                 zin und der sie begleitenden Pharmaforschung ist
zu Hausen vor 10 Jahren auf die Frage nach einer                             die „personalisierte“ oder auch „individualisierte
neuen Vision angesichts der medizinischen Her-                               Medizin“.16 Sie zielt darauf ab, „durch gezielte
ausforderungen.10 Das war kurz nach der globalen                             Prävention, systematische Diagnostik und den
Erschütterung durch die Finanzkrise 2008/09.                                 Einsatz maßgeschneiderter, auf die Bedürfnisse
Die forschende Pharmaindustrie vollzog seinerzeit                            einzelner Patient:innen oder Patient:innen­
einen tiefgreifenden Wandel. Denn die wachsende                              gruppen ausgerichteter Therapieverfahren die
Zahl auslaufender Patente erforderte größere                                 Wirksamkeit und Qualität der Behandlung zu
Anstrengungen bei Forschung und Entwicklung.11                               verbessern, dabei die Nebenwirkungen zu redu-
Die Industrie erlag indes nicht dem Sparzwang                                zieren und langfristig die Kosteneffektivität zu
jener Jahre, sondern setzte auf Inno­vationen.12                             steigern.“ 17

Während in Branchen wie der Metallindustrie,                                 Wegbereiter dieser innovativen Form von Medizin
der Kunststoffverarbeitung oder auch im Maschi-                              ist die erstmals 2001 gelungene Genomanalyse
nenbau der Fortschritt eher durch „inkrementelle                             durch DNA-Sequenzierung, also die Entschlüsse-
Innovationen“ bestimmt war,13 begann die for-                                lung des menschlichen Erbguts. Eng damit verbun-
schende Pharma-Industrie ab Mitte der 2010er                                 den ist der immer stärkere Einsatz von Molekular-
Jahre mit der Entwicklung grundlegend neuer                                  diagnostik und Bioinformatik mit dem Ziel, auf
Technologien. Beispielhaft stehen dafür die                                  Grundlage der Erkennung spezifischer Gensequen-
Patentanmeldungen im Bereich hochinnovativer                                 zen und Mutationen, Krankheitsursachen so kon-
CAR-T-Zelltherapien. So verzeichnete das Euro­                               kret wie möglich zu identifizieren und damit auf
päische Patentamt ab 2013/2014 einen fast                                    den Patient:innen zugeschnittene Therapien ein-
sprunghaften Zuwachs an Patentanmeldungen                                    setzen zu können.
in diesem Bereich 14.
                                                                             Wissenschaft und Industrie wollen in diesem hoch-
Die Grundlage dafür lieferten wissenschaftliche                              innovativen Forschungsfeld die Therapieoptionen
Arbeiten, die bis in die Zeit um 1989 zurückrei-                             auf immer mehr Patient:innengruppen und Indi­
chen.15 Dass diese Grundlagenforschung auch                                  kationsgebiete erweitern. Denn nach wie vor gibt
heute in hochinnovativen Therapien mündet,                                   es beispielsweise im Bereich der Onkologie einen
ist das Ergebnis mehrerer Faktoren, die auch in                              hohen, bislang nur schwer behandelbaren medi­
anderen Technologiebereichen der pharmazeu­                                  zinischen Bedarf. Ebenso groß sind die Heraus­
tischen Industrie zum Tragen kommen.                                         forderungen bei Volkskrankheiten wie Diabetes II
                                                                             und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Für Letztere
                                                                             werden derzeit ambitionierte RNA-Technologien
                                                                             entwickelt.

10	Harald    zu Hausen: Medizin mit Vision, Deutsche Welle vom 22.01.2012: ↗ online verfügbar.
11	Vgl. „Der Pharmasektor im Stresstest“, NZZ vom 18.07.2012; „Pharma-Forschung im Rückwärtsgang“, FAZ vom 11.01.2013; „Eine Industrie
     orientiert sich neu“, Deutsches Ärzt:innenblatt vom 26.04.2013.
12   ZEW-Branchenreport Pharmaindustrie, Nr. 10/Januar 2021.
13	Vgl. Innovationen den Weg ebnen. Eine Studie von IW Consult u. SANTIAGO für den VCI, Frankfurt/Main 2015, S. 20; Rammer, Christian et.al.:
     INNOVATIONEN IN DER DEUTSCHEN WIRTSCHAFT. Indikatorenbericht zur Innovationserhebung 2021, Mannheim 2021, S. 5: mip_2021.pdf
     (zew.de).
14	Clarke, Nigel/Jürgens, Björn: Landscape study on patent filing – Chimeric Antigen Receptor T-cell Immunotherapy, hrsg. vom Europäischen
     Patentamt, München 2019, S. 6.
15	Vgl. Beiträge zum Workshop der Paul-Martini-Stiftung (PMS): „Immuntherapie von Tumoren: Erfolg für die Wissenschaft, Erfolg für den
     Patient:innen – und der wichtige Weg dazwischen“, Berlin, 18. März 2015: ↗ online verfügbar.
16	Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, Union der deutschen Akademien
     der Wissenschaften (Hrsg): Individualisierte Medizin – Voraussetzungen und Konsequenzen, Halle (Saale) 2014
17   Ebd., S. 16.
9

Renaissance der Impfstoffe                                                    Mit diesen technologischen Innovationen verbinden
                                                                              sich nicht nur die Hoffnungen von Patient:innen
Gefragt nach den Zukunftstrends der medizini-                                 mit bislang nur schwer oder gar nicht behandel­
schen Biotechnologie, prognostizierte der 10. vfa-                            baren Krankheiten auf mögliche Heilung oder
Biotechreport 2015 eine „Renaissance der Impf­                                zumindest spürbare therapeutische Hilfe, sondern
stoffe“.18 Im Jahr 2016 waren 25 Prozent aller bis                            auch eine Vielzahl von darauf aufbauenden medi-
dahin zugelassener Biopharmazeutika Impfstof-                                 zinischen Weiterentwicklungen und neuen Ansät-
fe.19 Die Corona-Krise hat diese Prognose vollum-                             zen der Gesundheitsforschung, beispielsweise
fänglich bestätigt und mit Blick auf die Entwick-                             im Bereich Demenz/Alzheimer, vieler Seltener
lung mRNA-basierter Impfstoffe für gleich mehre-                              Erkrankungen oder der Behandlung von Kinder­
re Innovationssprünge in der modernen Medizin                                 erkrankungen.22
und in der pharmazeutischen Industrie gesorgt.
                                                                              Ebenso zielt die forschende Pharmaindustrie auf
Grund dafür war eine für die pharmazeutische                                  die Verbesserung von Therapieoptionen in jenen
Industrie typische Kombination aus Gründergeist,                              Bereichen, die aufgrund kleiner Patient:innen­
wissenschaftlicher Expertise, langjähriger Vorar-                             gruppen nicht marktfähig sind und von Forschung
beit und der Verfügbarkeit des notwendigen tech-                              und Innovation deshalb nur unzureichend berück-
nischen Know-hows, nicht nur für die Impfstoff-                               sichtig werden. Zudem gibt es mit den zu bekämp-
entwicklung, sondern auch für die in historisch                               fenden Antibiotika-Resistenzen eine weitere
einmalig kurzer Zeit zu skalierende Produktion.                               Herausforderung, der die Industrie mit der „AMR
Künftig wird es darauf ankommen, diese Erkennt-                               Industry Alliance“ begegnet.23
nisse und Erfahrungen aus der Impfstoffentwick-
lung auch in anderen medizinische Bereichen                                   Schließlich muss sich der Blick auf hochinnovative
zu nutzen.                                                                    Entwicklungen in den Wirtschaftsbranchen ent-
                                                                              lang der gesamten pharmazeutischen Wertschöp-
                                                                              fungskette richten, wie z. B. im Pharmamaschinen-
Neue Technologien                                                             bau, der allein in Deutschland ein Produktions­
                                                                              volumen von etwa 2,5 Milliarden Euro aufweist.
Mit dem Thema „Produktion“ verbunden sind                                     Auch hier ergeben sich große Chancen in der
komplexe Prozesstechnologien, neue Wirkstoff-                                 Entwicklung sowohl von skalierbaren Produktions-
Träger-Systeme wie die Nanotechnologie oder                                   techniken für personalisierte Arzneimittelthera­
neue Therapieansätze wie die sogenannten                                      pien und ATMP,24 wie auch von nachhaltigen,
„Advanced Therapy Medicinal Products“ (ATMP),                                 rohstoff- und energieeffizienteren Produktions-
das Technologiefeld der Gen- und Zelltherapien,                               techniken.
die 2020 mit dem Nobelpreis prämierte Genom-
editing-Technik CRISPR/Cas9 („Genschere“) 20
oder auch der bislang noch wenig diskutierte,
aber überaus vielversprechende Ansatz onko­
lytischer Viren.21

18	Lücke,   Jürgen/Bädeker, Mathias/Hildinger, Markus: Medizinische Biotechnologie in Deutschland. 2005 – 2015 – 2025, München 2015,
     S. 28ff. – ↗ online verfügbar.
19	Lücke, Jürgen/Bädeker, Mathias/Hildinger, Markus: Medizinische Biotechnologie in Deutschland 2016. Nutzen für von Impfstoffen für Menschen
     und Gesellschaft, München 2016, S. 12. – ↗ online verfügbar.
20	Vgl.   ↗ https://www.nobelprize.org/prizes/chemistry/2020/summary/; EFI-Jahresgutachen 2021, Schwerpunktkapitel B.3: ↗ online verfügbar.
21	vgl. ↗ Erstmals onkolytische Viren zum gezielten Angriff auf Krebsstammzellen erzeugt (dkfz.de); ↗ Forscher lizenzieren ein neuartiges
     Virotherapeutikum Gemeinsam mit Biotech-Unternehmen Themis Bioscience wird ein wirkungsverstärktes onkolytisches Virus klinisch entwickelt |
     Universitätsklinikum Tübingen (uni-tuebingen.de).
22	Vgl.Steffen Albrecht/Harald König/Arnold Sauter: Genome Editing am Menschen, hrsg. vom Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim
     Deutschen Bundestag, Berlin 2021. – ↗ online verfügbar.
23   vgl. ↗ Home – AMR Industry Alliance.
24   VDMA (Hrsg.): Brancheportrait Pharmamaschinen, Frankfurt/Main 31.01.2022: ↗ online verfügbar.
Wie Innovationen gedeihen                                                       So wichtig wie der Austausch von Wissen, so
                                                                                zentral ist auch der Schutz geistigen Eigentums,
Die Chancen, als Gesellschaft von grundlegenden                                 wenn die Forschung in innovativen Therapien
Innovationen im Bereich der Pharmazie zu profi-                                 mündet. Nur ein umfassender Patentschutz stellt
tieren, sind beträchtlich. Allerdings müssen dafür                              sicher, dass wissenschaftliche Erkenntnisse geteilt
die Grundlagen und Rahmenbedingungen stim-                                      werden und Anreize für Innovationstätigkeit
men.                                                                            bestehen.

Für eine erfolgreiche pharmazeutische Industrie                                 Auch die steuerliche Forschungsförderung sollte
ist eine exzellente universitäre und außeruniver­                               weiterentwickelt werden, sodass die bis Juli 2026
sitäre Grundlagenforschung von herausragender                                   befristete Erhöhung der maximalen Förderhöhe
Bedeutung. Spitzenforschung in Exzellenzclustern                                auf 1 Million Euro pro Jahr und pro Unternehmen
kann in zentralen Bereichen wie Gen- und Zell­                                  über diesen Zeitraum hinaus beibehalten, oder,
therapien weltweit führend werden – voraus­                                     besser noch, weiter ausgebaut wird. Zu bedenken
gesetzt, die Grundlagenforschung ist auskömmlich                                wäre darüber hinaus eine Erhöhung des Förder-
und verlässlich finanziert.                                                     satzes, die Erweiterung der Bemessungsgrund­
                                                                                lage sowie eine Anpassung der Eingrenzung über
Eine zukunftsfähige Wissenschaftspolitik muss                                   „Verbundene Unternehmen“. Sämtliche Abläufe
für den Transfer der Erkenntnisse der Spitzenfor-                               und Verfahren müssen außerdem endlich ent­
schung in die kommerzielle Anwendung sorgen,                                    bürokratisiert und die Beantragung vereinfacht
die Zusammenarbeit und den Austausch zwischen                                   werden 25.
öffentlich und privat finanzierter Forschung
fördern und die bestehenden Hürden beim per­                                    Innovationen im Gesundheitssystem brauchen
sonellen Austausch zwischen beiden Sphären                                      eine angemessene Honorierung. Standorte sind
abbauen.                                                                        für Forschende attraktiv, wenn dort Innovationen
                                                                                nach ihrer Zulassung schnell in der Praxis zur
Ferner ist der sichere, aber unkomplizierte                                     Verfügung stehen und die Vergütung den Fort-
Zugang zu wissenschaftlichen Ressourcen wichtig.                                schritt gegenüber bestehenden Therapien hono-
So bleiben beispielsweise die Potenziale der                                    riert. Die wenigsten Therapien sind dabei grund­
Digitalisierung bislang weitgehend ungenutzt.                                   legende Durchbrüche: Vielmehr setzen sich die
Berechtigte Interessen des Datenschutzes oder                                   meisten Erfolge in der Behandlung beispiels­
ethische Grundsätze sind hohe Güter – wissen-                                   weise von Krebs aus vielen kleinen Innovationen
schaftliche Vorhaben scheitern hierzulande aber                                 zusammen.
nicht selten an höchst unterschiedlichen Aus­
legungen der Standards. Damit riskiert Deutsch-
land, wissenschaftlich ins Hintertreffen zu
geraten.

25   Vgl. BDI, Strategie für die industrielle Gesundheitswirtschaft, März 2021, S. 73, ↗ online verfügbar.
11

                            Erfolgsfaktor
                            Digitalisierung
                            Auch wenn nirgendwo sonst so viele Daten erhoben werden wie
                            im Gesundheitswesen, liegen die damit verbundenen Erkenntnis­
                            potenziale weitgehend brach. Gemessen an den schon vorhandenen
                            technischen Möglichkeiten, fehlt es an einer integrierten digitalen
                            Gesundheitspolitik mit einheitlichen Prozessen sowie leistungs­
                            fähigen Infrastrukturen. Um die Chancen der Digitalisierung für
                            Forschung und Entwicklung zu nutzen, brauchen wir klare Regeln,
                            entsprechend gerüstete öffentliche Institutionen sowie Beteili-
                            gungsmöglichkeiten für die private Forschung.

Die Erhebung, Aufbereitung und Verwertung von                                Zentrale Orte der Gewinnung und Verarbeitung
Gesundheits- bzw. Krankheitsdaten ist wesent­                                von Gesundheitsdaten haben in den letzten Jahr-
licher Bestandteil moderner Medizin und ins­                                 zehnten, vor allem durch die Gründung von über-
besondere Arbeitsgrundlage der forschenden                                   regional agierenden Gesundheitszentren, wie
Pharma-Unternehmen.26 Dabei war die Entstehung                               die US-amerikanischen „National Institutes of
neuer, großer Krankenhäuser, sogenannter „Klini-                             Health“ oder die „Deutschen Zentren für Gesund-
ken“, um das Jahr 1800 herum die entscheidende                               heitsforschung“, weiter an Bedeutung gewonnen.
Voraussetzung für die bahnbrechenden Erkennt-                                Über die Systematisierung und langfristige Siche-
nisse herausragender Gesundheitswissenschaftler                              rung von Daten, die zunächst nur zum Zweck und
wie Louis Pasteur, Rudolf von Virchow, Robert                                im engen Rahmen klinischer Studien erhoben
Koch oder Paul Ehrlich. Nahezu alle großen                                   wurden, entwickelten sich große „medizinische
Erfolge dieser „Klinischen Medizin“ in den letzten                           Bibliotheken“ wie die US National Library of Medi-
150 Jahren sind Erfolge eines neuen, systema­                                cine eingerichtet, wo auch das weltweit führende
tischen Umgangs mit Daten.                                                   ↗ Register für Klinische Studien geführt wird.

26	Leven, Karl-Heinz: Geschichte der Medizin. Von der Antike bis zur Gegenwart, München 2008, S. 50ff; Röthlein, Brigitte: Mare Tranquillitatis.
   20. Juli 1969. Die wissenschaftlich-technische Revolution, München 1997, S. 184ff.
Health-Tech-Unicorns
                                             Anzahl nach Ländern und Regionen (2021)

            USA                                                                                                             51

           China                        8

 übrige Länder                      7

             EU                 6

             UK             4

                   0                    10                  20                  30                  40                 50                    60

                                             Quelle: Expertenkommission Forschung und Innovation 2022

Mit dem Siegeszug des Internets, der Entschlüsse-                          len dabei große Datenmengen sowie deren Ver­
lung des menschlichen Genoms und der ökono-                                arbeitung und Auswertung mithilfe von Big Data-
misch-technische Globalisierung eröffnen sich                              Technologien.
der modernen Medizin neue Chancen, aber auch
Herausforderungen, die es im Interesse von                                 Jeden Tag erscheinen bis zu 10.000 neue wissen-
Patient:innen, Gesellschaft, Wissenschaft und                              schaftliche Publikationen – Tendenz steigend.
Wirtschaft zu meistern gilt.27                                             Für die einzelnen Wissenschaftler:innen wird es
                                                                           immer schwerer, auch nur in einem Fachgebiet
                                                                           den Überblick zu behalten. Mit speziell entwickel-
Digitalisierung in F&E 28                                                  ten Algorithmen lassen sich die für die medizi­
                                                                           nische Forschung relevanten Publikationen ziel­
Die Aufschlüsselung der Genome (Genomsequen-                               gerichtet identifizieren. So entstehen maßge-
zierung) und der Einsatz von diagnostischen Tests                          schneiderte Fachliteratur-Kollektionen, die neue
(Biomarker Identifikation; Molekulardiagnostik)                            Erkenntnisse sowohl innerhalb einer Disziplin
durch Big Data-Anwendungen ermöglichen bislang                             als auch asso­ziierter Wissensbereiche zusammen-
ungekannte Fortschritte in der Forschung und                               fassen und Hinweise auf neue Entwicklungs­
damit auch bessere klinische Studien. Zu deren                             ansätze und -linien erlauben. Das erleichtert
Ergebnissen gehören neue, personalisierte Thera-                           den Austausch über Fachgrenzen hinweg und
piemöglichkeiten und Behandlungsansätze, dar-                              gibt Impulse für neue Ideen und FuE-Ansätze.
unter Tumorvakzine, die in kürzester Zeit, basie-
rend auf genomischer Information, Patient:innen­                           Klinische Studien sind aufwändig, langwierig,
spezifisch hergestellt und als therapeutische                              und teuer. Zudem lassen sich in der personalisier-
Impfung verabreicht werden können. Innovative                              ten Medizin die Studiengruppen dank einer sen-
Unternehmen entwickeln diese Vakzine auf Basis                             sibleren Diagnostik immer präziser definieren.
der mRNA-Technologie. Eine zentrale Rolle spie-                            Doch weil sie dadurch auch kleiner werden, wird

       EFI-Jahresgutachten 2022, Kernthema B.4 Digitale Transformation im Gesundheitswesen, S. 94–105, ↗ online verfügbar;
27	Vgl.

   SVR Gesundheit: Gutachten 2021 „Digitalisierung für Gesundheit. Ziele und Rahmenbedingungen eines dynamisch lernenden Gesundheits­
   systems“, ↗ online verfügbar.
28	Vgl.
      Rainer Thiel/Lucas Deimel/Charlotte Fabricius: Stand und Perspektiven der Gesundheitsdatennutzung in der Forschung. Eine europäische
   Übersicht, Studie im Auftrag des vfa, Bonn 2021, ↗ online verfügbar.
13

die Generierung medizinscher Evidenz erschwert.                               her einen potenziellen Wirkstoff nach dem ande-
Deutliche Verbesserungen können sogenannte                                    ren zu untersuchen, ist es dank Digitalisierung
virtuelle Kontrollarme bringen. Zur Erläuterung:                              möglich, mehrere zehntausend Substanzen paral-
In klinischen Studien erhält eine Gruppe von                                  lel zu untersuchen. Mithilfe künstlicher Intelligenz
Patient:innen zusätzlich zur Standardtherapie                                 können Spezialist:innen in kürzerer Zeit weitaus
die zu prüfende neue Therapie. Die Kontrollgrup-                              mehr Stoffeigenschaften erfassen als bisher.
pe bekommt zusätzlich zur Standardtherapie                                    Neue Data-Lab-Teams sind in der Lage, vielver-
ein Scheinmedikament. Ein Vergleich der beiden                                sprechende Moleküle für eine Therapie umfassen-
Gruppen belegt die gegebenenfalls bessere Wirk-                               der, schneller und mit weniger Aufwand zu identi-
samkeit des neuen Arzneimittels. Da sich die Kon-                             fizieren, die dann im nächsten Schritt punktuell
trollgruppe mithilfe vorhandener Patient:innen­                               weiter verändert werden, um Krankheiten geziel-
daten in manchen Fällen schon virtuell simulieren                             ter und mit weniger Nebenwirkungen zu bekämp-
lässt, sind perspektivisch kleinere, zeit- und                                fen – auch dabei kann KI von Nutzen sein.
kostensparende Studien möglich, bei denen
Patient:innen nur die neue und womöglich
bes­sere Therapie erhalten. Dafür werden Daten                                Digitalisierung in der Produktion
vergleichbarer Patient:innen herangezogen, die
außerhalb von klinischen Studien die übliche                                  Im Hinblick auf die erfolgreiche Transformation
Behandlung erhalten haben.                                                    hin zu einer wissensbasierten Ökonomie und
                                                                              Hightech-Medizin ist Deutschland gut aufgestellt.
Für die Entwicklung innovativer Arzneimittel                                  Der Wertschöpfungsanteil der wissensbasierten
sind forschende Pharma-Unternehmen stets auf                                  Produktion hat sich trotz eines starken inter­
der Suche nach neuen Wirkstoffen. Statt wie bis-                              nationalen Wettbewerbers positiv entwickelt 29.

29   SVR Wirtschaft Jahresgutachten 2019/2020, S. 155, ↗ online verfügbar.

                   Entwicklung der Berufe in der Industrie
                                                             Index 2012 = 100

140
                                                                                                                                     Informatik/IKT 136,5

130

120

                                                                                                                                     Entwicklung 113,4
110
                                                                                                                                     Organisation 107,1
                                                                                                                                     Kaufm. Dienstleist. 102,5
                                                                                                                                     Produktion 101,9
100
        2012             2013            2014            2015                2016         2017       2018        2019        2020

                                                            Quelle: SVR Wirtschaft 2019
Allerdings zeigt der Blick auf sog. „Unicorns“,                            personalisierte Medizin geeigneten Biomarker
also die mit über 1 Milliarde Euro bewerteten                              zu identifizieren und zu validieren, ist ein beson-
Start-ups im Bereich von Health-Tech-Innovatio-                            derer Forschungsaufwand nötig. In Biodatenban-
nen, dass die Potenziale der Digitalisierung für                           ken werden die Patient:innendaten aus klinischen
Wertschöpfung und Gesundheitsversorgung in                                 Studien mit genetischen Daten (Sequenzierungs-
Deutschland bei weitem noch nicht ausgereizt                               daten) verknüpft. Ziel ist die Entwicklung neuer
sind. Von insgesamt 76 Healthtech-Unternehmen,                             Biomarker, um den Patient:innen schneller zu
die von 2019 bis 2021 mit über 1 Milliarde Euro                            einer für sie geeigneten Therapie zu verhelfen.
bewertet wurden, stammen nur zwei Unterneh-
men aus Deutschland, dagegen 51 aus den USA.30                             Angesicht dieser zunehmenden Komplexität im
Das schränkt die Möglichkeiten für eine innova­                            medizinischen Alltag können ergänzende digitale
tive Weiterentwicklung des Gesundheitswesens                               Angebote zusätzliche Information beispielsweise
und der forschenden Pharma-Unternehmen deut-                               für den behandelnden Arzt bereitstellen. Dafür
lich ein, was auch ganz konkrete Nachteile in                              sind qualitätsgesicherte, leistungsfähige digitale
der Produktion von Arzneimitteln haben kann.                               Plattformen für medizinische Daten nötig, die
                                                                           beispielsweise dann helfen können, wenn für
Denn in der Produktion von Arzneimitteln wird                              Patient:innen mit schwerwiegenden Erkrankungen
die Ergebnisqualität mithilfe digitaler Überwa-                            keine Therapiemöglichkeiten vorhanden ist. Dann
chung und intelligenter Vernetzung von Produk­                             lässt sich mithilfe dieser Instrumente eine passen-
tionseinheiten gesichert. Ein weiterer Schritt zur                         de klinische Studie finden. Außerdem unterstüt-
Verbesserung der Sicherheit von Arzneimitteln                              zen sie Ärzt:innen bei der Nutzung und Kontrolle
in der Versorgung sind digitale Produkt- und                               von personalisierten Therapieansätzen, indem sie
Gebrauchsinformationen. Beispiel hierfür sind                              einen schnellen und zuverlässigen Abgleich der
die Pilotprojekte „Gebrauchsinformation 4.0“                               Patient:innenprofile mit deren genetischen Daten
und „Securpharm“. Entlang des gesamten Ver-                                ermöglichen und verfügbare Medikationen und
triebswegs und in der Anwendung soll damit                                 Therapiemöglichkeiten aufzeigen.
die Sicherheit von verschreibungspflichtigen
Arzneimitteln durch adressatengerechte elektro­
nische Gebrauchs- und Fachinformationen weiter                             Digitalisierung und Versorgung
erhöht werden. Die Patient:innen sind dank der
lückenlosen Rückverfolgbarkeit einzelner Packun-                           Sammlung (Tracking und Register) und Auswer-
gen wirksam vor Arzneimittelfälschungen in                                 tung von (Echtzeit-)Daten aus dem Versorgungs-
der legalen Lieferkette geschützt. Der pharma­                             alltag können zusätzliche Nachweise (Evidenz)
zeutischen Industrie ist es im Zuge der Corona-                            zum Nutzen von Arzneimitteln erbringen. Digitale
Krise schon gelungen, die Versorgungswege durch                            Angebote unterstützen Patient:innen aktiv dabei,
eine umfassende Digitalisierung der Lieferketten                           ihre Therapietreue zu erhöhen und die Sicherheit
krisenfester zu machen.31                                                  und Qualität der Arzneimitteltherapie durch ein
                                                                           medizinisches Monitoring der Behandlungsdaten,
                                                                           zum Teil in Echtzeit, weiter zu verbessern. Ergän-
Digitalisierung in Zulassung                                               zende digitale Angebote bieten Patient:innen
und Diagnose                                                               persönliche Schulungsprogramme zu ihrer Erkran-
                                                                           kung, zu alltagsrelevanten Therapiehinweisen
Die Kombination von moderner Diagnostik und                                (Disease Awareness und Patient Support Program-
innovativem Arzneimittel ermöglicht eine per­                              me) oder zur Prävention. Dazu zählen auch per­
sonalisierte Medizin, die die Wirkungsprofile der                          sonalisierte Krankheits-Management-Programme
Arzneimittel weiter schärft und den Patient:innen                          und gezielte Lifestyle-Coachings, die den Einsatz
eine an die jeweilige Erkrankung bestmöglich                               von Apps, Web-Portalen und persönlichen Schu-
angepasste Therapie bietet. Um die für eine                                lungsprogrammen kombinieren.

30   EFI-Jahresgutachten 2022 (siehe Anm. 2), S. 101.
31	Vgl. Rammer, Christian et.al.: INNOVATIONSINDIKATOREN CHEMIE UND PHARMA 2021. Schwerpunktthema: Corona-Pandemie und Innovationen
     in Chemie und Pharma, Studie im Auftrag des Verbandes der Chemischen Industrie e. V., Mannheim/Hannover 2021, ↗ online verfügbar;
     Kirchhoff, Jasmina/Francas, David/Fritsch, Manuel: Resilienz pharmazeutischer Lieferketten, Studie im Auftrag des vfa, Köln/Heilbronn 2022,
     ↗ online verfügbar.
15

Gerade bei aufwendigen und kostenintensiven           Datenschatz der Gesellschaft
Therapien, wie zum Beispiel bei Krebserkrankun-
gen, ist es grundsätzlich vielversprechend, die       Die Digitalisierung bietet enorme Chancen. Doch
individuelle Situation mit möglichst vielen gleich-   um diese umfänglich auszunutzen, bedarf es zent-
artigen Krankheitsbildern zu vergleichen, um die      raler Weichenstellungen. Bund und Länder spielen
bestmögliche Therapie zu identifizieren. Das          bei der Bereitstellung zentraler Infrastrukturen
wird mithilfe eines intelligenten Systems erheb-      eine wichtige Rolle. Deren Finanzierung sollte zu-
lich erleichtert.                                     mindest dem internationalen Niveau entsprechen.

Die Industrie setzt sich mit Krankenkassen sowie      Erst unter diesen Voraussetzungen sind Daten
Informations- und Kommunikationstechnologie-          verfügbar und können sowohl in der öffentlich als
Unternehmen dafür ein, dass Ärzt:innen und            auch privat finanzierten Forschung genutzt wer-
medizinisches Fachpersonal die Behandlung             den. Modelle eines Datentreuhänders und einer
von Patient:innen stärker personalisieren, orts­      öffentlich vorgehaltenen Dateninfrastruktur für
unabhängiger gestalten und damit besser in den        Gesundheitsdaten können helfen, die Anforderun-
Patient:innenalltag integrieren können. Dafür         gen des Datenschutzes einerseits und Forschungs-
wurden konkrete Projekte angestoßen. So unter-        interessen andererseits in Einklang zu bringen.
stützen zum Beispiel elektronische Patient:innen­
tagebücher und elektronische Fall­akten die fach-     In der Zusammenarbeit zwischen Unternehmen
ärztliche Versorgung bei komplexen Herausforde-       und wissenschaftlichen Einrichtungen aus unter-
rungen und vorhandenen Ressourcenproblemen.           schiedlichen Disziplinen liegen erhebliche Syner-
Insbesondere bei chronischen oder seltenen            giepotenziale. Die aktive Förderung eines inter­
Erkrankungen mit hohem Dokumentationsauf-             disziplinären Ökosystems in der digitalen Gesund-
wand und dem Bedarf an einem schnellen Fach-          heitsforschung kann diese Potenziale heben,
austausch zwischen den unterschiedlichen              beispielsweise über Anschubfinanzierungen
Bereichen der Versorgung schaffen diese tele­         für Leuchtturmprojekte oder eine gezielte Unter-
medizinischen Projekte einen Mehrwert für den         stützung von Start-ups im Bereich der digitalen
Patient:innen und für die Versorgungsqualität.        Gesundheitsforschung.
Ein anderes Beispiel ist die intelligente Ver­
knüpfung von Arzneimittel und Medizinprodukt          Letztlich erfordern neue wissenschaftliche Metho-
durch Smart Devices in der Versorgung von             den und veränderte Gegebenheiten eine Anpas-
Patient:innen mit chronischen Erkrankungen.           sung der Zulassungsverfahren. Auch müssen die
Diese Smart Devices können die medizinischen          mit neuen Methoden gewonnen Erkenntnisse in
Daten digital messen, aufzeichnen und dann zur        der Nutzenbewertung Anerkennung finden.
Beobachtung in Echtzeit mit dem zuständigen
medizinischen Fachpersonal sicher teilen.

Abgesehen davon, werden Digitale Gesundheits-
anwendungen (DiGA), also zertifizierte Medizin-
produkte niedriger Risikoklassen, deren Haupt-
funktion auf digitalen Technologien beruhen,
für die innovative Arzneimittelversorgung und
Therapieentwicklung erheblich an Bedeutung
zunehmen. Sie zeichnen sich durch eine hohe
Nutzerfreundlichkeit aus und können deshalb
nachweislich die Versorgung und Lebensqualität
von Patient:innen verbessern.
Eine neue
Gründerzeit
Unternehmensgründungen bahnen neuen Ideen den Weg in die
Anwendung. Start-ups erweisen sich mit ihren Ideen und Produkten
als Motor der Innovationsdynamik, die in entwickelten Volkswirt­
schaften neue Wertschöpfungsprozesse in Gang setzt. Dieser Geist
beseelt die vielfältigen Kooperationen zwischen jungen Gründer:innen
und etablierten Traditionsunter­nehmen. So entstehen nicht nur
neue Arbeitsplätze, auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit
Deutschlands wird gestärkt.

                Deutschland ist ein rohstoffarmes Land, dessen                             solche Zunahme an Produktivitätsunterschieden
                Wohlstand auf der innovativen Leistungsfähig-                              zwischen einzelnen Unternehmen nicht festzu­
                keit seiner Volkswirtschaft, mithin der deutschen                          stellen.33
                Unternehmen gründet. Dabei kommt es auf
                die richtige Mischung aus sowohl Groß- und                                 Parallel zur Abnahme des Produktivitätswachs-
                mittelständischen Unternehmen wie auch                                     tums der deutschen Unternehmen ist eine Stagna-
                aus Tradi­tionsbetrieben und Start-ups an. Die                             tion bei Unternehmensneugründen zu beobach-
                Unternehmenslandschaft hat sich in den letzten                             ten. Verzeichnete die Statistik für das Jahr 2000
                Jahren schrittweise verändert: Die nach inlän­                             noch 276 Neugründungen auf 10.000 Einwohner,
                discher Wertschöpfung bemessenen 50 größten                                fiel diese Gründerrate in den letzten zwei Jahr-
                Akteure waren zwar allesamt Traditionsunter­                               zehnten kontinuierlich: 2020 gab es nur noch
                nehmen 32 – ihr Anteil an der gesamten Wert­                               104 Existenzgründungen pro 10.000 Einwohner 34.
                schöpfung ist in den letzten 20 Jahren aber                                Für den Bereich der Biotechnologie ist ein solcher
                stetig gesunken.                                                           Rückgang der Neugründungen zwar nicht zu ver-
                                                                                           zeichnen, doch auch in diesem Sektor bleibt die
                Gleichzeitig hat sich auch das Produktivitäts-                             Zahl an Neugründungen seit Jahren hinter den
                wachstum der Unternehmen in Deutschland                                    Erwartungen zurück. Insgesamt beschreiben diese
                seit 2000 kontinuierlich abgeschwächt. Die Pro­                            Daten das Bild einer zwar innovativen Volkswirt-
                duk­tivitätsunterschiede sind hingegen in manchen                          schaft, deren Unternehmen jedoch deutlich stär-
                Branchen wie der Chemie oder im Maschinenbau                               ker auf inkrementelle und weniger auf disruptive
                gestiegen; dagegen ist im Fahrzeugbau eine                                 Innovationen setzen.

                32   Vgl. „Wettbewerb 2020“. XIII. Hauptgutachten der Monopolkommission, 2020, S. 80–81.
                33   Vgl. Abnehmendes Produktivitätswachstum – zunehmende Produktivitätsunterschiede, ZEW-Policy Brief Nr. 4/2018, insbesondere S. 3 u. S. 6.
                34   KfW Research: KfW-Gründungsmonitor 2021, Frankfurt/Main, 2021.
17

                                   Wagniskapitel in
                           Deutschland, Europa und den USA
                                                               in Mio. US-Dollar

140.000
                                                                                                                                  USA
120.000

100.000

 80.000
                                                                                                                                  Europa
                                                                                                                                  ohne Deutschland
 60.000

 40.000

 20.000
                                                                                                                                  Deutschland
           0
                  2015                 2016                 2017               2018            2019        2020          2021

                                                             Quelle: vfa, EY, KPMG, NVCA

Von der Forschung in die Gründung                                            Köpfe der Wissenschaft und insbesondere der
                                                                             anwendungsbezogenen Forschung gut positio­
Die Corona-Krise hat auf eindrückliche Art gezeigt,                          nieren 36.
wie wichtig für Wirtschaft und Gesellschaft in
Deutschland ein Innovations-Ökosystem ist, das                               Während sich die enorme Leistungsfähigkeit
sowohl inkrementelle als auch disruptive Inno­                               des Innovationssystems in den USA der Verzah-
vationen ermöglicht. Für eine Beschleunigung des                             nung von akademischer Forschung und unterneh-
dazu notwendigen Transfers von der Grundlagen-                               merischer Tätigkeit verdankt, hält man in Deutsch-
forschung in die Anwendung erweisen sich neben                               land nach wie vor an der überlieferten Trennung
der klinischen Forschung auch Unternehmens­                                  von universitär verankerter Wissenschaft einer-
neugründungen als wichtiger Motor 35.                                        seits und dem Management eines Unternehmens
                                                                             andererseits fest. Durch die Bildung von Clustern
Dafür ist es wichtig, die für den Pharma-/Biotech-                           (z. B. Saxocell, PROXIDrugs, Bioregionen, regiona-
Bereich bedeutenden Disziplinen, zu denen neben                              le Innovationscluster), durch neuartige Agenturen
Medizin- und Pharmazie auch technische und                                   der Innovationsgenerierung ( z. B. die SprinD)
kaufmännische Fächer gehören, stärker als bisher                             oder über eine überfällige Reform des universi­
auf den Transfer von Wissen in die Anwendung                                 tären Dienstrechts kann und muss diese traditio-
auszurichten. Gleichzeitig muss sich Deutschland                             nelle Trennung zwischen Academia und Unter­
im internationalen Wettbewerb um die besten                                  nehmertum aufgehoben werden.

35   Vgl. Wissenschaftsrat: Impulse aus der Covid-19-Krise. Positionspapier, 2021, S. 13–14.
36   Siehe auch Folgekapitel „Attraktive Arbeitswelten “.
Von der Gründung in den Markt                                                 Unternehmenswachstum motiviert. Gerade bei
                                                                              Unternehmensgründungen im pharmazeutischen
Entwicklungen im Pharma-/Biotech-Bereich brau-                                Bereich und in der medizinischen Biotechnologie
chen den sprichwörtlichen langen Atem, damit sie                              ist die internationale Vernetzung ein zentraler
von der ersten Idee über die Phasen der präklini-                             Erfolgsfaktor, der in der Ausbildung von Gründern
schen und klinischen Erprobung schließlich in die                             noch viel zu selten berücksichtigt wird. Dabei
Anwendung gelangen. Auch deshalb sind gerade                                  können Kooperationen mit internationalen Part-
neugegründete Unternehmen auf Spezialist:innen                                nern zwecks Forschung und Entwicklung neuer
und Fachkräfte angewiesen, die neben der medizi-                              Therapien, Wirkstoffe und Verfahren zentrale
nischen auch ingenieurtechnische, kaufmännische                               Impulse geben, sowohl im Hinblick auf eine
und juristische Expertise vorweisen können.                                   erfolgreiche Unternehmensentwicklung als auch
                                                                              den Transfer von medizinischer Forschung in
Wer im globalisierten Wettbewerb um Talente                                   die Anwendung.
bestehen will, braucht die notwendigen Anreize,
um diese Fachkräfte entweder direkt aus einer                                 Ebenso wichtig sind Unterstützung und Empower-
deutschen Universität oder aber über den inter­                               ment im Bereich der Lizenzierung von geistigem
nationalen Arbeitsmarkt in die Unternehmen zu                                 Eigentum, die Kommerzialisierung innovativer
locken. Auch wenn es innovativen, talentierten                                Entwicklungen oder der Einsatz von Vertrags-
Fachkräften nicht primär um rein finanzielle                                  Standardklauseln, die jungen, aber auch etablier-
Motive geht, spielen ökonomische Anreize selbst-                              ten Unternehmen die Kooperation mit der Wissen-
verständlich eine wichtige Rolle. Daher muss                                  schaft erleichtern. Hierzu wurden bspw. soge-
Deutschland die Mitarbeiterkapitalbeteiligung in                              nannte „Mustervertragsklauseln“ für klinische
Start-ups sowie die steuerlichen Rahmenbedin-                                 Studien entwickelt, die bislang noch viel zu selten
gungen deutlich verbessern.                                                   genutzt werden.

Gleichzeitig sind die politischen Entscheidungs­                              Auch bei der Entwicklung von Inkubatoren und
träger:innen gut beraten, eine „missionsorien­                                Technologietransfereinrichtungen hinkt Deutsch-
tierte Innovationspolitik“ voranzutreiben 37, mit                             land im Moment hinterher – auch wenn die for-
der Leuchtturmprojekte stärker als bisher geför-                              schenden Pharma-Unternehmen am Standort
dert werden. Damit werden Gründer und ihre                                    Deutschland in dieser Hinsicht bereits in Vor­
Unternehmen in die Lage versetzt, das Spektrum                                leistung gegangen sind. Diese Inkubatoren, nach
an Kooperationspartnern deutlich zu erweitern                                 wie vor eher „Solitäre“ in Deutschlands Innova­
und die Stärken des Gründer-Standortes Deutsch-                               tionslandschaft, werden zwar als Leuchttürme
land stärker in den Vordergrund zu rücken. Im                                 geschätzt, doch sie sind kein Ersatz für struktu­
Rahmen dieser missionsorientierten Innovations-                               relle Reformen an der Schnittstelle von Wissen-
politik wird auch die zentrale Rolle der pharma-                              schaft und Wirtschaft.
zeutischen und medizinischen Biotechnologie als
„Zukunfts- und Schlüsseltechnologie“ deutlich,                                Die forschenden Pharma-Unternehmen setzen
von der sowohl die Gesundheit im Sinne von                                    daher auf Wachstum, auch und insbesondere
Public Health als auch gesellschaftlicher Wohl-                               mit Blick auf die Förderung von Deutschlands
stand gleichermaßen profitieren können.                                       Gründerszene. Eine zentrale Rolle kommt dabei
                                                                              dem Förderprogramm EXIST zu, das um einen
                                                                              zu schaffenden „Zukunftsfonds“ sowie eine neu
Internationalisierung und Wachstum                                            aufzulegenden High-Tech-Gründerfonds ergänzt
                                                                              werden muss, um der dynamischen Entwicklung
Erfolgreiche Unternehmensgründungen stützen                                   nachdrücklich Schub zu verleihen. Die positiven
sich auf ein hoch innovatives akademisches                                    Erfahrungen der Pharma- und Biotech-Branche
Umfeld, in dem Universitäten und außeruniver­                                 seit 2020 sollten Ansporn genug sein, um aus
sitäre Forschungseinrichtungen eng zusammen­                                  Unternehmensgründungen heraus eine neue,
arbeiten. Zugleich werden Unternehmensgründer                                 strukturelle Qualität am Pharma- und Biotech­
zu internationalen Kooperationen und zum                                      standort Deutschland zu entwickeln.

37   EFI-Jahresgutachten 2021 – Kernthema B1, S. 38–52, ↗ online verfügbar.
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